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ERZÄHLER Als ich aufwache, weiß ich zunächst nicht, wo ich bin. Ich komme hoch und stoße mir erstmal gewaltig den Kopf. Einen Moment lang sehe ich Sterne und fluche. Als der Schmerz nachlässt, wird mir langsam klar: Ich bin in Rockland, Maine und stehe mit meinem winzigen, koreanischen Leihwagen an der Straße, auf der hier die jährliche "Hummerparade" stattfindet. Ich erinnere mich auch wieder, dass ich gestern auf der Suche nach einer Unterkunft den 30-jährigen Troy kennen gelernt habe, der mir erzählt hatte, dass es während des Festivals in Rockland nirgends auch nur eine freie Couch gibt, weil nicht nur halb Maine hierher pilgert sondern auch alle Touristen, die sich in der Gegend aufhalten. Die Festivalwoche sei aber auch so ziemlich die einzige Zeit im Jahr, in der der hier wirklich etwas los ist, hatte mir Troy versichert. O-TON Troy When the winter comes ... more than one job. SPRECHER 1 Wenn der Winter kommt, hauen alle Touristen ab. Dann sind wir ganz allein, alles ist verlassen. Was die Hummerfischer angeht: Es ist verdammt kalt hier im Winter, also fischen sie nur von März bis November. Anschließend verkaufen sie Weihnachtsbäume, das geht bis Ende Dezember, und danach verschwinden sie für zwei Monate. Sie sitzen zu Hause am Ofen und warten auf den Frühling. ERZÄHLER Ich liebe Hummer und wollte schon immer mal an die Quelle, genauer: an die Küste von Maine. Hier kommen die meisten der Hummer her, die in der Welt verkauft werden, und hier sind sie auch viel billiger als überall sonst. Deshalb habe ich mir den koreanischen Kleinwagen geliehen, und deshalb bin ich vom 700 Kilometer entfernten New York zum "Hummerfestival" nach Rockland aufgebrochen. Natürlich hatte ich nicht ahnen können, dass das sonst so verschlafene Fischerstädtchen um diese Zeit aus allen Nähten platzt. Ich war nachts angekommen und hatte nirgends eine Unterkunft finden können. Überall bekam ich die Auskunft, dass im Umkreis von hundert Kilometern jedes Bett belegt sei. Auch alle öffentlichen Parkplätze waren belegt, und nachdem ich über eine Stunde lang in der Stadt umher gekurvt war, hatte ich mich schließlich am Ortseingang auf den Seitenstreifen gestellt. Natürlich wusste ich nicht, dass genau hier die Parade anfängt. Drei Kinder stehen neben meinem Wagen und schauen mich durchs Seitenfenster an wie ein Tier im Zoo. Ich ignoriere sie zunächst und schneide dann eine Grimasse, damit sie verschwinden. Eins ist klar: Ich muss so schnell wie möglich hier weg. Eigentlich ist es ein Wunder, dass sie mich nicht abgeschleppt haben. Gut, ich stehe nicht im Parkverbot. Jedenfalls hatte ich nachts nirgendwo ein Schild entdecken können. Aber vielleicht ist es generell verboten, auf dem Seitenstreifen zu parken? Eine Marschkapelle in blau-weißen Uniformen zieht an meinem Wagen vorbei. Die Kapelle umfasst alle Altersklassen, es sind auch junge Frauen dabei. Ich trage nur ein T-Shirt und etwas ausgeleierte Boxershorts mit aufgedruckten Trompeten. Es ist eins von jenen Kleidungsstücken, die ich schon längst hätte aussortieren müssen, das aber irgendwie in meinem Kleiderschrank überlebt hat. In dieser Aufmachung will ich mich nicht unbedingt zur Schau stellen. Deshalb zwänge ich mich von der Rückbank durch die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen hinters Lenkrad. Bei dieser Verrenkung stoße ich mir noch mal den Kopf. Ein koreanischer Kleinwagen ist eine Katastrophe. Ich erinnere mich, dass ich den Schlüssel aus dem Zündschloss gezogen habe. Zur Sicherheit. Ich hatte ihn neben mich auf den Rücksitz gelegt. Also noch mal nach hinten, den Schlüssel aus der Ritze des Rücksitzes fischen und wieder nach vorn. Ich lasse den Wagen an, fahre vorsichtig der Parade entgegen ein Stück auf dem Seitenstreifen entlang und biege schließlich in die Ausfahrtstraße ein. Geschafft! Jetzt nur noch einen Kaffee! ATMO Straßenparade O-TON Nancy I got a lobster hat on ... with lobsters. SPRECHERIN Ich habe einen Hummer-Hut auf. Er ist aus rotem Filz, hier vorn mit kleinen Augen und Scheren und sogar Fühlern. Die Scheren kann man in alle möglichen Richtungen drehen, auch die Fühler. Und wenn du ein bisschen angeheitert bist, dann kannst du die Dinger so drehen, dass es crazy aussieht. Es macht einfach Spaß, schließlich sind wir auf einem Hummerfestival, und du musst ja irgendwie in Hummer-Stimmung kommen. Ich habe sogar Hummer-Socken an. Außerdem trage ich Boxershorts, die sind ja eigentlich für Männer, aber sie haben ein Hummer- Motiv drauf. Also, einen BH mit Hummern hab ich leider nicht, das nicht, aber sonst... Ich habe auch Ohrringe mit Hummern dran. ERZÄHLER Die Dame mit dem Hummer-Hut heißt Nancy und hat mich gerettet, denn sie konnte meinen Zwanzig-Dollar-Schein wechseln. Ich habe den Wagen auf einem kleinen Waldweg abgestellt und bin zurück in die Stadt gelaufen bis zur Wartehalle