COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 7. Februar 2008, 19.30-20.00 Uhr Wie viel Gender braucht der Mensch? Zum aktuellen Stand der Geschlechterforschung Von Catherine Newmark Autorin Männer versuchen traditionellerweise nicht durch ihre körperlichen Reize zu überzeugen. Warum aber sah man letzten Sommer die Präsidenten von Russland und Frankreich so auffallend oft mit nacktem Oberkörper? Bis 1976 war in Deutschland die Ehefrau gesetzlich verpflichtet, ihrem Ehemann den Haushalt zu führen und dieser hatte das Recht, ihr die Berufstätigkeit zu verbieten. Letztes Jahr erschien die Idee einer nicht berufstätigen Hausfrau vielen so absurd, dass sie konservative Ansinnen, diese staatlich zu fördern mit dem Begriff "Herdprämie" abtaten. Und schließlich: Im Jahr 1990 klinkte sich der Bayerische Rundfunk aus dem Sendeverbund der ARD aus, als in der Lindenstraße ein schwuler Kuss gezeigt wurde; während sich letzten Herbst kaum jemand über Anne Wills Coming Out aufregte. Sprecherin "Geschlechterforschung/Gender-Studien fragen nach der Bedeutung des Geschlechts für Kultur, Gesellschaft und Wissenschaften. Sie setzen keinen festen Begriff von Geschlecht voraus, sondern untersuchen, wie sich ein solcher Begriff in den verschiedenen Zusammenhängen jeweils herstellt, bzw. wie er hergestellt wird, welche Bedeutung im beigemessen wird und welche Auswirkungen er auf die Verteilung der politischen Macht, die sozialen Strukturen und die Produktion von Wissen, Kultur und Kunst hat." Autorin Politik gehört bei der Wissenschaft vom Geschlecht seit jeher dazu. In ihren Anfängen ist die neuere feministische Forschung eng an die politischen und sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre gebunden, vor allem an die zweite Frauenbewegung - die wohl singulär wirksamste soziale Bewegung der letzten Jahrzehnte. Die erste Frauenbewegung hatte nach 1900 in vielen europäischen Ländern das Stimmrecht durchgesetzt. Die zweite ging weiter. Angewidert vom Machismus der 68er und von den "sozialistischen Eminenzen mit ihren bürgerlichen Schwänzen" gingen die Frauen Anfang der 70er Jahre auf die Straße, forderten das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auf Verhütung und Abtreibung, das Recht auf gleich bezahlte Erwerbsarbeit, den Zugang zur politischen Macht. Feministische Wissenschaft entstand zeitgleich und unterstützte diese politische Forderungen. Erstmals waren überhaupt Frauen in größerer Zahl an den Universitäten vertreten; hier trafen sie auf eine männlich geprägte Wissenschaftskultur, die sie nicht gerade mit offenen Armen empfing. Von Anfang an war feministische Theorie darum auch eine Kritik an den Wissenschaften und ihrer hergebrachten Form. Die Philosophin Cornelia Klinger, außerplanmäßige Professorin in Tübingen und ständiges wissenschaftliches Mitglied am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien, beschäftigt sich schon seit mehr als zwanzig Jahren kritisch mit der wissenschaftlichen Tradition des Abendlandes. O-Ton 1 Klinger ... in der gängigen Geschichtsschreibung, in der gängigen Philosophie, in der gängigen Sozialwissenschaft hat eigentlich die Frage der Geschlechterverhältnisse so gut wie keine Rolle gespielt oder eine ganz marginale und da ging es dann erstmal darum, diese Fragestellung zu entwickeln, es ging auch darum zu untersuchen, wie wurde in der Geschichte der verschiedenen Wissenschaften die weibliche Rolle, die Rolle der Geschlechterdifferenz, der Geschlechterverhältnisse - wie wurde das, wenn überhaupt - vor den Blick gebracht. Das war dann eben oft entweder ein Weglassen der weiblichen