DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 14.07.2009 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr ?Eine Heimat für Armstrong & Co? Das Blues- und Jazzarchiv Eisenach Von Sylvia Systermans URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Ansage: ?Eine Heimat für Armstrong & Co? Das Blues- und Jazzarchiv Eisenach Ein Feature von Sylvia Systermans Musik: mit Schlagzeuger Trevor Richards Atmo: Schritte, Aufschließen von Tür / Schritte durch Raum O-Ton Lorenz: Das ist das Schlagzeug von dem Ray Bauduc. Er hat jetzt die Felle geschickt. Das Schlagzeug ist hundert Jahre alt, das ist einfach unglaublich. Wir sind froh, dass das hier gelandet ist über den Umweg von New Orleans. Sprecherin: Reinhard Lorenz in einem kleinen Raum in der Alten Mälzerei, Jazzarchiv Eisenach. Um ihn rum lädierte Trommeln, verbeulte Becken, rostige Gestänge. Musik: Backwater Blues mit Big Bill Broonzy O-Ton Lorenz: Das ist von Fred Coleman, also auch einem der Schlagzeuglehrer und Ikonen von Trevor Richards, als er in New Orleans gelebt hat. Das ist alles durch Kathrina zerstört und das haben wir jetzt leer gemacht und gesäubert, da waren die Trommeln drin, das ist schon kreuz und quer durch die Welt. Musik: Backwater Blues mit Big Bill Broonzy Sprecherin: Trevor Richards. Schlagzeuger. Hat gerettet, was zu retten war. Einen ganzen Container von New Orleans nach Eisenach verschifft. Aufgequollene Bücher, Noten, ramponierte Schlagzeugsets. 8000 Schallplatten in verdreckten, triefnassen Hüllen. O-Ton Lorenz: Es ist halt die Geschichte und wir wollen versuchen, das in dem einen Teil des Archivs zu erzählen, abgegrenzt von außen durch Glas, dass man sieht, es ist die Sammlung von Trevor Richards, aber es ist auch die Geschichte eines Hauses in New Orleans, eines Hauses, das durch den Sturm vollends vernichtet worden ist und was dann aus den Dingen trotzdem geworden ist, die man fast 50 Jahre zusammengetragen hat. Sprecherin: Reinhard Lorenz war Leistungssportler. Volleyball. Hat Jugendmannschaften trainiert. Ist ausgestiegen, als er gesehen hat, dass schon 12-Jährige gedopt werden. Erst zum Theater, dann ins Kulturamt. Das leitet er seit 1990. Und das Jazzarchiv. Zusammen mit Daniel Eckenfelder, einem Unternehmer aus Süddeutschland, der sich in Eisenach niedergelassen hat, hat er es 1999 gegründet. Atmo: Schritte durch Raum Sprecherin: Der Ausstellungsraum: hell, großzügig. Gebeizte Holzdielen, frisch lackierte Fensterrahmen. Der künftige Ort für Sammlungen wie die von Trevor Richards. Im Archiv nebenan ist die Flutkatastrophe zwischen zwei Buchdeckel gebannt. Atmo: Schritte durch Raum // Buch aus Regal ziehen Musik: Bessie Smith, ?Backwater Blues? O-Ton Lorenz: Das ist also ein Buch, 1903 rausgegeben vom US Departement of Agriculture States of Mississippi und zwar über die Umgehensweise mit technischen Dingen bei der Verhinderung von Flutkatastrophen am Mississippi. Die wurden auch sehr, sehr gut erhalten. Das sind ja Themen, die im Blues immer wieder eine Rolle gespielt haben. Und ich finde, das gehört auch in ein Jazzarchiv als Backgroundliteratur. Wer, wenn er in ein Musikarchiv geht, rechnet jetzt damit, dort ein Buch zu finden über die Kulturgeschichte der Afroamerikaner. Das Leben ist ja wirklich verbunden gewesen mit den Katastrophen. Musik: James Blood Ulmer, ?Backwater Blues? Atmo: Ankunft von Sammlung Morawski ,Auto anfahren über Kies Sprecherin: Jeden Tag stranden neue Geschichten in der Alten Mälzerei. Von Sammlern, Musikern, Fotographen, Graphikern, Schriftstellern. Finden im Jazzarchiv ein trockenes Dach über dem Kopf. Wie die Schallplatten von Heinz Morawski, der hat exzessiv gesammelt. Die ersten 500 Platten bringt er jetzt nach Eisenach. Atmo: Autoklappe öffnen, Lachen, Sprechen (Lorenz / Morawski und seine Frau) ?das ist die Spitze eines Eisberges, das sind ungefähr zehn Prozent? ? Stimmenmurmeln ? Kistenrumpeln, Platten umpacken aus Kartons, Platten in Karton packen Sprecherin: Morawski steuert sein Auto über den Hof, wuchtet Kartons aus dem Kofferraum. Im Archiv stellt er seine Platten neben die von Günter Boas. Pianist und Sänger. Freund von Morawski. Kannte sich im Blues aus wie kaum einer. Atmo: Brandung Musik: James Blood Ulmer, ?Backwater Blues? O-Ton Morawski: Ich habe Günter Boas persönlich vor genau 50 Jahren kennen gelernt. Das war 1959. Ich kam damals zurück vom Studium in Hannover nach Kamen und von dort ist es ja nicht weit bis Dortmund und da hatte ein Jahr zuvor das erste nur Schallplattengeschäft, das sich auch ?Die Schallplatte? nannte, aufgemacht, mit