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Regie: Musik hoch 3. O-Ton: Michal Barkas, polnischer Journalist Also ich kann so richtig nicht daran gewöhnen, wenn ich am Strand gehe und muss ich mich anhalten- ungewohnt, ja ungewohnt. Regie: Musik hoch 4. O-Ton: Tourist Man hat das früher in der Schule nicht durchgenommen - insofern ist es gut, dass man das mal so kennen lernt die Gebiete, das wird doch die Zukunft sein, der Ostseeraum. Regie: Musik hoch SpvD: Strand ohne Grenze - Von Ahlbeck nach Swinemünde. Eine DeutschlandRundfahrt von Nana Brink. Atmo (1): Meer Autor: Ein Spätsommermorgen auf der Seebrücke in Ahlbeck. Ich stehe mit einem Fischbrötchen in der Hand genau an jener Stelle, an der ich vor zehn Jahren schon gestanden bin, - ganz am Ende des Lan- dungsstegs. Links blicke ich nach Ahlbeck, auf die pastellfarbenen Villen, die sich wie kleine Törtchen an der Seepromenade aufreihen. Rechts sehe ich den langen, weißen Sandstrand entlang, an dessen Ende ein Leuchtturm zu sehen ist und eine weiße Front gleichförmi- ger Hotelbauten, - Swinoujscie, auf Deutsch: Swinemünde. Auf den ersten Blick sieht alles gleich aus. - Aber es ist alles anders: Das Fischbrötchen hat mir ein polnischer Händler hier auf der Seebrücke verkauft. Am Strand spazieren ameisengleich die Urlauber am Strand, - von der Seebrücke bis zum Leuchtturm - oder umgekehrt. Mit Hund, Strandkorb, Schirm und Kindern. Sie kommen aus Berlin, Hamburg, Stettin oder Warschau. - Und ich frage mich: Wo ist die Grenze? Atmo (2): Musik auf der Seebrücke in Ahlbeck Autor: Auf der Seebrücke warten Fritz Spalink und Bogdan Jakym. Sie ste- hen vor dem Lokal "Seebrücke", einem strahlendweißen Holzbau mit knallrotem Dach und vier Eck-Türmchen. Die beiden sind Stadtfüh- rer, der eine in Ahlbeck und der andere in Swinemünde. Seit einer kleinen Ewigkeit - seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 - führen sie ihre Gäste auf der Insel herum. Sie könnten unter- schiedlicher nicht sein. Bogdan, klein und schmal, küsst mir die Hand und schenkt mir eine Tafel Nussschokolade, - aus seinem Heimat- dorf Stettin. Was kann er mir über Ahlbeck, Swinemünde, die Gren- ze, das Ganze erzählen? Nicht so schnell, - er grinst. 5. O-Ton: Bogdan Jakym Ich weiß nicht, was mich erwartet...(Atmo hängt dran) Autor (3): Bogdan lächelt geheimnisvoll. Aber da hat sich schon Fritz neben ihm auf der Seebrücke aufgebaut - groß, schwer, mit eisenhartem Händedruck. Ob ich weiß, wo ich bin? Atmo: Musik Seebrücke 6. O-Ton: Fritz Spalink Die Seebrücke Ahlbeck ist die einzige noch existente Seebrücke aus der Vorkaiserzeit, sie ist gebaut vor 1900, zuerst mal nur als reine Plattform und auf dieser Plattform hat man dann getanzt, Theaterfüh- rungen gemacht, man konnte dort sehr viele Stühle aufstellen... das Ganze war ein Nachklapp auf die Heringsdorfer Seebrücke, die schon 10 Jahre vorher gebaut worden war.... dann wurde weiter ge- baut, so dass Ende der 20er Jahre die Seebrücke dann so aussah, wie sie jetzt aussieht immer noch. Autor: Die Seebrücke ist das Herzstück von Ahlbeck, - dem touristischen Ahlbeck, das sich vor über 130 Jahren aufmachte, ein Badeort zu werden. Zusammen mit Bansin und Heringsdorf - und dem jetzt pol- nischen Swinemünde - machten die Berliner diese Ostseebäder zu ihrer "Badewanne". 1875 wurde das erste Hotel in Ahlbeck gegründet - dann kam die Seebrücke. Das ist die Seele, sagt Fritz Spalink, der die Historische Gesellschaft Ahlbeck leitet, - sie hat alles überlebt: Den Kaiser, die Kriege, die DDR - und die Grenze. 7. O-Ton: Fritz Spalink Sie hat den großen Vorteil, das sie nie abgebrannt ist wie die He- ringsdorfer Seebrücke, sie hatte zwar immer Probleme mit dem See- gang, aber eigentlich die ganze Zeit überlebt hat und auch noch in dieser alten Form steht. (Ton oben) Atmo (4): Lokal Autor: Die hölzerne Treppe knarrt, als wir ins Lokal gehen. Unter der lind- grünen Holzdecke sieht es aus wie im Inneren eines Zirkuszeltes: ro- te Balustraden, kleine Separees mit goldenen Schnörkel an den blauen Säulen. Es gibt Kaffee im Kännchen und Zwetschgenkuchen. Fritz und Bogdan machen mit ihren Gästen hier öfters Pause. 8. O-Ton: Fritz Spalink Die Seebrücke ist immer ein Treffpunkt gewesen einmal für die Ein- heimischen im Winter, man hat dann hier seine Feiern veranstaltet und im Sommer eben Feriengäste, die ein gehobenes Niveau haben wollten, die Veranstaltungen waren immer gut besucht, Tanzveran- staltungen...Hallo...ich habe gerade gesagt, dass du zu DDR-Zeiten hier ausgebildet worden bist. Autor: Ernst-Peter Kaufmann, der Pächter des Lokal auf der Seebrücke, setzt sich an den Tisch. Er gehört sozusagen zum Ahlbecker Gastro- nomieadel. 