des Fährterminals von Rockland. Es ist anscheinend der einzige Ort, an dem man in der überlaufenen Stadt einen Kaffee bekommen kann. Aus dem Automaten. Mit Kleingeld oder einzelnen Dollarscheinen. Alle Cafés von Rockland sind in dem Festivaltrubel total überlaufen. Vor jedem gibt es lange Schlangen. Eine Stunde Wartezeit Minimum! O-TON Nancy I've been affiliated ... with lobsters. SPRECHERIN Ich arbeite seit zehn Jahren auf dem Festival und seitdem ist es jedes Jahr größer geworden. Jedes Jahr haben wir mehr Hummer verkauft. Waren es in einem Jahr 20 000 Pfund, dann im nächsten schon 25 000. Das Festival wäre nichts ohne Freiwillige. Das gesamte Festival wird von Freiwilligen geschmissen. Kein einziger bekommt Geld. Sogar die Direktoren sind Freiwillige. Das Geld, das wir einnehmen, wird für gemeinnützige Zwecke ausgegeben. Wir haben zum Beispiel eine neue Fahnenstange errichtet, für die Veteranen von Rockland. Außerdem haben wir auch Geld für den Bau einer neuen Polizeistation beigesteuert. Um es kurz zu machen: Alles Geld wird für gemeinnützige Zwecke ausgegeben, es bleibt hier in der Stadt. ERZÄHLER Nancy scheint sich auszukennen, und ich beschließe, in ihrer Nähe zu bleiben. Doch zunächst brauche ich einen Kaffee. Nancy hat Zeit, sie wartet hier auf ihren Neffen, der mit der Fähre von einer der Inseln kommt. Ich schiebe einen Dollarschein in die Maschine, drücke auf die Optionen ?extra strong? und ?with milk?. Natürlich ist die Milch irgendein Pulver, doch das spielt keine Rolle. Während das heiße Gebräu einläuft, werfe ich einen Blick auf den Automaten mit den Snacks. Er ist fast leer. Es gibt nur noch eine Tüte mit kleinen Salzbrezeln und eine Süßigkeit mit dem Namen ?Whooppie Sandwich?. Ich ziehe das ?Sandwich? aus dem Automaten. Es ist schwarz mit einer weißen Füllung. Die chemische Zusammensetzung der Zutaten nimmt fast die gesamte Rückseite der Verpackung ein, und ich beschließe, mir das lieber nicht durchzulesen. ATMO Möwengeschrei in Hafen, Nebelhorn von Fähre ERZÄHLER Ich sitze neben Nancy auf einer Holzbank an der Außenseite des Fährterminals, nehme einen Schluck Kaffee und beiße ins ?Whoopie Sandwich?. Himmlisch! Mit wie wenig man doch glücklich sein kann, wenn einem der Magen knurrt! Wir schauen auf den Hafen von Rockland. Es ist ein malerischer Tag. Zahllose Boote schippern die Bay entlang. Die Sonne glitzert auf den Wellen. O-TON Nancy I was a corrections officer ... job for me. SPRECHERIN Ich war Gefängniswärterin im staatlichen Gefängnis von Maine, doch als ich auf meinem rechten Auge nicht mehr sehen konnte, musste ich gehen. Wenn es mit den Gefangenen Probleme gegeben hätte, wäre ich vielleicht nicht in der Lage gewesen, adäquat zu reagieren. Die Insassen mochten mich, denn ich habe sie behandelt, wie ich selbst gern behandelt werden möchte. Danach habe ich fünf Jahre lang nicht gearbeitet, und dann habe ich gehört, dass sie in dem italienischen Restaurant am Hafen einen Tellerwäscher und eine Küchenhilfe brauchen. Und da habe ich gesagt: Hey, das ist ein Job für mich. ERZÄHLER Nancy trägt eine Brille, und es ist eigentlich nicht zu merken, dass sie auf einem Auge kaum noch etwas sieht. Sie ist Ende vierzig. Das Restaurant, in dem sie jetzt arbeitet, kann man vom Fährterminal aus sehen. Es heißt "Conti's" und liegt auf dem etwa einen Kilometer entfernten Festivalgelände, auf dem es allerlei Zelte gibt und auch einen Rummel mit einem zwanzig Meter hohen Riesenrad. ATMO Nebelhorn der Fähre ERZÄHLER Die Fähre legt an. Nancys Neffe George ist acht Jahre alt und kann es natürlich gar nicht erwarten, auf den Rummel zu kommen. Nancy hat einen Hummer-Hut für Kinder mitgebracht, setzt ihn ihrem Neffen auf und hält ihm einen Handspiegel vors Gesicht. Der Knabe grinst. ATMO Motorgeräusche von Go-Karts, Zuschauer der Parade ERZÄHLER Um aufs Festivalgelände zu kommen, müssen wir wieder an der Parade vorbei. Wir passieren ein Defilee aus Miniatur-Autos, die von Kriegsveteranen gesteuert werden. Die Veteranen haben eine Art türkischen Fez auf dem Kopf: Einen roten, leicht konisch zulaufenden Filzhut mit schwarzer Quaste, die an einer langen Kordel hängt. Die Autos haben sie in ihrer Freizeit gebaut. Es ist ein Ferrari dabei, ein Camaro, ein Polizeiwagen, ein Feuerwehrauto und mehrere amerikanische Trucks. Die Autos gleichen den Originalen aufs Haar, sie sind eben nur viel kleiner. Die alten Männer haben einige Mühe, die Beine in den kleinen Fahrzeugen unterzubringen. Sie präsentieren ihre Schmuckstücke, indem sie einer hinter dem anderen im Kreis fahren, und passen sich so der Schrittgeschwindigkeit der Parade an. ATMO Straßenparade ERZÄHLER Den Veteranen folgt eine Kostümgruppe, die ebenfalls das Thema 'Hummer' zelebriert. Ein riesiger Hummer aus Pappmaché wird von ein paar Männern in Hummerkostümen an Metallstangen in die Luft gehalten. Danach dann einige offene Sportwagen mit