COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.30.0 Titel der Sendung: "Das hier ist ganz normal" Literatur in Krisenzeiten Autor : Ursula Gaßmann Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 25.04. 2010 Besetzung : Zitator Zitator 2 Zitatorin Erzählerin Musik + o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Das hier ist ganz normal Literatur in Krisenzeiten Manuskript Zitator: Zum ersten Mal spürte er, dass er sein Leben nicht mehr richtig im Griff hatte - als würde das Geschehen von einer fremden Macht gesteuert, über die er keine Kontrolle hatte. Unsinn, sagte er sich. Reiß dich zusammen. Das Leben ist voller Engpässe. Das hier ist ganz normal, nur eine von vielen Krisen. Erzählerin: William Boyd, Einfache Gewitter. Zitator2: "Ich war im Geld, bei jedem Kontrakt, auf jeder Position. Und Sie wollten abbauen. Da fiel mir ein, was Sie mir gesagt haben: das große Ganze im Auge behalten, Nerven bewahren. (...) Sie haben immer gesagt, Loser sind die, die das Risiko scheuen. (...) Als dann der Markt kippte, war ich wie gelähmt. Da musste ich nachlegen. ...Und Sie ...Sie haben weiter überwiesen." Doug schmeckte erst im Rachen, dann im Mund sein halbverdautes Frühstück; er erbrach sich auf den Rasen. "Das darf nicht wahr sein", sagte er. "Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist." Erzählerin: Adam Haslett, Union Atlantic. Zitator: Wenn ich ein Buch schreiben könnte, wäre seine Hauptthese: Der Mensch kann Katastrophen immer nur betrachten, nicht verstehen. Erzählerin: Wilhelm Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten. Musik Erzählerin: Ob Finanzkrise, Klimawandel oder Existenzängste - ein allgemeines Lebensgefühl der Krise hat sich etabliert. Niemand scheint dem entkommen zu können. Es sei denn, man entzieht sich - oder verschwindet. Im Spätherbst 2009 erschien William Boyds Roman Einfache Gewitter. Inspiriert hat den Autor, dass in England wöchentlich 600 Menschen spurlos verschwinden. Aus der Themse werden wöchentlich 60 Leichen gefischt. Meistens in London. Mit seiner Hauptfigur Adam Kindred spielt William Boyd ein radikales Experiment durch: Ein Engländer, inzwischen erfolgreicher junger Wissenschaftler in den USA, Klimatologe mit Zukunftschancen, einigermaßen glücklich verheiratet, mutiert aufgrund zwei, drei verhängnisvoll verlaufender Situationen zu einem Habenichts, der sich verstecken muss, weil er sowohl von der Polizei als auch von mindestens einem Auftragskiller gesucht wird. Dabei ist Adam nur freundlich, vielleicht ein wenig schwach. Zitator: Er dachte an sein neues Haus in Phönix, Arizona (das jetzt natürlich seiner Ex gehörte), und sah die frisch gesprengte Rasenfläche vor sich, die schmucke Lorbeerhecke, die Doppelgarage...Das alles kam ihm vor wie ein Paralleluniversum oder eine unendlich weit zurückliegende Epoche. Außerdem hatte er Ersparnisse auf seinen Konten in Arizona und London - etliche Tausende in Dollar und Pfund -, und doch hockte er hier in den Büschen, übel zugerichtet, wie ein gejagtes Tier in einem Gestrüpp an der Themse. Erzählerin: Adam kommt zufällig den üblen Machenschaften eines Pharmakonzerns auf die Schliche. Es steht ein Milliardengeschäft mit einem neuen Medikament auf dem Spiel. Außerdem hängt von der Zulassung des neuen Medikaments die Fusion zweier Pharmagiganten ab. Die Vorstandsvorsitzenden werden nervös. Adam