Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 12. November 2016, 11.05 – 12.00 Uhr KW 45 Dem Hass die Stirn bieten - Französische Frauen im Einsatz gegen den Dschihad Mit Reportagen von Suzanne Krause Moderation: Ursula Welter Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Paris, 27. November 2015. Im Innenhof des Invalidendoms von Paris haben sich die Angehörigen der Opfer des 13. November versammelt. Der Präsident ,das Kabinett. Familien. Wenn auch nicht alle Familien, denn wieder wurde Frankreich getroffen und mancher sagte: Der Staat hätte uns besser schützen müssen. Das Trio Camelia Jordana, Yael Naim und Nolwenn Leroy interpretiert Jacques Brel, wenn uns nichts bleibt als die Liebe… Es fließen Tränen, der Trauer, der Hilflosigkeit, der Wut. Der Anschlag vom 13. November 2015 war nicht der erste Terrorakt, und es sollte nicht der letzte gewesen sein. „Gesichter Europas“, das sind an jenem Novembertag vor einem Jahr die Gesichter von 130 Frauen und Männern, viele junge Menschen darunter, mehr als die Hälfte jünger als 35 Jahre. Ihre Gesichter werden, eines nach dem anderen, auf der großen Leinwand im Innenhof des Invalidendoms gezeigt. Gesichter der Menschen, die im Kugelhagel des 13. 11. gestorben sind: am Stade de France, im Konzertsaal Bataclan, auf den Restaurantterrassen von Paris. Am Mikrofon ist Ursula Welter, willkommen. „Was wollen die Terroristen?“, fragte Francois Hollande, der französische Staatspräsident, als Frankreich vor genau einem Jahr wieder Opfer des islamistischen Terrors betrauerte. „Was wollen die Terroristen? Uns gegeneinander aufbringen, den einen gegen den anderen? Ich versichere Ihnen, sie werden scheitern. Die haben den Todeskult, wir haben die Liebe, die Liebe zum Leben.“ Trotziger Widerstand lag in der Luft im November, vor einem Jahr. Da war es bereits dreieinhalb Jahre her, dass die Terrorserie begann. Ein Einzeltäter, beeinflusst und verführt, gesteuert und gelenkt von den selbsternannten „Dschihadisten“, die Frankreich den Krieg erklärt hatten. Im März 2012 tötete Mohammed Merah, ein Franzose mit algerischen Wurzeln, zunächst drei französische Soldaten auf offener Straße und mordete dann in einer jüdischen Schule in Toulouse. Ein Rabbiner und drei Kinder starben. Das erste Opfer von Mohammed Merah in jenem Frühjahr 2012 hieß Imad Ibn Ziaten. Seit damals vergeht kein Tag, ohne dass Imads Mutter ihrem ermordeten Sohn die Ehre erweist. Latifa Ibn Ziaten arbeitet gegen das Vergessen und gegen den Terror an. Die Mutter des toten Soldaten hat einen Verein gegründet, der im Namen ihres Sohnes Imad für Toleranz wirbt. Sie geht in die Gefängnisse, in die Schulen und wurde für ihr Engagement mit vielen Preisen ausgezeichnet, sogar in den USA. An diesem Tag ist Latifa Ibn Ziaten im Gymnasium von Pontoise zu Gast, 30 Kilometer westlich von Paris. Latifa Ibn Ziaten – Die Mutter des ermordeten Soldaten Rektor Jean-Paul Jouan hat seinen Gast an der Eingangspforte abgeholt und geleitet Latifa Ibn Ziaten ins Gebäude. Unterwegs zieht die 56-Jährige manchen Blick auf sich: die Franko-Marokkanerin ist hochgewachsen, ihre Kleidung ist dezent und schick, sie trägt einen schmal geschnittenen, blauen Hosenanzug, dazu ein dunkelgemustertes Kopftuch, sorgfältig unter dem Kinn verknotet. Ein Glaubensbekenntnis, das in den staatlichen französischen Schulen eigentlich verboten ist. Doch Latifa Ibn Ziaten hat sich im In- und Ausland einen Namen gemacht als Gegnerin jeglichen Sektierertums. Der Rektor lässt ihr das Kopftuch durchgehen. Jean-Paul Jouan stoppt vor dem Eingang der neuen Aula. Mit der rechten Hand weist der Rektor auf das Türschild: 'Charbonnier-Aula' steht da – Stéphane Charbonnier, genannt Charb, war der Chefredakteur von Charlie Hebdo, der im Januar 2015 mit mehreren Kollegen von islamistischen Terroristen ermordet wurde. « Charb ging 1983 bis '87 bei uns zur Schule. Einige seiner Mitschüler arbeiten nun heute hier als Lehrer. Letztes Jahr haben wir das Amphitheater in Anwesenheit von Charbs Eltern eingeweiht – sie wohnen gleich neben dem Gymnasium. Dass wir somit Charb gedenken, ist für uns ein staatsbürgerlicher Akt. » Mit zustimmendem Kopfnicken lauscht Latifa Ibn Ziaten dem Rektor, der seine Schule vorstellt. Das Gymnasium zählt 1.600 Schüler. Das soziale Umfeld im Einzugsbereich sei heterogen, sehr gemischt – hier lebten ebenso leitende Angestellte wie sozial Benachteiligte. Menschen aller Hautfarben. 