Günter Boas als Leiter der Jazzabteilung. Ich kann mich noch erinnern, ich fragte damals nach Platten von Fletcher Henderson. Eine konnte er mir auch anbieten, die anderen hatte ich schon, die er vorrätig hatte. Und dann spielte er mir aber etwas anderes vor, eine Band, die nannte sich McKinney's Cotton Pickers. Ja, das hat mich einfach vom Hocker gerissen, kann man sagen. Das war eigentlich der Anfang unserer langjährigen Freundschaft. Sprecherin: Die Sammlung von Boas war die erste, die in Eisenach gelandet ist. 1999. Im Gründungsjahr des Archivs. Tausende Schallplatten, Briefe, Tagebücher, Fotos, Dokumente. O-Ton Morawski: Er galt ja damals als der deutsche Bluespapst, war also spezialisiert auf die großen klassischen Bluessängerinnen, hatte als der Erste in Deutschland sämtliche Aufnahmen von Bessie Smith auf Schellackplatten. Atmo: Ankunft von Sammlung Morawski, rumpeln von Kiste ? ?da ist auch noch Basie ? ja, ich sage ja, das ist der Anfang von Basie, dann fangen wir hiermit an??, Karton, Pappe rumpeln, schleifen, umpacken Musik: Count Basie ?Jumpin? at the Woodside? 1938 O-Ton Morawski: Der Kontakt hatte sich damals im Wesentlichen damals ergeben über die Brüder Blume. Roland Blume, ein Musiker, der zunächst mit Günter zusammen in der Oskar-Klein-Band gespielt hat und später hat der Roland dann auch bei Günter Boas Bluessessions gespielt und dessen Bruder leitete damals hier in Eisenach den Jazzclub. Das Archiv gab es damals noch nicht, aber irgendwann ergab sich dann die Sache mit der Alten Mälzerei, das fing ja wohl damit an, dass die Kellerräume für Konzerte genutzt wurden, jedenfalls entstand irgendwann die Idee ein Jazzarchiv einzurichten. Und da hat Günter ganz spontan gesagt: Da geht meine Sammlung hin. Atmo: Schritte über über Gras / Außenatmo Vögel Musik: Günter Boas Blues for Mezz Sprecherin: 1988. Jazzfreaks suchten eine Bleibe für ihren Eisenacher Jazzclub. Entdeckten die Alte Mälzerei: ein paar Fachwerkhäuser und ein Bau aus hellem Backstein. Direkt am Wald. Die Bottiche und gusseisernen Kessel, in denen Malz geröstet wurde, stehen heute noch. War alles ziemlich runtergekommen. Sozialistische Mangelwirtschaft. Auf dem Dachboden fingen Eimer das Regenwasser auf. Es stank. Im Keller stapelte sich Gerümpel. 4000 Arbeitsstunden, bis der ganze Schutt weggeräumt war. Sie konnten noch rechtzeitig die Plakette vom Denkmalschutz anbringen. Eigentlich sollte die Malzfabrik abgerissen werden. Für ein Arbeiterwohnheim. Atmo: Plattenspieler, aufsetzen von Nadel ? Einstieg mit kurzer Moderation von Johnny Vrotses dann Musik: Louis Armstrong ?Basin Street Blues? O-Ton Lore Boas: Günter hat seine erst Jazzplatte 1928 bekommen. Er stammt aus Dessau und da war ja das Bauhaus und da war ein Bauhausschüler, ein Maler, der wohnte bei ihnen zuhause. Der hat immer Platten mit nach Hause gebracht. Und der 8-jährige Bub hört die Platte, hingerissen, und hat sie immer wieder hören wollen und dann hat er sie ihm geschenkt. Und die steht heute noch in Eisenach. Von da an hat er angefangen zu sammeln. Musik: Basin Street Blues Sprecherin: Lore Boas. Lernte ihren Mann 1959 in Frankfurt kennen, wie Heinz Morawski in der ?Schallplatte?. Hatte damals nach einer Platte von Ma Rainey gefragt. Inzwischen ist sie über 80. Steckt immer noch eine Zigarette an der anderen an. Atmo: Zigarette anzünden O-Ton Lore Boas : Die Jazz-Schellacks habe ich alle nach Eisenach gegeben. Auch seine europäische Musik, die Tanzmusik, die deutsche, die englische, ist alles in Eisenach und das ist für die Sammler und die Experten, die damit arbeiten wollen, eine Fundgrube. Da weiß ich, sind sie wohl aufgehoben, da passiert ihnen nichts. Sie können nicht mehr kaputt gehen. Und hier? Man weiß es nie. Hat?n bisschen weh getan, sie weg zu geben, klar. Aber besser kann ich sie nicht unterbringen, als in Eisenach. Musik Annie Ross & Pony Poindexter «Jumpin at the Woodside» O-Ton Lorenz: ?und so füllt sich Regal für Regal mit solchen Kostbarkeiten ? unglaublich! Wir werden sicher das eine oder andere doppelt haben. Aber da wir die Sammlung inselartig auch zusammenlassen wollen, ist es uns ganz recht, das eine oder andere auch doppelt zu haben. Jede dieser Sammlungen bekommt halt sein eigenes kleines Segment. O-Ton Lorenz: Wir haben uns einen richtig teuren Plattenspieler gekauft für die Schellacks, weil das natürlich immer ein Abenteuer auf hoher See ist, wenn man so? ne Platte noch auflegt. Atmo: Rausziehen von Fotoalbum aus Regal / Blättern in Fotoalbum Sprecherin: Neben dem Plattenspieler in der Mitte vom Archiv ein