Kindred muss beseitigt werden. Aber er ist unauffindbar. Zitator: Wenn man nicht telefonierte, keine Rechnungen bezahlte, keine Adresse besaß, niemals an Wahlen teilnahm, überall zu Fuß hinging, keine Kreditkarten oder Bankautomaten benutzte, niemals krank wurde und um staatliche Hilfe bat, dann schlüpfte man durch alle Erkennungsraster der modernen Welt. Die City war voll von solchen Leuten, wie Adam jetzt bemerkte. Er sah sie in Hauseingänge gedrückt, und schlafend in öffentlichen Parks, bettelnd vor Supermärkten, zusammengesackt und abwesend auf Bänken. (Aus dem Englischen von Chris Hirte.) Erzählerin: Autor William Boyd, der selber in London lebt, ist überzeugt, dass jemand mittellos und anonym in der Stadt überleben kann: O-Ton1)Boyd1 I think, it´s very possible ... but it is very, very possible darüber Zitator: Ich denke, es ist sehr gut möglich. Es ist so, dass wir in England eine Bevölkerungsgruppe von vermissten Menschen haben. Das sind 200.000. Das ist die Größe einer Kleinstadt. Und niemand weiß, wo diese Leute sind. Niemand weiß, was sie tun. Sie gehen einfach weg, von ihrem Zuhause, von ihren Familien, von ihren Jobs - und sie sind verschwunden. Also, es ist in England sehr einfach zu verschwinden. Die einzige Sache ist die, du darfst keine Spuren hinterlassen, z.B. durch deine Kreditkarte. Du darfst kein Geld am Automaten ziehen, du darfst nicht krank werden, du darfst nichts tun, das die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts für dich vorgesehen hat. Du lebst wie ein Geist und du wirst zum Geist. Du wirst unsichtbar. Das kann wirklich passieren. Erzählerin: Adams Leben im Untergrund ist anstrengend, zermürbend und gefährlich. An seinem Tiefpunkt fängt er aus Hunger eine Möwe am Fluss, brät und verspeist sie. Er fragt sich, wie es möglich war, in eine solche Lage zu geraten: Zitator: War das die Laune des Schicksals gewesen, dank derer er nun hier auf der Schwelle eines verfallenen Hauses saß, ohne einen Penny, gesucht wegen Mordes, zottelbärtig, verdreckt, hungrig, in weggeworfenen Klamotten? Sei nicht albern, Adam, dachte er. Diese Kausalkette kannst du bis zum Tag deiner Geburt zurückverfolgen, wenn du willst- der reinste Irrsinn. Erzählerin: Auch der Autor William Boyd findet, dass das Leben nicht vorherbestimmbar ist: O-Ton2) Boyd2 Now I believe ... completely darüber Zitator: Ich glaube fest an Zufälle beziehungsweise an Glück oder Unglück. Wie die Begriffe schon sagen, liegen Glück und Unglück sehr dicht beieinander. Ich habe kein Schicksal. Deshalb betrachte ich die Lebensumstände des Menschen als etwas, das unbekannt und nicht vorhersagbar ist. Leben wird also komplett von den Gesetzen des Zufalls beherrscht. Erzählerin: Adam Kindred entschließt sich weiterhin für seine Freiheit, denn er vertraut der Polizei nicht. Er will selber etwas über die mörderische Versuchsreihe des Pharmakonzerns herausbekommen. Es scheint fast so, als ob ihn die neue Situation mutiger macht. Er hat zwar kein Geld, aber er hat Zeit, viel Zeit. Zunächst erkundet er nach und nach die Möglichkeiten seiner neuen Existenz. Zitator: Jetzt kannte er einen Ort, wo er eine herzhafte Mahlzeit bekam, ohne dass sich jemand für ihn interessierte, ohne dass ihm Fragen gestellt wurden. Jetzt würde alles anders werden, sagte er sich. Jetzt hatte er wieder eine Perspektive. Sein Leben als Bettler konnte beginnen. (Aus dem Englischen von Chris Hirte.) Erzählerin: Einfache Gewitter ist ein gesellschaftskritischer Krimi, eine zarte Liebesgeschichte, aber vor allem ein Buch über die Kraft eines Menschen eine existentielle Krise zu bewältigen, sich über die Gesetze des Alltags, Reduktionen und Ängste hinwegzusetzen. Natürlich ist es eine phantasierte Geschichte. Literatur ist Fiktion, auch wenn der Autor seine Figuren aus dem realen Leben entlehnt. Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt: O-Ton3)von Matt1 Also, die Literatur bildet ja nicht einfach das Leben ab, sondern sie erzählt Geschichten, die in der Welt spielen, im Leben spielen und denkt in diesen Geschichten über die Welt nach. Musik Erzählerin: Ende 2009 und im Januar 2010 erschienen in Deutschland zwei viel beachtete Romane, in deren Mittelpunkt die internationale Finanzkrise steht. Union Atlantic, die Bank, die dem Buch des Amerikaners Adam Haslett den Titel gibt, könnte ebenso gut Lehman heißen. Aber Haslett hatte sein Manuskript im September 2008, als es zum GAU auf dem Finanzmarkt kam, schon fertig. Dennoch: die Bilder gleichen sich verblüffend: Union Atlantic, eine renommierte Bank in Boston, lässt Doug Fanning, der vom Vorstandsvorsitzenden Jeffrey Holland mit der Expansionspolitik betraut ist, völlig freie Hand. Fanning setzt auf waghalsige, skrupellose Trader, die alles dafür tun, um irgendwann selber ganz oben im Geschäft mitzuspielen. Sein Experte in Asien verspekuliert sich mit einer gigantischen Wette auf Nikkei-Index. Die Bank will diese Katastrophe lieber nicht wahrhaben und bereitet weiter die nächste feindliche Übernahme vor. Henry Graves, der Präsident der FED, der Federal Reserve Bank, der auf höchster globaler Ebene dafür sorgt, dass das Geld weltweit im Fluss bleibt, muss eingreifen. Zitator2: "Muss ein komischer Job sein", sagte Holland. "Ständig die große Krise mitdenken zu müssen." Henry war wieder auf den Balkon hinausgetreten und sah aufs Meer. Wie sollte man nicht daran denken müssen? Nach den Währungskrisen, nach dem elften September, nach dem Staatsnotstand in Argentinien, alles mehr schlecht als recht bewältigt. Eine weitere Hiobsbotschaft, und die unsichtbare Architektur des Vertrauens wäre womöglich doch eingestürzt. Erzählerin: Adam Haslett möchte sein Werk nicht als Roman über die Finanzkrise gelesen wissen. O-Ton4)Haslett1 The book took 5 years to write... darüber Zitator2 Ich habe fünf Jahre gebraucht, um das Buch zu schreiben. 2003 habe ich angefangen und 2008 aufgehört, kurz bevor die Krise ausbrach. Für mich fungierte die Finanzwelt hauptsächlich als Hintergrund für eine meiner Figuren. Denn zu den Dingen, die mich interessierten, gehörte der Alltag innerhalb einer Gesellschaft, in der so viel von unserem Leben von großen Institutionen kontrolliert wird, von anonymen Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten. Wir kennen ihre Namen nicht und wissen auch nicht viel über ihre Psychologie, zum Beispiel darüber, wie sich das Ausüben von dieser Macht für sie anfühlt. Ich wollte mich also in die Köpfe dieser Menschen hineinbegeben. Erzählerin: Die Hauptfiguren sind drei Personen: Doug Fanning, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Er war im Irakkrieg mitverantwortlich für den Abschuss eines zivilen Airbus. Nach seiner Rückkehr in die USA will er nur eins: Geld und Macht. Er