COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.11.0 Titel der Sendung: Das Wilde hat keine Wort Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer Autor : Carola Wiemers Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 06.12.2011 Besetzung : Erzählerin : Zitator TT : Zitator (Programmsprecher) Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Das Wilde hat keine Worte" Der schwedische Dichter und Nobelpreisträger Tomas Tranströmer. Sendedatum: 6. Dezember 2011 Redakteurin: Sigried Wesener Autorin: Carola Wiemers Erzählerin: Zitator TT: Zitator (allgemein): Take 1 Franz Schubert: Streichquintett C-Dur: Adagio (Artemis Quartett - Truls Mørk) bei Textbeginn ausblenden Take 2 O-Ton TT: CD 1/6, 0:05-0:30 Sverige är ett uppdraget,/ avtacklat skepp. Mot skymningshimlen står/ dess master kärvt. Och skymning varar längre/ än dag - den väg som leder hit är stenig:/ vid middagstiden först når ljuset fram/ och vinterns colosseum reser sig,/ belyst från overkliga moln. Take 3 Franz Schubert: Streichquintett C-Dur: Adagio (Artemis Quartett - Truls Mørk) Musik leise in Zitator einblenden Take 4 Zitator TT Schweden ist ein an Land gezogenes,/ abgetakeltes Schiff, Scharf stehen seine Masten gegen/ den Dämmerungshimmel. Und die Dämmerung dauert länger/ als der Tag - der Weg, der herführt, ist steinig:/ erst um die Mittagszeit kommt das Licht an,/ und das Kolosseum des Winters erhebt sich,/ von unwirklichen Wolken aus beleuchtet. Take 5 Franz Schubert: Adagio, weich ausblenden Erzählerin Er ist ein "Mystiker". Ein Dichter, der den "Nullpunkt gesehen hat, die Leere im Zentrum, ohne die nichts ist", schreibt der schwedische Romancier Lars Gustafsson über den Freund Tomas Tranströmer. Seiner Dichtung liegt eine enigmatische Kunst des Sehens zugrunde. Jenseits zweckgerichteter Abläufe taucht zwischen den Wörtern und Zeilen die Wirklichkeit als ein Universum auf, das voller wunderbarer Rätsel ist. Im Prosagedicht "Die Leberblümchen" von 1983 entsteht so aus der alltäglichen Betrachtung einer Blume Silbe für Silbe ein rätselhaftes Mysterium. Take 6 O-Ton TT, CD2/14, 0:07-0:15 Att förtrollas - ingenting är enklare. Det är ett av markens och vårens äldsta trick: blåsipporna. Take 7 Zitator TT Sich verzaubern lassen - nichts ist einfacher. Einer der ältesten Tricks des Erdbodens und des Frühlings: die Leberblümchen... Erzählerin Es ist die Präzision und Intensität, mit der Tranströmer die Worte zur Sprache und damit zu sich selbst kommen lässt. Nicht selten ist an diesem poetischen Vorgang die rhetorische Figur der Metapher beteiligt. Sie leuchtet den schmalen Pfad des Übergangs aus, auf dem aus den violettblauen Leberblümchen magische Türwächter werden. Diese kennen den geheimen Gang, der zu einem Fest führt, bei dem es ohne Prunk und Lärm zugeht. Take 8O-Ton TT, CD2/14, 0:38-0:49 Här er extas men lågt i tak. >Karriär< - ovidkommande! >Makt< och >publicitet< - löjeväckande! Take 9 Zitator TT Hier ist Ekstase, aber kleingehalten. >Karriere< - belanglos! >Macht< und >Publizität< - lachhaft! Erzählerin Heiter und elegant zeigt sich im kleinsten Naturvorgang eine Poetik, die über jede theoretische Erklärung erhaben ist. Im Gedicht kommt sie zum Vorschein - entfaltet sich fernab von Modernismen, ist inspirierend und ohne Attitüde. Tranströmer schafft Übergänge und Entgrenzungen. Lars Gustafsson nennt ihn 1981 anlässlich der Verleihung des Petrarca-Preises einen "Meister der originellen Metapher". In seiner Hand wird sie zu einem sinnreichen Instrument, mit dem der Text nicht versiegelt, sondern geöffnet wird und zum vergnüglichen Gespräch einlädt. Sein deutscher Übersetzer, Hanns Grössel, spricht von Gesten der Zuwendung und einer "kommunikativen Poetik" - es bedarf nur einer Tasse schwarzen Espressos. Take 10 O-Ton TT: CD1/19, 0:00-0:48 Det svarta kaffet på uteserveringen med stolar och bord granna som insekter. Det är dyrbara uppfångade droppar fyllda med samma styrka som Ja och Nej. Det bärs fram ur dunkla kaféer och ser in i solen utan att blinka. I dagsljuset en punkt av välgörande svart som snabbt flyter ut i en blek gäst. Det liknar dropparna av svart djupsinne som ibland fångas upp av själen, som ger en välgörande stöt: Gå! Inspiration att öppna ögonen. Take 11 Zitator TT Der schwarze Kaffee auf der Terrasse mit Stühlen und Tischen prächtig wie Insekten. Es sind kostbare aufgefangene Tropfen, gefüllt mit der gleichen Kraft wie Ja und Nein. Er wird aus dunklen Cafés hinausgetragen und blickt in die Sonne, ohne zu blinzeln. Im Tageslicht ein Punkt von wohltuendem Schwarz, das schnell in einen bleichen Gast ausfließt. Er ähnelt den Tropfen aus schwarzem Tiefsinn, die bisweilen von der Seele aufgefangen werden, die einen wohltuenden Stoß geben: Geh! Inspiration, die Augen zu öffnen. Take 12 O-Ton Peter Englund: Begründung Nobelpreiskomitee Nobelpriset i litteratur år 2011 skall tilldelas den svenske poeten Tomas Tranströmer Take 13 Zitator Der Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 2011 wird an den schwedischen Dichter Tomas Tranströmer verliehen, weil er uns in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen weist Erzählerin Nach fast vier Jahrzehnten erhält damit erstmals wieder ein Schwede den Preis. Tomas Tranströmer wird am 15. April 1931 in Stockholm geboren. Nach dem Abitur studiert er neben Literatur- und Religionswissenschaft auch Psychologie und arbeitet von 1960 bis 1965 als Kurator im Jugendgefängnis Roxtuna, später halbtags als Berufsberater für aus der Bahn geratene Jugendliche. Tranströmer strebt nicht nach Publizität und beansprucht keine öffentliche Bühne. In seinen 1993 veröffentlichten Prosaskizzen "Die Erinnerungen sehen mich" kartographiert er mit zarten Linien einige wichtige Zäsuren in seiner Biographie. Erinnerungen versteht er als "Rekonstruktionen auf der Grundlage plötzlich auflodernder Stimmungen". Damit berührt er das Problem der Fragilität von Fakten und verweist auf die Spontanität und Intuition bei der Gedächtnisarbeit. Es geht ihm um die Tiefe der Erfahrungen, nicht um chronologische Kontinuität. Take 15 Zitator TT Meine früheste datierbare Erinnerung ist ein Gefühl. Ein Gefühl von Stolz. Ich bin gerade drei Jahre alt geworden, und man hat mir gesagt, es sei sehr bedeutsam, daß ich jetzt groß geworden sei... Wir wohnen in Stockholm, im Stadtteil Söder; die Anschrift lautet: Swedenborgsgatan 33 (heute Grindsgatan). Papa ist noch bei der Familie, wird sie aber bald verlassen. Der Umgangston ist recht >modern< - von Anfang an sage ich zu meinen Eltern du. Erzählerin Der Stadtteil Södermalm und das Ferienhaus auf der vor Stockholm liegenden Schäre Runmarö bestimmen Tranströmers kindliche Topographie. Erbaut vom Großvater mütterlicherseits erfährt es später im Gedicht "Das blaue Haus" eine literarische Hommage. Carl Helmer Westerberg ersetzt die Leerstelle des