runder Tisch. Reinhard Lorenz schiebt ganze Stapel zur Seite: druckfrische Zeitschriften, Fotos, aktuelle CDs, die Artikel der vergangenen Woche. Streift weiße Handschuhe über. O-Ton Lorenz: Das ist einer der besonderen Schätze, das ist nämlich ein Fotoalbum aus der Sammlung von Günter Boas, das doch mit sehr raren und sehr seltenen Fotos und Widmungen von wirklich weltbekannten Musikern garniert ist geradezu. Sehen Sie hier, ob das Edna Hicks ist oder Lizzie Mills. Sprecherin: Boas hat die Bluesmusiker alle gekannt: von seinen Jamsessions in den Frankfurter Clubs und vom American Folk Blues Festival. Dem Festival, mit dem Lippmann und Rau Anfang der 60er die schwarzen Musiker aus den Staaten nach Europa holten. Musik: Muddy Waters Howling Wolf O-Ton Lore Boas: Da konnten wir eine ganze Woche mit der ganzen Meute zusammen sein. Da hat man sie wirklich kennen gelernt. Vor allen Dingen, er konnte mit den Musikern umgehen. Die haben ihn akzeptiert wie einen der ihren. Er war eben kein Manager! Kein Manager zu sein und kein Journalist, das brachte eine menschliche Basis, da war kein Geld im Spiel, da waren keine Interessen im Spiel und da war nur der menschliche Kontakt und der war herrlich! O-Ton Morawski: Das war wie eine Familie, es war also wirklich ganz erstaunlich, es gab da nie irgendwelche Schwellen, irgendwelche Vorbehalte. Die Art, wie sie auf die Musiker zugingen, wenn die ihnen auch völlig fremd waren, die war einfach so, dass der Kontakt sofort da war. Da war vor allem Günter ein absolutes Phänomen. Die amerikanischen Musiker würden wahrscheinlich sagen, er war ein Soulbrother. Er hatte ja nun auch auf seine Art den Blues erlebt, unter den Nazis, war ja im Arbeitslager und so weiter, da sind also sicher auch vom Schicksal her, von der Biographie her Parallelen. Auf ganz andere Art, aber ich kenne niemanden aus der Zeit, der wirklich so im Blues verwurzelt war. Musik: Sonny Terry & Brownie McGhee Hootin Blues American Folk Blues Festival Atmo: Blättern im Fotoalbum O-Ton Lore Boas: Natürlich Muddy Waters, das war ein ganz eindrucksvoller Mensch, konnte nicht lesen und nicht schreiben, aber Köpfchen! He has a mind ? wie man sagt. Der vergaß nichts! Der sah auch alles. Und dann der, der da oben so böse aus dem Bild guckt: Big Joe Williams. Da sagte uns jeder Mensch, haltet euch fern von Big Joe, der ist gefährlich. Wir haben es auch mal erlebt, abends in der Bar, Muddy Waters hatte gerade erklärt ?Show Time? und Lolly Johnson und Big Joe kamen in Streit. Die haben mit dem Messer voreinander gestanden. Das Gesicht von Big Joe werde ich nie vergessen, das war also mörderisch. Und dann eines Tages stand Big Joe vollkommen alleine da. Zigarette in der Hand, guckte bitter vor sich hin, und wir hörten von den anderen, dass keiner mehr mit ihm sprach. Das konnte Günter nicht gut haben, also ging er hin und sagte, hey Big Joe, what?s wrong? Und hat ihn dann zum Lachen gebracht und er hat ihm erzählt, er hat im Bett gelegen, Zigarette in der Hand und hätte beinahe das Hotel in Brand gesteckt. Für alle anderen war er gestorben. Und das Günter zu ihm hinkam und mit ihm sprach, das hat er ihm nie vergessen. Der war bei uns sanft und lieb wie ein Lämmlein. Sprecherin: Und immer wieder Fotos von Louis Armstrong. O-Ton Lore Boas: Louis haben wir natürlich auch jedes Mal getroffen, wenn er hier war. Das war ganz kariert zusammen gekommen. Der Panacier hatte dem Günter und dem Hans Blütner in Berlin geschrieben, der Louis kann seine Lippensalbe nicht kriegen. Die Lippensalbe war eine deutsche Creme, die hieß Ansatzcreme, die wurde hier irgendwo in Süddeutschland hergestellt. Kannst du versuchen, die zu kriegen? Günter dann in Frankfurt zum Erwin Glier, der hatte ein Musikgeschäft, hast du Ansatzcreme? Ja, da oben die ganzen Boxen. Dann hat er gesagt, ne, die gehören alle mir. Bist du verrückt? Du bist doch kein Trompeter, Du bist doch Pianist, was willst du mit den Dingern? Die muss ich haben, weißt Du für wen? Für Louis Armstrong! Dann hat er die ganzen Boxen gekauft und hat die ihm rübergeschickt. Und als Louis das erste Mal nach Deutschland kam, da ist Günter natürlich am Flughafen gewesen, hat sich vorgestellt, da ist ihm Louis gleich um den Hals gefallen und von da an war das eine ganz enge Freundschaft. Musik: Armstrong Back O Town Blues Sprecherin: In der Alten Mälzerei stapeln sich die Geschichten. In Pappschubern, Klarsichthüllen, Büchern, Ordnern, Kisten. Regal für Regal. Musiker stöbern hier, Schüler, Sammler, Wissenschaftler, Journalisten. Zum Beispiel Siegfried