Schönheitsköniginnen. Zuerst kommt die "Miss Hummerfestival" vom letzten Jahr, ihr folgen die Kandidatinnen für den diesjährigen Wettbewerb. Alles attraktive, junge Damen, doch ihre Aufmachung ist ziemlich grell: Glitzernde Kleider mit Handschuhen, die bis zu den Ellenbogen reichen, die volle Ladung Make-up und Haarspray und natürlich ein breites Lächeln mit superweiß gebleichten Zähnen. ATMO Festival, Stimmengewirr, Ansager, Musik ERZÄHLER Nancy, George und ich haben es schließlich geschafft, uns durch die Menge bis zum Eingang des Festivalgeländes hindurch zu zwängen. Eigentlich kostet die Tageskarte - ein orangefarbenes Armbändchen - sieben Dollar, doch Nancy besorgt mir eins umsonst. Auf dem Festivalgelände ist bereits die Hölle los. Zwischen Buden und Ständen wimmelt es von Menschen; auf dem Rummel gibt es allerlei Halli-Galli, unter anderem einen dicken Clown, der über einem Schwimmbassin thront und die Passanten beschimpft. ATMO Beschimpfungen des Clowns, Rummelgeräusche ERZÄHLER Wenn man mit dem Ball eine bestimmte Zielmarke trifft, dann fällt der provokante Clown ins Wasser. Natürlich kenne ich das aus Filmen, aber ich wusste nicht, dass es diese Art von Entertainment noch immer live gibt. ATMO Clown fällt mit lautem Platsch ins Wasser ERZÄHLER Ein junger Mann hat es tatsächlich geschafft, den Clown zu versenken. Mühsam klettert der Mann - ich schätze ihn auf Mitte fünfzig - wieder auf seinen Fallsitz. Der Clown ist jetzt triefend nass, fängt aber gleich wieder an, die Passanten zu beschimpfen. Ich lasse Nancy und George auf dem Rummel zurück und mache mit ihnen aus, sie später wieder zu treffen. Denn jetzt will ich mir das leisten, weswegen ich eigentlich hier bin: Hummer, Hummer und nochmals Hummer. ATMO Troy's "Half Moon Jug Band" spielt im großen Hummerzelt den Song "State of Maine", der das Leben in Maine auf die Schippe nimmt O-TON Troy We call it a jug band ... progressive jug music. SPRECHER Wir nennen uns Jug Band. Jug Bands sind in den 20er Jahren entstanden, sie haben mit selbstgebauten Instrumenten gespielt. Okay, unsere Instrumente sind nicht selbstgebaut, aber unsere Songs, die haben wir alle selbst gemacht. ERZÄHLER Ich hatte Troy am Vortag auf meiner Suche nach einer Unterkunft kennen gelernt, und er hatte mir erzählt, dass er mit seiner "Half Moon Jug Band" im großen Hummerzelt spielt. Troy ist Anfang dreißig, trägt eine abgegriffene Baseballmütze und hat immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Mir gefällt die Musik der Band, weil sie gute Laune verbreitet und so ganz und gar nicht dem Mainstream entspricht. Ich kaufe Troy eine der selbst produzierten CDs ab. ATMO Hummerzelt, Stimmengewirr von mehreren hundert Leuten, Hintergrund Rummel ERZÄHLER Das Hummerzelt ist eigentlich ein großes Bierzelt mit den üblichen Klapptischen und Holzbänken. Hummer gibt es hier en masse. Das Zelt ist fast bis auf den letzten Platz mit Leuten gefüllt, die sich den Bauch mit frisch gekochtem Hummer voll schlagen - und dabei ist es noch nicht mal Mittagszeit. Das kleine Problem bei der ganzen Sache: Natürlich ist hier Selbstbedienung, und die Schlange fürs Hummermenü misst fast dreihundert Meter. Und darauf habe ich nun wirklich keine Lust. Obwohl die Abfertigung wie am Fließband läuft, muss man doch mindestens eine halbe Stunde Schlange stehen bis man drankommt. - "Okay", sagt Troy, "was willst du, single, double oder tripple?" - "Tripple." Ich gebe ihm zwanzig Dollar, und er verschwindet hinter der Abfertigungstheke. Troy fährt selbst gelegentlich zum Hummerfischen raus, und natürlich kennt er hier jeden. Ein paar Minuten später habe ich ein Menü mit drei dampfenden Hummern vor mir stehen. Wow! Drei Hummer für zwanzig Dollar! ? Gut, Hummer essen ist in Maine etwas ganz Gewöhnliches und hat absolut nichts mit einer Gourmet-Erfahrung zu tun. O-TON Troy That?s very strange to us. SPRECHER 1 Also, das ist wirklich sehr seltsam für uns, dass Hummer in anderen Teilen Welt als Gourmet-Essen gilt. Hier bindest du dir einen Plastiklatz um, manche Leute nehmen auch eine Mülltüte, in die sie ein Loch reißen, und dann haust du einfach rein. Du nimmst dir die Scheren vor, denn dort ist das Fleisch, an das man am leichtesten kommt. Du knackst die Scheren mit einem Nussknacker, ziehst das Fleisch heraus uns stippst es in zerlassene Butter. Das ist der einfache Teil der Sache. Dann brichst du das Schwanzteil ab, drehst den Hummer um, schlitzt ihn in der Mitte auf und pellst die Schale ab, so ähnlich wie bei einer Orange. Wenn du gut bist, kriegst du das Fleisch vom Schwanz in einem Stück raus. Die meisten Leute hören dort auf, denn das sind die Stellen, an die man leicht herankommt. Doch die Kenner saugen auch noch an den Beinchen wie an Strohhalmen, denn dort ist ebenfalls Fleisch drin. ERZÄHLER Das standardisierte Hummermenü besteht - außer dem Hummer - aus einem Plastiklatz, einem Schälchen