Vaters. Take 16 Zitator TT Er war Lotse und mein sehr enger Freund, 71 Jahre älter als ich. Seltsamerweise hatte er dasselbe Altersverhältnis zu seinem eigenen Großvater mütterlicherseits, der somit 1789 geboren war: die Bastille wurde erstürmt, ...Mozart schrieb das Klarinettenquintett. Zwei gleich große Schritte nach hinten, zwei lange Schritte, dennoch so lang nicht. Man kann die Geschichte anfassen. Erzählerin Als das Kind nach einem Schulkonzert im Menschenstrom von der Hand der Mutter weggerissen wird, erlebt es die erste Todesangst - und entdeckt gleichzeitig in sich einen geheimnisvollen, rettenden Kompass. Take 17 Zitator TT Der restliche Fußweg - durch die Altstadt, an Slussen vorbei und durch den Stadtteil Söder - muß kompliziert gewesen sein... An diesen Teil habe ich keine Erinnerung. Doch: diejenige, daß mein Selbstvertrauen die ganze Zeit wuchs, und als ich nach Hause kam, befand ich mich in einem Rauschzustand... Großvaters gute Nerven versagten nicht, er nahm mich ganz selbstverständlich in Empfang... Alles war Geborgenheit und Natürlichkeit. Erzählerin An seiner Seite wird Tranströmer zum "Amateurzoologen", wie er sich später bezeichnet, zum Insektensammler und Vogelkenner. Für den schwedischen Verleger und Übersetzer Jonas Ellerström bildet das Stockholmer Schärenmeer schon früh eine typische Tranströmer-Landschaft. Im Gedicht "Im März '79" grundiert sie sogar seine Poetologie. Take 18 O-Ton TT: CD2/10, 0:04-0:26 Trött på alla som kommer med ord, ord men inget språk For jag till den snötäckta ön. Det vilda har inga ord. De oskrivna sidorna breder ut sig åt alla håll! Jag stöter på spåren av rådjursklövar i snön. Språk men inga ord. Take 19 Zitator TT Überdrüssig aller, die mit Wörtern, Wörtern, aber keiner Sprache daherkommen, fuhr ich zu der schneebedeckten Insel. Das Wilde hat keine Wörter. Die ungeschriebenen Seiten breiten sich nach allen Richtungen aus! Ich stoße auf Spuren von Rehhufen im Schnee. Sprache, aber keine Wörter. Take 20 Franz Schubert: Streichquintett C-Dur: Adagio (Artemis Quartett - Truls Mørk) Erzählerin Tranströmers poetische Anfänge reichen bis in die Gymnasialzeit zurück. Anhand seiner Jugendgedichte wird deutlich, dass der Debütband "17 Gedichte" von 1954 nicht das Werk eines Wunderkindes ist, sondern das einer kontinuierlichen Arbeit. Und dennoch fasziniert, wie viel in dieser frühen Dichtung bereits von der geduldigen Genauigkeit eines leisen Melancholikers zu spüren ist. Take 21 Zitator (Ellerström) Tranströmers Entwicklung von Herbst 1948 bis Frühjahr 1954 von seinem sechzehnten bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr, von der Schulzeitschrift bis zum ersten Buch, verrät eine dramatische Qualitätssteigerung, wie man sie in schwedischer Lyrik lange suchen muß. Erzählerin In seiner Dankesrede zur Verleihung des "Pilot-Preises" 1988 gesteht Tranströmer, anfangs taub für die Poesie gewesen zu sein. Den 13-14Jährigen interessieren neben Geschichte, Biologie und Geographie vor allem die Musik und Malerei. Erst später wird er von den wunderbaren Schwingungen der Dichtung erfasst. Ein um 1945 nicht ganz ungefährliches Phänomen. Take 22 Zitator TT Ich lebte ja im Schweden des 20. Jahrhunderts, einer Gesellschaft, deren Wahrzeichen nicht die Leier, sondern die Harke war. Ein Gerät mit gleichmäßigem Abstand zwischen den Eisenzinken, dazu gedacht, auf glattem Boden regelmäßige Muster zu erzeugen. Erzählerin