Schmidt-Joos. Veranstalter, Manager, Organisator, Promotor, Journalist aus Gotha. Heute über 70. Recherchiert in Eisenach für sein neues Buch. Arbeitstitel: ?Jazz im Underground der frühen DDR?. Archiv: Dohn und Schmidt-Joos im Archiv, blättern in alten Kartons, sehen alte Ausgaben der ?Posaune? durch O-Ton Dohn: Ja, wir müssen dann noch mal nachsehen, irgendwo ist das. Müsste ja eventuell hier liegen. O-Ton Schmidt-Joos: Ja, sonst könnten Sie mir ja schon mal die erste ?Posaune? hinschmeißen. ? O-Ton Dohn: Das ist eine Kopie, denn das Original haben wir drüben in der Ausstellung. Das war also Heft eins ? aber das war 59 ? ja! Sprecherin: Die ?Posaune? ? ein einfaches Faltblatt des Eisenacher Jazzclubs. Blaue Matrize, zusammen getackert, kopiert. Atmo: blättern in Zeitschrift O-Ton Schmidt-Joos: Das sieht ja nun wirklich schon sehr erlesen aus. Das ist ja schon ein richtig gutes Zeitschriftenprodukt? O-Ton Lorenz: Das war dann schon kein Mitteilungsblatt mehr. O-Ton Schmidt-Joos: ?und das ist dann aus diesem Grund nicht weitergeführt worden, weil es denen zu professionell war? O-Ton Dohn: Ich denk schon, ja. O-Ton Lorenz: Das kriegte ja dann eine Dimension, dass die sagten: Was wird denn da jetzt draus. Das zeigt das ganze Dilemma der DDR. O-Ton Schmidt-Joos: Klar. Es darf nicht professionell sein. Und ohne Druckgenehmigung ging nichts. Wenn so ein Ding vorgelegt wurde, wo man merkte, dass das auch verschickt werden konnte, und das war eben eine Sache von Lenin gewesen, der gesagt hat, wir brauchen ein eigenes Mitteilungsblatt, weil wir können die Massen nicht bewegen, wenn wir nicht ein Sprachrohr haben. Und von dieser Theorie ausgehend war jede Art von Druckschrift ein Sprachrohr für irgendeinen Underground. Also auch den Klassenfeind. Und das kann man nicht immer überwachen, insofern verbietet man?s lieber. Musik: Ben Berlin ?You are the Queen in my Coffee? Sprecherin: Gejazzt wird in Eisenach schon seit den 20er Jahren. Während des Nationalsozialismus illegal, mit Tschechen, Holländern, Franzosen vom BMW-Fremdarbeiterlager, in Hinterzimmern des ?Schmiedehofs?. Die Kneipe gibt es nicht mehr. Das Mobiliar steht jetzt im Jazzkeller der Alten Mälzerei. Musik: Ben Berlin ?You are the Queen in my Coffee? Atmo: weiter sprechen von Dohn und Schmidt-Joos über die Posaune. Dazu Schritte auf Holzboden im Archiv O-Ton Lorenz: Hier haben wir eine kleine Ausstellung 50 Jahre Jazzclub, so ein bisschen in Jahrzehnten aufstrukturiert, wie das denn gewesen ist als Traum im Wartesaal des Sozialismus ? zwischen Traum und Trauma. Sprecherin: ?Der heutige Boogie Woggie ist der Kanal, durch den das barbarisierende Gift des Amerikanismus eindringt und die Gehirne der Werktätigen zu betäuben droht?, schreibt da ein Hochschulprofessor aus Leipzig in den 50ern. O-Ton Lorenz: Und just zu der Zeit hat man hier in Eisenach einen Jazzclub gegründet! Das ist schon verrückt gewesen. Als Kulisse gedacht ist das schon nicht so witzig zu sehen. Musik: Synopsis ?Conference at baby?s? Sprecherin: Jazz, Improvisation: weder planbar noch vorhersehbar. Den Funktionären suspekt, Musikern und Fans ein Mittel zur Selbstbehauptung. Und zum Protest. Pioniere der DDR-Jazzszene: das waren Musiker wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Günter Sommer, Ruth Hohmann, Ulrich Gumpert, Konrad Bauer. Oder Werner Sellhorn. Musikwissenschaftler aus Hamburg. Einer der bekanntesten Konzertveranstalter der DDR. Gründete dort viele Jazzclubs, veranstaltete Reihen wie ?Jazz Lyrik Prosa?. Im Mai 2009 ist er gestorben. O-Ton Lorenz: Wenn wir junge Leute, Schulklassen hier kurz durchführen, sagen die: Das kann doch nicht sein. Doch, so war?s halt. Ich hab erlebt, dass uns die Staatssicherheit permanent begleitet hat. Sichtbar und unsichtbar, in Form von Spitzeln, in Form von ganz offiziellen Leuten, die im Konzert saßen, das wussten wir. Man kannte sich. Sie waren einfach immer da. Diese Gefahr bestand immer, wenn man sich geäußert hat öffentlich. Oder Musiker beherbergt vielleicht, aus Westdeutschland oder aus England und es gibt eine Menge Jazzfreunde in der DDR, die eingesessen haben, weil sie aufgemuckt haben. Und die Musik der Grund dann auch gewesen ist. Sie haben sicher versucht, Einfluss zu nehmen. Dass dann bei der ?Posaune? beispielsweise, bei dieser Zeitschrift, 1970 glaube ich war das, gesagt wurde: Es gibt kein Papier mehr. Punkt! Musik: Synopsis Bohnsdorfer Holz O-Ton Schmidt-Joos: Natürlich ist es immer interessant, sich diese Veröffentlichungen aus der Zeit anzugucken, weil sie das Zeitklima am ehesten spiegeln am Detail. Und