zerlaufener Butter, einem gekochten Maiskolben, einem etwas labberigen Brötchen und einer Tüte "Maine Coast" Kartoffelchips. Das Ganze wird auf einem grauen Tablett aus Recycling-Pappe serviert, das mich ein wenig an DDR- Klopapier erinnert. Nicht gerade besonders ansprechend, doch was soll's. Hummer ist Hummer. Ich binde mir das Lätzchen um und lege los. Troy grinst. Er kann kaum verstehen, dass die Leute so auf Hummer versessen sind. Er ist eben verwöhnt. O-TON Troy I eat Lobster ... if at all. SPRECHER 1 Schätzen tun ihn mehr die Leute, die nicht so nah dran leben. Ich esse ganz selten Hummer. Vielleicht einmal im Jahr. Wenn überhaupt. ERZÄHLER Plötzlich stehen Nancy und der kleine George an unserem Tisch. Sie grinst, als sie mich gleich drei Hummer auf einmal verspeisen sieht. Und natürlich ist auch für sie Hummer nichts Besonderes. Im Gegenteil! Ich labe mich an dem zarten Hummerfleisch und knabbere an dem gekochten Maiskolben. Ich will wissen, wie man einen Hummer eigentlich korrekt kocht. Gibt es da irgendein Geheimnis? O-TON Troy Well, you put a pot of water ... and it?s done. SPRECHER 1 Du setzt einen Topf mit Wasser auf und bringst das Wasser zum Kochen. Danach wirfst du den Hummer hinein, mit dem Kopf zuerst. Und dann wartest du einfach, bis er aufhört zu zappeln, und fertig ist die Laube. O-TON Nancy You take a big pot ... they're done. SPRECHERIN Du nimmst einen großen Topf, füllst ihn so etwa fünf Zentimeter mit Wasser und gibst ein bisschen Salz dazu. Du wartest, bis es kocht, dann wirfst du sie hinein. Sie werden dann langsam rot. Jeder denkt, dass Hummer rot sind, doch das stimmt nicht, sie sind braun, wenn du sie fängst, sie werden erst rot, wenn man sie kocht. Es gibt übrigens auch blaue Hummer, gelegentlich fängt man einen blauen. Aber die muss man zurückwerfen, die darf man nicht fangen. Sie werden also rot, wenn man sie kocht. Um zu prüfen, ob sie durch sind, ziehst du an den langen Fühlern. Wenn sie sich lösen, ist der Hummer durch. ERZÄHLER Die Schale meiner Hummer lässt sich überraschend einfach knacken. Sie ist nur etwa so dick wie die Schale einer Erdnuss, und ich brauche keine Hummerzange dafür. Das habe ich aus Restaurants ganz anders in Erinnerung. Dort waren die Schalen immer äußerst schwierig zu knacken. O-TON Nancy There's hard shell ... it?s done. SPRECHERIN Es gibt Hummer mit harter und mit weicher Schale, die mit der weichen nennt man auch "Abwerfer", weil sie gerade ihre alte Schale abgeworfen haben. Sie machen das jedes Jahr, damit sie größer werden und eine neue Schale bilden können. ERZÄHLER Wie fängt man ihn eigentlich, den Hummer? O-TON Troy Some guys pull their trap ... by noontime or so. SPRECHER 1 Die Hummerfischer fahren gern ganz früh mit der Ebbe raus. Bist du schon mal ganz früh wach gewesen? Sogar in der Stadt ist um diese Zeit kaum jemand unterwegs. Und auf dem Meer ist es geradezu unheimlich friedvoll. Außerdem schaffst du es, mit deinem Fang bis zwölf zurück zu sein. Und genau das ist die Zeit, den Hummer zu kaufen, damit man ihn zu Mittag essen kann. ERZÄHLER Natürlich weiß ich jetzt immer noch nicht genau, wie man den Hummer eigentlich fängt, doch Troy hilft im Moment seinem Onkel beim Hummerfischen und bietet mir an, am nächsten Morgen mit aufs Meer hinaus zu fahren. Er zeigt auf eine Anlegestelle am Pier. "Wir treffen wir uns da vorn morgen früh um sechs." Nancy kennt Troys Onkel und warnt mich, er sei ein etwas eigenwilliger Kauz - wie fast alle Hummerfischer. O-TON Nancy My ex-boyfriend was ... kicked his ass out. SPRECHERIN Mein Ex-Freund war Hummerfischer. Wir waren zwölf Jahre zusammen, dann hab ich ihn rausgeschmissen. Ein einziges Mal bin ich mit raus zum Hummerfischen gefahren. Junge, ich hatte vielleicht Schiss, wir waren so weit draußen, dass man kein Land mehr sehen konnte. Ich habe gedacht: Oh, mein Gott, werden wir es bis zurück schaffen? Ich kann nämlich nicht schwimmen. Und das Komische ist: Die meisten Hummerfischer können auch nicht schwimmen. Deshalb haben sie immer ein Messer im Stiefel stecken. Manchmal kommt es vor, dass sich einer beim Auswerfen der schweren Fallen in der Leine verfängt, und dass er dann über Bord geht. Die Fallen wiegen so um die 35 Kilo und normalerweise hast du fünf an der Leine. Du wirfst sie also hinein und blub, blub, blub, sie sinken wie Steine. Und wenn sich die Leine aus Versehen um deine Füße wickelt, dann gehst du mit in den Teich. Deshalb haben sie immer ein scharfes Messer dabei, damit sie die Leine durchschneiden können. O-TON Troy There have been gunfights ... living room. SPRECHER 1 Es hat schon oft Schießereien gegeben. Jeder Hummerfischer hat seine eigenen Bojen. Sie sind alle bemalt, und jeder Fischer hat sein Farbschema, damit er die Bojen identifizieren kann. Es hat wirklich schon Morde gegeben da draußen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Hummerfischer ein Gewehr