'Toleranz' sei ein Leitmotiv an dieser Schule. Latifa Ibn Ziaten unterbricht mit einem kurzen Räuspern. « Haben Sie Probleme mit Schülern, die sich radikalisierten? » « Letztes Jahr habe ich den Behörden den Fall einer Schülerin gemeldet, die eine Schlägerei vor dem Schultor angezettelt hat. Wir hatten mitbekommen, dass sie bei Facebook fundamentalistische Webseiten zitierte. Ich habe keine Ahnung, wie das ausging, sie ist nicht mehr an der Schule. » « Man muss sehr wachsam sein. Denn leider gehen immer wieder junge Leute den Fundamentalisten in die Falle. Es ist an uns, auf sie aufzupassen, vor allem, sie zu beschützen. » Einige Minuten später begrüßen der Rektor und sein Gast im Amphitheater rund 150 Teenager, Klassen, die für das Abitur im Sektor Pflegeberufe pauken. Die Mädchen sind in der Mehrheit. Sehr aufrecht steht Latifa Ibn Ziaten vor ihnen und erzählt ihre Geschichte. Wie sie mit 17 ½ Jahren aus Marokko nach Frankreich kam und alles daran setzte, die Sprache und die Landeskultur zu erlernen. Dass sie sich erfolgreich integrierte. Wie sie mit ihrem Lohn Nachhilfestunden für ihre fünf Kinder bezahlte. Wie ihr das Herz brach, als Imad, der Zweitälteste, von einem Terroristen, von Mohamed Merah, ermordet wurde. Die Zuhörer sind mucksmäuschenstill, alle Blicke hängen gebannt an den Lippen der Frau, die jedes ihrer Worte mit Gesten der linken Hand unterstreicht. Worte ohne Pathos, aber sichtlich aus tiefstem Herzen gesprochen. In den Augen der Mittfünfzigerin schimmern immer wieder Tränen. Merahs Tat werde sie nie vergeben, sagt Latifa Ibn Ziaten, für Merah selbst empfinde sie aber Mitleid. « Für mich ist Mohammed Merah ein Kind. Und selbst ein Opfer. Bei seinen Mordtaten war er 23 Jahre alt. Wäre er geliebt worden, hätte seine Familie sich um ihn gekümmert und ihn nicht schon als Kleinkind verstoßen, wäre er beschützt worden, dann könnte er heute noch leben. Und all seine Opfer auch. Aber Mohammed Merah hatte nicht das selbe Glück wie meine Kinder, die ich hegte und pflegte. Deshalb wurde er zu einem Monster. Und beging sinnlose Taten. » Unzählige Mal hat Latifa Ibn Ziaten all das in den vergangenen viereinhalb Jahren schon erzählt; doch abgedroschen klingt es keinesfalls. Dabei ist der Terminkalender der Aktivistin ebenso ausgebucht wie der von Politikern. Eine erstaunliche Karriere: 24 Jahre lang arbeitete die Franko-Marokkanerin in einer Schulkantine, dann als Museumswärterin. Nun ist sie unermüdlich unterwegs, immer im Namen ihres Sohnes und für ein friedliches, tolerantes Miteinander: gestern im südfranzösischen Bordeaux, morgen in einer nordfranzösischen Kleinstadt. Allein in diesem Jahr war sie in Marokko, China, Israel und Palästina und in Übersee, in den Vereinigten Staaten. Eröffnete in einem Sozialbaughetto nahe Paris die erste Anlaufstelle ihres Hilfsvereins für Jugendliche und deren Eltern, finanziert dank Spenden und Subventionen vom Bildungsministerium. Beschwor die Abgeordneten im EU-Parlament, mehr für die junge Generation zu tun. Hier, vor den Schulklassen in Pontoise, legt sie kurz ihre rechte Hand aufs Herz. « Ja, die Politiker hören mir zu, wenn ich ihnen mitteile, was schiefläuft in der heutigen Gesellschaft. Der Bildungsministerin in Paris habe ich gesagt : Frau Minister, es muss mehr Sozialarbeiterinnen in den Schulen geben. Es braucht mehr Nachhilfeangebote. Kleinere Klassen, damit die Schüler bessere Chancen haben. Mehr soziale Mischung. Das ist wichtig. Ich bin mir sicher, dass diese Ministerin ein offenes Ohr hat und reagiert. Langsam geht es voran, nicht von heute auf morgen, der Wandel braucht halt seine Zeit. » Nach zwei Stunden, in denen die Jugendlichen all ihre Fragen stellen konnten, endet die Veranstaltung mit einer Schweigeminute für die Opfer des Terrors. Danach verlassen nur wenige den Saal : unzählige Schülerinnen stehen Schlange, um Latifa Ibn Ziaten zu danken, für ihren Vortrag, für den Respekt und die Liebe, die sie ihnen entgegenbringt. Viele Augen schimmern feucht. Vor allem bei den Mädchen mit dunklerer Haut. « Sie hat viel Mut, diese Frau. Sie hat meinen vollen Respekt. Als sie vom Tod ihres Sohnes erzählte, mussten alle weinen. Ich möchte sie umarmen, ihr für ihre Kraft danken. Sie spricht von Toleranz, von Respekt und Liebe zu Anderen. Und sie versteht die Nöte der Jugend. » Ein schniefendes Mädchen nach dem anderen nimmt Latifa Ibn Ziaten in die Arme, flüstert mit ermunternden Worten auf es ein, verabschiedet es mit Wangenküssen. Ein Fels in