9. O-Ton: Ernst-Peter Kaufmann, Pächter Seebrücke Habe am 17. Juli 75 hier angefangen als Kellner auf der Seebrücke, damals zu der Zeit war meine Mutter hier Chefin, das war eine amü- sante Zeit, wir haben viel erlebt, viel Spass gehabt, weil es doch in der Gastronomie ungezwungener war .... nur Saisonkräfte, am 15. Mai machte die Seebrücke auf und am 15. September machte sie zu, und dann war das ganze Personal untergebracht hier auch in Ahl- beck hinter die Bahnschienen, das hieß dann Klein-Chikago, schon seine Berechtigung gehabt. Autor: Auf Ernst-Peter Kaufmanns braungebrannten Gesicht zeigt sich ein verschmitztes Lächeln, als er von der Menschenschlange erzählt, die Montags 250 Meter lang war: Alle wollten Karten für die begehrten Tanzabende. Ja schön war's, sagt er und blickt auf seine dicke gol- dene Uhr, - aber, jetzt habe er sich ja seinen Traum erfüllt und die Seebrücke gepachtet. Es läuft, sagt er, als ich nachfrage und auf die spärlich besetzen Tische zeige. Es läuft, - natürlich, was denken Sie denn! Vor allem, da es keine Grenze mehr gibt. 10. O-Ton: Ernst-Peter Kaufmann, Pächter Seebrücke Grenze? - nicht mehr als innerhalb von Deutschland, von einigen Bundesländer zu einigen Bundesländern... Es wird nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das sich hier vermischt und gute Arbeitskräf- te zu finden, ist sehr schwer. Autor: Natürlich hat Kaufmann einen Kellner, der polnisch spricht. Das ge- hört in Ahlbeck zum guten Ton. Über solche Sprüche muss Bogdan lachen. Er hat schon vor 20 Jahren Deutsch gelernt. Sie wissen nicht warum, fragt er mich. Ganz einfach: Aus polnischer Sicht liegt Deutschland auf dem Weg nach Europa. 11. O-Ton: Bogdan Jakym Ich habe von hier sehr viele Aufträge...ein paar Tage hier und ein Tagesausflug ist eben Insel Wollin. Atmo (5): Musik auf Seebrücke (wie Atmo 2) Autor: Wir stehen wieder draußen auf der Seebrücke. Bogdan zeigt mir ei- nen Flyer von Usedom, - man sieht ganz viel Usedom und wenig von der polnischen Schwesterinsel Wollin. Komisch nicht, - fragt er. Da- bei sähen sie doch aus wie ein Schmetterling, der eine Flügel ist U- sedom und der andere Wollin. Ein europäischer Schmetterling - Bogdan gerät ins Schwärmen. Fritz sieht den europäischen Gedan- ken weitaus pragmatischer. 12. O-Ton: Fritz Spalink So kann man einfach sagen, wir steigen einfach ins Auto, wenn wir Zeit haben und fahren rüber Eisessen. ... da gibt es wunderschönes italienisches Eis, so schönes Eis gibt es hier nicht mehr. Musik Interpret: Quadro Nuevo Titel: Swing Vagabond CD: Tango bitter sweet Track: 2 Komponist: Mulo Francel & Pasquale Losito Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: Atmo (6): Pferdegetrappel auf der Straße (immer unter Autor legen) Autor: Ich warte an der Stadtgrenze zu Ahlbeck, das größte der drei Kaiser- bäder auf Usedom und das letzte vor der polnischen Grenze. Es ist 10 Uhr, der Himmel hat sich zugezogen. 13. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Na da ist nu eine Wolke am Himmel und dann fahren die Urlauber Autos... wir finden das alle traurig wir Einheimische, man kann sich anderweitig beschäftigen, ich würde empfehlen, der Urlauber sollte im Urlaub sein Auto bei uns stehen lassen.... und diese ganze Be- wegung ist nun der Rückreiseverkehr von Swinemünde...gucken mal im Freundesland, tanken, ich sag immer: Zigarettentourismus. Autor: Es ist nicht leicht auf das Pferdefuhrwerk von Brigitte Will zu kom- men. Die beiden Mecklenburgischen Kaltblütler halten mitten in der Autoschlange auf dem glitschigen Asphalt - ich habe fünf Sekunden, um auf den Kutscherbock zu springen. Dann geht es los durch die Geschichte von Ahlbeck. 14. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Wir fahren hier in der Delbrückstraße parallel zur Ostsee nach Ahl- beck, hier zum Beispiel haben wir die Oppenheim-Villa, die ist auch in die 80er Jahre gebaut, damals vom jüdischen Bankier Oppenheim als Familienresidenz, vor ein paar Tagen verkauft, der neue Besitzer soll aus Berlin kommen, hier rechter Hand haben wir einen herrlich sanierte Villa, die war wirklich wahnsinnig marode, die hat einer ge- kauft aus Düsseldorf, den hatte ich selbst hier in der Kutsche, - war ganz bescheiden, ich sage, so was können Sie doch laut sagen, zu dem Haus gehört doch Mut! Stiltreu saniert, kann ich sich freuen.... Autor: Brigitte Will kennt sich aus: Seit fast 30 Jahren fahren die Wills ihre Gäste mit der Kutsche durch Heringsdorf und Ahlbeck. Auch im Sommer sitzt sie in ihrer dicken Jacke auf dem Kutschbock, die kur- zen blonden Haare vom Wind zerzaust, die Zügel fest im Griff. 15. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Das linke ist der Vito und das rechte ist der Vik, zwei Brüder, wie im menschlichen Leben manchmal, ein Vater und verschiedene Mütter - Sie kennen doch die Regeln, grüß Deine Frau und meine Kinder.... so hier linkerhand haben wir wieder eine herrliche Villa, das ist die Villa Bleichröder, hat der jüdische Bankier Bleichröder bauen lassen als Sommerresidenz, - Bleichröder war ja bei Friedrich Willhelm II der Finanzminister...bis hin zum Gartenzaun und Zaunpfeiler alles origi- nal von damals, also ist schon eine Freude, sich diese Architektur sich anzugucken... Autor: Stoisch traben Vik und Vito durch die wilhelminische Bäderarchitek- tur. Ich erinnere mich an Kurt Tucholksky: "Vorne Ku'damm - hinten Ostesee" schrieb er über "Badewanne der Berliner". Ich mache die Augen zu und sehe die Gründerzeitvillen im Berliner Stadtteil Gru- newald. Hier stehen die passenden Sommerresidenzen. 16. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Ahlbeck ist dieses Jahr 308 Jahre alt, von der ersten Fischerhütte bis zur Gegenwart und wenn wir Ahlbeck vergleichen mit Bansin und Heringsdorf , dann ist Ahlbeck der Badeort, der vom Fischerort lang- sam zum Tourismus gewachsen ist, so wie die Urlauber Bedarf an Betten, wurde gebaut und in Ahlbeck haben viele einheimische Fi- scher es geschafft, ein Pensionshaus zu bauen, in Heringsdorf und Swinemünde war es in der Masse das deutsche Großkapital, sag ich mal ganz schnell... Atmo (7): Pferdegetrappel auf der Straße (wie Atmo 6) Autor: Während in Heringsdorf der Adel zur Sommerfrische fuhr, traf sich in Ahlbeck die bürgerliche Elite. Jedes Haus wie eine Filmkulisse, - mal französischer Renaissance-Stil oder Klassizismus nach italienischem Vorbild. Je größer der Schnörkel, desto gewichtiger die gesellschaft- liche Stellung des Bauherrn. Bis heute ist es ein merkwürdiges Ge- heimnis, wie viele Millionen an privaten und staatlichen Mitteln in die Sanierung der wilhelminischen Kulisse gesteckt worden ist. Wieso wollen Sie das wissen, - fragt Frau Will, - das ist doch nur wieder ei- nen Neid-Diskussion. Da wird sie ganz lebhaft. 17. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Wenn ich hier in der Woche drei, vier mal lang fahre, finde ich immer wieder toll, dass hier restauriert wurde, die letzten 20 Jahren ist hier ja wahnsinnig viel Arbeit geleistet worden und auch hintersetzt mit viele Millionen an Investitionen, ich sag immer zu meinen Gästen, wenn wir hier lang fahren, det müssen sie alles als deutsches Kultur- erbe betrachten. Manchmal sagt ja einer, ist ja schöner wie bei uns zuhaue, ich sage, gute Frau, sagen Sie einfach unser Kulturerbe... dran freuen. Atmo (8): Pferdegetrappel auf der Straße (wie Atmo 6) und gleich dran: 18. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Und wissen Sie, eigentlich müssen wir 45 anfangen, das sind ein paar einheimische Bürger mit dem einzigen Taxi, wat Ahlbeck hatte, den Russen entgegengefahren sind in Richtung Usedom mit einem Bettlaken und gesagt haben: Aus, fertig, nicht mehr schießen, wir wollen nicht mehr, - auf die Art sind hier keine Kampfhandlungen gewesen und es ist nichts kaputt geschossen worden. Atmo (9): Pferdegetrappel (wie Atmo 6) Autor: Mittlerweile regnet es in Strömen. Die Autos überholen entnervt un- sere Kutsche. - Ich kenne keinen Ort in Ostdeutschland, an dem die DDR fast nicht mehr zu sehen ist, wie auf diesen fünf Kilometer von Heringsdorf nach Ahlbeck - vielleicht in der Innenstadt von Leipzig oder in Weimar. Sie existiert nur noch in den Köpfen. 19. O-Ton: Brigitte Will, Kutscherin Mancher Urlauber sagt, was in solcher Villa haben die Arbeiter ge- wohnt, ja sage ich, - dann sagen die, da haben doch bloß Bonzen gewohnt, ich sage, junger Mann, da haben keine Bonzen gewohnt, ich habe glücklicherweise die Zeit live miterlebt und normale Ge- werkschaftsmitglieder mit Frau und Kinder haben da ihren Urlaub verbracht, natürlich wir Parteiferienheime, ZK- Ferienheime, die Bleichrödersche Villa war damals vorbehalten dem FDGB- Bundesvorstand als Gästehaus, wenn der Staat repräsentiert, der Harry Tisch, der Gewerkschaftsboss hat hier auch Urlaub gemacht, dann haben wir den auch Kutsche gefahren und heute fahren wir ei- nen anderen Wirtschaftsminister Kutsche... (lacht). Atmo (10): Pferdegetrappel Musik Interpret: Kammerorchester "Carl Philipp Emanuel Bach" Titel: Flötenkonzert C-Dur, 3. Allegro assai CD: Friedrich II., der Große, Flötenkonzerte und Sinfonien Track: 9 Komponist: Friedrich II., der Große Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: Atmo (11): Straße/Autoverkehr am Grenzstreifen Autor: Ich stehe an der ehemaligen Grenze zwischen Ahlbeck und Swi- noujscie, auf Deutsch: Swinemünde. Es ist 12 Uhr. Die Sonne hat sich wieder durchgekämpft. 