Seite der Wirklichkeit oder es war auch offen sexistisch. ...auch die Wissenschaften, auch die modernen Wissenschaften, auch die modernen Naturwissenschaften, haben sich sehr lange daran beteiligt, die Ungleichstellung von Frauen in der Gesellschaft zu begründen, und zwar sowohl zu erklären als auch zu legitimieren. Und in dieser Hinsicht haben Wissenschaften sehr lange gewissermaßen einen Beitrag zur Aufrechterhaltung asymmetrischer Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft geleistet. Also Wissen und Machtverhältnisse sind nicht so weit voneinander entfernt wie wir das in unseren Idealvorstellungen von Wissen und Wissenschaft gerne hätten... Autorin Der feministischen Kritik ist oft vorgeworfen worden, dass sie die wissenschaftliche Objektivität, den Blick auf das Normale und Allgemeine zugunsten einer parteiischen, partikularen Perspektive aufgebe. Dagegen versucht sie zu zeigen, dass auch das, was man bisher für das Allgemeine ausgegeben hat, immer schon ein besonderer Fall ist. Dass da, wo bisher kein Geschlecht gesehen wurde, durchaus eines stand, nämlich das Männliche. Sehr deutlich hat diese feministische Kritik in den neunziger Jahren die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway formuliert. Sie zeigt, dass der sogenannt neutrale, distanzierte, körper- und ortslose Blick der traditionellen Wissenschaft die eigene Bedingtheit nicht mitdenkt und darum unzulänglich ist. Der "erobernde Blick von nirgendwo", mit dem die sogenannt wissenschaftlich "objektive" Forschung betrieben wird, sitzt, ob er will oder nicht, immer auch in einem Körper. Wissen ist immer "situiertes Wissen", Theorie entsteht immer in einem Kontext. Neben der theoretischen Wissenschaftskritik ging es in der frühen feministischen Theorie immer auch um das empirische Anliegen, Frauen und deren Lebenswirklichkeit in Geschichte und Gegenwart sichtbar zu machen und zu berücksichtigen - die Frauenforschung im eigentlichen Sinn. Dass dann in den achtziger und neunziger Jahren aus der "Frauenforschung" "Geschlechterstudien" wurden, und aus der "feministischen Theorie" "Gender Studies", hatte nichts mit einer Absage an das Ziel der Frauenemanzipation zu tun. Sondern mit der Überzeugung, dass Gleichberechtigung nur durch die Untersuchung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander gefördert werden könnte. Cornelia Klinger: O-Ton 2 Klinger diese Bezeichnung Frauenforschung ist dann in den Hintergrund getreten. Ich finde einerseits mit gutem Grund, nämlich weil es sich ja nicht nur darum handelt, Frauen zu beforschen, so als wären Frauen gewissermaßen das Problem, und der Rest der Welt ist gewissermaßen der Normalzustand. Sondern es ist ja so, dass Frauen ein Problem haben speziell mit der Geschlechterordnung der Gesellschaft und an der sind ja nun nicht alleine Frauen beteiligt. Autorin Frauenforschung macht, so schon früh die Erkenntnis, ohne Männerforschung keinen Sinn. Mittlerweile gehören Männlichkeitsstudien fest zu den Geschlechterstudien dazu. Auf diesem Gebiet forscht zum Beispiel die Soziologin und Kulturwissenschaftlerin Sylka Scholz, die an der Humboldt Universität zu Berlin und an der Universität Hildesheim Gender Studies unterrichtet und 2004 eine Studie über Männer in Ostdeutschland veröffentlicht hat: O-Ton 3 Scholz Ja, also aus meiner Perspektive wäre Männlichkeitsforschung ein Teil der Geschlechterforschung, warum man das jetzt explizit noch Mal benennen muss, resultiert einfach aus der Geschichte der Frauenforschung. Frauenforschung hat sich ja in den 1970er Jahren konstituiert und hat erst einmal den Blick