steigt bei der Bank Union Atlantic ein. Zitator2: Seitdem sammelten sich Gehaltszahlungen und Boni auf seinen Konten und in den Depots, die sein Anlageberater für ihn eingerichtet hatte, aber er gab so gut wie nichts aus. "Ein Trauerspiel ist das mit Ihnen", hatte Mikey gemeint, als er Doug einmal auf ein Bier in sein Apartment begleitet und die studentische Einrichtung, die unausgepackten Bücherkisten gesehen hatte." Wo bleibt da das Leben?" Kurze Pause, evtl. kurze Musik? Doug trat ans Fenster und blickte hinaus. Mikey hatte ganze Arbeit geleistet: der elegante Bogen der Auffahrt, die gewaltige freistehende Holzgarage im Landhausstil inmitten gefälliger Rasenflächen. Hinter dem Spalier kahler Ahornbäume, die auf der Hügelkuppe als kahle Grenzmarkierung stehengeblieben waren, konnte er eine baufällige Scheune erkennen, daneben die verwitterten Schindeln eines uralten Hauses mit windschiefem Kamin und durchhängenden Steildach. (Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling.) Erzählerin: Dort wohnt seine Widersacherin, die ehemalige Geschichtslehrerin Charlotte Graves, Schwester des FED Präsidenten Henry Graves. Nach dem Tod ihres drogensüchtigen Mannes hatte sie sich vor Jahrzehnten aus New York auf das Stückchen Familienbesitz in Finden zurückgezogen und in der Kleinstadt unterrichtet. Charlotte steht für ein puritanisches Amerika, das sich seiner moralischen Werte aus einer demokratischen Vergangenheit bewusst ist. Den gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart steht sie äußerst skeptisch gegenüber. Zitatorin: Am Ende waren diese Riesenschlitten gekommen, Vehikel, die aussahen, als müssten ihre Dächer mit Geschütztürmen bestückt sein, bemannt vom rotznasigen Nachwuchs. Aber von der Gewalt, die in den Augen der jungen Reichen schwelte, wollte niemand reden. Sie hatte im Unterricht doch gesehen, wie ihre Schüler immer schneidender und spitzer wurden: Schwerter in der Hand anderer. Kaum hatte sie diese Dinge jedoch offen angesprochen, hatte der Direktor ihre Versetzung in den Ruhestand beantragt. Erzählerin: Und dann ist da noch der junge Nate, der bei Charlotte Nachhilfeunterricht in Geschichte nimmt, sich an ihre Eigenheiten und die beiden Hunde gewöhnt und sich von ihr für Walt Whitman begeistern lässt. Ihn zieht es immer wieder zu dem riesigen neuen Haus, das Charlotte hasst. Denn er hat sich leidenschaftlich in dessen einzigen Bewohner verliebt. In den schönen, starken, so gegenwärtigen Doug Fanning. Aber Doug, der Machtmensch, lässt zwar Sex zu, aber keine Gefühle. O-Ton5) Haslett2 I am interested ... society Darüber Zitator2: Mich interessiert an Doug die emotionale Seite, seine Zornesausbrüche und wie er seine Macht über die Menschen in seiner Umgebung ausnutzt, um mit ihnen intim zu werden, weil er keinen anderen Weg kennt. Das ist meiner Meinung nach ein sehr bedeutendes psychologisches Thema für einen bestimmten Teil unserer Gesellschaft. Erzählerin: Adam Haslett, Schriftsteller und Jurist des Jahrgangs 1970, porträtiert in seinem Roman einen Teil nordamerikanischer Gegenwart. Er verrät seine Figuren nicht. Doug Fannings ist kein Bösewicht. Er ist ein Kind seiner Zeit. Bei einer Einladung im Hause Henry Graves sitzen Doug und seine Widersacherin Charlotte Graves unfreiwillig nebeneinander. Charlotte hat aufgrund alter Familienunterlagen und Recherchen im Gemeindearchiv