20. O-Ton: Wolfgang Abraham, Berater für deutsch-polnische Projekte Fahre ich jeden Tag hin und her und kann ich es nicht lassen, ich muss immer in die Richtung gucken, als ob ich die Grashalme zählen will, die da jetzt wachsen und symbolisch zeigen, wie die Grenze verschwindet in der Landschaft. Aber bis wenige Woche vor dem Schengen-Termin sind die hier mit einer Egge lang gefahren und ha- ben jeden Grashalm beseitigt, damit man Fußspuren feststellen kann und jetzt wächst es zu, - ich denke mal so ein bisschen, - mir geht es zu langsam, ich würde am liebsten schon Bäume wachsen sehen. Autor: Ich treffe Wolfgang Abraham, der für das Diakonische Werk deutsch- polnische Projekte entwirft. Wir spazieren auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Deutschland und Polen, - noch undeutlich sichtbar als braunes, sandiges Band zwischen zwei Waldstücken. Hier erscheint Politik als Abfolge von Naturereignissen, - die Grenz- narbe wächst zu. So sieht es auch Michal Barkas, polnischer Journa- list aus Swinemünde und Abrahams Freund. 21. O-Ton: Michal Barkas, polnischer Journalist Als ich Mitte der 90er Jahre hierher kam, das sah diese ganze Gren- ze sehr anders aus und zwar das waren 2 mal pro Tag geharkte Streifen mit Stacheldraht gezäunt und dazu diese Warnschilder "Halt Bundesgrenze!" und auf unserer Seite "...." (auf Polnisch) und wie das jetzt aussieht ist erst seit 2 Jahren, seit Schengen ...Was ganz interessant war, war diese Entwicklung am Strand, also diese Zäune vom Stacheldraht, sie wurden gar nicht abgebaut von Grenzbeam- ten, sondern einfach von Stürmen weggenommen, sie haben das nicht mehr gepflegt sozusagen, wenn ein Stück weg war, sie haben es nicht wieder saniert.... und dann kam Schengen. Atmo (12): Gehen auf Sand Autor: Schengen: Das Kürzel für die Grenzöffnung. Am 21. Dezember 2007 fallen alle Kontrollen zwischen Deutschland und Polen weg. Die Grenze, die schon mit Polens Beitritt zur Europäischen Union aufge- weicht ist, fällt ganz. Ich schlendere mit den beiden Freunden entlang des Grenzstreifens, - an einer alten Flakstellung aus dem Zweiten Weltkrieg vorbei, durch Unkraut, Reste von Stacheldraht und kleine Müllhaufen. 22. O-Ton: Wolfgang Abraham Jetzt stehen wir genau auf der Grenzlinie, da drüben zwischen den beiden Pfosten, die beiden kann man schon gar nicht mehr se- hen...Es hat doch schon eine Ausstrahlung dieser Ort, natürlich wird sich das alles - man sieht es jetzt schon, wie das zuwächst - es wird sich alles sehr verändern und dann muss man drüber nachdenken, - viele die hier ankommen, halten unwillkürlich an, so wie die beiden Herrschaften da drüben, die machen erst mal ein Foto, mit Sicherheit mit dem Grenzpfosten im Hintergrund, das gehört dazu. Autor: Wir stehen zwischen den Pfosten und suchen die Grenze. Neben uns radeln die Urlauber; Familien mit Sonnenschirmen und Kühlta- schen machen sich auf den Weg zum Strand. Einen Weg, den es auf keiner Karte gibt, sondern nur in der Erinnerung. Atmo (13): Straße an der Grenze (wie Atmo 11) 23. O-Ton: Wolfgang Abraham Ich muss Ihnen mal noch was zeigen... wenn man sich diese Karte anguckt, wird keiner auf die Idee kommen, dass man jetzt hier mit dem Fahrrad fahren kann, die sind schon veraltet die Karten.... (Straße) ....Die polnischen Einwohner von Swinemünde, die kennen es nicht anders als mit der Grenze, sie sind nach 1945, nach der Grenzziehung hier her gekommen und unter den deutschen Einwoh- nern, - ich bin ja Zugezogener - wird weitergegeben: Da war mal ein Weg und den möchten wir gern wiederhaben, wenn es möglich ist und als es dann möglich war, mussten wir wieder gemeinsam da von der deutschen und polnischen Seite erarbeiten, dass es sinnvoll ist, diese Wege wieder herzustellen. Autor: Meistens, so erzählen die beiden Freunde, scheitert das Zusammen- kommen von Polen und Deutschen nicht nur an fehlenden Wegen, sondern an der Grenze in den Köpfen. Michal Barkas zeigt mir die Satzung der Kurverwaltung der Dreikaiserbäder. Unter Paragraph 3 steht: Von der Kurtaxe sind alle befreit, die ihren Hauptwohnsitz auf der Insel Usedom haben. Alle? 24. O-Ton: Michal Barkas Wir müssen immer mit diesen Beamter streiten am Strand, wenn wir sagen, wir sind Usedomer aus Swinemünde und wir brauchen nicht bezahlen, wir wohnen auf der Insel Usedom, wir brauchen nicht be- zahlen und sie sagen, sie sind aus Swinemünde, aus Polen, - das ist ein Beispiel, dass diese Grenze in den Köpfen immer noch funktio- niert, auch für die Kurverwaltung in den Kaiserbädern. Autor: Aber Michal Barkas ist so fair, mir am Strand zu zeigen, wie die Grenze auch auf polnischer Seite noch in den Köpfen verankert ist. Er erzählt von der Angst einiger polnischer Konservativer über den deutschen FKK-Strand, der genau an der Grenze endet. Eigentlich. Mittlerweile ist die Nacktheit grenzüberschreitend, - allerdings haben die Bürokraten auf beiden Seiten ein Schild aufgestellt. 