der Brandung. Sogar eine Lehrerin lässt ihren Gefühlen und den Tränen freien Lauf. « Ihr Vortrag hat gut getan, die Schülerinnen brauchen solche Worte. Dank Ihres Vortrags haben wir viel Stoff, den wir im Unterricht aufgreifen wollen. Auch wir haben die Themen Toleranz und friedliches Miteinander schon angesprochen, aber was Sie heute erzählten, hat einfach mehr Resonanz. » « Ich habe von den Werten gesprochen - denen der Republik. Bei den jungen Leuten hier habe ich viel Wut gespürt. Viel Leid. Das konnte man auch daran sehen, wie viele geweint haben – in einem solchen Ausmaß habe ich das noch nicht erlebt. Sie sind so fragil. Das ist eine Botschaft, die verbreitet werden muss. Diese Jugend, die braucht viel Zusprache. Dass man ihr Mut macht. Viele sagten mir, dass ich ihnen ein Vorbild sei. Das macht mir Mut, in meiner Arbeit fortzufahren. Und gleichzeitig macht mich das traurig. Denn diese Jugend stellt die Gesellschaft von morgen. Und man muss sie motivieren, damit sie Träume entwickelt. Das ist wichtig. » Die Zeugin Ein Dokument im französischen Fernsehen: eine Zeugenaussage. Die junge Frau ist 20 Jahre, Französin, in schwarz, verschleiert, sitzt sie da und erzählt: von ihrem Leben im syrische Raqqa. Dorthin ist sie, aus Liebe, einem Landsmann gefolgt. Er ging in den Dschihad, sie hinterher. Jetzt, da die Kamera läuft, berichtet sie aus einem Versteck ,irgendwo in Syrien, auf der Flucht vor dem Kalifat: „Ich bin zu meinem Mann nach Syrien, nach Raqqa gegangen. Das ist nun ein Jahr und vier Monate her. Mein Mann ist schon vor dreieinhalb Jahren vor mir hergekommen. Wir haben in Raqqa geheiratet. Bald nach der Hochzeit wurde ich schwanger. Mein Mann war ein Kämpfer, er zog häufig an die Front und da blieb ich dann ganz alleine zuhause. Schon kurz nach der Hochzeitsfeier hatte ich den Wunsch, Raqqa schnell zu verlassen. Ich habe Angst vor den Flugzeugen, vor Angriffen. Ich wollte wirklich schnell wieder weg.“ „Mir ist aufgefallen, dass die Terrormiliz IS jedermann umbringt. Jeden, der gegen ihre Ideen ist. Gegen das, was sie sagen. Wenn jemand gegen das war, was sie für gut und richtig hielten, dann wurde die Person einfach umgebracht. Egal, ob es sich um einen Syrer handelte oder um einen Franzosen, sie brachten ihn einfach um. „ Véronique Roy – die Mutter des verführten Sohnes Was treibt junge Menschen? Warum schließen sich Männer, und inzwischen immer mehr Frauen, dem Dschihad an, dem Kampf gegen die Ungläubigen, wie es in der IS-Propaganda heißt? Warum wirkt dies Propaganda, die Versprechungen? Lange schien es, als greife der sogenannte „Islamische Staat“ nach den sozialen Randgruppen, nach den Jugendlichen in den Vorstädten, die sich von der Republik Frankreich nichts mehr erhoffen, die mit einem Bein im Milieu der Kleinkriminalität stecken und die auf Heldentum und Märtyrertod hoffen. Aber mit der Zeit wurde klar: Die Propaganda des IS wirkt weit über die sozialen Brennpunkte hinaus, macht an den Grenzen der benachteiligten Banlieues nicht Halt. Eine Frau, sie heißt Véronique, wird wütend, wenn sie hört, der Terror des Dschihad in Europa sei vor allem ein soziales Problem, ein Problem der Einwanderer. Nein ! , sagt Véronique Roy mit Überzeugung. Denn die Mutter aus der weißen Mittelschicht, die in einem schmucken Eigenheim nördlich von Paris lebt, die als Kundenbetreuerin für Gesundheitsprodukte arbeitet, diese Mutter, deren ältester Sohn als Ingenieur in der Schweiz arbeitet, hat ihren jüngsten Sohn, der Fußballtrainer werden wollte, an den Dschihad verloren. Quentin war 22 als er im September 2014 seine Koffer packte, angeblich, um in Kairo Arabisch zu lernen. Kurz darauf meldete er sich aus Syrien, mit neuem Namen „Abou Omar al-Faransi“. In diese Hülle gepfercht kämpfte Quentin aus Frankreich für das Kalifat. Im vergangenen Januar erhielt Véronique Roy eine lapidare Mitteilung via Whatsapp – ihr Sohn sei als Märtyrer gefallen, bei einem Selbstmordanschlag. Freitag, am frühen Abend. In einer schmalen Straße nahe Montmartre, vor dem Eingang des Theaters 'Feux de la rampe', stehen die Besucher an, jung und alt, ein buntgemischtes Publikum. Schlange stehen für 'Djihad'. Eine Tragik-Komödie aus der Feder des belgischen Filmemachers und Theaterautors Ismaël Saidi, die in Belgien seit einiger Zeit für Furore sorgt. Die Geschichte von drei jungen Belgiern, unterwegs in den Dschihad. Véronique Roy reiht sich in die Schlange ein, eine schmale Gestalt im Mantel mit