herausgefunden, dass Doug nicht befugt war, den Baugrund, auf dem seine Villa steht, zu erwerben. Sie hat ihn verklagt und ist sich sicher, zu gewinnen. Zitatorin: Ich bin keineswegs so naiv zu glauben, das größere Übel an der Wurzel packen zu können, indem ich Sie vom Grundstück jage, aber immerhin so viel werde ich erreicht haben. Mr. Fanning, wenn Sie einen Einzelkämpfer gegen eine ganze Armee antreten sähen, was würden Sie von ihm denken? Dass er ein Narr ist oder nur von seiner Sache überzeugt? Zitator2: Weder noch. Ich würde meinen: er verliert. (Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling) Musik Erzählerin: Anfang 2010 erschien der vielbeachtete Roman von Kristof Magnusson, Jahrgang 1976, Das war ich nicht. Der junge aufstrebende Trader Jasper, die literarische Übersetzerin Meike und der erfolgreichen Schriftsteller Henry LaMarck treffen in Chicago aufeinander. Ohne den Faktor Geld hätten diese drei Personen nie zueinander gefunden. Kristof Magnusson: O-Ton6)Magnusson1 Es gab eigentlich zwei Gründe zu dem Thema: einmal was Allgemeines: Dass ich dachte, Geld kommt eigentlich, dafür, dass es in unserem Leben eine große Rolle spielt, in der Literatur relativ wenig vor. Im 19. Jht. gibt´s natürlich viel dieser Romane, wo´s noch um Eheschließungen geht. Da wird eigentlich viel über Geld nachgedacht. Wer heiratet wen? Doch im 20.Jht. gibt es -zumindest kenn ich relativ wenige Bücher, wo Geld ´ne große Rolle spielt. Der andere Gedanke war, dass ich -immer wenn ich etwas mitbekommen hatte über die Börsenwelt, dass ich gedacht habe, dass es eigentlich große Parallelen gibt zwischen der Literatur und der Börsenwelt, Bankgeschehen. Was einfach im Geschichtenerzählen basiert. Es geht ja immer darum, dass man investiert in Aktien, die in Zukunft irgendwelche Erfolgsaussichten haben. Jeder Anleger überlegt, wie sieht die Zukunft dieses Unternehmens aus? Und die Zukunft basiert ganz stark auf den Geschichten, die Unternehmen erzählen. Erzählerin: Jasper, Meike und Henry verschwinden alle drei aus ihrem bisherigen Leben. Meike zum Beispiel lebt in Hamburg, in einem alten, in den letzten Jahren chic sanierten Stadtteil. In ihrem Umkreis empfindet sie sich selbst als Zuschauerin. Ihr Partner und die gemeinsamen Freunde haben sich in einem gepflegten Ökospießertum eingerichtet, ernähren sich mit Produkten aus der Region und diskutieren über die besten Salzmühlen. Fast alle Paare haben inzwischen Kinder. Zitatorin: Meike: Warum ich zehn Jahre hier gelebt und mich dann heimlich aus dem Staub gemacht hatte, mag schwer zu erklären sein - unüblich ist es hingegen nicht. Menschen tun sowas. Viele. Jeden Tag. Bis dreißig ist es einfach, normal zu sein. Alle Probleme kann man unter postadoleszenten Überspanntheiten verbuchen und sich bei jeder Krise damit beruhigen, dass irgendwann alles anders sein wird. Besser. Dann kommt das Alter, in dem einem jugendliche Verzweiflung nicht mehr steht. Erzählerin: Meike kauft sich auf Kredit ein verfallenes Haus auf dem Land. Sie wartet auf den zugesicherten Übersetzungsauftrag für den seit langem angekündigten Romans des Erfolgsautors Henry LaMarck. Aber dessen Manuskript lässt auf sich warten. Er ist abgetaucht. Von ihrem letzten Geld reist Meike in die USA um ihn zu suchen. Bei ihren Recherchen nach LaMarcks Leben in Chicago und den Plätzen, wo er sich gewöhnlich