COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 6. Dezember 2007, 19.30-20 Uhr Zettels Traum Der Soziologe Niklas Luhmann und sein Zettelkasten von Jürgen Kaube Regie: Bärbel Jarchow-Frey Redaktion: Ralf Müller-Schmid Autor 1: Wer spricht hier? Sprecher 1: Zettel Nr.1: Einleitung. Es muß versucht werden, die Methoden und Begriffe so klar als irgend möglich zu explizieren, damit ihre Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit deutlich wird. Autor 2: Wer hier spricht? Ein Zettelkasten. Denn mit diesem Eintrag auf dem Zettel Nr.1 beginnt ein Lüneburger Verwaltungsbeamter in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das größte bisher bekannte Theorieunternehmen der Soziologie. Es währt bis 1998, als jener Beamte, der sich diesem Unternehmen ganz verschrieb, 20000 Zettel später im Alter von siebzig Jahren als weltberühmter Gesellschaftstheoretiker, Gründer einer Schule und Autor von rund sechzig Büchern und 400 Aufsätzen in Oerlinghausen bei Bielefeld verstirbt. Seine Name: Niklas Luhmann. Als er seinen ersten Zettel schreibt, ist er Ende Zwanzig. Er hat in Freiburg Rechtswissenschaften studiert, danach ein Jahr in europäischen Bibliotheken verbracht und arbeitet nun, nach einem kurzen Aufenthalt in einer Anwaltskanzlei, in seiner Geburtsstadt im niedersächsischen Staatsdienst. Abends füttert er seinen Zettelkasten. O-Ton 0: (Luhmann) Ich habe zunächst einmal mit Mappen gearbeitet und Zetteln, die fliegen dann raus, und dann muss man ... Und dann habe ich das so... Ich glaube, 51 oder so etwas, habe ich das Ganze umorganisiert auf einen Kasten, wo jeder Zettel eine feste Nummer hat. Im Zettelkasten selbst gibt es einen Zettel mit Verweisungen, wo dann steht, also hier geht es um Paradoxie, Paradoxie- Schule usw. Der Vorteil dieser festen Nummerierung, die nie geändert wird, ist, daß man eben von jedem Punkt auf jeden anderen verweisen kann. Autor 3: Wozu so ein System? Worum geht es Luhmann? Zunächst um Verwaltungswissenschaft. Er liest und forscht, um die Behörde zu begreifen, in der er Dienst tut. Sprecher 2: Zettel Nr.1/1,1: Belege für die Auffassung, daß viele Wissenschaften mit Verwaltung zu tun haben. Autor 4: Auf den nächsten Zetteln folgt eine Reihe solcher Belege. Aber Luhmann, der als Jurist viel Sinn dafür hat, daß Begriffe aufeinander abgestimmt werden müssen, plant von vornherein für mehr als nur die Verwaltung und legt seine Notizen so ab, daß sie auch für andere Zwecke verwendbar sind. Später beschreibt er das so: Sprecher 3: Daß Zettelkästen als Kommunikationspartner empfohlen werden können, hat zunächst einen einfachen Grund in technisch-ökonomischen Problemen wissenschaftlichen Arbeitens. Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlußfähiger Weise. Irgendwie muß man Differenzen markieren, Distinktionen entweder explizit oder in Begriffen implizit festhalten . . . Wenn man aber sowieso schreiben muß, ist es zweckmäßig, diese Aktivität zugleich auszunutzen, um sich im System der Notizen einen kompetenten Kommunikationspartner zu schaffen ? Als Ergebnis längerer Arbeit mit dieser Technik entsteht eine Art Zweitgedächtnis, ein Alter Ego, mit dem laufend kommunizieren kann. Autor 5: Am Ende umfasst das Zweitgedächtnis gut 20000 Zettel. Genau kann man es noch nicht sagen, denn der berühmteste Zettelkasten der deutschen