Blumenmuster, die blonden Locken Kinnlang, der Blick offen. Selbst dann, wenn sie von ihrem schwierigen Alltag spricht. « Unser Sohn hat unser Heim verlassen. Vor allem aber: er ist in Syrien umgekommen. Doch wir haben keine offizielle Sterbeurkunde. Das macht die Trauerarbeit sehr schwierig. Wir haben keine Ahnung, wo und wann er genau gestorben ist. Ein Unbekannter hat uns seinen Tod mitgeteilt, das aber erkennt der Staat nicht an. Wir hängen also völlig in der Luft. Und dennoch mühe ich mich, Trauerarbeit zu leisten und gleichzeitig aufrecht zu bleiben. Das Leben muss ja weitergehen. » Fast unmerklich drückt Véronique Roy das Rückgrat durch. Um ihre Lippen liegt eine Art Lächeln, das wie ein Schutzpanzer wirkt, der die inneren Verletzungen überdeckt. « Es kann jedermann treffen. Es hat uns getroffen, ohne dass es irgendwo geschrieben stand. Wir haben nicht gesehen, was da aufzog, genau wie andere Familien mit demselben Schicksal. Nun habe ich das Gefühl, es sei eine Pflicht, öffentlich darüber zu reden. » Véronique Roy spricht sehr präzise, manchmal sucht sie nach dem richtigen Wort. Vor allem aber sucht die Mutter nach Erklärungen dafür, wie ihr Sohn islamistischen Terroristen auf den Leim gehen konnte. « Wir haben nur ansatzweise Erklärungen gefunden. Auch wenn wir bei den staatlichen Ermittlungen außen vorgehalten werden, konnten wir doch einiges selbst herausbringen. Ich war zur Premierenvorstellung von 'Djihad' eingeladen und beim Anblick der Schauspieler hatte ich merkwürdigerweise den Eindruck, meinen Sohn auf der Bühne zu sehen. » 14 endlose Monate haben Quentins Eltern auf seine Rückkehr gehofft. Véronique Roy war fest überzeugt, der verlorene Sohn käme eines Tages heim. Mit der rechten Hand schnürt sie ihren Mantel enger um sich. « Sein Profil war einfach zu atypisch. Mittlerweile ist das so bei unzähligen jungen Leuten, die nach Syrien oder in den Irak abhauen. Heute kommen sie aus den unterschiedlichsten Schichten. Das macht das Phänomen so besorgniserregend. Es stellt die Frage nach dem heutigen Zustand der Gesellschaft. Jemanden einfach abzuurteilen, nutzt da nichts. Man muss genau hinhören, hinschauen und versuchen, zu verstehen. Sonst finden wir nie eine Lösung. » In Kürze beginnt die Aufführung, geduldig lässt die schmale Frau die Sicherheitskontrolle über sich ergehen. Im Theatersaal ist kaum noch ein Sitz frei. Véronique Roy findet Platz nahe der Bühne. Ihr Blick schweift ab. « Als mein Sohn nach Syrien gegangen war, sagte er mir eines Tages am Telefon: 'Ich weiss, dass du leidest, auch ich leide. Ihr fehlt mir, Papa, du, mein Bruder. Aber Gott verlangt von mir ein Opfer.' Quentin hatte Angst, Gott zu entäuschen, es ist ganz schrecklich. De facto ist er aus Angst von zuhause weg, er blieb vor lauter Angst in Syrien und dort brachte die Angst ihn um. » Den Blick hat Véronique Roy fest auf die schwarze leere Bühne gerichtet. Doch es ist der Mittfünfzigerin anzusehen, dass vor ihrem inneren Auge ein ganzer Film abläuft. Szenen aus dem Alltag mit Quentin, dem sportlichen gutaussehenden Jungen, der ein Studium aufgenommen, einen großen Freundeskreis um sich geschart hatte. Eigentlich mangelte es ihm an nichts. Außer dem Sinn, den er für sein Leben suchte. Als sei es gestern gewesen, steht seiner Mutter vor Augen, wie Quentin der Familie vor dreieinhalb Jahren feierlich eröffnete, er sei zum Islam konvertiert. Mechanisch presst Véronique Roy kurz beide Handflächen aneinander. « Wir sagten ihm damals: wenn du glücklich bist, dann sind wir es auch. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er sagte, im Islam innere Ruhe zu finden. Unsere Familie ist katholisch, aber wenig praktizierend. Er hat sich für den Islam entschieden, der erschien ihm nah an den Wissenschaften. Vielleicht war das schon der Beginn der Radikalisierung, aber ich glaube eher nicht. » Im nachhinein haben die Eltern recherchiert, dass Quentin wohl eines Tages auf falsche Freunde traf. Die ihn mitnahmen in eine Moschee, der der Spitzname 'Dschihad-Moschee' anhängt. Zu einem der Hassprediger, denen Véronique Roy heute ihren persönlichen Krieg erklärt hat. Bei jeder Gelegenheit verlangt sie, der Staat solle solche 'Rattenfänger' verfolgen. Nach und nach wurde Quentins Verhalten radikaler: bei der Beerdigung der Großmutter weigerte er sich weinend, die Kirche zu betreten. Wurde zum Essen zuhause Wein serviert, blieb er der Mahlzeit fern. Irgendwann gestand er Mutter und Vater weinend ein, er