wir haben die Posaune gestern durchgeguckt, nichts davon, was ich da gelesen habe, hat mich überrascht, nur dass da eine Kontinuität einsetzte, zu einer Zeit am Ende des Jahrzehnts, als überall anderswo die Jazzclubs verboten waren. Sprecherin: Der erste offiziell zugelassene Jazzclub der DDR entstand Anfang der 50er. ?Arbeitsgemeinschaft Jazzhalle?. Siegfried Schmidt-Joos war Mitbegründer. Moderierte dann die erste Jazz-Reihe im DDR-Fernsehen. Mitte der 50er lernte er Günter Boas kennen. O-Ton Schmidt-Joos: Er war mein Mentor als ich nach Frankfurt kam als Student. Er hat mir erstes Obdach gegeben in seiner Einzimmerbude, die voll Memorabilia war, Platten und Bücher, aber jedenfalls nur ein Zimmer. Er wohnte zur Untermiete und ich war sein Untermieter für zwei, drei Monate, als ich aus der DDR wegmusste. Im September 57, sonst hätte ich für die Stasi als IM arbeiten müssen. O-Ton Lore Boas: Wenn einer von der DDR rüber kam, die gingen alle erstmal zu Günter und er hat die dann durchgefüttert. Und das wurde ihm alles zuviel. Seine Gesundheit war ja nicht die beste, denn schließlich hatten ihn die Nazis ins Straflager gesteckt. Musik: Glenn Miller ?Tuxeda junction? und Rev. J. M. Gates ?Hitler and Hell? O-Ton Lore Boas: Wann war das, 44, er studierte in Jena und sie waren eine kleine Gruppe Swingfans, die haben sich bei ihm Zuhause getroffen, hatten so einen bestimmten Pfiff und haben da leise BBC gehört, mit Glenn Miller und all diesen Sachen. Und seine Zimmerwirtin, die hat das spitzgekriegt. Und die hat ihn denunziert. Eines Tages kommt der Pfiff draußen vor der Tür und er macht die Tür auf und stehen SS-Leute davor. Und dann haben sie ihn ins Straflager gesteckt. Kahla, das ist angeschlossen an Buchenwald. Und in Kahla waren die Hermann-Göring-Werke, da sind ungefähr 25 000 Gefangene gewesen aus allen Ländern Europas. Die haben sie da zu Tode gearbeitet. Aber er hatte Glück. Sein Dozent aus Jena, der musste die Arbeiter kontrollieren. Und der kam hin und sah ihn da, Steinbruch oder irgendwo, Menschenskind Boas, was machen Sie denn hier? Und dann hat er ihn rausgeholt auf die Sanitätsstation. Und da hat er überlebt. Sprecherin: ?Jazz im Nationalsozialismus?, ?Jazz in den Diktaturen Osteuropas? ? ein Schwerpunkt des Eisenacher Jazzarchivs. Bestellt damit ein anderes Feld als das Jazz-Institut in Darmstadt, wo man sich seit 1983 nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf aktuelle internationale Entwicklungen im Jazz spezialisiert hat. O-Ton Lorenz: Dass sich das alles so entwickelt, also nein, das kann man überhaupt nicht ahnen, also. Es kam dann irgendwann der Gedanke, dass man das alles hier mit der Stiftung, mit dem Archiv, mit der Pflege dieses Denkmals, dass man das tun muss. Dass man auf dieser Erde nicht nur herumlaufen kann aus eigenem Interesse, sondern versuchen sollte irgendwie etwas zu hinterlassen. Und wenn das viele tun... Atmo: Murmeln in halligem Raum auf der Wartburg zur Stiftungsgründung Sprecherin: Reinhard Lorenz hat es geschafft, Leute zu begeistern, die selbst an Schaltstellen sitzen und Dinge bewegen, die durchhalten, die Visionen haben. 2006 haben sie auf der Wartburg die Lippmann+Rau-Stiftung gegründet. Pressekonferenz vor historischer Kulisse. Große Namen im Kuratorium. Udo Lindenberg, Peter Maffay, Ulla Meineke, Fritz Rau, Günther Kieser, Nora Guthrie, Siegfried Schmidt-Joos und Wim Wenders. Der kam 2002 zum ersten Mal nach Eisenach ... Atmo: Wartburg, Stiftungsgründung O-Ton Wim Wenders: ? wo ich damals schon bei den Schnittarbeiten von meinem Bluesfilm war und in Amerika lange rumgeforscht habe und nichts Richtiges gefunden hatte zu meinen Helden und irgendwann mal einen Brief bekommen habe von Reinhard Lorenz, kommen Sie mal nach Eisenach. Und wo ich gedacht habe, wenn ich in Washington, Los Angeles und Chicago nichts gefunden habe, werde ich in Eisenach erst recht nichts finden. Aber dann habe ich mich trotzdem auf den Weg gemacht und habe schließlich sogar das Haus gefunden. Und wenn man durch Eisenach fährt, denkt man nicht, man stößt auf so ein Archiv. Ich war dann wirklich erst mal schwer beeindruckt, was da alles an Fotos, an Materialien, an Schallplatten sowieso, an Postern, an Briefwechseln da war, das hätte ich nicht im Entferntesten für möglich gehalten. Ich habe dann einen ganzen Tag gestöbert, auch viel gedreht, abfotografiert und seitdem muss mich der liebe Herr Lorenz nicht zweimal bitten. Musik: J.B. Lenoir ?Alabama Blues? O-Ton Wim Wenders: Ich habe natürlich auch meine eigene Geschichte mit den Herren Lippmann und Rau