Wissenschaftsgeschichte ist nach dem Tode Luhmanns lange nicht zugänglich gewesen. Ein Rechtsstreit unter den Erben mußte zunächst klären, ob der Kasten zum Haus gehörte, das Luhmann seinen Söhnen hinterließ, oder zum Werk, das er seiner Tochter vermachte. Die Gerichte stellten fest: Er gehört zum Werk und nicht zur Immobilie. Darum steht der Kasten mit seinen 24 Schubfächern jetzt im Archiv der Universität Bielefeld, deren erster Professor nach ihrer Gründung 1968 Niklas Luhmann war und an der er sein wissenschaftliches Leben verbrachte. Und soeben ist der Zettelkasten überhaupt zum ersten Mal besichtigt worden, von einer kleinen Gruppe von Soziologen, die sich zusammen mit Luhmanns Tochter um seinen Nachlaß kümmert. Zwei Stunden lang haben wir aus diesem Anlaß das legendäre Objekt studieren können. Weshalb aber ist dieses Objekt, weshalb ist jener Kasten so berühmt? Vermutlich auch, weil Luhmann ihn einmal so beschrieben hat: Sprecher 4: Will man einen Kommunikationspartner aufziehen, ist es gut, ihn von vornherein mit Selbstständigkeit auszustatten. ... Für das Innere des Zettelkastens, für das Arrangement der Notizen, für sein geistiges Leben ist es darum entscheidend, daß man sich gegen eine systematische Ordnung nach Themen und Unterthemen und stattdessen für eine feste Stellordnung entscheidet. Ein inhaltliches System (nach Art einer Buchgliederung) würde bedeuten, daß man sich ein für allemal (für Jahrzehnte im voraus!) auf eine bestimmte Sequenz festlegt. ? Die feste Stellordnung hingegen braucht kein System. ? Autor 6: Der Zettelkasten sollte also ein selbständiges Gegenüber sein, ein Geschöpf, das seinen Schöpfer zu überraschen vermag, aus dem man mehr rausholt, als man in ihn hineingesteckt hat. André Kieserling, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und heute Inhaber des ehemaligen Lehrstuhls von Luhmanns: O-Ton 1: (Kieserling) Wenn man etwas übertreibt, dann kann man ja sagen: Der Kasten kopiert Evolution. Er trennt Variation und Selektion. Er produziert dauernd neue Ideen neue Einträge, überraschende Notizen, wenn er?s schon gewußt hätte, hätt? er?s ja nicht reingeschrieben, aber die Frage, wann es wieder auftaucht und in welchen Zusammenhängen es wieder auftaucht und wofür es gegebenenfalls verwendet werden kann, ist in dem Augenblick offen, in dem man es an diese Stelle des Kastens steckt und nicht an eine andere. Und der Kasten beruht ja eben darauf, daß er nicht über ein Register erschlossen wird, in dem dann steht: alles, was mit Familien zu tun hat, steht auf Seite 17, auf Seite 300, auf Seite 1211, sondern - das gibt es auch, aber das ist nur die Einstiegsdroge in den Kasten ? und dann kann man von der ersten Seite über Familien aus entweder auf weitere Seiten über Familien oder von jeder Seite auf die man dann kommt auf weitere Zettel zugreifen, und wann das aktualisiert wird, also diese Art der Querverweise, mit welchem Suchinteresse und ob das Suchinteresse paßt zu dem, was man dann findet oder nicht umgekehrt dazu führt, daß man Dinge findet, die man zugleich brauchen kann und nie gesucht hat ? es ist eigentlich der Versuch, von der Ordnungswut beim Sammeln und beim Anlegen eines Kastens abzusehen und stattdessen den Kasten so anzulegen, daß er überraschend und in diesem Sinne wie ein Kommunikationspartner funktioniert. Autor 7: Ein handliches