Die schwedische Avantgarde, der Modernismus der sog. "fyrtiotalister", geistert in den Klassenzimmern auf Södra Latins Gymnasium in Stockholm, das Tranströmer seit 1942 besucht. Man liest den sogenannten "Teekenner" Karl Vennberg, dessen gleichnamiges Gedicht - in der Übersetzung von Nelly Satz - mit den Zeilen endet: "Zu starken Glauben/Verdünne mit Wasser,/Kalter Glaube ist das beste/Und billigste durstlöschende Getränk". Und natürlich Erik Lindegrens "zersprengte Sonette". In seinem Gedichtzyklus "Der Mann ohne Weg" werden Angst- und Ohnmachtsgefühle sowie die existentielle Verlorenheit des Individuums zum poetischen Paukenschlag. Take 23 Zitator TT Fast alle moderne Poesie schien inspirierend und groß... Das Lesen setzte bei mir einen Prozeß in Gang. Ich wurde in eine Richtung weggeschleudert und flog selber weiter." Erzählerin Der Gymnasiast Tranströmer entwickelt sich zum eifrigen Leser. Finnlands Nationaldichter Johan Ludvig Runeberg und der schwedische Dichter Carl Snoilsky gehören ebenso zur Lektüre wie Peter Weiss' Prosagedichte "Von Insel zu Insel". Von Paul Eluards Versen in "Liberté" fühlt sich Tranströmer "unerhört aufgekratzt und ergriffen". Und im germanischen "Wölundlied" entdeckt er einen faszinierenden Lakonismus. Von nun an weiß er: "die Stimmung verdichtet sich, wenn man zu wenig sagt". Take 24 O-Ton TT: CD1/2, 0:00-0:08 langsam ausblenden Se get gråa trädet. Himlen runnit genom dess fibrer ned i jorden - Take 25 Zitator TT Schau den grauen Baum. Der Himmel ist durch seine Fasern hinab in die Erde geflossen - nur eine schrumplige Wolke bleibt, wenn die Erde getrunken hat. Gestohlener Raum wird im Flechtwerk von Wurzeln gewrungen, wird zu Grün gezwirnt. - Die kurzen Augenblicke von Freiheit steigen aus uns, wirbeln durchs Blut der Parzen und weiter. Take 26 O-Ton TT: CD1/2, 0:20-0:27 De korta ögonblicken av frihet stiger ur oss, virvlar genom parcernas blod och vidare. Take 27 Zitator TT Ich war wohl eigentlich der avancierteste Modernist auf Södra Latin, weil ich alle Trennungsstriche wegließ und nur kleine Buchstaben schrieb, was bewirkte, dass mein alter Lateinlehrer eine Abneigung gegen mich faßte." Erzählerin Tranströmers Jugendgedicht "Gogol", das durchgehend in Kleinschreibung bereits 1950 in der Zeitschrift "Utsikt" erscheint, wird in den Debütband aufgenommen, folgt dort aber der Großschreibung. Die Form ist Tranströmer vergnügliche Disziplin oder ernstes Rätsel, niemals wird sie zum einengenden Korsett. In seinen autobiographischen Skizzen spricht er davon, erstmals im Lateinunterricht durch Horaz, der ihm als Zeitgenosse wie René Char und Oskar Loerke erschien, den Spielregeln der Poesie mit Freude begegnet zu sein. Take 28 Zitator TT Durch die Form (DIE FORM!) konnte etwas angehoben werden. Die Raupenfüße waren weg, die Flügel entfalteten sich... nach dem Abitur schrieb ich zwei Gedichte in sapphischem Metrum. Das eine war ,Ode an Thoreau'... Das andere Gedicht war ,Sturm' Beide Teile direkt nacheinander, aber weich aneinander Take 29 Zitator TT Nördlicher Sturm. In dieser Zeit reifen die Vogelbeertrauben. Wach im Dunkel, hört man die Sternbilder stampfen in ihren Boxen hoch überm Baume. Take 30 O-Ton TT, CD1/1, 0:26-0:38 Nordlig strom. Det är i den tid när rönnbärs- klasar mognar. Vaken i mörkret hör man stjärnbilderna stampa in sina spiltor högt över trädet. Erzählerin Tranströmer kommentiert sein Schreiben