bei sich hat. Wenn du jemanden nicht magst, dann schneidest du einfach seine Boje ab. Der findet dann seine Fallen nie wieder. Es gab schon oft Zusammenstöße und Keilereien. Es ist ein bisschen wie der Wilde Westen. Es ist nicht mehr ganz so brutal, aber es gibt noch immer harte Konkurrenz. Bestimmte Stellen sind einfach besser als andere, um Hummer zu fangen, und du kannst natürlich deine Falle nicht direkt neben der von jemand anderem auswerfen. O-TON Nancy These lobstermen out here ... it?s done. SPRECHERIN Die Hummerfischer in dieser Gegend sind ziemlich harte Burschen. Wenn du deine Fallen zu nah an die eines anderen setzt, dann schneidet der dir knallhart deine Boje ab. Die Fallen kosten zwischen 400 und 500 Dollar, die liegen dann irgendwo auf dem Meeresboden, und ohne Boje findest du sie nie wieder. An einer Boje hängen meistens fünf Fallen hintereinander. Wenn du also fünf an einer Leine hast, dann sind 2500 Dollar weg, weil sie die Boje abgeschnitten haben. Wenn du aus Rockland kommst, dann darfst du nur in den Gewässern vor Rockland Hummer fangen. Wenn du über diese Grenze hinausgehst, werden sie dir die Bojen abschneiden. Du verlierst alles. Die sprengen dein Boot in die Luft und schießen auch auf dich. Das stimmt wirklich, ich schwöre beim Leben meines Kindes. ERZÄHLER Troy muss zurück auf die Bühne des Hummerzelts. Seine Pause ist vorüber. "Also, kommst du morgen früh?" fragt er noch. - "Logisch." Obwohl ich nicht unbedingt so früh raus möchte, darf ich mir das nicht entgehen lassen. Ich muss mir nur noch irgendwo einen Wecker besorgen. Der kleine George muss auf die Toilette, und wir laufen in Richtung Conti's, dem italienischen Restaurant, wo Nancy arbeitet. Das einzige, was mir bei meinem Hummerschmaus gefehlt hat, ist ein schönes Glas Weißwein. Doch Alkohol gibt es auf dem Festivalgelände nicht. Wohl aber bei Conti's. Allerdings darf niemand mit einem Glas in der Hand den Vorgarten verlassen. Es gehört zu Nancys Aufgaben, darauf zu achten, dass diese Regel auch eingehalten wird. Sie wechselt sich dabei mit einigen anderen Freiwilligen ab. O-TON Nancy The place ... it?s superb. SPRECHERIN Die Atmosphäre im Restaurant ist total relaxt. Wir benutzen zum Beispiel Zeitungen als Tischdecken. Die Bedienungen tragen auch keine Uniformen, sondern ganz normale Klamotten. Wir nehmen zwar Bestellungen entgegen, reden aber mit den Gästen wie mit Freunden. Der Koch ist gleichzeitig auch der Besitzer, John Conti. Er steht allein am Herd, niemand darf seinen Creationen auch nur zu nahe kommen, weil er dich sonst nämlich erschießt. Wir bekommen alle Zutaten täglich frisch angeliefert, alle Meeresfrüchte, und auch alles Gemüse kommt jeden Tag frisch. Das Essen ist wirklich exzellent hier, einfach superb. ERZÄHLER Conti's ist ein ziemlich schräges Restaurant. Es hat einen malerischen Blick aufs Meer, und im Innern sieht es ein bisschen aus wie in einem gestrandeten Schiff. Fischernetze hängen von der Decke, in einem Regal stehen alte Navigationsinstrumente. Die Beleuchtung besteht ausschließlich aus Kerzen und Sturmleuchten, es gibt keine einzige elektrische Lampe. Zum Restaurant gehört auch ein Bootssteg, auf dem während des Festivals eine Getränketheke aufgebaut ist. Dort leiste ich mir ein Glas Sauvignon Blanc. Die Bedienung ist eine Nichte von Nancy und hat genau wie sie einen Hummer-Hut auf. Sie heißt Julie. Ich schätze sie auf Anfang zwanzig. Julie hat ihr blondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten und ist ausnehmend hübsch. Sogar der Hummer-Hut steht ihr. Als Nancy ihr erzählt, dass ich aus New York komme, zieht sie ihre Tasche unter der Theke hervor und zeigt mir ein paar Fotos von ihren Theaterauftritten. ATMO Musik von einer karibischen Steelband ERZÄHLER Direkt neben dem Bootsteg mit der Bar befindet sich eine Bühne, auf der jetzt eine karibische Steelband spielt. Das Interessante an der Band ist, dass es keinen einzigen Schwarzen gibt. Die Musiker kommen alle aus Maine. Der Bundesstaat ist traditionell weiß. Afroamerikaner oder Einwanderer aus der Karibik sind hier selten. Ich nippe an meinem Weinglas und sehe mir Julies Fotos an. Es sind Aufnahmen von Studentenaufführungen: Julie als Hexe, als Krankenschwester im amerikanischen Bürgerkrieg und als Prostituierte mit Strapsen und tiefem Ausschnitt. Julie kann auch singen und will unbedingt zum Theater. Ich erzähle ihr, dass ich einen Gitarristen kenne, der am Broadway fest angestellt ist. Außerdem habe ich einen Freund, der als Regisseur an einem kleinen Theater im East Village arbeitet. Julie will unbedingt meine Telefonnummer haben. "Irgendwann komme ich nach New York", sagt sie, "und dann rufe ich dich an." George fängt an zu nörgeln, er will unbedingt zum Bungee- Springen. Nancy kann nicht weg, denn sie ist jetzt dran, darauf zu achten, dass niemand mit seinem Drink aufs Festivalgelände geht. Ich biete mich an, den