25. O-Ton: Michal Barkas Was auch lustig ist, - Hinweis...(auf Polnisch, - in 300 Metern beginnt ein FKK-Strand)...aber Hinweis heißt nicht Uwaga, Uwaga heißt Achtung... also das ist doch auf Polnisch ein bisschen stärker formu- liert als auf Deutsch.... Hinweis: In 300 Metern beginnt ein FKK- Strand. Autor: Die beiden Freund Michal Barkas und Wolfgang Abraham lachen über diesen deutsch-polnischen Schildbürgerstreich. Die eigentliche Gefahr sehen beide in den Klischees, die sich hartnäckig auf beiden Seiten halten, - zum Beispiel: Die Polen mögen die Deutschen nicht. 26. O-Ton: Wolfgang Abraham Eine große Mehrheit fand ja den EU-Beitritt, hat ihn geradezu her- beigesehnt - und gerade hier an der Grenze bedeutet das ja natür- lich ein Zugehen auf die Deutschen. Europa liegt ja aus polnischer Sicht hinter Deutschland und ich denke das hat dazu geführt, dass man sich in Swinemünde kollektiv lange vor dem EU-Beitritt damit beschäftigt hat. ... es gibt viele Swinemünder, die ich schon lange kenne und Michal gehört ja auch dazu, die ein großes Interesse ha- ben. (O-Ton reißt ab)! Autor: Wäre da nicht die Sprachbarriere. Michal Barkas dreht sich plötzlich um - wir stehen wieder auf dem Grenzstreifen - und spricht polnisch mit seinem Freund Wolfgang. Eine Seltenheit - hier im Grenzgebiet. 27. O-Ton: Michal Barkas Fast jede Woche muss ich auch von vielen meinen Bekannten in Ahlbeck und Heringsdorf hören, dass die polnische Sprache keine Weltsprache ist, also das ist kein Argument dafür, ich brauche die Sprache nicht lernen - diese Argumentation verstehe ich gar nicht, es geht nicht darum, ob diese Sprache eine Weltsprache ist, sondern darum dass meine Nachbarn diese Sprache nutzen und dazu noch ... auf der deutschen Seite der Insel ist ziemlich große Arbeitslosig- keit und trotzdem übergeben die Einheimischen alle Arbeitsplätze, die Zweisprachigkeit fordern an polnische Seite, Reiseführer und sol- che Sachen, - ich kenne bloß 2 Deutsche, die sich auf Polnisch ver- ständigen können. Atmo (14): Wandern durch Sand Autor: Wolfgang Abraham ist einer davon. Wir wandern den Grenzstreifen zurück vom Strand zurück zur Straße. Die Grenze ist weg, aber die Verständigung ist mühsam, - auch darüber, was denn aus diesem Niemandsland zwischen Deutschland und Polen werden soll. 28. O-Ton: Wolfgang Abraham Einfach sozusagen wachsen lassen. Also ich denke, es gibt be- stimmt auf beiden Seiten das Gefühl, dass der Ort etwas besonderes ist und ...Die Besonderheit der Insel Usedom darin besteht, dass es ein Insel mit zwei Nationen ist und es gibt Leute, die das so sagen, wo hat man das noch, - auf Zypern, auf Irland und wenn man sich das überlegt, was sich Deutsche und Polen angetan haben, was Deutsche den Polen angetan haben, dann ist es eigentlich erstaun- lich, wie unspektakulär die Jahrzehnte verlaufen und wie relativ glatt der Übergang geht, - nüchtern betrachtet: Es geht mir alles zu lang- sam, aber es geht eigentlich so relativ reibungslos. Musik Interpret: Joe Cocker Titel: Shelter me CD: The best of Joe Cocker Track: 7 Komponist: Nik di Stefano Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: Atmo (15): Straße Autor: Ahlbeck - hinter der Strandpromenade. Es ist früher Nachmittag. 29. O-Ton: Fritz Spalink, Stadtführer (Steigen ins Auto... Tür zu)....wir fahren jetzt nach Swinemünde. Autor: Ich steige in Fritz Spalinks alten Mercedes. Als Bogdan Jakym sich neben mich setzt, stöhnt das Auto hörbar. Die Freunde, beide Stadt- führer in Ahlbeck und Swinemünde, wollen zum Eisessen fahren. Fritz, - Dein Auto klaut bestimmt keiner, frotzelt Bogdan. 30. O-Ton: Fritz Spalink und Bogdan Jakym Ein Urvieh, 21 Jahre alt... wie ein Polski Fiat, allerdings mit Stern vorne...von wegen heute frisch gestohlen, morgen schon in Polen... ich denke mal, das ist eine Legende, es gibt genauso viele Diebe in Deutschland wie in Polen ...Die großen Autos, die S-Klasse, kaum gestohlen, schon in Russland. Autor: Die Statistik gibt den beiden übrigens recht, - die Autodiebstähle auf beiden Seiten sind nicht höher als anderswo. Fritz Spalink tritt aufs Gas und pest durch die schmalen Gassen. Nach 2 Minuten ist Ahl- beck zu Ende und wir flitzen an einem Waldstück vorbei. Ich suche die Grenze und - sehe eine Imbissbude mit einer verblichenen Leuchtreklame: "Letzte Gaststätte vor Moskau". 