nicht. Aber in einem der wenigen Interviews, die es gibt, spricht er davon, dass die Form oft schon da ist, bevor die eigentliche Arbeit beginnt. So musste er bei der Entstehung des Langgedichts "Traumseminar" aus "Der wilde Marktplatz" von 1983 einfach den Regeln des Blankverses folgen. Das reim- und zäsurlose Versmaß bewirkt eine Leichtigkeit des lyrischen Sprechens und lotet den Traum als Text-Lücke und mentales Zwischenreich aus. Take 31 Zitator TT Das Buch, über dem jemand einschlief, ist aufgeschlagen noch und liegt weidwund auf der Bettkante. Die Augen des Schlafenden bewegen sich, sie folgen dem buchstabenlosen Text in einem andern Buch - Take 32 O-Ton TT: CD2/17, 1:14-1:32 Den bok som någon somnade ifrån är fortfarande uppslagen och ligger skadskjuten på sängkanten. Den sovandes ögon rör sig, de följer den bokstavslösa texten i en annan bok - Take 33 Franz Schubert: vierhändige Klavierphantasie F-Moll: Largo (Julia Fischer & Martin Helmchen) Erzählerin Am Verkünden von Ideologien und allgemeinen Wahrheiten ist Tranströmer nicht interessiert. Als 1966 die Sammlung "Klänge und Spuren" erscheint, trifft ihn der Vorwurf, seine Gedichte wären ohne Engagement, beschaulich und politisch nicht relevant. Drei Jahre bevor Olof Palme Ministerpräsident wird, hat sich das politische Klima in Schweden stark verändert. Im Schatten des Vietnam-Krieges und sich zuspitzender gesellschaftlicher Konflikte fordern Protest- und Dokumentarliteratur eine eingreifende Form der künstlerischen Aussage. Doch Tranströmer setzt der Forderung, sich "erneuern" zu müssen, den Status künstlerischer Integrität entgegen und besteht auf der Notwendigkeit einer Existenz, die sich abseits vom politischem Tagesgeschäft in Einsamkeit und Isolation vollzieht. Die Poesie muss eine andere Gangart des Geistes hervorbringen, damit das Widerständige in ihr bewahrt bleibt. Lars Gustafsson sieht darin eine zutiefst zeitkritische Dimension seiner Dichtung. Zitator (Gustafsson) Weil sie uns mit teilweise geheimnisvollen Techniken die ganze Zeit tröstend sagen will, dass diese Wirklichkeit mit ihren Qualen, mit ihren Bedrohungen und ihren Unterdrückern nicht die ganze Wirklichkeit sein kann. Take 34 & Take 35 ineinanderblenden nach "äktenskap", schwedisch leise Take 34 O-Ton TT: CD3/22, 13:33-13:56 Radikal och Reaktionär lever tillsammans som i ett olyckligt äktenskap, formade av varann, beroende av varann. Men vi som är deras barn måste bryta oss loss. Varje problem ropar på sitt eget språk. Gå som en spårhund där sanningen trampade! Take 35 Zitator TT Radikal und Reaktionär leben zusammen wie in einer unglücklichen Ehe, geprägt voneinander, abhängig voneinander. Doch wir, die wir ihre Kinder sind, müssen uns losreißen. Jedes Problem ruft nach seiner eigenen Sprache. Wo die Wahrheit herumgetrampelt ist, da lauf wie ein Spürhund! Take 36 Franz Schubert: vierhändige Klavierphantasie F-Moll: Largo (Julia Fischer & Martin Helmchen) Erzählerin Tranströmers Gedichte sind mit Titeln wie Madrigal und Nocturne, Allegro und Präludium versehen - reine Klangformen, die an Urtexte erinnern. Sie beinhalten ein geschichtliches wie künstlerisches Potential, das sich in Bewegung setzt, sobald es aufgerufen wird. "Mein Examen habe ich an der Universität des Vergessens gemacht", heißt es in "Madrigal" von 1989. Das lyrische Ich sieht sich als Erbe eines Waldes, in dem Licht und Dunkelheit gleichermaßen herrschen. Immer