empirisch auf Frauen gelenkt. Natürlich war der theoretische Hintergrund das Geschlechterverhältnis und das ist natürlich ein relationales Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Männlichkeit und Weiblichkeit, aber empirisch blickte die Frauenforschung eben vor allen Dingen auf Frauen und in den 1990er Jahren, Mitte der 1990er Jahre, geriet das dann eben in die Kritik, dass man sagte, also man müsse auch den Blick empirisch auf Männer und Männlichkeiten richten und so hat sich zunächst erst Mal ein Forschungszweig etabliert, der genau das getan hat, allerdings muss man wirklich sagen, dass es eben als Teil der Geschlechterforschung - also aus meiner Perspektive - begriffen werden sollte, und nicht als eine Extra-Sonderforschung. Autorin Männlichkeitsforschung ist denn Sylka Scholz zufolge auch nur zu einem geringen Teil Resultat einer "Männerbewegung", wie die Frauenforschung es einer "Frauenbewegung" war: O-Ton Scholz Disk 1, 009 Also man muss ganz klar sagen, eine Männerforschung hat sich konstituiert als Folge von Frauenforschung, dass also an Männer von Frauen die Forderung gestellt wurde, sich zu verändern, es haben sich in den 1970er Jahren dann auch kleine Männergruppen gebildet, aber man muss sagen, also eine Männerbewegung wie eine Frauenbewegung hat es nie gegeben. Das ist ja auch ganz klar, weil bei den Frauen ging es darum, ihre Handlungsspielräume zu erweitern, möglicherweise auch an Macht zu partizipieren, bei Männern würde es umgekehrt immer darum gehen, zunächst erst mal Macht abzugeben und welchen Gewinn das dann an Autonomie und Selbstbestimmung geben kann, das steht dann doch in einem schwierigeren Verhältnis als bei Frauen und insofern ist es also auch bis heute so, dass es Männergruppen gibt, wo es ähnlich wie in der Frauenbewegung Auseinandersetzung mit männlicher Identität gibt, aber die sind doch deutlich geringer, also zahlenmäßig kleiner... Autorin Die Männlichkeitsforschung brachte wichtige Erkenntnisse in die allgemeine Geschlechterforschung mit ein. Einer ihrer Pioniere war der Soziologe Robert W. Connell, der in den 1980er Jahren das Konzept der "hegemonialen Männlichkeit" entwickelte, auf das sich noch immer viele Forscher und Forscherinnen berufen. Während die klassische Patriarchatskritik ziemlich holzschnittartig davon ausging, dass alle Männer alle Frauen unterdrücken, zeigte Connell, dass auch unter Männern Machtverhältnisse und Hierarchien vorherrschen, und dass es jeweils eine dominante oder "hegemoniale" Form von Männlichkeit gibt, die auch für Männer einen Zwang bedeutet. Und: Männlichkeit kann auch historisch verändern: Sprecherin "Über Männlichkeit als ein und dasselbe Wesen quer durch die Unterschiede von Ort und Zeit zu reden, bedeutet einen Abstieg ins Absurde." Autorin Denn: was bedeutet eigentlich männlich? Wer etwa zu erklären versucht, was "männliche" Eigenschaften sind, gerät in Teufels Küche. Wenn man damit, sagen wir mal, "aggressiv" meint, dann lässt sich leicht feststellen, dass auch Frauen aggressiv sein können. Manche sagen dann, dass auch Frauen männliche Eigenschaften haben - und Männer weibliche. Aber warum nennt man diese Eigenschaften dann überhaupt noch "männlich"? - Was wir im Alltag unter Männlichkeit und Weiblichkeit verstehen, hat die irritierende Tendenz, uns bei genauerem Nachdenken zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Frage, was eine Gesellschaft unter "männlich" und "weiblich" versteht und was es mit der vermeintlich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit auf sich hat, wurde darum von der feministischen Theorie von