und deren Bedeutung in der Rock?n?Roll-, Folk, Blues- Nachkriegsgeschichte. Ist ja unglaublich, gerade für jemanden von meiner Generation. Dass ich die Leute, die die hergebracht haben, alle sehen konnte, selbst mit eigenen Augen und Ohren als 17-, 18-Jähriger dabei sein durfte, das hat mich enorm beeinflusst und das so einer wie mein großer Held, der J.B. Lenoir, in Deutschland seine wichtigste Musik aufgenommen hat, in den 60er Jahren, wo kein Amerikaner irgendwas produziert hätte mit dem, weil er politische Texte gesungen hat, und die beiden Platten seine wichtigsten sind, von Lippmann und Rau produziert mit Willie Dixon, das ist so mein Blues-Credo gewesen, diese Musik. Und irgendwo ist sowohl der Film als auch jetzt meine Arbeit in dem Kuratorium, Lippmann und Rau dieser Stiftun etwas zurückzugeben, was ich von denen bekommen habe und was mein Leben nachhaltig beeinflusst hat. Musik: J.B. Lenoir ?Alabama Blues? Sprecherin: Lippmann und Rau. Elektrisierten mit ihren Konzerten ganze Generationen. Das American Folk Blues Festival, Tourneen mit Hendrix, Joplin, Zappa, Clapton, Dylan, den Stones. Lippmann war der kreative Kopf. 1927 in Eisenach geboren. 97 gestorben. Sein Nachlass steht jetzt in Kisten verpackt in der Alten Mälzerei. O-Ton Lorenz: Wir gehen zu einer nächsten Archivbox. Die würde ich mal hier rausziehen und hier nach vorne stellen auf den Tisch (Schritte, Kiste auf Tisch, öffnen von Pappkiste). Das hier ist also ein Brief der Pianistin Jutta Hipp, die nach Amerika gegangen ist, auch ein Schicksal verbirgt sich dahinter, die einen langen Brief an Horst Lippmann geschrieben hat, der also hier erhalten ist (öffnet den Brief). Beschreibt einiges über ihre Situation in New York. Ich habe den Brief vor allem auch deshalb rausgesucht, weil, es geht hier um Material über Martin Luther King, als er in Berlin war 64 und hier in dieser Box auch viel Material ist aus der frühen Bürgerrechtsbewegung. Dass Horst Lippmann augenscheinlich sehr früh in diese Richtung auch schon gedacht hat und sehr intensiv damit beschäftigt hat. Und wenn man das dann wiederum gegenliest mit der Geschäftspost, die wir aus den frühen Lippmann+Rau-Tagen haben, also wie geht Horst Lippmann mit Künstlern um, gerade der frühen America Folk Blues Festivals, und er sich einsetzt für Rechte, für ordentliche Gagen, das ist auch ein sehr frühes Zeugnis von Kommerzialisierung bzw. Umgehensweise im frühen Musikgeschäft in Deutschland speziell und das findet man alles in dieser einen Box beispielsweise. O-Ton Schmidt-Joos: Ich kannte Horst Lippmann und dann auch Fritz Rau schon aus meiner DDR-Zeit, weil ich die Jazzfestivals in Frankfurt besuchen konnte, bevor ich im September 57 geflohen bin. Lippmann und Rau formierten noch unter dem Namen ?Konzertreferat der deutschen Jazzföderation?. Und Lippmann war der internationale Konzertreferent und Rau wurde eingestellt, um sich um die deutschen Musiker zu kümmern. Und das Konzertrererat machte Europatourneen und brauchte einen Tourneeleiter. Ich hab dann meine ersten Brötchen verdient für 15 Mark am Tag, als Tourneeleiter der deutschen Jazzföderation, Konzertreferat Inland, das von Fritz Rau geleitet wurde. Sprecherin: Anfang der 60er, beim ersten American Folk Blues Festival, war Siegfried Schmidt-Joos Jazzredakteur. Radio Bremen. Musik: American Folk Blues Festival ?My Babe? Feat. Little Walter O-Ton Schmidt-Joos: Ich hab die Kontakte zwischen Lippmann und Rau und der Deutschen Grammophon hergestellt, für das erste American Folk Blues Festival, für die LP, die dann gemacht wurde, wurde innerhalb von 24 Stunden wurde das beschlossen, noch während das Konzert lief, da muss ne Platte davon her und hab in der Nacht noch mit dem Konzertreferenten der Deutschen Grammophon telefoniert und der sagte, morgen nach dem Konzert fahren wir nach Gralsstadt und nehmen das auf. Sprecherin: Ende der 60er hat er das Festival dann im Fernsehen moderiert. Musik: Von DVD American Folk Blues Festival 1967 Originalton Moderation Schmidt Joos: ?Little Walter Jacobs?, Harmonika, Hound Dog Taylor, Gitarre, Dillard Crume, Bassgitarre, Odie Payne, Schlagzeug. Das ist Blues aus Chicago. Volksmusikinteressierte und Jazzfans zwischen Helsinki und Barcelona werden diese Klänge in den nächsten Wochen im Konzertsaal erleben. Das American Folk Blues Festival, das in den letzten Jahren die großen Interpreten der schwarzen Musik Amerikas nach Europa gebracht hat, ist wieder auf Europatournee. O-Ton Schmidt-Joos: Der Fritz Rau musste Konzertveranstalter und Kulturamtsleiter überzeugen von einer