dann, wenn Tote und Lebende ihre Plätze tauschen, kommt dieser Wald in Bewegung. Vergessen und Erinnern ändern dabei traumwandlerisch ihre Position. Für Tranströmer, der auch ein großer Musikkenner ist und seit seiner Jugend Klavier spielt, verläuft die Lektüre der Schrift gleichberechtigt neben dem Lesen von Partituren. Und nicht selten geschieht es - so im Gedicht "Allegro" - dass die Musik der Sprache einen rettenden Anker zuwirft. Take 36 O-Ton TT: CD1/21, 0:05-0:11 Jag spelar Haydn efter en svart dag Och känner en enkel värme i händerna Take 37 Zitator TT Ich spiele Haydn nach einem schwarzen Tag Und spüre eine einfache Wärme in den Händen... Die Musik ist ein Glashaus am Hang, wo die Steine fliegen, die Steine rollen. Und die Steine rollen quer hindurch, doch jede Fensterscheibe bleibt ganz. Take 38 Franz Schubert: Klavierphantasie F-Moll: Largo (Julia Fischer & Martin Helmchen) Allmählich leise einblenden Take 39 O-Ton TT: CD1/21, 0:45-0:58 allmählich leiser werden Musiken är ett glashus på sluttningen där stenarna flyger, stenarna rullar. Och stenarna rullar tvärs igenom men varje ruta förblir hel. Erzählerin In einem geradezu therapeutischen Vorgang entsteht zwischen Haydns Musik und dem lyrischen Ich eine enigmatische Beziehung. Während sich die Musik wie ein schützender Mantel um das Ich legt, wird aus dem anfänglich schwarzen Tag Zeile für Zeile eine triumphierende Heiterkeit. Haydns Komposition - "das Glashaus am Hang" - zeigt sich resistent gegen die Widrigkeiten des Alltags. Take 40 Zitator TT Ich schiebe die Hände in meine Haydntaschen und ahme einen nach, der die Welt gelassen betrachtet. Ich hisse die Haydnflagge - das bedeutet: ,Wir ergeben uns nicht. Sondern wollen Frieden.' Erzählerin Haydn, Schubert, Grieg, Liszt, Skrjabin - die Musik bildet gemeinsam mit dem Wort ein Refugium künstlerischer Kreativität und klangvoller Stille. Ob Adagio oder Allegro, ob Dur oder Moll - nichts ist nur einer Wertigkeit verpflichtet. So kündet Beethovens "Leonorenouvertüre" die Erweckung aus einem namenlosen Schlaf an und Franz Schuberts Sinfonie C-Dur intensiviert die glückhafte Leichtigkeit nach einer Liebesnacht. Der durch das Wort angeschlagene Ton öffnet Räume des Erinnerns, in denen wie in einem Palimpsest mehrere Zeitschichten übereinander lagern. So wandeln im Gedicht "Trauergondel 2" die Schatten des alternden Franz Liszt und seiner Tochter Cosima mit ihrem totkranken Mann Richard Wagner in Venedigs engen Gassen. Es ist der Jahreswechsel 1882/83. Take 41 Zitator TT Zwei Greise, Schwiegervater und Schwiegersohn, Liszt und Wagner, wohnen am Canal Grande Zusammen mit der rastlosen Frau, die mit König Midas verheiratet ist, dem, der alles, was er anfaßt, in Wagner verwandelt. Take 42 O-Ton TT: CD 3/20, 0:05-0:19 Två gubbar, svärfar och svärson, Liszt och Wagner, bor vid Canal Grande tillsammans med den rastlösa kvinnan som är gift med kung Midas han som förvandlar allting han rör vid till Wagner. Take 43 Franz Liszt: La lugubre gondola (Pierre-Laurent Aimard) Zitator unterlegen Take 44 Zitator TT Die Gondel ist schwer beladen mit ihrem Leben, einmal Hin- und Zurück und einmal Einfach... Die Gondel ist schwer beladen mit Leben, sie ist einfach und schwarz. Erzählerin Wagner wird Venedig nicht mehr lebend verlassen. Als er am 25. Dezember 1882 sein letztes Konzert gibt, dirigiert er für Cosima die Symphonie C-Dur aus der Jugendzeit. Durch das