Anfang an gestellt. Und auch, welche Bedeutung die Sexualität hat. Speziell beschäftigen sich heute die sogenannten Queer Studies mit diesen Fragen. "Queer" bedeutet auf englisch "seltsam, sonderbar, leicht verrückt" und war ursprünglich ein Schimpfwort für Homosexuelle. In den neunziger Jahren haben vor allem schwule und lesbische Theoretiker und Theoretikerinnen sich den Begriff zu eigen gemacht. Volker Woltersdorff ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin: O-Ton 5 Woltersdorff Also die Queer Studies haben das Erbe von verschiedenen Disziplinen angetreten. Auf der einen Seite sicherlich die Geschlechter- und Gender Studies, auf der anderen Seite die Sexualitätsforschung, die Homosexualitätsforschung. Die Queer Studies verstehen sich aber so, dass sie erst mal nur Sexualität und die gesellschaftliche Verfasstheit von Sexualität ins Zentrum rücken und das mit einer kritischen Perspektive, die sich ansieht, wie sexuelle Normen hergestellt werden und dann auch wieder Ausgrenzungen, Marginalisierungen produzieren. Und versuchen über die Sexualität einen Blick reinzunehmen, der neue Erkenntnisse erlaubt und der vielleicht auch eine ungewohnte Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse erlaubt, in denen oft Sexualität ausgeblendet wird, obwohl man sie dann wenn man mit dieser anderen Brille draufschaut doch überall finden kann Queer Studies beschäftigen sich nicht nur mit der Beforschung von Homosexualitäten. Das ist ein häufiges Missverständnis. Sondern sie versuchen Sexualität als ein gesellschaftliches Verhältnis ins Zentrum zu rücken. Und ein weiteres wichtiges Thema von Queer Studies sind geschlechtliche Dissidenzen, also geschlechtliche Formen, die nicht der Norm entsprechen. Menschen, die sich nicht eindeutig ein Geschlecht zuweisen lassen wollen. Oder Transsexuelle. Oder Intersexen. Transvestiten, Drag-Kings, Drag-Queens, dieses ganze Sammelsurium verschiedener sexueller Subkulturen und auch geschlechtlicher Subkulturen. Autorin Großen Einfluss auf die Gender Studies hat auch die Kritik am Feminismus durch nicht-westliche, nicht-weiße und nicht-bürgerliche Frauen gehabt. Frauen aus der dritten Welt und schwarze Theoretikerinnen in Amerika, erinnerten daran, dass die Hierarchie zwischen Männern und Frauen nicht die einzig gesellschaftlich relevante ist. Die Gender Studies haben in der Folge ihr kritisches Inventar ausgeweitet auch auf andere Diskriminierungskategorien: "race, class and gender" werden oft in einem Atemzug genannt, aber es gibt auch andere, zum Beispiel sexuelle Identität, Ethnie, Religion. Alles dies lässt sich unter dem Stichwort "Diversity", Mannigfaltigkeit, zusammenfassen und gehört mittlerweile fest zu den Gender Studies dazu. Die Philosophin, Kultur- und Medienwissenschaftlerin Astrid Deuber-Mankoswky, Professorin an der Ruhr-Universität Bochum, sieht in diesen Ausweitungen und Anpassungen der Gender Studies eine Qualität: O-Ton 6 Deuber-M. Also ich glaube, dass die politischen Forderungen sich einfach auch verändert haben, weil der Feminismus, so wie ich ihn verstehe, sich auch immer dadurch ausgezeichnet hat, dass es ein hohes Maß an sagen wir mal Selbstreflexivität oder Flexibilität gegeben hat. Also wenn du jetzt zum Beispiel daran denkst, an die Kritik die Ende der 80er Jahre formuliert worden ist an dem weißen Feminismus, dann hat das zwar dazu geführt, dass man nicht mehr einfach Forderungen hat stellen können, politische Forderungen, im Namen der Frauen, aber man hat natürlich dann auch diese Bewegung mitgemacht und stellt Forderungen, die jetzt aufgenommen sind in dem Konzept