31. O-Ton: Fritz Spalink und Bogdan Jakym Gleich Grenzübergang Ahlbeck... ein paar Meter....Die letzte deut- sche Gaststätte vor Moskau... so ein Name!! ... und hier war früher die Grenze und hier ist jetzt das Ortsschild von Swinemünde... und der Laden hier, die Dame, Baltona, ein alter sozialistischer Name, der hat enormen Umsatz, da gehen viele Deutsche nur für 2 Minuten nach Polen, Zigaretten plus Wodka, hier zahlen sie Euro oder Zloty, die nehmen hier alles, was nach Geld riecht. Autor: Und plötzlich deckt sich die Realität nicht mit meinen Klischees im Kopf. Kein Polenmarkt, keine überladenen Bretterbuden, keine tü- tenschleppenden deutschen Touristen. Ab und an ein Stand mit ge- flochtenen Körben oder frischem Obst. In den Seitenstraßen ein paar Geschäfte, Frisörläden, Wechselstuben. Fritz und Bogdan lachen über mein erstauntes Gesicht. Es kommt noch besser. Wir biegen in die Strandpromenade von Swinoujscie ein. Zwischen Baukränen stehen cremefarbene Appartementhäuser mit säulengeschmückten Eingängen und gläsernen Dachgeschossen. Plötzlich steigen wir an der Riviera aus: 32. O-Ton: Bogdan Jakym Tür auf... das ist alles neu hier, das ist Teil der neuen Promenade, und Häuser, hier können Sie kaufen, gibt sogar Immobilienbüro, wo sie sich erkundigen können... nicht unbedingt Swinemünder kaufen hier, reiche Leute, die gibst auch in Polen, kaufen hier, wissen Sie, auf ganz Polen... ich könnte das nicht kaufen mit meinem kleinen Verdienst, da müsste ich 200 Jahren leben, um zu sparen, 10.000 Zloty pro Quadratmeter oder so. Atmo (16): Springbrunnen an der Promenade Autor: Die Promenade ist besenrein: Springbrunnen, neue Geschäfte mit allen bekannten Designernamen und Fastfood-Ketten. Ein Sprachen- gewirr aus Deutsch und Polnisch. Wir setzen uns in ein Cafe. 33. O-Ton: Bogdan Jakym (Bestellt)... Fritz wolltest Du Eis haben oder Kaffee?....Ich nehme ein Eis... (bestellt auf Polnisch). Autor: Sie können auch auf Deutsch bestellen, sagt Bogdan zu mir. Sicht- lich stolz. Sein Polen ist neu, schön und - positiv. Das zeigt er auch seinen deutschen Reisegruppen. 34. O-Ton: Bogdan Jakym Ich meide möglichst zweiten Weltkrieg, wenn ich im Bus 40 Leute habe, da 3 sind ehemalige Stettiner, für sie ist es manchmal schmerzhaft, wenn man so deutlich sagt... polnisches Stettin, ich konzentriere mehr auf heutiges Leben, das was wir sehen... und ich habe gelernt aus Erfahrung, möglichst wenig von Geschichte, schmerzhafte Geschichte oder - Politik meide ich auch... Manfred Stolpe, geboren hier in Szczecin,... Verkehrsminister, da war Ham- burger Gruppe, und die sagte: Den können Sie wiederhaben Atmo (17): Cafe Autor: Dass der gerade zurückliegende 70. Jahrestag des Überfalls auf Po- len noch eine Rolle spielt, bestreiten beide Freunde nicht. Aber so richtig reden wollen sie darüber nicht. Vorbei, - sagt Bogdan. Im Ver- hältnis von Deutschen und Polen hier im Grenzgebiet ist etwas ganz anderes wichtig. 35. O-Ton: Fritz Spalink Es gibt eben Mentalitätsunterschiede, weil die polnische Bevölkerung in Nordpolen, an der Ostsee ist ja eigentlich keine bodenständige, d.h. sie sind erst seit ein oder zwei Generationen hier, sie nach dem Krieg hierher gesiedelt worden und haben das Vakuum ausgefüllt, das durch die Vertreibung der Deutschen entstanden ist, diese Men- schen kommen alle aus der Mitte Europas, aus der Gegend von Lemberg, Galizien, d.h. das was die SU damals den Polen wegge- nommen hat und die Leute vertrieben und die sind hier angesiedelt worden. ... das sind halt Dinge, die geschehen sind, aber teilweise haben sie eine andere Mentalität als der typische Pommer. Atmo (18): Laufen auf Straße Autor: Ich lasse die beiden in ihrem schicken Cafe an der schicken neuen Promenade zurück und spaziere durch das alte Swinoujcie mit sei- nen sozialistischen Plattenbauten und baufälligen Häuser, die noch in Europa ankommen müssen. Aber die Realität holt mich schnell wieder ein. Am alten Bahnhof prangt ein großes Schild über neuen Gleisen: Usedomer Bäderbahn. Auf Deutsch und auf Polnisch. Atmo (19): Zug fährt ein Autor: Seit September 2008 fährt die Usedomer Bädernbahn bis nach Po- len. 18 Jahre hat es gedauert, die Eisenbahngleise von Ahlbeck nach Swinemünde zu bauen. 18 Jahre für 1.400 Meter. Europa ist lang- sam. Aber es kommt in Fahrt. 36. O-Ton: Bäderbahn/Fahrgäste (Ansage: Der nächste Halt ist Ahlbeck - Grenze).... Wir haben uns immer darauf gefreut, wir haben ja erlebt, das die Bahn schon vorher fertig war und nicht verkehren konnte, weil die Gesetze nicht da war und wir sind halt zu Fuß oder mit dem Bus rein gefahren und sind dann am Strand entlang gegangen... doch die Innenstadt von Swi- nemünde ist auch ganz toll und ein Cafe mit einem phantastischen Mohnkuchen, also das war unwahrscheinlich... uns gefällt es einfach hier auf der Insel.... Atmo (20): Zug kommt in den Bahnhof und gleich dran: 37. O-Ton: Jörgen Bosse, GF Usedomer Bäderbahn (Zug kommt in den Bahnhof)......Unsere Kinder, die wachsen damit auf, meiner, der lernt Polnisch, jetzt 11 Jahre, die werden es völlig normal empfinden, das wird so wie in Frankreich, Straßburg, also kommen Sie in 20 Jahren wieder, - das ist alles eins. Musik Interpret: Le Concert des Nations Titel: Allegro CD: Musikalisches Opfer BWV 1079 Track: 10 Komponist: Johann Sebastian Bach Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: 38. O-Ton: Zugansage Der nächste Halt ist Ahlbeck - Ostseeterme. Atmo (21): Zug fährt langsamer, hält an - Pfiff Autor: Sieben Minuten dauert die Fahrt von Swinousjcie nach Ahlbeck. Ich habe kaum Zeit, aus dem Fenster zu sehen. Die Grenze ist unter den neuen Gleisen verschwunden. Über 2,3 Millionen Euro, zu 90 Pro- zent finanziert aus EU-Mitteln, hat der grenzüberschreitende Stre- ckenausbau gekostet, erzählt mir Jörgen Bosse, der Geschäftsführer der Usedomer Bäderbahn. 