sei nun gezwungen, sie als 'Ungläubige' zu sehen. Zu verachten. Véonique Roy rannte damals hilfesuchend alle möglichen Instanzen ab, bis hin zur großen Moschee in Paris. Vergeblich. Erneut driftet ihr Blick ab. „Ist es normal, dass Menschen leiden, Mama?, fragte Quentin mich mal. Nein, das ist nicht normal. In Frankreich gibt es Leute, die leiden, wie kann ich ihnen helfen, fragte er. Aber wir haben nicht gedacht, dass er nach Syrien gehen könnte, niemals. „ Nach und nach kommen drei Schauspieler auf die Bühne. Der 'Djihad' der Belgier beginnt in ihrer Heimat. Die Reisevorbereitungen nach Syrien treffen sie naiv, aber wild entschlossen, als gäbe es keine Alternative. Karikaturenhaft überspitzt hat Autor Ismaël Saidi seine Nachwuchskrieger gezeichnet und deckt gleichzeitig deren intime Wunden auf. Im Bombenhagel in Syrien wird den Dreien ihr Irweg klar. Doch nur einer kommt lebend zurück. Und fleht zum Schluss in heller Verzweiflung um Hilfe. Véronique Roy hat das Stück konzentriert verfolgt. Bei Dialogen voller Komik gelacht. An dramatischeren Stellen hörbar geschluckt. Als das Licht wieder angeht, wirkt sie sehr mitgenommen. « Ich habe gerade meine persönliche Bataille niedergeschrieben, das Buch erscheint demnächst. Die Geschichte meines Sohnes, sein langer Abstieg in die Hölle. Dabei suchte er eigentlich das Paradies. Ich erzähle auch, wie ich es anstelle, nicht zusammenzubrechen. Indem ich dafür kämpfe, dass nicht andere dasselbe Schicksal erleiden. So jung darf niemand sterben. » Véronique Roys Augen verschleiern sich – sie braucht nun dringend Ruhe. Die Zeugin Die junge Französin, die in die Hände des Kalifats geraten ist, weil sie ihrem Mann aus Liebe nach Syrien gefolgt war, schafft es, zu fliehen. Gemeinsam mit anderen Französinnen. Sie gelangen nach Al-Bab, in einen Ort, der zu jener Zeit ebenfalls in den Händen des IS ist. Sie werden verraten, werden gewaltsam nach Raqqa zurückgebracht, und dort ins Gefängnis gesteckt. „Da habe ich mehrere Französinnen getroffen. Türkinnen... Alle hatten versucht, zu fliehen und waren wie wir im Gefängnis gelandet. Das Verhalten unserer Häscher im Gefängnis war nicht korrekt. Es war nicht nur ein bisschen, sondern wirklich barbarisch. Sie schlugen uns, sie gaben uns kaum zu essen.“ Nach 2 ½ Monaten im Gefängnis wird die junge Frau zu ihrem Mann zurückgebracht. Der aber stirbt bei einem Fronteinsatz.. Die Dschihadisten wollen die junge Witwe möglichst bald mit einem anderen Krieger verheiraten, auf dass sie neue Kinder zeuge. Erneut kann die Französin fliehen. „Ich habe meine kleine Tochter gepackt und bin in eine andere Stadt abgehauen. Als ich dort ankam, habe ich meine Mutter in Frankreich kontaktiert. Ich sagte ihr, sie müsse eine Lösung finden, mich in die Türkei zu bringen. Sie sollte sich darum kümmern, einen Fluchthelfer zu finder, der meine Mutter und mich in die Türkei bringt. Er hat von meiner Mutter sehr viel Geld verlangt. 10.000 Dollar, um mich aus Syrien rauszuholen. Meine Mutter hat es geschafft, all das Geld zusammen zu bringen, bevor sie selbst in die Türkei anreiste. Abe sie hat ohm das Geld nicht gleich in die Hand gedrückt, sonderm dem Fluchthelfer gesagt: « Ich gebe Ihnen das Geld erst dann, wenn meine Tocher in der Türkei angekommen ist. Nadia Remadna – Deradikalisierung Die Propaganda der Islamisten greift nach der Jugend Europas, wirbt im internet, schickt Booten aus in die Moscheen , verbreitet ihr lockendes Gift in Sportvereinen. Nicht nur in Frankreich liegt all das auf der Hand. Aber es gibt auch die Gegenbewegung. Die Regierung steckt Geld in Aufklärungsvideos, finanziert Zentren zur freiwilligen De-Radikalisierung. Und in vielen kleinen Gemeinden, in Stadtteilen, mühen sich Vereine, damit der lange Arm des sogenannten „Islamischen Staates“ nicht zugreifen kann: Auch Nadia Remadna wirkt in den Vorstädten. Kürzlich hat sie ein Buch darüber geschrieben. Der Titel ist Programm: 'Wie ich meine Kinder gerettet habe'. 