Truppe, die überhaupt keinen Starnamen hatte, und die da ankamen wie eine Horde alter Trunkenbolde, in abgeschabten Mänteln, mit schlimmen Schuhen, und auf die Bühne schlurften und dann eine Musik machten, die die Rolling Stones ins Rollen brachten zum Beispiel. Musik : American Folk Blues Festival ?My Babe? O-Ton Schmidt-Joos: Die Idee von Horst Lippmann war die authentische Konzertdokumentation. Diesen Begriff gab es nicht. Es war quasi eine Volkshochschule am lebenden Objekt. Von DVD American Folk Blues Festival 1967 Originalton Moderation Schmidt Joos: Man nennt diese Expressive, swingende und rockende Musik Rhythm ?n? Blues. Der Blues spiegelt hier nicht mehr das schwere Schicksal farbiger Landarbeiter auf den Plantagen des amerikanischen Südens, er ist Ausdruck des hektischen Lebens der modernen City geworden. Hart, illusionslos, direkt, aber von großer emotioneller Kraft. O-Ton Schmidt-Joos: Wenn man sich die Fernsehsendungen heute anguckt, dann ist man erstaunt, wie volkshochschulartig das damals alles war und wie gestelzt das klingt, was wir, ich selbst eingeschlossen, auch damals gemacht haben. Aber es war eben eine Situation, wo man den Leuten sagen musste, was der Blues ist oder was Soulmusik bedeutet. Atmo: aus Wartburg / Murmeln im Hintergrund / Aufnahme von 2006 Stiftungsgründung O-Ton Fritz Rau: In der U-Musik ist Himmel und Hölle. Ich bin für eine Demokratisierung der Kultur, dafür, das Beste für Viele zu machen. Ich sage nicht: das Volk, das ist ja so blöd und so voyeuristisch und so weiter. Ich möchte nicht als Besserwessi auftreten, als Besserwisser. Ich möchte in die Gehirne hineindenken aus der Sicht, wie war mein erstes Konzert, warum habe ich das alles gemacht. Sprecherin: Fritz Rau. Er war dabei, als die Stiftung auf der Wartburg gegründet wurde. Sohn eines Schmiedes. Jahrgang 1930. An die 6000 Konzerte hat er organisiert. Die Karriere der Rolling Stones wäre ohne ihn und Lippmann vielleicht anders verlaufen. Dabei hat er die Jungs 1962 noch aus dem Backstage-Bereich von Muddy Waters gejagt. Eine Rhythm ?n? Blues Band, die keiner kannte. Muddy Waters gehörte zu den Vorbildern. Aus seinem Blues ?Mannish Boy? stammt die Zeile ?I?m a rolling stone?. Ein paar Jahre später hat Fritz Rau die Stones zum ersten Mal nach Deutschland geholt. Musik: Rolling Stones ?Intro? Album Love You Live O-Ton Fritz Rau: Ein großer Fortschritt ist dieses Jazzarchiv, was da an Liebe und Arbeit drinsteckt. Wenn die jungen Leute die Günther Kieser-Plakate sehen, die sind begeistert. Jimi Hendrix mit seinem Haarschopf... Da inspiriert man die. Und dann gibt es einige, die weitermachen in diesem Sinne. Lippmann & Rau soll kein historisches Relikt sein von zwei cleveren Hunden, die die Welt mal beunruhigt haben, sondern es soll eine Inspiration sein für meine Enkelkinder und ich habe sieben davon. Musik: Rolling Stones ?Little Red Rooster? Sprecherin: Seit zehn Jahren kann man die Geschichten im Jazzarchiv nachlesen: von den Stones und Muddy Waters, vom American Folk Blues Festival in Europa und der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Jetzt werden sie wissenschaftlich erfasst. Aus der Alten Mälzerei soll ein Zentrum für Jazzforschung werden. Musik: Hazy Osterwald, Ausschnitt aus seinem letzten Konzert 2005 im Jazzclub ?Posaune? O-Ton Bauer-Wabnegg: Bei Fritz Rau war ich oft zu Gast gewesen, ohne dass er es wusste - in jungen Jahren nämlich. Sprecherin: Der Staatssekretär im Thüringer Kultusministerium Walter Bauer-Wabnegg hat sich für eine Professur stark gemacht. Er ist auch Kuratoriumsmitglied der Lippmann+Rau-Stiftung. Hat im Archiv seine eigene Geschichte mit dem Jazz wiederentdeckt. 2005, als Hazy Osterwald in der Alten Mälzerei sein letztes Konzert gab. Musik: Hazy Osterwald, Ausschnitt aus seinem letzten Konzert 2005 im Jazzclub ?Posaune? O-Ton Bauer-Wabnegg: Ich kannte es vorher wirklich nur vom Hörensagen, war dann auch beeindruckt, wie umfangreich es bestückt ist und wie viel ich auch von dem wiederfinden konnte, womit ich groß geworden bin. Was ich auch sehr beeindruckend fand, die ungeheure Sammleraktivität, die es auch schon zu DDR-Zeiten gegeben hat von Leuten, die es ja nicht leicht hatten. Weil diese spießig-miefige DDR hatte ja nun wirklich mit einer solchen Musik, die sie als aufmüpfig empfand, schon ihre Probleme und damit hatten wiederum die Menschen, die die Musik liebten die Probleme. Insofern war Musik ja auch eine Art von Widerstand. Mindestens ist Musik dieser freien Art immer dazu geneigt, dass Menschen auch frei sein wollen. Im Westen wie im