Kleinen zum Bungee-Springen zu bringen. ATMO Ansager für Miniaturbootrennen erklärt die Ausstattung der Boote und kommentiert das Rennen ERZÄHLER Direkt neben dem Bungee-Springen für Kinder gibt es im Hafen einen Wettbewerb für Miniaturfischerboote. Der Ansager ist ganz witzig. George und ich gucken uns die Sache einen Moment lang an. George klettert schließlich auf die Leiter zum Bungee Gerät und zwängt sich in einen der Sitze, die an Gummiseilen befestigt sind. Dann springt er von der Plattform und schnellt mit einigen anderen Kindern an den Gummiseilen auf und ab. Er kreischt und lacht. MUSIK Dean Martin: "When you're smiling" ERZÄHLER George kommt zurück und fragt mich, warum ich eigentlich keinen Hummer-Hut aufhabe. Eine gute Frage. Wir gehen zusammen zu einem der Verkaufsstände, und ich kaufe mir einen für zehn Dollar. Wahrscheinlich sehe ich damit ein bisschen bescheuert aus, aber was tut man nicht alles, um dazu zu gehören. Wir gehen zurück zu Conti's, denn ich möchte gern noch ein Glas Wein trinken. Leider ist Julie nicht mehr da. "Sie nimmt Gesangsunterricht", sagt Nancy, ?sie kommt erst morgen wieder.? Außerdem verrät Nancy mir noch ein Geheimnis, das man in Rockland eigentlich niemandem verraten sollte. O-TON Nancy I would never eat ... would kill for it. SPRECHERIN Ich mag eigentlich keinen Hummer. Ich esse ihn nur, wenn ich unbedingt muss. Ich mag alle Arten von Muscheln, aber keinen Hummer. Ich hab es probiert, aber ich mag einfach nicht. ERZÄHLER Ich bin ein wenig überrascht, doch Geschmäcker sind eben verschieden. Dann erinnere ich mich plötzlich an meinen Leihwagen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich in dem kleinen Waldweg parken darf. Ich gehe zurück und bekomme einen leichten Schock. Direkt vor dem Waldweg steht ein Polizeiwagen mit Blaulicht. MUSIK The Beatles: "Baby, you can drive my car" ERZÄHLER Der Polizist, der an meinem Auto steht und bereits die Nummer aufgeschrieben hat, weist mich darauf hin, dass ich hier nicht parken darf und fragt mich nach meinem Führerschein. Ich ziehe meine deutsche Pappe aus der Tasche und zeige sie vor. Da ich ganz selten Auto fahre, habe ich noch den uralten grauen Führerschein. So einen hat der Maine State Trooper wohl noch nie gesehen, denn er zieht die Augenbrauen hoch. "Was ist das?" - "Ein deutscher Führerschein." Ich ziehe die beglaubigte Übersetzung des deutschen Konsulats in New York aus der Tasche, in der unter anderem steht, dass der Führerschein auch in den USA gilt. Der Beamte überfliegt das Dokument und sieht mich skeptisch an. "Sie sind Deutscher, fahren einen Wagen mit einem Kennzeichen aus dem 3000 Meilen entfernten Florida und parken in einem Waldweg in Maine?" - "Es ist ein Leihwagen, der Wagen ist geliehen." Ich fummele den Leihvertrag aus der Tasche, in dem auch meine New Yorker Adresse steht. "New York, ha?" Der Beamte sieht mich prüfend an. Sein Trooper-Hut hat vorn einen goldenen Anstecker in der Form eines Adlers, und das Hutband ist eine Kordel, die in zwei goldenen Metallstiften ausläuft. Ich weiß, dass New Yorker im Rest des Landes nicht besonders beliebt sind, denn sie gelten als arrogant und noch dazu als verrückt. Viele Amerikaner verstehen nicht, wie man freiwillig nach New York ziehen kann, eine Stadt, in der das Chaos regiert und der Wahnsinn Methode hat. Ich habe die Befürchtung, dass der Trooper mir eins überbraten könnte, nur, weil ich aus New York komme. "Sie sind hier zum Hummerfestival?" Ich nicke, und die Fühler an meinem Hummer-Hut wackeln ein wenig. Ich hatte völlig vergessen, dass ich noch immer den bescheuerten Hut aufhabe. Der Beamte grinst plötzlich. "Weil mir Ihr Hut gefällt, drücke ich noch mal ein Auge zu. Aber verschwinden Sie schleunigst von hier. Um ein Haar hätte ich Sie abschleppen lassen." MUSIK Beatles: "Baby, you can drive my car? ATMO Motorgeräusche vom Hummerboot, ein Nebelhorn, kreischende Möwen O-TON Troy My job ... living room. SPRECHER 1 Mein Job beim Hummerfischen ist es, den Beutel mit dem Köder zu füllen. Maine hat ganz strenge Gesetze, die regeln, wer fischen darf und wer nicht. Und ich habe keine Lizenz, deshalb darf ich nur den Köderbeutel füllen. Es gibt auch nur eine begrenzte Anzahl von Lizenzen, und um eine zu bekommen, musst du dich in eine Warteliste einschreiben und jahrelang warten. Und wenn du endlich eine hast, dann musst du natürlich die Regeln befolgen. Du darfst keine Weibchen fangen, die Eier legen, und die zu kleinen musst du auch wieder rein werfen. ERZÄHLER Sechs Uhr morgens. Troy, sein Onkel Richard und ich fahren hinaus zum Hummerfischen. Ich bin noch ein bisschen müde, denn ich habe natürlich wieder nicht besonders gut geschlafen in dem winzigen Auto. Glücklicherweise habe ich diesmal aber wenigstens einen vernünftigen Parkplatz gefunden. Doch der majestätische Anblick des offenen Meeres, auf dem die Morgensonne glitzert, entschädigt