aus verschiedenen Perspektiven arrangierte Tableau vivant schimmert Tranströmers poetisches Grundmuster durch. Aus der bildlichen Verschränkung von Ort, Zeit und Personen entsteht ein Ineinanderfließen künstlerischer Handschriften. Liszts Klavierstück "Trauergondel 2", das während des Venedig-Aufenthalts entstand, bestimmt den Grundton lyrischen Sprechens. Zeitfenster öffnen sich, durch eins reicht der Blick bis in die Traumwelt des lyrischen Ich. Take 45 Franz Liszt: La lugubre gondola (Pierre-Laurent Aimard) In den Text leise einblenden Take 46 Zitator TT Träumte, ich hätte Klaviertasten auf den Küchentisch gezeichnet. Ich spielte darauf, stumm. Die Nachbarn kamen herein, um zuzuhören. Erzählerin Das Gedicht "Trauergondel 2" markiert eine biographische wie ästhetische Zäsur. Nach einem Jahrzehnt enormer Arbeitsbelastung und Reisetätigkeit sowie der Fertigstellung von zwei neuen Gedichtbänden - "Der wilde Markt" und "Für Lebende und Tote" -, erleidet Tranströmer Ende November 1990 im Alter von 59 Jahren einen Hirnschlag. Sein Sprachzentrum und die Motorik sind nachhaltig betroffen. Die Sammlung "Trauergondel", die sechs Jahre danach erscheint, enthält jedoch nicht nur Gedichte, die vor der Krankheit in einem Zustand der "Vagabundeneuphorie", wie es im Tagebuch heißt, entstanden sind, sondern auch nach dem Schicksalsschlag. Seine dichterische Produktion hat eine Veränderung erfahren. Verstummt ist Tranströmer nicht. Sowohl in "Trauergondel" als auch in den 2004 unter dem Titel "Das große Rätsel" erschienenen Gedichten kommt es zu neuen Klangwelten. Melancholisch eingedunkelt, doch von lichter Klarheit übt nun der Schriftzug des Reduzierens eine große Faszination aus. Nahezu atemlos und kontemplativ zeigt er sich. Take 47 Zitator TT Der Adlerfels Hinterm Glas des Terrariums die Reptile seltsam reglos. Eine Frau hängt Wäsche auf im Schweigen. Der Tod ist windstill. In der Tiefe des Bodens gleitet meine Seele schweigend wie ein Komet. Erzählerin Vor allem in Tranströmers Haikus tritt das Wechselspiel von Formstrenge und inhaltlicher Bewegung radikal hervor. Das japanische Haiku bildet mit drei Verszeilen von je 17 Silben die kürzeste Gedichtform. Tranströmer entdeckt die vergnüglich- strenge Dichtart bereits 1959 für sich, nachdem er den Psychologen und Dichterfreund Åke Nordin im Jugendgefängnis Hällby besuchte, das Nordin damals leitete. Es entstehen die sogenannten "Gefängnis-Haikus", die 2001 unter dem Titel "Gefängnis. Neun Haikus aus dem Jugendgefängnis Hällby" erstmals veröffentlicht werden. Es sind Momentaufnahmen aus einer ummauerten, scheinbar zeitlosen Welt, die im meditativen Gestus des Gedichts Trost spenden. Take 48 Zitator TT Vom Dunkel getragen. Ich begegnete einem großen Schatten in einem Paar Augen. Kleine Pause! Die Novembersonne... mein Riesenschatten schwimmt und wird eine Luftspiegelung. Erzählerin In der Haiku-Technik wird seine bildlich verdichtete wie sparsame Poesie nochmals enggeführt. Jede Silbe hinterlässt einen Resonanzraum und lädt zum Verweilen ein. Tranströmer schafft in der formellen wie rhythmischen Begrenzung eine sensible Rhetorik, um die Atmosphäre der Tristesse und Trauer einzufangen. Dabei hebt sich aus einer alltäglichen Gefängnissituation Silbe für Silbe die fragile Silhouette einer Pietá heraus. Take 49 Zitator TT Der Junge trinkt Milch und schläft geborgen in seiner Zelle, eine Mutter aus Stein. Take 50 Franz