2014 gründete die Franko-Algerierin ihren Verein 'Brigade des mères' – die 'Brigade der Mütter'. Eine noch schwache Struktur, die sich nicht weniger als den Kampf gegen vieles vorgenommen hat, was zum tristen Alltag in Sozialbauvierteln gehört : Schulversagen der Kinder, Integrationsprobleme und nicht zuletzt gegen religiös motivierte, fundamentalistische Rattenfänger. Dafür riskiert sie ihr Leben. Energisch bahnt sich Nadia Remadna ihren Weg durch das Café 'Les Editeurs'. Den Intellektuellen-Treff nahe Saint-Germain-des-Près und Remadnas Wohnort im armen Norden von Paris trennen Welten. Unbeeindruckt vom schicken Ambiente steuert die 56-Jährige eine Nische an. Dort sitzt die Psychologin Amélie Boukhobza. Nadia Remadna rückt mit Schwung den Stuhl an den Tisch und wendet sich ihrem Gegenüber zu. « Ich bin dabei, ein Theaterstück zu schreiben. Zum selben Thema wie in meinem Buch: die islamistischen Umtriebe, wie wir sie im Alltag erleben. Mal schauen, wie es am besten gelingt, die Realität auf dem Terrain abzubilden. Denn die taucht in den Filmen und Theaterstücken, die derzeit rauskommen, viel zu wenig auf. Manchen wird es verstören, wenn wir den Finger mitten in die Wunde legen. Aber wenn wir das nicht tun, wird sich nichts bewegen. » « Genau deswegen will ich ja auch mit Euch kooperieren. Es gibt einfach nichts, was die wahre Lage auf dem Terrain widerspiegelt. Alles, was bisher gezeigt und geschrieben wurde, liegt ziemlich daneben. » « Nicht nur das. Denk nur an die Deradikalisierungszentren, die aufmachen. Das wahre Problem liegt doch woanders. Die Wahrheit ist ziemlich schmerzhaft. » Amélie Boukhobza nickt zustimmend. Die Mittdreissigerin arbeitet als Psychologin an der Klinik in Nizza. Und gehört zum Verein 'e ntre autres', der ein Deradikalisierungs-Programm betreibt. Aufmerksam lauscht sie Nadia Remadna, die seit zwei Jahrzehnten in den Vorstädten nördlich von Paris als Sozialarbeiterin unterwegs ist. Und die als eine der ersten im Land vor der zunehmenden Radikalisierung warnte. Remadnas dunkle Augen blitzen kämpferisch. « Vor einigen Jahren war ich als Sozialarbeiterin in einer Mittelschule tätig. Da bekam ich eines Tages mit, wie die Pausenaufsicht, ein junger Mann namens Farid, zu einem Schüler aus der 6. Klasse sagte: 'Ich habe dich gestern Abend nicht in der Moschee gesehen. Ich kann dir nur dringend raten, heute Abend da zu sein.' Ich habe das dem Schuldirektor erzählt, und gesagt, wie beunruhigend es sei, dass in der staatlichen laizistischen Schule ein Betreuer einen Teenager zum Moscheebesuch auffordert. Der Rektor jedoch entgegnete: 'Ich bin heilfroh, Farid zu haben. Würde er sich nicht um die Jugendlichen kümmern, stände meine Schule schon in Flammen.' Diese Reaktion hat mich geschockt. Zudem bekam ich immer öfter mit, dass Mädchen mit 16 die Schule abbrachen. Dass zunehmend Mütter verschleiert vor dem Schultor standen. » Nadia Remadna unterbricht ihren Redefluss, um bei der Bedienung Café und Croissant zu bestellen. Kurz lehnt sie sich auf dem Stuhl zurück, ihr Körper wirkt dennoch angespannt. Schon schnellt der Oberkörper wieder nach vorne: der Franko-Algerierin kommen die Banlieue-Unruhen im Herbst 2005 in den Sinn. Damals setzten die Politiker auf den Beistand der sogenannten 'großen Brüder', um die brenzlige Lage zu beruhigen. Angewidert schüttelt Nadia Remadna ihre lange schwarze Mähne. « Wenn man bei uns im Maghreb von den 'großen Brüdern' spricht, meint man damit die fundamentalistischen 'Muslimbrüder'. In Frankreich also hat man die 'großen Brüder ' gerufen, um die Jüngeren wieder in den Griff zu kriegen. Man hat ihnen Posten gegeben, sie haben Vereine gegründet. Dabei blieben Frauen außen vor. In den Vereinen dreht sich alles um die Kultur und um die Religion der Herkunftsländer. Man hätte damals Erzieher in die Trabantensiedlungen schicken sollen, Mediatoren, Sozialarbeiter. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum man sich an die „großen Brüder“gewandt hat. » Erneut nickt Amélie Boukhobza heftig mit dem Kopf – Sozialarbeiter, Betreuer in Sportclubs, Aktivisten von Jugendvereinen, die Heranwachsende in die Moscheen locken – sie selbst weiß zuhauf von solchen Fällen. Sie beugt sich weit vor. « Im Gegensatz zu dem, was man in den Medien liest, datiert die Radikalisierung nicht erst von gestern. Die ist auf dem Terrain schon lange Jahre im Gang. Seit der Jahrtausendwende hat man Dinge zugelassen, die jetzt bittere Früchte tragen. Und nun wird immer deutlicher, welchen Einfluss die islamistische Ideologie vor allem bei Kindern und Jugendlichen gewonnen hat. » « Die Frage lautet: wogegen kämpfen wir? Ich höre all die Forscher, die Experten, aber mir scheint immer wieder, sie sind viel zu selten auf dem Terrain. Sollen wir es also nur bekämpfen, wenn jemand ein Attentat plant? Dagegen vorgehen, dass sich jemand nach Syrien oder in den Irak, zur Terrororganisation Islamischer Staat abseilt? Oder sollte nicht eher die