39. O-Ton: Jörgen Bosse, GF Usedomer Bäderbahn Als wir angefangen haben, war das noch EU-Außengrenze, allein die Hürden, die damit verbunden waren, die waren so groß, dann ich sa- ge mal auch Kompetenz- und Finanzierungsfragen, die Polen haben von Anfang an gesagt, dass sie sich finanziell an dem Projekt nicht beteiligen können.... und dann kamen auch noch die kleinen deutsch-polnischen Themen dazu, Sie wissen zwischenzeitlich hat- ten wir da in Polen eine national-konservative Regierung, die nicht unbedingt deutsch-freundlich war, das haben wir auch gemerkt in unserem Projekt, aber es hat eben auch ganz viele gegeben auf pol- nischer Seite und auf deutscher, wenn die nicht so einen langen A- tem gehabt hätten, dann wäre das Projekt gestorben. Autor: Jörgen Bosse hat einen langen Atem. Wir setzen uns auf ein kleines Bänkchen neben der Bahnschranke. Sie wollen das nicht alles im Detail wissen, - lacht er. Um jeden der 1.400 Meter Bahnstrecke hat er gekämpft, - in Warschau, in Berlin, in Swinemünde, in Ahlbeck - und in Brüssel. 40. O-Ton: Jörgen Bosse, GF Usedomer Bäderbahn Eigentlich kann man an dem Stück sehen, wie Europa funktioniert, ohne Europa gäbe es diese Strecke nicht, sowohl von der Finanzie- rung, wie auch von der Abwicklung, - das ist das erste Mal das eine Bahn in einem anderen Land eine Eisenbahn gebaut hat. Atmo (22): Zug rattert auf Schienen Autor: Jörgen Bosse schaut dem Zug ein wenig nachdenklich hinterher. Wie eine Miniausgabe des stromlinienförmigen ICE schlängelt sich die weiß-blaue Bahn durch das Gestrüpp der deutsch-polnischen Bezie- hungen. 41. O-Ton: Jörgen Bosse, GF Usedomer Bäderbahn Das sind also ganz viele über ihren Schatten gesprungen, das muss man auch umgekehrt den Polen wieder sagen, Hut ab, - ich stelle es mir umgekehrt vor, die PKP käme hierher und würde sagen, ich möchte jetzt hier mal auf deutschem Boden eine Eisenbahn bauen, ich weiß nicht wie das Eisenbahnbundesamt und die Netzagentur re- agieren würden, - man muss auch Verständnis haben. (O-Ton reißt ab) Atmo (23): Piff und Zug fährt ab - Kreuzblende - Musik auf Seebrücke Autor: Vom Bahnhof bis zur Seebrücke laufe ich ein paar Minuten. Ahlbeck ist ein beschauliches Städtchen, - auch wenn im Sommer auf 30.000 Einwohner ungefähr eine halbe Million Touristen kommen. Fast alle spazieren zur Seebrücke, - Treffpunkt für so manchen Ausflug. Die meisten sind grenzüberschreitend, - Ahlbeck ist schon lange nicht mehr genug. 42. O-Ton: Tourist Ja man ist es ja langsam gewohnt, hier in Europa keine Grenze mehr zu haben und das ist natürlich hier schön, weil ich das noch kannte von früher und da musste man immer über die Grenze weg, jetzt kann man durchfahren, weil man heute genau die Tour fährt, wo man früher über die Grenze musste. Atmo (24): Fahrradgeklingel Musik Interpret: Quadro Nuevo Titel: L'été indien CD: Tango bitter sweet Track: 1 Komponist: Salvatore Cutugno & Pasquale Losito Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: Atmo (25): Musik auf der Seebrücke - Fahrradgeklingel Autor: Vor der legendären Uhr auf der Seebrücke in Ahlbeck mische ich mich unter ein paar Dutzend Fahrradfahrer. Auf der Karte, die mir ei- ner zeigt, ist die Grenze nur einen Zentimeter von uns entfernt. An diesem Tag bin ich schon ein paar Mal an diese Grenze gestoßen, - wenn ich sie denn überhaupt bemerkt habe. Ich bin über die Grenze gegangen, - mit der Bahn, zu Fuß, mit dem Auto. Ein grenzenloses Gefühl. Ein europäisches Gefühl - denke ich und finde es in diesem Moment kein bisschen kitschig. - Was mir noch fehlt? 43. O-Ton: Heinz Georg Arbeit, Radtouren Ich heiße Sie herzlich willkommen...meine Damen und Herren, ich freue mich mit Ihnen eine große Tour machen zu können ...bevor es losgeht, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle, mein Name ist Heinz Georg Arbeit, Arbeit wie Arbeit... ich bin ein echter Insulaner, meine Eltern kommen aus Swinemünde und ich habe mich vor 10 Jahren selbstständig gemacht und bin als Radreiseleiter auf der Insel Use- dom, auf der wunderschönen Insel Wollin tätig. Autor: Heinz-Georg Arbeit, besser bekannt in Ahlbeck als der radelnde Schorsch, kennt jeden Meter zwischen hier und Swinemünde. Für zehn Euro radelt er mit seinen Gästen im Zickzack durch das deutsch-polnische Grenzgebiet. Sie werden bald nicht mehr genau wissen, wo Sie sind, erklärt er mir. Dann steigt er aufs Rad und saust los. Quer durch den Wald hinter die letzten Häusern von Ahlbeck, - auf dem Weg, den der deutsche Grenzschutz einst benutzte - oder war es der polnische? 