aufhält, trifft sie den Banker Jasper, der ebenfalls bald verschwinden muss. O-Ton11)Magnusson2 Dieses Verschwinden hat mich bei allen drei Figuren interessiert. Man kann das vielleicht auch anders formulieren und sagen: es ist eine Art von Sackgassengefühl, das dem Verschwinden vorausgeht. Bei allen drei Figuren das Gefühl, ich hab so´n Leben gelebt und das war eigentlich auch wirklich ganz in Ordnung, aber jetzt ist es an einem Punkt, wo ich sehe, es geht so nicht mehr weiter. So geht´s dem Schriftsteller, der ist 60 Jahre, hat alles erreicht, großer amerikanischer Autor, zum 2. Mal für den Pulitzerpreis nominiert, merkt, er kann einfach das neue Buch, das er mal im Überschwang in einer Talkshow versprochen hat über den 11.September, er kann es einfach nicht schreiben. Er hat sich verhoben. Bei dem Banker, dem Jasper ist es auf ´ne andere Art genauso, dass er in einer Sackgasse steckt. Er ist nämlich noch jung. Er ist 30 und er sagt immer solche Sachen wie "zwischen 30 und 40 muss man brennen" und versucht diese ganzen dynamischen Bankerklischees zu leben, kann das aber nicht so richtig. Zitator2: Misstraue jedem Händler, der seine Bücher nie allein lässt, sagt man. Dabei hätte ich kaum etwas Verbotenes tun können. Stand als Junior Trader viel zu weit unten in der Hierarchie. Ich nahm keinen Urlaub, weil auf der Arbeit die Zeit so schnell verging. Weil ich vergaß, daran zu denken, was mich abends erwarten würde. Oder eben nicht. Erzählerin: In einer Mittagspause trifft Jasper in einem Café in der Nähe seines Arbeitsplatzes auf Meike, die ihrerseits hofft, dort LaMarck anzutreffen. Jasper verliebt sich sofort in sie und versucht sie zu beeindrucken: Zitatorin: Meike: Er holte sein Handy heraus, sah auf die Anzeige, drückte mir seinen Kaffee in die Hand und tippte. Das war einer dieser Black-Berrys. "Neue Marktdaten", sagte er. "Ich bin Europaspezialist. Finanzwerte. Muss im Blick behalten, was heute besonders gehandelt wird: HSBC, USB, HomeStar, für den Fall, dass..." HomeStar, der Name kam mir bekannt vor. Natürlich, das war die Bank, die mir für den Kauf meines Hauses in Tetenstedt einen Kredit gegeben hatte. "Die würde ich nicht kaufen", sagte ich. "Wen?" "HomeStar. Die geben Kredite an Leute, die nicht bezahlen können." "Das ist doch der Trick. Alle anderen haben ja schon welche." "Ich weiß nur, dass die sehr unvorsichtig sind." "Vorsicht braucht doch kein Mensch", sagte er. So hatte ich sie mir immer vorgestellt, diese Superbanker, die ihrer Sache so sicher sind, dass sie sich für gar nichts schämen. Erzählerin: Jasper verspekuliert sich. -Obwohl er anfangs nur den Fehler eines Kollegen ausbügeln will, geraten die Dinge sehr schnell außer Kontrolle. - Noch bevor er offiziell gefeuert werden kann, flieht Jasper nach Deutschland. Im Flugzeug träumt er von einer "normalen" Existenz, einem "normalen" Job und einer kleinen Wohnung irgendwo in Nordrheinwestfalen. Kurz darauf wird durch die Medien bekannt, dass aufgrund seiner Fehlspekulationen und seiner verzweifelten Vertuschungsversuche die Bank Konkurs anmeldet. Die Börsen brechen weltweit ein. Jasper flieht zu Meike. In ihrem Landhäuschen, das eher eine Bruchbude ist, sitzt inzwischen auch Henry LaMarck, der sich ebenfalls für eine neue Wendung in seinem Leben entschieden hat. Jasper versucht für sich und für Meike die Geschehnisse an der Börse zu