Osten. Sprecherin: Eine Professur für ein Jazzarchiv. Wo in Thüringen Theater und Orchester fusionieren mussten. Und die ?populäre Musik? seit jeher ein Stiefkind der Forschung ist. Selbst dem Staatssekretär standen die Türen im Musikwissenschaftlichen Institut Weimar-Jena nicht gleich offen. Musik: Frank Möbus ?Mein Sportheim? O-Ton Altenburg: Ein entscheidendes Argument, das immer gegen die Einrichtung einer solchen Stelle spricht, ist ja, man braucht das Primärmaterial, man braucht eine große Sammlung, wie in der klassischen Musik auch, dass eine anständige Bibliothek da ist, dass entsprechende Tonträger da sind, diese glückliche Konstellation ergibt sich nun dadurch, dass es hier dieses Archiv der Lippmann+Rau-Stiftung gibt. Sprecherin: Weshalb Detlef Altenburg, Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts Weimar-Jena, die nächsten Hebel in Gang gesetzt hat. Musik: Frank Möbus ?Mein Sportheim? O-Ton Altenburg: Der Fundus ist so beachtlich, dass man jetzt schleunigst dafür sorgen muss, dass er angemessen wissenschaftlich erschlossen werden muss. Das war übrigens auch das primäre Anliegen des Staatssekretärs damals. Das ist etwas, dieser Aufgabe müsst ihr euch stellen. Insofern denke ich, können wir davon ausgehen, dass sich hier ein ganz neues Zentrum für dieses Gebiet der Geschichte des Jazz und der populären Musik entwickelt. Sprecherin: Eisenach und die Wartburg ? der Sängerkrieg, Elisabeth von Thüringen, Luther, Bach, Telemann ? jetzt also auch das Jazzarchiv und Louis Armstrong, J.B. Lenoir und die Rolling Stones. Musik: Frank Möbus ?Mein Sportheim? O-Ton Bauer-Wabnegg: Mir war schon auch ein Anliegen, dass wir in Thüringen nicht nur so eine Schlagseite haben in eine Richtung. Sondern Jazz und Bach gehören ja ganz wunderbar zusammen. Und es war immer der Ort der Klassik, aber eben auch der klassischen Moderne und deshalb soll man in Thüringen durchaus in dieser Breite denken und agieren. All diejenigen, die Jahre und Jahrzehnte lang getan und gesammelt und sich angestrengt haben, und natürlich alle die, die es irgendwann verursacht haben, das alles hat es verdient, dass man es nicht nur archiviert, sondern den jungen Leuten zuspielt und öffnet und erschließt. Das soll ja geschehen, es soll ja lebendig sein. Nicht ein totes Archiv, ne Schatzkammer, sondern ein Ort der Begegnung und so will es ja auch die Stiftung haben. Atmo: Schlüssel / Schritte / Tür aufschließen... ?das sind die Räume in die Martin Pfleiderer einziehen wird...? Sprecherin: Ein junger Professor. Hat bei Eckardt Jost studiert, bei der NDR Big Band als Aufnahmeleiter gearbeitet, über Weltmusikeinflüsse im Jazz promoviert. O-Ton Pfleiderer: Ich finde es sinnvoll, schnell einen kompletten Katalog online zu kriegen, damit weltweit bekannt ist, diese Schätze haben wir hier und als nächstes dann auch zu schauen, was ist gefährdet. Also alte Tonbandaufnahmen, Schellacks, was muss man da restaurieren, wie muss man das sichern, dass es dann auch wirklich nutzbar ist, und wenn diese beiden Phasen abgeschlossen sind, das braucht schon lange, die Bestände sind ja einfach riesig hier, dann geht es eben dran, gezielt zu forschen. O-Ton Altenburg: Es ist eine Beobachtung, die man immer wieder macht, dass der Musikfreak eigentlich die Grundlage ist für unser kulturelles Gedächtnis. Und jetzt sitzt ein junger Kollege, der Internet-Erfahrung hat, an diesem Unternehmen und in ein, zwei Jahren wird die gesamte Fachwelt von diesem Archiv sprechen. Atmo: Platte auflegen & Grammophonrille ? Musik: Nina Simone ?Love me or leave me? Sprecherin: Horst Lippmann und Johann Sebastian Bach. Beide in Eisenach geboren. Das alte Bachhaus hat seinen Neubau 2007 bekommen. Auf der Wiese hinter der Alten Mälzerei soll bald der Grundstein für ein Lippmann & Rau-Haus gelegt werden. O-Ton Lorenz: Es ist die einmalige Möglichkeit, dass man eines Tages aus dem Bachhaus rausgeht und einen Spaziergang macht und zehn Minuten später in ein Haus eintritt, in dem eine ganz andere Musikgeschichte zelebriert wird und dokumentiert wird und das ist unser Ziel im Kontext, weil wir glauben, dass das alles irgendwo zusammen gehört. Musik: Annie Ross & Pony Poindexter ?Jumpin at the Woodside? Absage ?Eine Heimat für Armstrong & Co? Das Blues- und Jazzarchiv Eisenach Ein Feature von Sylvia Systermans Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 Es sprach: Edda Fischer Ton und Technik: Karl-Heinz Stevens und Beate Braun Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Hermann Theißen Musik: Annie Ross & Pony Poindexter ?Jumpin at the Woodside? 23