Verbreitung solcher Ideologien in den Köpfen der Leute bekämpft werden? Denn das ist doch die Wurzel des Problems. » Mechanisch rührt Nadia Remadna in ihrer Kaffeetasse. Auf ihrer Stirn erscheint eine steile Falte. Sie ist bei ihrem Lieblingsthema: die Republik müsse das aufgegebene Terrain in den Trabantensiedlungen zurückerobern. Hassprediger verbannen, gegen die soziale und wirtschaftliche Misere, die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung vorgehen. Das laizistische Prinzip hochhalten. Kompromisslos. Die Aktivistin verlangt, die Politiker müssten eingestehen, jahrelang den falschen Kurs gefahren zu haben. Kein Wunder, dass sie im politischen Milieu wenig Freunde hat. Ihre rechte Handkante schneidet scharf durch die Luft. Nadia Remadna appelliert an die Mütter. Vor allem an die, die sich verschleiern. «  Sie müssen sich klar machen, welche Verantwortung sie tragen bei all dem, was in ihrem Umfeld passiert. Manche haben sich dem radikalen Islam angeschlossen. Wohin hat das führt, hat man kürzlich gesehen, als Attentatsversuche junger Frauen in Paris gerade noch vereitelt werden konnten. Man muss verschleierten Frauen, Müttern ins Gedächtnis bringen, dass Frauen den Kampf für ihre Freiheit mit dem Leben bezahlten. Dass manche Frau in der arabischen Welt von der Freiheit in Frankreich träumt. Ich sage: in einem Land wie Frankreich zu leben, aber auf saudi-arabische Weise – das geht nicht! » In Rage geredet hat sie sich. Die Wut der Verzweiflung. Ihre Appelle für einen politischen Kurswechsel verhallen ungehört. Nadia Remadna kämpft auf ziemlich einsamem Posten. « Stellen Sie sich vor: in meinem Alter, im Jahr 2016, nach einem so langen Kampf für die Rechte der Frauen, muss ich mich immer noch um die Freiheit schlagen! Das ist doch unglaublich. Ich muss dafür kämpfen, dass ich meine Freiheit nicht verliere » Sophie Mazet - Immunisierung und kritische Geister Die Propagandastränge der Islamisten im internet, aber nicht nur dort, sind lang. Da werden Gewaltphantasien geweckt, da wird ideologisch argumentiert, da wird das Leben im Kreis der Islamisten beschönigt, verherrlicht. Der IS hat seinen Instrumentenkasten prall gefüllt. Es gibt, so sagen die Terrorismusforscher, eine regelrechte Verwaltung der Barbarei. Das Bildungssystem in Frankreich soll dagegen halten. Die Demokratie will dem Terror den kritischen Geist entgegensetzen, den Geist, der in der Lage ist die Verführungskunst der Terroristen mit einem „Nein“ zu stoppen. Sophie Mazet hat diese Methode 'Autodéfense intellectuelle' genannt, eine Art Selbstverteidigungskurs fürs Gehirn. Mazet ist von Beruf Englischlehrerin am Gymnasium „Auguste Blanqui“ in Saint-Ouen im 93. Département, keine gute Adresse.-Vor 6 Jahren , also lange vor der Attentatsserie, die Frankreich getroffen hat, entwickelte Sophie Mazet eine Unterrichtseinheit, die jungen Leute helfen soll, jede Art von mentaler Manipulation zu erkennen Die Metro hält an der Station Nationalbibliothek im Pariser Osten. Sophie Mazet ist fast am Ziel. Die 36-Jährige lässt sich von der Rolltreppe nach oben tragen. Mazet ist von kleiner, sehr zierlicher Statur, sie trägt Jeans, Lederjacke, derbe Schuhe. Sie formuliert kurz und knapp, aber immer präzise. Ihr Blick ist entschlossen. « Es geht darum, den kritischen Geist zu trainieren. Denn je mehr der entwickelt ist, desto weniger geht man Manipulationsversuchen auf den Leim. Allerdings bezieht sich meine Arbeit nicht unmittelbar die manipulativen Anwerbemethoden radikaler Islamisten. Es wäre schlimm, müsste ich dauernd an dieses eine Thema denken. » 2010 hat Sophie Mazet ihren Unterrichtsstoff entwickelt. Nach einem prägenden Erlebnis in ihrer Englischklasse. Die Lehrerin hatte Zeitungsartikel verteilt, darunter einen aus 'The Onion'. Das US-amerikanische Blatt wirkt wie eine normale Tageszeitung, enthält aber nichts als Persiflagen. Die Schüler waren vorgewarnt, dass einer der vorgelegten Artikel ein 'Fake' sei. Dennoch nahmen sie jeden Inhalt für bare Münze. Noch dringlicher erschien Sophie Mazet ihr Antimanipulations-Projekt im Laufe einer Schulreise nach Ruanda. Dort analysierten die Jugendlichen die Hetzsprache, die 1994 zum Völkermord geführt hatte. Und sie besuchten die Gedenkstätte in Kigali. Sophie Mazet reibt sich kurz mit dem rechten Daumen den Nasenflügel. « Wir kamen beim Rundgang in einen Saal, den alle als schier unerträglich bezeichneten – denn dort ging es um biogeaphische Details von Kindern, die beim Völkermord umkamen. Der schlimmste Anblick für mich war hingegen der letzte Raum. Dort war eine ganze Wand bedeckt von einer riesigen Weltkarte, die sämtliche Völkermorde des 20. Jahrhunderts verzeichnet. Selbst die, die nicht überall als Genozid anerkannt werden, wie der Völkermord in Armenien. Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass solche Schreckenstaten überall passieren können. Jederzeit. Ich sagte mir: um sich davor zu schützen, ist es dringend nötig, sich entsprechend zu bewaffnen. Und dazu will ich mein Scherflein beitragen. » Schwungvoll zieht Sophie Mazet die schwere Glastür am Eingang der Nationalbibliothek auf. Durchquert rasch die Halle, gen Lesesaal im Untergeschoss. Heute will sie Literatur sichten für ihr neues Buchprojekt. Das ist der Frage gewidmet, warum man als Lehrer dem französischen Bildungssystem treu bleiben sollte. Mazets Lippen verziehen sich zu einem leichten Schmunzeln. „ Ich habe mein Buch noch nicht geschrieben, deshalb habe ich noch keine Antwort. Nun, es ist nicht so einfach, diese Frage zu beantworten. Ich selbst bleibe Lehrerin, weil mein Job sinnvoll ist. Anders als viele andere Berufe. Ich habe das Glück, nützliche Arbeit zu tun, die meinen Schülern zugute kommt, die ihnen hilft, andere Perspektiven zu entwickeln, neue Horizonte zu entdecken. Mein Gymnasium liegt in einem Glasscherbenviertel. Meine Schüler dort sind alles andere als bevorteilt. » Fast auf Zehenspitzen schleicht die Lehrerin zum Ausgabeschalter im weiträumigen Lesesaal. In den Glas-Stahl-Türmen der Nationalbibliothek, die – mächtigen Buchrücken gleich- am Seineufer stehen, in diesen Hallen des französischen Gedächtnisses hat Sophie Mazet schon unzählige Stunden verbracht, hat Werke aus Soziologie, Psychologie, Geschichte, Politikwissenschaft studiert. Hat alles Greifbare zum Thema 'mentale Manipulation' zusammengetragen. Denn solche Methoden sind Alltag, in der Werbung, bei der Pharmaindustrie, in gewissen TV-Serien, die ein schiefes Weltbild erzeugen. Ganz zu schweigen von Verschwörungstheorien. Denen inzwischen, so sagen Zahlen des Pariser Innenministeriums, jeder 5. Jugendliche in Frankreich aufsitzt. Sophie Mazets Stirn legt sich kurz in Falten. « Am Tag nach den Pariser Attentaten im Januar 2015 sollten wir Lehrer den Schülern Gelegenheit geben, über die Vorfälle zu reden. Die Jugendlichen konnten frei Schnauze reden. Ich glaube, an diesem Tag haben alle Lehrkräfte begriffen, wie massiv das Phänomen der Verschwörungstheorien in die Klassen eingedrungen ist. » « Nach dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo meinten einige meiner Schüler, diese Tat sei organisiert und geplant worden von der französischen Regierung oder vom Geheimdienst. So klar drückten das nur wenige aus, manch anderer schien es auch zu denken. Das Gros der Klasse hatten sie nicht hinter sich. Aber das liegt wohl daran, dass ich im Unterricht das Thema Verschwörungstheorie schon beackert hatte. » Für ihr Engagement wurde die Beamtin vom Bildungsministerium mit einer Medaille bedacht. Vielerorts kopieren Kollegen Mazets Unterricht oder entwickeln eigene Kurse. Doch die Mittdreißigerin stellt klar: den kritischen Geist zu trainieren braucht Zeit. Und ihr Unterricht dient keineswegs als Sofortmaßnahme, wenn Schüler auf dem Weg sind, sich religiös zu radikalisieren. Ihre Methode sei vielmehr ein Werkzeug zur langfristigen Prävention. Mit einem Ruck strafft Sophie Mazet die Schulter. « Ich sage mir, es ist nun an der Zeit, mich politisch zu engagieren. Das erscheint mir logisch. Ich möchte meinen Teil zur Verbesserung der politischen Debatte bei uns beitragen. Denn die ist derzeit alles andere als berauschend. Mit dieser Aufgabe werde ich einige Jahre beschäftigt sein. Ja, ich bin sehr optimistisch. Das möchte ich auch in meinem neuen Buch vermitteln: selbst wenn es wenig Gründe für Zuversicht gibt, sollte man sie dennoch haben. Ich schwimme mit meinem Optimismus gewissermaßen gegen den Strom. » „Dem Hass die Stirn bieten – Frauen im Kampf gegen den Dschihad „ –Diese Ausgabe unserer Sendung „Gesichter Europas“ handelte von Opfern und von Menschen, die sich dem Terror entgegen stellen, von viel Schatten, aber auch von Licht. Die Musik hat Babette Michel ausgesucht, die technische Leitung hatten Daniel Dietmann und Oliver Dannert, die Reportagen stammen aus der Feder von Suzanne Krause, Redaktion und Konzeption der Sendung Ursula Welter. Danke fürs Zuhören! 26