der Diversity, also dass man auch diese Einsichten oder diese politischen Forderungen mitgetragen hat, von Seiten der Frauenbewegung, dass man eben den unterschiedlichen Identifikationsbewegungen und den unterschiedlichen Ausschlüssen auch, die verschiedene Hierarchien produzieren, auch gerecht werden muss. Ich glaube aber dadurch, dass die feministische Bewegung oder feministische Theorie oder Frauenbewegung auch nie so organisiert war wie jetzt eine Arbeiterbewegung oder eine Partei reagiert sie da viel viel viel sensibler eben auf diese Bewegungen und auf diese Veränderungen, die jetzt auch unter den Frauen passiert sind. Weil man ist ja nie sozusagen nur Frau. Autorin Das Verhältnis der Wissenschaft zu den politischen Emanzipationsbewegungen und ihren Forderungen ist unterschiedlich. Während einerseits fast alle Forscher und Forscherinnen davon ausgehen, dass die wissenschaftlichen Gender Studies immer einen Bezug zu den politischen Gleichberechtigungsforderungen haben und haben müssen, ist das Verhältnis selten ein ganz direktes. Die Wissenschaft befasst sich mit vielem, das nicht direkt politisch umgesetzt werden kann. Und unweigerlich kommen nicht alle Gender Studies zu denselben Ergebnissen. Sylka Scholz: O-Ton 7 Scholz Also ich denke dass es dann auch in den 1970er Jahren schon die ersten Konflikte gab zwischen Frauenbewegung und Frauenforschung, weil eine Wissenschaft natürlich auch erstmal in Ruhe empirisch forschen muss, ohne dass ganz klar ist, was kommt da jetzt raus für die Frauenbewegung, und das natürlich schon immer wieder zu Konflikten geführt hat, der Anspruch, auch heute, von Frauen- und Geschlechterforschung, ist natürlich sich in Gesellschaft und Politik einzumischen, aber die Ergebnisse sind dann eben doch nicht so eins zu eins zu übersetzen und das Problem stellt sich dann natürlich bei Männlichkeitsforschung ganz genauso. O-Ton 8 Woltersdorff Na, ich glaube, dass Wissenschaft immer sich verpflichtet fühlen sollte auch ihren gesellschaftlichen Gebrauchswert kritisch zu hinterfragen und Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm stattfinden sollte, sondern gerade Kultur- und Sozialwissenschaften im Dialog mit der Gesellschaft und mit sozialen Bewegungen stattfinden und in besonderem Maße gilt das vielleicht für die Geschlechter- und Sexualitätenforschung, weil deren Zustandekommen an den Universitäten sich diesen Impulsen und sozialen Bewegungen verdankt. Dass man nicht dann nicht ein imperatives Mandat hat in dem Sinne, dass man einfach nur den Willen der sozialen Bewegungen exekutiert, das konzediere ich sofort, aber zumindest sollte dieser Dialog, der auch ein kritischer sein kann, mit den sozialen Bewegungen nicht aufgegeben werden. Autorin So unterschiedlich Geschlechterforschung und Geschlechterpolitik im einzelnen betrieben wird, gemeinsam ist allen Gender Studien die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschlecht und die Überzeugung, dass dessen gesellschaftliche Relevanz über etwas, das man mit dem Hinweis auf die "Natur der Dinge" abhaken könnte, weit hinausgeht. Der Begriff "Gender" selbst beruht bereits seiner Herkunft nach auf einer solchen kritischen Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Die Unterscheidung zwischen englischem "sex" und "gender" war für die feministische Theorie spätestens seit den 80er Jahren wichtig. Während man unter "sex" die biologische, natürliche Geschlechterdifferenz verstand, meinte man mit "gender" die kulturelle Prägung der Geschlechtsidentität, mithin den gesellschaftlichen Überbau, der die Art, wie Männlichkeit und Weiblichkeit