mich für das frühe Aufstehen. Troys Onkel Richard ist ein dünner, wortkarger Mensch. Er hat seine zerzausten Haare unter eine alte Baseballmütze geklemmt, trägt eine grüne Latzhose und braune Gummistiefel. Am Führerhaus des Bootes klebt ein Sticker mit dem Spruch: "Stop the talkin' and do the walkin'!", was frei übersetzt etwa soviel heißt wie: "Halt die Klappe und fass endlich mit an." Richard steht am Steuer und macht ein ziemlich ernstes, genervtes Gesicht. Ich habe das Gefühl, dass er mich lieber nicht mitgenommen hätte. "Er ist immer so", flüstert Troy mir zu, "aber im Grunde ist er okay." Das Hummerboot ist etwa acht Meter lang und hat eine offene Ladefläche. Die braucht man, um die Hummerfallen stapeln zu können. O-TON Troy You catch them ... supply of dead fish. SPRECHER 1 Hummer fängt man mit dem stinkigsten, verfaultesten Fisch, den man sich vorstellen kann. Man benutzt Fischabfälle, die kein Mensch essen würde und die noch nicht mal die anderen Fische fressen. Doch die Hummer sind wie versessen auf den verfaulten Fisch und krabbeln in die Falle, um an ihn heranzukommen. ERZÄHLER Troy lässt mich einen Blick in einen Plastikeimer mit Fischabfällen werfen. Das Zeug stinkt entsetzlich. Mir wird fast schlecht. Troy legt schnell wieder den Deckel auf den Eimer. O-TON Troy When you are eating ... what the are eating. SPRECHER 1 Wenn du einen Hummer isst, dann musst du immer daran denken, wovon die sich eigentlich ernähren. ERZÄHLER Wir fahren immer weiter aufs Meer hinaus. Rechts und links von uns schwimmen überall Bojen, die aussehen wie übergroße Schwimmer von Angeln. Jeweils nach ein paar hundert Metern ändert sich die Farbe der Bojen, was anzeigt, dass diese Fallen einem anderen Hummerfischer gehören. Mir fällt auf, dass wir, soweit das Auge reicht, von Bojen umgeben sind. Es scheint, als ob alle zwanzig, dreißig Quadratmeter eine Boje schwimmt. Als ich Troy darauf aufmerksam mache, erzählt er mir, dass vor der Küste von Maine mehr als zwei Millionen Fallen ausliegen. Schließlich erreichen wir Richards Fischgründe. Seine Bojen sind eine echte Überraschung, denn es sind eigentlich gar keine richtigen Bojen sondern Waschmittel- Kanister aus Plastik. Die regulären Bojen kosten zwanzig Dollar das Stück. Das Geld wollte er wohl sparen. ATMO Möwen, hydraulische Seilwinde ERZÄHLER Richard hievt mit einer hydraulischen Seilwinde die ersten fünf Hummerfallen hoch. Es sind Drahtkisten, etwa einen Meter breit, fünfzig Zentimeter hoch und fünfzig Zentimeter tief, und hängen alle an einer Boje. Der Kistenboden ist mit Beton beschwert, damit sie besser sinken. Und tatsächlich: In den Kisten krabbeln zig Hummer verschiedener Größe herum. Ein paar von den größten wirft Richard gleich wieder ins Meer. Es sind besonders paarungsfreudige Männchen, die der Arterhaltung dienen. Einige sind tragende Weibchen. Sie haben dunkelroten Rogen an den Bäuchen. Die wandern auch sofort zurück ins Meer. Der restliche Fang, immerhin fast zwanzig Tiere, kommt in einen großen blauen Container. Troy bestückt inzwischen die Köderbeutel der Fallen mit dem stinkenden Fisch und hält sich dabei die Nase zu. Die Fallen sind ziemlich raffinierte Gebilde. Es gibt einen Einstieg in ein konisch zulaufendes Netz. Wenn der Hummer sich durch dieses dehnbare Netz seinen Weg zum Köder bahnt und dabei in den so genannten "Salon" gelangt, dann kommt er von dort nicht wieder heraus. Es sei denn, er ist ein Baby-Hummer und so klein, dass er aus dem eingebauten Notausstiegsloch kriechen kann. Nachdem Troy den neuen Köder platziert hat, fliegen die Fallen wieder mit einem lauten Platschen zurück in den Ozean, Richard lässt den Motor an, und wir schippern ein paar Meter bis zur nächsten Boje. O-TON Troy Independence is the most ... your own choices. SPRECHER 1 Die Unabhängigkeit ist das Wichtigste hier in Maine. Es ist nicht so schlimm, arm zu sein, solange du Herr deines eigenen Schicksals bist und nicht Knecht einer Stechuhr. Wenn du einmal hinaus gefahren bist zum Hummerfischen, dann spürst du diese Freiheit, du bist keinem verantwortlich, du kannst machen, was du willst. Du könntest zum Beispiel einfach nach Frankreich schippern, du würdest wahrscheinlich nicht ankommen, aber du könntest es versuchen. Mit anderen Worten, du lebst und stirbst aufgrund deiner eigenen Entscheidungen. ERZÄHLER Ein paar Stunden später sind wir wieder zurück und liefern unsere Hummer an der Anlegestelle ab. Von dort werden sie dann sofort zu den großen Kochtöpfen gebracht. So sind die Hummer wirklich super frisch, wenn sie auf dem Festival verzehrt werden. Auf der Fahrt hat Troy die Scheren jedes einzelnen Hummers mit dicken Gummibändern umwunden. Das macht man vor allem deshalb, hat er mir erklärt, damit sie sich nicht gegenseitig verletzen. O-TON Troy If you go to buy ... one you want. SPRECHER 1 Wenn du einen Hummer kaufen gehst, und er bewegt sich kaum, wenn