Register nannte zu wichtigen Stichworten einen oder zwei Zettel, durch die der Suchende in den Zettelkasten hineinfand, von da an ging der Weg weiter über die Verweise der Zettel oder über Zettel in der Nachbarschaft der ersten aufgesuchten Notiz. So findet man im Register beispielsweise den Eintrag ?Habermas 21/3 d 16 g 53? ? und kann dann nach dem entsprechenden Einstiegszettel suchen. Wir haben das in Bielefeld ausprobiert ? aber ein Zettel mit dieser Nummer war nicht anzufinden. Sollten ausgerechnet die Gedanken zu Habermas, dem großen philosophischen Antipoden Luhmanns, der ihn 1970 durch eine öffentliche Kontroverse erst bekannt machte, sollten ausgerechnet sie verlorengegangen sein? Oder war der Registereintrag vielleicht nur ein Scherz, und es hatte niemals Zettel zu Habermas gegeben? Solche ein scherzhafter Gruß an die posthume Neugier war Luhmann zuzutrauen. Nach einer Stunde vergeblichen Suchens stoßen wir im Zettelkasten selber auf eine ältere Variante des Registers, eine Handvoll Karteikarten, und dort steht das richtige Aktenzeichen für Habermas - nicht 3d16, sondern 3d26 mußte es heißen. Habermas war, mit anderen Worten, für Luhmann selber mittels seines letzten Registers nicht mehr auffindbar. Was wir nie erfahren werden, ist, ob er ihn überhaupt gesucht hat. Nehmen wir aber zur Illustration der Funktionsweise des Zettelkastens ein anschaulicheres Beispiel als Habermas, nehmen wir den Zettel Nr. 7/73. Sprecher 5: Zettel Nr. 7/73: Glücksspiel, psychologisch: Koexistenz von höchster Passivität und höchster Erregung in einem Verstand. Autor 8: Ein solcher Eintrag steht dort, wo er steht, eher zufällig. Aber er verweist, sofern der Autor das vorgesehen hat, auf andere Zettel, die sich zum Beispiel auch mit Bewußtseinszuständen befassen. Sprecher 6: Zettel Nr. 52/25s: Träume ? Bewußtsein mit schlechter Beleuchtung und verminderter Fähigkeit, die Differenz intern/extern zu handhaben. Autor 9: Gleich neben diesem Zettel findet sich ein weiterer, der sich vermutlich derselben Lektüre oder demselben Gedankengang verdankt. Sprecher 7: Zettel Nr.52/25s1: Träume sind unbeobachtbare Beobachtungen. Eben deshalb fehlt ihnen der Realitätswert. Autor 10: Oder der Verweis erfolgt in eine ganz andere Richtung, weil dem Soziologen aufgefallen ist, daß es noch ganz andere Situationen gibt, in denen sich höchste Aufmerksamkeit und Passivität mischen. Sprecher 8: Zettel Nr. 534/3e39: Über Situationen in Anwesenheit des Vorgesetzten: Der Vorgesetzte steht im Mittelpunkt, es hat keinen Sinn, das zu leugnen?Das heißt aber nicht, daß man der Faszination durch den Vorgesetzten erliegen muß. Man kann auch seinen Blick fangen und aushalten. Autor 11: Vom Glücksspiel über den Traum zum Vorgesetzten ? auf den ersten Blick ein weiter Weg. Aber nicht für den Zettelkasten und nicht für die Soziologie Niklas Luhmanns. Ihr ging es gerade darum, überraschende Vergleiche anzustellen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Was heißt es für soziale Situationen, wenn der Erregungsgrad, der an ihnen Beteiligten nicht beobachtbar ist? Das ist eine Frage, die sich aus der Kombination von Zetteln ergeben könnte, die jeder für sich ganz unabhängig von den anderen angelegt worden ist. Die entscheidende Voraussetzung für eine solche Kombinatorik ist nur, daß die Gedanken, die der Autor hat und