Schubert: vierhändige Klavierphantasie F-Moll (Julia Fischer & Martin Helmchen) Erzählerin Die zahlreichen Wald- und Wasser-Motive sind - wie auch die Metaphern der Kälte und des Lichts - vielleicht die unverkennbar schwedische Ader in Tranströmers Dichtung. Allerorten taucht ein Schiff am Horizont auf, werden Segel gehisst, gluckst und gärt es unter der winterlichen Eisdecke. Seine Dichtung ist im besten Sinne tradiert von Lyrikern wie Ragnar Tegnér, Edith Södergran und Harry Martinson. Doch Tranströmer ist kein Naturlyriker. Bei ihm werden Landschaften, Jahreszeiten, die Elemente nicht zum Bildspender. Die Natur bildet ein Reservoir wundersamer Ekstasen, die sich in sanften Eruptionen entladen und denen mit Respekt zu begegnen ist. Ein Baum wird so zum Inbegriff von Verwurzelung in dieser Welt, Irrgänge werden als Sinnbild des Suchens, die Lichtung als Reich der Erkenntnis erfahren. Take 51 Zitator TT Mitten im Wald liegt eine unerwartete Lichtung, die nur von dem gefunden werden kann, der sich verlaufen hat. Die Lichtung ist umschlossen von einem Wald, der sich selbst erstickt... Die dicht zusammengeschraubten Bäume sind tot sogar in den Wipfeln oben, wo einige vereinzelte grüne Zweige das Licht berühren. Erzählerin Der Wald als Zufluchtsort wird zum philosophischen Gelände. Er ist eine archaische Landschaft, wo das Unausgelotete in uns hörbar wird und alte Wahrheiten schlummern. Take 51/a Zitator TT Spätherbstlabyrinth. Am Eingang zum Wald eine weggeworfene leere Flasche. Geh hinein. Um solche Jahreszeit ist der Wald ein stiller verlassener Saal. Nur wenige Arten von Geräuschen: als legte jemand mit einer Pinzette vorsichtig Zweige um Erzählerin Im Prinzip der synästhetischen Intensivierung fließen akustische Reize und optische Eindrücke ineinander. Bis im Zustand der Dämmerung aus einer typischen schwedischen Stuga auf der anderen Seite des Sees plötzlich "ein rotbraunes Viereck" wird, "stark wie ein Brühwürfel". Indem sich der Blick schärft, nimmt das Auge an einem faszinierenden Vorgang visueller Abstraktion teil. Take 52 O-Ton TT: CD1/33, 2:41-3:01 Solen bränner. Flygplanet går på låg höjd och kastar en skugga i form av ett stort kors som rusar fram på marken. En människa sitter på fältet och rotar. Skuggan kommer. Under en bråkdels är han mitt i korset. Take 53 Zitator TT Die Sonne brennt. Das Flugzeug geht tiefer hinab und wirft einen Schatten in Gestalt eines großen Kreuzes, das auf dem Boden vorwärtseilt. Ein Mensch sitzt auf dem Feld und wühlt. Der Schatten kommt. Für den Bruchteil einer Sekunde ist er mitten im Kreuz. Erzählerin Tranströmer bringt unsere Sinne zum Tanzen. Unter seiner Obhut werden die Instrumente der Poesie zu Navigationsgeräten, die zaghaft, doch stilsicher in eine Wirklichkeit weisen, die abseits des schlechthin Fassbaren existiert. Und während der Dichter sich bescheiden entfernt, taucht vor dem Leser eine wundervolle Landschaft auf. Take 54 Zitator TT "Fantastisch zu spüren, wie mein Gedicht wächst, während ich selber schrumpfe. Es wächst, nimmt meinen Platz ein. Es verdrängt mich. Es wirft mich aus dem Nest Das Gedicht ist fertig." Take 55 O-Ton TT, CD 3/22, 0:10-0:27 "Fantastiskt att känna min dikt växer medan jag själv krymper. Den växer, den tar min plats. Den tränger undan mig. Den kastar mig ur boet. Dikten är färdig. Take 56 Mit Franz Schubert: Streichquintett in C-Dur: Adagio (Artemis Quartett - Truls Mørk) 10 19