er etwas lethargisch wirkt, dann nimm ihn nicht. Denn das ist wahrscheinlich einer vom Vortag. Du willst den lebhaftesten von allen, den, der kämpft, der mit seinen Zangen nach dir schnappt. ATMO Hummerzelt ERZÄHLER Ich helfe Troy und Richard die Kisten mit dem Hummer zum "größten Hummerkocher der Welt" zu bringen. Wie es der Zufall will, arbeiten heute Nancy und ihre Nichte Julie dort als Freiwillige. Julie trägt hautenge Jeans und ein knappes T-Shirt, das den Bauchnabel freilässt. Eigentlich nicht gerade das ideale Outfit, um am Hummerkocher zu arbeiten, doch den männlichen Passanten gefällt es. Und Troy flüstert mir zu, dass er schon oft von Julie geträumt hat, aber einfach nicht an sie rankommt. Als Nancy und Julie die nächste Fuhre Hummer in die dampfenden Töpfe befördern, höre ich lautes Zischen, das sich ein bisschen anhört wie erstickte Schreie. Wie ist das eigentlich, empfinden Hummer Schmerzen? O-TON Troy They are very primitive ... way of brains. SPRECHER 1 Sie sind sehr primitive Tiere, so wie ein Wurm oder eine Spinne. Sie haben kein zentrales Nervensystem und empfinden deshalb auch keinen Schmerz. Wenn du einen Hummer aufmachst und reinguckst, dann wirst du sehen, dass da nur sehr wenig Gehirn vorhanden ist. ERZÄHLER Nancy erklärt, dass Hummer keine Stimmbänder haben und deshalb auch keine Geräusche machen können. Das Zischen, das manchmal wie ein Schmerzenslaut klingt, kommt von der Luft, die beim Erhitzen aus den Schalen entweicht. Ich will wissen, wer eigentlich sicherstellt, dass die Fangregeln alle eingehalten werden. Wer kann schon kontrollieren, ob jemand auf hoher See nicht doch die großen Männchen oder die Rogen tragenden Weibchen behält? O-TON Nancy We have coast guard ... you're done. SPRECHERIN Wir haben die Küstenwache und auch eine Hafenpatrouille, die tauchen plötzlich wie aus dem Nichts auf, fuuup, und sie sind da. Sie haben Schnellboote. Die Hummerboote sind bei weitem nicht so schnell. Und wenn sie dich erwischen, bist du dran. Die nehmen dich auf der Stelle fest. Wenn sie dich mit einem zu großen oder zu kleinen Hummer erwischen, dann musst du eine hohe Strafe zahlen, und du kannst deine Lizenz für zwei oder drei Jahre verlieren. ERZÄHLER Es ist der letzte Tag des Hummerfestivals. Langsam wird es etwas ruhiger, da viele Leute bereits nach Hause aufbrechen. Diesmal bekomme ich mein Hummermenü auch ohne Connections und langes Anstehen. Ich nehme es ganz elegant mit auf den Bootssteg von Conti's, leiste mir eine kleine Karaffe Weißwein und genieße die warme Nachmittagsonne. Der Hummer schmeckt nach wie vor hervorragend, doch ich komme nicht umhin, beim Essen auch an den stinkenden Köder zu denken. Ich verdränge den Gedanken ganz schnell wieder und spüle mit Sauvignon Blanc nach. Plötzlich sitzt Julie neben mir auf dem Bootssteg und fragt, wann ich zurück nach New York fahre, und ob sie für ein paar Tage bei mir unterkommen kann. Ich bin etwas überrascht und erkläre ihr, dass ich nur ein Ein-Zimmer- Apartment habe, das im Prinzip schon für eine Person zu klein ist. Julie lacht und sagt, dass es nur Spaß war. Außerdem steht plötzlich Nancy hinter uns. Ahnt sie, dass ihre Nichte weg will aus Rockland? Nancy setzt sich zu uns und fängt auf einmal an, von ihrem Ex-Freund zu erzählen, der manchmal auch im Winter zum Hummerfischen hinausgefahren ist, wenn er Geld brauchte. O-TON Nancy In the wintertime ... break the beard off. SPRECHERIN Die meisten Typen lassen im Winter Bart und Haare wachsen, weil es hier so kalt wird. Es ist oft 20 Grad unter Null, und wenn du den Wind einrechnest, dann sind es sogar 30 Grad unter Null. Auf dem Meer weht dir die Gischt ins Gesicht. Ich hab schon Typen gesehen, die mit einem Bart zurückgekommen sind, der zu einer Platte gefroren war. Die konntest du dann abbrechen. MUSIK Troy und seine Band "Beedle Um Bum" ERZÄHLER Das Maine Hummer Festival ist zu Ende. Ich sitze wieder in meinem koreanischen Kleinwagen und biege auf die Hauptstraße von Rockland Richtung New York ein. Ich traue meinen Augen kaum: Am Ortsausgang, ungefähr an der Stelle, an der ich während der Parade geparkt hatte, steht Julie mit einer Reisetasche und bedeutet mir, dass ich anhalten soll. Ich stoppe und kurbele das Fenster herunter. Sie sieht mich plötzlich böse an. "Du Lügner, du kommst aus Florida!" - "Quatsch, es ist ein Leihwagen." Ich zeige ihr den Vertrag der Autovermietung, auf dem meine Adresse in Manhattan steht. Julies Gesicht hellt sich wieder auf. Sie erzählt mir, dass sie eine Freundin hat, die an der New York University studiert, und dass sie dort erstmal unterkommen kann. Sie braucht nur jemanden, der sie mitnimmt. Ich frage, ob sie sich das auch wirklich gut überlegt hat. "Hey, erstens bin ich erwachsen, und zweitens kann ich jederzeit zurückkommen." Da hat sie eigentlich Recht. Ich lasse sie einsteigen und gebe Gas. MUSIK "Beedle Um Bum" 1 Lobster 4.doc