die Beobachtungen, die er macht, nicht vorschnell unter einer bestimmten Rubrik abgelegt werden. Der Soziologe Rudolf Stichweh, erster Lehrstuhlnachfolger Luhmanns und heute Rektor der Universität Luzern: O-Ton 2: (Stichweh) Ich habe nie ganz verstanden und hab das dann auch nicht mehr versucht zu verstehen, man konnte Luhmann ja auch nicht so ausfragen, wie man vielleicht jemand anderen ausfragen würde, wie er das macht, aber ich habe auch relativ bald mit Karteikarten gearbeitet und das irgendwann dann alles in den Computer transferiert, also in diesem Sinne habe ich auch einen, vermutlich völlig anders strukturierten Zettelkasten, und ich glaube, der Hauptvorteil besteht eben darin, im Unterschied zu Mappen, mit denen zum Beispiel ich auch lange gearbeitet habe, daß man in Mappen im Grunde die Sachen in relativ große Einheiten zerlegen kann und dann eigentlich immer schon die Gliederung eines Buches da hat, aber nicht die Gliederung einer Theorie oder eines Werks. Und daß der Zettelkasten das Wissen und die Einfälle und die Ideen in viel kleinere Einheiten zerlegt und in eben freiere Kombinatoriken zerlegt. Und ich glaube, das ist es am Ende. Also wie man den genau baut, das ist irgendwie egal. Es geht eigentlich nur darum, die Sachen so zu zerlegen, daß man sie aus vielen Perspektiven findet, an vielen Orten findet und dann daraus eben nicht nur eine Sache bauen kann, wie das so eine Mappe ist, wo man die Notizen für ein Buch hat, sondern viele Sachen bauen kann. Und in dem Sinne gibt es natürlich eine Verwandtschaft des Zettelkastens zu etwas, was nicht primär immer ein Buch ist, sondern eigentlich immer nur ein Aufsatz oder ein Buch als Teil einer größeren theoretischen Einheit, an der man arbeitet. Dazu gehört der Zettelkasten, das würde ich auch so sehen. Autor 12: Was war das nun aber für eine Theorie, die auf diese Weise und mittels eines solchen Geräts entstand? Gehen wir zurück in jene fünfziger Jahre, zurück zum Verwaltungsbeamten in Lüneburg. Er möchte wissen, was das für eine Organisation ist, in der er arbeitet. Also liest er zum Thema ?Organisation?. Organisationen bestehen aus Stellen und Posten ? also gibt es Zettel dazu. Um die Verwaltung zu verstehen, braucht man über das Verwaltungsrecht hinaus einen Begriff von sozialer Ordnung, eine Vorstellung von den Klienten der Verwaltung, von sozialen Erwartungen. Diese Begriffe wiederum setzen solche von ?Gleichheit? oder ?Hierarchie? oder ?Gruppe? oder ?Zweck? voraus. Also liest und exzerpiert Luhmann dementsprechend, zieht Philosophie und Ökonomie und Psychologie in die Notizensammlung zur Bürokratie hinein, kommt von Lektüren über ?Amt? zu solchen über ?Funktion? und von dort zum Begriff ?Gleichgewicht?, weil ja in allen sozialen Systemen mehr als eine Funktion bedacht werden muß. Man sieht schon beim durchblättern der ersten hundert Zettel, wie hier ein Interesse für die gesamte Sozialwelt sich meldet. Rudolf Stichweh vergleicht Luhmann mit seinem Bielefelder Kollegen, dem Begriffsgeschichtler und wandelnden Lexikon der Moderne, Reinhart Koselleck: O-Ton 3: (Stichweh) Ich wüßte eigentlich niemanden, der ähnlich viel Verschiedenes zu lesen und dann aber auch produktiv zu nutzen imstande gewesen wäre. Nehmen wir, ohne das irgendwie abwerten zu wollen, so jemand wie Koselleck, der sicher einer der bedeutendsten