definiert werden, bestimmt. Diese Unterscheidung hat die Gender Studies nachhaltig geprägt. Der Sache nach lässt sie sich bereits bei der französischen Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir finden, einer wichtigen Vordenkerin des Feminismus, die dieses Jahr ihren hundertsten Geburtstag gefeiert hätte. Der bekannteste Satz ihres 1949 geschriebenen philosophischen Großwerkes "Das andere Geschlecht" ("Le deuxième sexe"), beschreibt genau diese Kluft zwischen der Biologie und der kulturellen Formung von Weiblichkeit: Sprecherin Beauvoir D. a. G. p. 334 "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt." Autorin Theoretisch ist die Sex-Gender-Unterscheidung allerdings innerhalb der Gender Studies auch schon wieder nachhaltig kritisiert worden. Die Philosophin Judith Butler hat in ihrem viel diskutierten, viel kritisierten und sehr einflussreichen Buch "Gender Trouble" von 1991 auf theoretisch anspruchsvolle Weise gezeigt, dass Natur und Kultur sich nicht ganz einfach trennen lassen und dass vielleicht auch vieles, was wir als biologisch auffassen, kulturell geprägt ist. Volker Woltersdorff dazu: O-Ton 9 Woltersdorff In jüngerer Zeit ist es dann der große Einsatz von Judith Butler gewesen, auch diese Unterscheidung noch einmal zu problematisieren und sich zu fragen, ob diese eindeutige Unterscheidung von zwei anatomisch getrennten Geschlechtskörpern wirklich eine ist, die materiell gegeben ist, oder die auch über unsere kulturelle Brille, die wir aufsetzen, wenn wir uns die Geschlechterordnung ansehen, nicht auch mit produziert wird, und eigentlich erkenntnistheoretisch fragt, inwiefern wir überhaupt sagen können, was am Geschlecht kulturell und was am Geschlecht biologisch oder natürlich ist. Autorin Die theoretische Sex-Gender-Unterscheidung ist in den letzten Jahren auch durch ihre Popularisierung verwässert worden. Im heutigen Alltagsdiskurs wird "Gender" nicht mehr unbedingt als kritischer Analysebegriff verwendet, der die kulturelle Konstruiertheit von Geschlecht in den Blick nimmt, sondern oft schlicht als Synonym für "Männer" und "Frauen" verstanden. So etwa beim "Gender Mainstreaming". Als Gleichstellungspolitik Ende der neunziger Jahre entwickelt, fordert dieses, dem Aspekt "Geschlecht" und den unterschiedlichen Bedürfnissen von Männern und Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens Beachtung zu schenken - von der Stadtplanung bis zur Berufswelt. Politische Forderungen nach Gleichstellung von Mann und Frau genießen mittlerweile allgemein eine recht breite öffentliche Unterstützung. Die Europäische Union etwa implementiert offiziell das Gender Mainstreaming. Eine andere Frage ist, wie stark die theoretische akademische Forschung in der Öffentlichkeit wirksam ist, etwa mit ihrer grundlegenden Kritik an geschlechtlichen Klischees und Stereotypen. Ulla Bock, Geschäftsführerin der "Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung", die es seit 1981 an der Freien Universität Berlin gibt, meint dazu: O-Ton 10 Bock Ja, ich glaube das, was Sie ansprechen, ist diese Ungleichzeitigkeit, oder ist der Ungleichzeitigkeit von Entwicklung geschuldigt. Wir haben in der Wissenschaft einen inzwischen sehr elaborierten Code, oder ich will sagen, wir wissen sehr viel über Geschlechterstereotypen, wie die zustandekommen, auf welchem falschen Boden sie fußen; und im Alltag das umzusetzen ist natürlich schwerer, die Menschen sind träge, nicht nur im Herzen, sondern eben auch im Verhalten, man verliert Privilegien, und bis Männer sich entsprechend verändern, oder Frauen sich entsprechend verändern, das