analysieren: Verlorenes Vertrauen der Anleger. Schneeballeffekt. Panikverkäufe überall. Herdentrieb. Zitator2: Die Angst war schuld, nicht ich! Musik Erzählerin: Ein mildes Happyend. Es zeichnen sich zumindest Wege ab, wo vorher eine Sackgasse war. Das ist auch das Ergebnis zu dem die vier Frauen in dem kürzlich erschienen Roman von Annika Reich kommen: Durch den Wind. Und durch den Wind sind sie, die vier Frauen, die in Berlin Mitte leben: die erfolgreiche Japanerin Yoko, Architektin, die Männer anscheinend nur für eine Nacht braucht und unter dem zerrütteten Verhältnis zu ihrer Familie in Japan leidet. Zitator: Wenn du doch endlich mal eine Affäre mit deinem Beruf anfangen würdest! Deine Karriere würde durch die Decke gehen. Zitatorin: Wenn man seinen Beruf so einfach wieder los werden könnte wie einen Mann, vielleicht. Erzählerin: Friederike, die einen interessanten Laden mit allerlei extravaganten Sachen und Texten betreibt, sich seit vielen Jahren Kinder wünscht und einen Mann liebt, der sich zurückzieht und am meisten an seiner Freiheit hängt. Zitatorin: Ihr hattet einfach zu viel Zeit, hatte Yoko gesagt. Du hättest dich lieber mal um deinen Laden kümmern sollen. Wie sonst auch. Und dass kein Mensch so viel Nähe ertragen könne. Und vielleicht war das wirklich das Problem gewesen. So oder so - jetzt war wieder Sonntag, und die Sonntage fühlten sich schon lange wieder so an wie vor den drei Tagen mit Tom, genauso bleiern und allein - und doch ganz anders. Erzählerin: Allison, die es beruflich nicht so recht auf die Reihe kriegt, aber ihren schönen Victor hat. Eine vollkommene Liebe. Nur, dass der ab und zu verschwindet - oder bildet sie sich das nur ein? Zitatorin: Langsam machte sich ein Gefühl in ihr breit, das allen Beschwichtigungen trotzte. In kleinen Streitereien hatte Victor früher öfter gesagt, dass er sowieso irgendwann wieder aus ihrem Leben verschwinden werde; manchmal hatte er es im Scherz gesagt und manchmal mit einem Ausdruck, der ihr durch Mark und Bein gegangen war. Erzählerin: Und die schöne übersensible Siri, die anscheinend von ihrem Mann vergöttert wird - oder ist das auch nur eine Chimäre? - Siri entzieht sich dem wirklichen Leben durch Kranksein und Tabletten. Zitatorin: Da lag ein Brief, auf den mit Großmutters Schrift ihr Name geschrieben war. Als sie den Brief zu Ende gelesen hatte, musste sie auf einmal laut lachen. Sie drückte die Handflächen gegen die Schläfen, aber die Tabletten schienen inzwischen ihre Wirkung zu zeigen, denn der Druck in ihrem Kopf erhöhte sich kaum noch. Die Zeilen waren absurd und verlogen. Glück, Glück, Glück. Erzählerin: Als bekannt wird, dass Siris 70-jährige Großmutter radikal ihr Leben geändert hat, führt das bei den halb so alten Frauen zu erheblicher Unruhe. Sie brechen auf. Yoko zu ihrer Familie nach Tokio, wo sie mehr zu erfahren hofft vom Tod ihres Vaters, an dem sie sich indirekt die Schuld gibt, Alison ebenfalls nach Tokio, weil sie dort Victor vermutet und einer realen oder eingebildeten Doppelgängerin auf die Spur kommen will. Und auch Friederike und Siri versuchen ihrem Leben eine Wendung zu geben. Nach ihrer Japanreise lädt Yoko Friederike ein, um ihr beim Malern zu helfen. Die Zeit, in der es nur schwarz und weiß für sie gab, ist endgültig vorbei. Zitatorin: Yoko tropfte grünes Konzentrat in die weiße Farbe und verrührte die