Gelehrten jener Jahre in Deutschland war, und man hatte immer den Eindruck, und ich glaube Koselleck hat den auch geteilt, daß Luhmann dies auch alles wußte, sicher nicht so genau wie Koselleck, aber im Prinzip auch in der Begriffsgeschichte relativ tief eingetaucht war wie Koselleck, aber für Luhmann war das nur eine von acht oder zehn oder zwölf, wie man das zählen mag, Kompetenzen. Eine davon hätte schon gereicht, aus ihm einen der großen Gelehrten seiner Zeit zu machen. Autor 13: Diesen Eindruck bestätigen viele, die Luhmann gekannt haben, diesen Eindruck macht auch der Zettelkasten ? ein Gelehrter, der über eine außerordentliche Gabe zur Verarbeitung der unterschiedlichsten Lektüren verfügte. Noch einmal Rudolf Stichweh, der in den siebziger Jahren bei Luhmann studierte: O-Ton 4: (Stichweh) ?Er fiel vor allem als Person aus der Normalität des universitären Betriebs, aus den Alltäglichkeiten, aus den Rollenmustern heraus. Beim ersten Wahrnehmen hatte man eher so das Gefühl mit jemand zu tun zu haben, der aus irgendeiner Verwaltung aufgetaucht ist, was ja auch stimmt in gewisser Hinsicht. Und dann war es eben vor allem ein unergründlicher, immer wieder überraschender, immer wieder aus einer anderen Ecke kommender Gelehrter, danach setzte sich dieses Gelehrtenmoment durch und gerade für Studierende die Rätselhaftigkeit, woher das kam, woher man das nehmen konnte, was Luhmann wußte, woher die Kombinatorik des Wissens aus unendlich vielen Domänen, wo man als Student gar nicht verstand, daß jemand das beherrschen kann. Er war zunächst eine Person, die vom Habitus eben nicht in den universitären Standard paßte, und danach war er, wenn man ihn gewissermaßen inhaltlich kannte als Universitätslehrer, dann war die Radikalität der Differenz zu den Kompetenzen und begrifflichen Fähigkeiten, über die andere verfügten so dramatisch, daß man dann anfing, Luhmann gewissermaßen als die Universität zu sehen und die anderen nicht mehr dazuzurechnen. Autor 14: Eine Universität in einer Person. Und zugleich eine völlig zurückgenommene, unauffällige Existenz, selbst als Luhmann in den siebziger und achtziger Jahren alllmählich berühmt geworden war. André Kieserling, der ihn Ende der achtziger Jahre kennenlernte: O-Ton 5: (Kieserling) Ich glaube es ist mir so gegangen, wie vielen anderen, daß ich überrascht war von der spektakulären Unscheinbarkeit der Person im Vergleich zu den Texten, die man kannte. Also man hatte sich irgendeinen Boss vorgestellt, irgendeinen charismatischen Redner, irgend so etwas, was nach Adorno aussieht und klingt. Und dann kam dieses Männchen mit dieser leisen Stimme. Nicht sehr groß, überhaupt nicht dominierend, und wenn er über andere sprach, die zu dominieren versuchten, immer mit viel Distanz und Ironie. Und es hat lange gedauert, ehe ich an der Person überhaupt wiedererkannte, was ich an den Texten mochte. Autor 15: Auch das gehört zur Geschichte dieses Zettelkastens: Niklas Luhmanns Behauptung, es habe sich nicht nur um einen Kommunikationspartner gehandelt, sondern um seinen wichtigsten. Sprecher 9: Natürlich stellt der Weg eines auf Dauer angelegten, offenen, thematisch nicht begrenzten ? Kommunikationssystems bestimmte strukturelle Anforderungen an die Partner. Man wird bei dem gegenwärtig immer noch hohen Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen mir selbst zutrauen, daß ich diese Voraussetzungen erfüllen kann. Aber der Zettelkasten? Wie muß er angelegt sein, damit er die entsprechende kommunikative Kompetenz erlangt? Autor 16: Niklas Luhmanns Behauptung, der Zettelkasten sei sein Alter Ego, war also nicht nur ironisch gemeint. Denn es dürften nur wenige Leben so ausschließlich der Wissenschaft und der eigenen Produktivität, dem von Lektüren angeregten Selbstgespräch gewidmet worden sein, wie dieses. Das ging bis ins Verhalten. André Kieserling über Luhmann an der Bielefelder Universität: O-Ton 6: (Kieserling) Er betrat die Universität durch den Haupteingang, es geht ja auch nicht anders, und vermied dabei aber die Halle zu durchqueren und zu dem Gebäudeteil zu gehen, in dem sein Büro liegt, sondern ging stattdessen sofort in den ersten Aufzug, fuhr in den vierten Stock, das Stockwerk, in dem sein Büro liegt, und marschierte dann durch eine Reihe von Fluren zu dem Büro. Und das macht er auch, wenn er die Universität verließ, so. Und ich kannte diesen Weg gar nicht, er ist auch nicht so einfach wie der andere. Und er sagte: Es hat den Vorteil, daß man niemandem begegnet. Autor 17: Das heißt nicht, daß Luhmann die Universität über dem Zettelkasten und der eigenen Produktion vernachlässigt hat. Er war nur, nach 1968, ein gebranntes Kind dessen, was an der Universität nicht der Forschung und Lehre diente. Luhmanns Theorie konnte auch entstehen, weil die Universität damals ihre besten Kräfte isolierte. Der ehemalige Verwaltungsbeamte bekam es mit dem Schrecken schlechthin, mit der Selbstverwaltung und ihren Marathonsitzungen zu tun. Hartmann Tyrell, Soziologe in Bielefeld und Kollege aus jenen Jahren, einer der treuesten Begleiter Luhmanns: O-Ton 7: (Tyrell) Diese Fakultätssitzungen - damals war das eine ungeheure Euphorie der Selbstverwaltung. Und einen außerordentlich starken Mittelbau und eine Besetzung der Fakultätskonferenz aus allen Professoren, zur Hälfte Mittelbau, zur Hälfte Studenten. Das hatte die Wirkung, daß sich die ganze Fakultät in einem der zentralen Räume des Hauses versammelte und mittwochs ganztägig tagte, praktisch von 9 bis gelegentlich abends 18 Uhr. Luhmann hat ganz selbstverständlich als junger, als erster Professor dieser Universität, natürlich ganztägig teilgenommen, aber er hat sich ausgestattet mit Folianten und hat Duns Scotus etwa gelesen, was einen Kollegen, Theo Harder, dann irgendwie in Zugzwang brachte, der brachte dann einen griechischen Aristoteles mit, den er sichtbar, sozusagen vor aller Augen las. (?) Wie sehr das auf Ganztagsprogramm gestimmt war, kann man daraus entnehmen, daß Helmut Schelsky zum Beispiel regelmäßig entweder dieser Sitzungen nur durchhielt mit einer Flasche Whisky ausgestattet, die am Abend in der Regel, weil auch andern gelegentlich angeboten wurde, leer war, oder aber auch mit einem Kästchen Bier auftrat, von dem auch das meiste getrunken war am Abend. Autor 18: Schelsky mit geistigen Getränken, Luhmann mit spätmittelalterlichen Schwarten ? es gab damals verschiedene Arten, der Politisierung der Hochschulen zu begegnen. Niklas Luhmann hielt diesen Stil, Pflichterfüllung mit Ironie zu kombinieren, in seinem Verhältnis zur Hochschule auch später durch. O-Ton 8: (Kieserling) Es wird berichtet, ich war leider nicht dabei, von einer Sitzung, in der eine Gruppe