dauert unheimlich lange Zeit, es gibt sehr viel Widerstand Autorin Gender Studies können nur schwer als ein eigenes und einzelnes Fach aufgefasst werden. Kritische Geschlechtertheorie kann man in fast allen Wissenszweigen betreiben. Die Forschung und die Lehre ziehen sich quer durch zahlreiche Disziplinen - von Geschichtswissenschaft, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaft, Rechtswisssenschaft, über Psychoanalyse, Sexualwissenschaft, Naturwissenschaften, Informatik, Agrarwissenschaft, Philosophie, Theologie, bis hin zu Kunstgeschichte, Linguistik, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Musikwissenschaft, Erziehungswissenschaft... O-Ton 12 Bock Und im Moment, das ist ja interessant zu beobachten, haben wir sowas wie ne Phase der Konsolidierung, es ist ruhiger geworden, die Debatten über Frauen- und Geschlechterforschung, über die Prämissen oder über die Kategorie Geschlecht oder Klasse oder Ethnie - alles was da so existiert - die Debatten sind ruhiger, nicht mehr ganz so aufgeregt, das heißt es ist ne Konsolidierung da, und auch ne Kanonisierung, das merken Sie an diesen vielen Büchern zur Einführung von Frauen und Geschlechterforschung, Bücher zur Einführung, oder auch klassische Texte, Texte die gelesen werden sollen, die für die Studierenden vorbereitet werden, also es ist etwas ruhiger geworden, was nicht heißt, es ist weniger intensiv, sondern, es wird es wird intensiv gearbeitet, eben auch in diesen einzelnen Fächern, und es ist eine höhere Akzeptanz da auch der unterschiedlichen Ansätze, der unterschiedlichen Debatten, der unterschiedlichen Sichtweisen Autorin Natürlich fehlt es auch nicht an Angriffen und Ablehnung. Wer sich öffentlich und ausdrücklich mit einem jeden so intim und persönlich betreffenden Thema wie Geschlecht beschäftigt, braucht auf Unverständnis nicht lange zu warten. Seit es Argumente für die Emanzipation gibt, gibt es auch solche dagegen; und seit es Forschung zur Geschlechtlichkeit der Menschheit gibt, gibt es auch Menschen, die das unanständig finden. Sylka Scholz: O-Ton 13 Scholz Ja, es gibt erstmal immer noch Vorbehalte, auf jeden Fall. Und die werden natürlich ja auch gesellschaftlich im Moment stark geschürt, also es gibt ja einen starken Feuilletondiskurs gegen Gender Studies. Autorin Kritiker der Gender Studies führen oft biologische Argumente ins Feld. Über Geschlecht lasse sich nicht diskutieren. Der Glauben an die Biologie ist in den letzten Jahren überhaupt wieder stark gewachsen, und man sucht derzeit Erklärungen für fast alles in der Genetik. Auch von Seiten religiöser Autoritäten wird an einer natürlichen, unveränderlichen, traditionellen Geschlechterordnung festhalten. Der jetzige Papst hat sich wiederholt kritisch gegen Feminismus und Gender Studies und explizit auch gegen die Sex- Gender-Unterscheidung ausgesprochen. Die Infragestellung der Heterosexualität, die Auflösung von "natürlichen" Geschlechtergrenzen durch Gender und Queer Studies scheint viele diffuse Ängste zu wecken, wie auch Sylka Scholz meint: O-Ton 14 Scholz ... versteckt geht es hier eigentlich darum, dass dann lesbische Frauen die gesellschaftliche Macht übernehmen, also solch verdrehte Argumentationen findet man im Moment in den Medien... Autorin Trotz solcher Vorbehalte und Anfeindungen: die Frage nach dem Geschlecht und den Geschlechtern und dem Umgang mit ihnen beschäftigt die Menschheit nachhaltig. Und dass viele dabei nicht mehr unbedingt die einfachen und traditionellen Antworten bevorzugen, davon zeugt nicht zuletzt das anhaltende Interesse an den wichtigen Texten der Gender Studies. 9