44. O-Ton: Heinz-Georg Arbeit Ja meine Damen und Herren wir nähern uns der Grenze, die glückli- cherweise keine Grenze im eigentlichen Sinne mehr ist und ich freue mich, dass es so ist und ich bilde mir so ein bisschen ein, dass ich Europäer bin und außer dass wir eine unterschiedliche Sprache ha- ben, sind wir uns in vielen vielen Dingen ähnlich, nette Menschen wie in Deutschland. (Pfiff von Schorsch).... rüber, rüber....Hey! Atmo (26): Fahrräder radeln übers Pflaster Autor: Schorsch treibt seine radelnden Touristen über die Grenze. Ich will noch den Grenzpfosten suchen, - sehe aber plötzlich nur noch polni- sche Straßenschilder. Wir sind schon mitten in Swinemünde. Eine Stadt, die für Schorsch mindestens ebenso wichtig ist wie Ahlbeck, - wie er erzählt, als wir am Seebad vorbeiradeln. 45. O-Ton: Heinz-Georg Arbeit Jetzt sind wir in Swinemünde, hier begann mal die alte Stadt, Sie wissen, Swinemünde ist zu 60 Prozent zerstört worden beim Angriff, der am 12. März 1945 erfolgte, meine Mutter mit meinem sechs älte- ren Geschwistern haben diesen Angriff erlebt im Seebad, das See- bad ist aber im Wesentlichen verschont geblieben, aber man hat sich dann später geeinigt, dass 23.000 Menschen diesen Angriff nicht ü- berlebt haben. .. ja meine Mutter hat immer noch erzählt, aber was hat mich als junger Mensch interessiert, was weit weg war... Autor: Für Schorsch ist die Geschichte jetzt wieder ganz nahe gerückt. Je weiter die Grenze sich entfernt. Ich kann über die schwierige Ge- schichte zwischen Deutschen und Polen nachdenken, ohne diese Grenze im Kopf, - sagt er zu mir. Eine Gedanke, den er nicht alleine hat. 46(a). O-Ton: Touristen Ist ein gutes Gefühl, schönes Gefühl, ich finde das toll, dass man so über die Grenze fahren kann, dass man da nichts von merkt, ich doch alles ein erhebliches Stück Freiheit, das wir da gekriegt ha- ben... Das muss man jetzt einfach genießen, das man da so rüber kann, was man uns so 40 Jahre vorenthalten hat, das man das jetzt kennen lernen kann.... Atmo (27): Straße und gleich dran 46 (b). O-Ton: Touristen Man weiß zu wenig davon, man hat das früher in der Schule auch nicht durchgenommen, das wurde - die Lehrer wussten auch nicht so Bescheid und das war kein Stoff für die Schule... insofern ist es ja gut, dass man das mal so kennen lernt diese Gebiete, das wird doch die Zukunft sein, der Ostseeraum. Musik ( Unterlegen unter Schluß-Collage - Flötenmusik von der Seebrücke) Autor: Ein Spätsommerabend auf der Seebrücke in Ahlbeck. Ich stehe mit einem Fischbrötchen in der Hand genau an jener Stelle, an der ich vor zehn Jahren schon gestanden bin, - ganz am Ende des Lan- dungsstegs. Links blicke ich nach Ahlbeck, rechts nach Swinemün- de. Auf den ersten Blick sieht alles gleich aus. Aber es ist alles an- ders geworden. - Fritz Spalink und Bogdan Jakym, die beiden Frem- denführer, stehen neben mir. In die Abendsonne hinein erzählt mir Fritz Spalink, wie ein polnischer Hotelier in Swinemünde ihn engagie- ren wollte. 47. O-Ton: Fritz Spalink Und ich war da in diesem Hotel und da sagt der Boss zu mir, ach wollen Sie nicht bei uns arbeiten und ich sage, ich verstehe doch kein Wort Polnisch, da sagte er, dass macht nichts, Sie hier an der Rezeption hier nur für meine skandinavischen und deutschen Gäste, - der wollte mir das doppelte bezahlen, was ich hier verdienen würde, in der gleichen Stellung - nur das sagt auf der anderen Seite, das viele Leute hier sich putzen müssen, denn dann laufen ihnen die Leute nach Polen weg, wir werden in Polen eine Zahl von Deutschen haben, genauso wie im dänischen Nachbarbereich. Ich bin dann ir- gendwann nach Dänemark arbeiten gegangen von Flensburg aus und genauso wird man von Ahlbeck in Swinemünde oder Zopot ar- beiten. und gleich dran: 48. O-Ton: Bogdan Jakym und Fritz Spalink Irgendwann wächst das zusammen... nicht wahr Fritz, wie Du ge- äußert hast...Swinemünde wird wieder unser Einkaufszentrum sein und wenn wir alle den Euro haben, wird das kein Problem mehr sein...wissen Sie, ich beobachte die Deutschen, wenn ich in Swi- nemünde bin, ich habe noch nie Streitereien gesehen, normales Zusammengewachsenes von Seiten des Beobachters, die gehen rein, essen... kein großer Unterschied. Musik SpvD: Strand ohne Grenze - Von Ahlbeck nach Swinoujscie. Eine DeutschlandRundfahrt von Nana Brink. 1