von Frauen versucht hat, die Fakultät, die eine Fakultät aus Männern war, dazu zu bewegen, dem Antrag beizupflichten und ihn zu unterstützen, daß nunmehr ein Institut oder sonst irgendeine Einheit gegründet wird, die sich ausschließlich der Frauenforschung widmet. Die Kollegen hat die Befürchtung, daß das vielleicht nicht so sehr Forschung als vielmehr Politik ist, und waren zögerlich, und die Situation war extrem polarisiert. Und die Frauen bestanden darauf, daß nun etwas unterschrieben wird des Inhalts, die Fakultät unterstütze den Antrag dieser Frauenfraktion. Und dann ging irgendwann Luhmanns Finger hoch, und er sagte: Er sei vollkommen einverstanden mit allem, was die Frauen da forderten, er würde nur die Änderung eines Verbs fordern: Die Fakultät ?bewundert? den Antrag der Frauen. Allgemeines Gelächter, auch der Frauen selbst, das Thema war danach nicht mehr behandelbar, die Situation war entspannt, und alles wurde auf unbestimmte Zeit vertagt und irgendwelche Gremien überlassen. Autor 19: Im Zettelkasten findet sich von solchen Erlebnissen nicht die Spur. Was auch für andere ?private? Dimensionen von Luhmanns Leben gilt. Ein Zettelkasten ist kein Tagebuch. Sieht man davon ab, daß Luhmann kleine Schuldscheine der Kinder, die sich Geld geliehen hatten, im Zettelkasten verwahrte, zeigt sich hier nur der Denker, der Leser, der Autor. War Luhmann also nur ein Kopf? Gewiß nicht, aber es gibt Mitteilungen von ihm, die es trotzdem nahelegen. André Kieserling über ein Gespräch am Rande einer Feier mit Studenten. O-Ton 9: (Kieserling) Er sagte: Ich bin blind wie ein neugeborenes Kind, ich sehe nichts und ich verstehe nichts, es sei denn, meine Theorie sagt mir, worum es sich handelt, und daß war etwas, das hatte nicht die Spur von Prätention, das kam nicht übertrieben, sondern wenn man Luhmann sah, wußte man, daß er so funktioniert. Er konnte alles verstehen, aber nur mithilfe der Theorie und an Stellen, an denen sie stumm blieb, wenn es sie gegeben hat, wird er sich ratlos gefühlt haben. Autor 20: Das heißt nicht, daß Luhmann nicht gewußt hätte, worin der Preis einer dergestalt fast ausschließliche Hingabe an Theorie und Erkenntnis besteht. O-Ton 10: (Kieserling) Ich erinnere mich an eine Situation, in der es um Moral ging und zwar um die Soziologie der Moral, und er hatte die Frage aufgeworfen, was denn die Moral zu dem engagierten Spezialisten sagt, also zu dem überengagierten Spezialisten, dem Romanautor, der an das nächste Werk denkt und nur daran, oder, die Ergänzung lag dann nahe, dem Theoretiker, der an seine Theorie denkt und nur daran. Und ich hab dann ganz altklug gesagt, das sei überhaupt kein moralisches Problem, denn diese Leute würden es ja allen anderen freistellen, etwas anderes zu machen, die würden ja nicht behaupten, daß sie eine Maxime für allgemeine Gesetzgebung inkarnieren und daß alle ihnen Folge leisten sollten. Und dann sagte er ganz kurz: Wissen Sie, ich denke hier gar nicht an Kant, ich denke daran, daß solche engagierten Spezialisten schlechte Ehemänner und schlechte Väter sind und die Frage ist, ob die Moral das wirklich so bewerten und die Leute sanktionieren soll, oder ob sie das nicht kann angesichts dessen, was sie dann als Schriftsteller oder Theoretiker leisten. Autor 21: Was Niklas Luhmann als Theoretiker und Soziologe geleistet hat, läßt sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen. Unerreicht sind seine Bücher über die Funktion von Organisationen, seine Rechtssoziologie und sein Buch über den sozialen Sinn der Grundrechte. Daneben stehen Werke zur Soziologie der Kunst und der Wissenschaft, zu den modernen Massenmedien und zur Entstehung des Vokabulars romantischer Liebe. Er hat über den Wohlfahrtsstaat geschrieben, über die Wirtschaft und er hat eine Religionssoziologie entwickelt, über die Theologen bis heute diskutieren. Mit anderen Worten: Aus dem Lüneburger Verwaltungsjuristen ist ein soziologischer Klassiker geworden. Sprecher 10: Zettel Nr. 7/59 a 5: Vielleicht sind Klassiker auch, und gerade deshalb, so beliebt, weil man sich von ihnen durch Personennamen unterscheiden kann, während bei theoretischen Positionen schwierige Überlegungen nötig sind, wirklich festzustellen, worin sie sich unterscheiden. Autor 22: Kurz davor im Zettelkasten heißt es: Sprecher 11: Zettel Nr. 7/59 a: Man kann es tun, aber es entspricht nicht wissenschaftlichem Stil, die Klassiker mit Dankbarkeit zu überschwemmen. Autor 23: Dazu paßt, was Rudolf Stichweh über das Fortleben der Soziologie Niklas Luhmanns sagt. O-Ton 11: (Stichweh) Ich meine, Luhmann droht ja wie jeder wirklich große Denker, sehr zum Gegenstand einer Orthodoxie zu werden. Also das droht ihm wie jedem anderen, der so ein Werk hervorgebracht hat, daß die Leute das nur lesen und kontinuieren und das Lesen und das Wiederholen der Diagnosen für fortdauernd relevante Gegenwartssoziologie halten, statt sich vor Augen zu führen wie Luhmann eigentlich gearbeitet hat und daß die einzige sinnvolle Art des Anschließens das Anschließen an den Duktus des Arbeitens ist, also das unablässige Beobachten der Entwicklungen in den Disziplinen und der Versuch, das in soziologische Theorie rückzuüberführen und fruchtbar zu machen. Also das eigentlich ist meines Erachtens eigentlich die Hauptaufgabe, daß man nicht sagt: Luhmann hat das gesagt, das ist richtig und ich verteidige das jetzt bis zum letzten Tag. Autor 24: In anderen Worten: Eigentlich soll man gar nicht tun, was wir in der vergangenen halben Stunde getan haben. Man soll nicht über diesen großen Soziologen reden, sondern mit ihm. Man soll nicht den Autor kommentieren, sondern das Werk nutzen und weiter entwickeln. Dazu gehört die Einladung zur Lektüre: Luhmanns Schriften sind oft nicht einfach, aber sie entlohnen jede Mühe reich. Dazu gehört aber auch der Zettelkasten. Mit ihm kann man noch kommunizieren. Die Nachlaßverwalter werden ihn jetzt elektronisch erfassen lassen, transkribieren und danach zugänglich machen. Es soll mit ihm gearbeitet werden. Das paßt zu Niklas Luhmann, denn er war ein Optimist der Erkenntnis. O-Ton 12 (Kieserling) Er konnte sich vorstellen, daß die Theorien über die Gesellschaft besser werden, auch wenn die Gesellschaft selber nicht besser wird. Adorno hätte sich das nicht vorstellen können. Er konnte das, und wenn man ihn sah, glaubte man, daß das geht. Autor 25: Dieses Bestehen darauf, daß Intelligenz zwar bei weitem nicht alles ist, aber zumindest in der Wissenschaft nicht schadet, findet sich auch in einer Antwort, die Niklas Luhmann einmal am Ende eines Fernseh-Interviews gegeben hat. O-Ton 13: ?Herr Luhmann, welche Kritiker ihrer Theorie fürchten sie am meisten?? - ?Die dummen?. 1