Schlieren. "Wie schön", sagte Friederike. "Wie schön das aussieht." Sie rührten das Grün an und klebten den Boden ab. Nach einer Weile sagte Friederike: "Viel kann man nicht mehr ändern in unserem Alter. Außer der Farbe der Wände und seinem Leben vielleicht." Musik Erzählerin: Die Heldinnen und Helden in den neuen Romanen sind auf sich selbst gestellt. Es gibt keine Instanz, die es zu bekämpfen lohnt und keine, von der Hilfe oder Trost zu erwarten wäre. Die Schriftstellerin Julia Schoch fragt in einem Essay in der ZEIT Ende 2009: Zitatorin: Verändert es die Literatur, wenn sie in einer Gesellschaft entsteht, die nicht Behinderung der persönlichen Entfaltung bedeutet, sondern im Gegenteil die Selbstentfaltung zum Programm erhebt? Erzählerin: Jeder kann nur selbst seinem Leben einen Sinn geben. Das haben die Figuren in "Alice" von Judith Hermann, 2009 erschienen, längst verinnerlicht. Alice ist die Heldin von fünf Erzählungen, in denen es um Verlusterfahrungen und Weiterleben geht. In jeder Geschichte stirbt ein ihr nahestehender Mensch. Zitatorin: Die Nonne war am Fußende des Bettes stehen geblieben und hatte sich an der Metallstrebe festgehalten, Micha angesehen. Sein Mund offen und das Zahnfleisch schwarz, die Augen blicklos zum Fenster gerollt. Die Nonne hatte gefragt, was er denn für einer gewesen sei. Wie meinen Sie das, hatte Alice gefragt und sich aufgerichtet. Sie hatte zögernd gesagt, also ich würde sagen, er war ein Zauberer. Ein Zauberkünstler, verstehen Sie, was ich meine, er konnte alle diese Tricks. Kaninchen aus dem Zylinder. Jonglieren. Gedanken lesen. Aber er hat sich immer in die Karten sehen lassen. Er wollte seine Karten immer zeigen. Ich kann es nicht erklären. Erzählerin: Wenn jemand geht, der einem nahe steht, ändert sich alles - das Leben und das Lieben, ob man will oder nicht. Und doch ist es nichts Besonderes. Es geht um mehr als um die Verarbeitung von Todesfällen. Bei Judith Hermann steht der Tod für ein Zeichen einer allgemeinen Lebenskrise, von der jeder zu jeder Zeit bedroht ist. Zitatorin: Am Nachmittag fuhr sie zurück nach Berlin. Maja wäre noch geblieben, aber Alice hatte das Gefühl, sie würde verrückt werden, wenn sie auch nur eine Nacht länger in dieser Wohnung verbringen müsste mit dem Blick auf das Krankenhaus, in dem niemand mehr lag. Das Krankenhaus war hohl. Ein stilles Gehäuse. Wenn wir nicht aufpassen, dachte Alice, dann verschwinden wir auch. Maja und das Kind und ich, wir verschwinden in Zweibrücken, spurlos. Erzählerin: Das Krisengefühl ist durch den doppelten Boden der Sprache ständig präsent. Wie ein Schatten von Alice´ Identität. Aber Alice ist eine von vielen. Gerade weil sie so viel Leidvolles erlebt. Ihre Wahrnehmung ist intensiv - geprägt durch die Erinnerung und die Gegenwart. Zitatorin: Eine Straße im Juni an einem Samstagnachmittag, Alice fand die Straße sonntäglich, etwas erinnerte sie daran an die Sonntage ihrer Kindheit, an die langgezogenen , von irgendwas pulsierenden Sonntage im Sommer, so als wäre immer alles kurz vor einem Gewitter gewesen. Darauf warten. Auf das Gewitter warten. Alice sah zu Richards geschlossenen Fenstern hoch und dachte, in einem Bett in einem Zimmer in dieser Wohnung in diesem Haus in dieser Straße liegt einer, den ich kenne, und stirbt. Alle anderen machen was anderes. Das zu denken, war so ähnlich, wie ein Gedicht aufzusagen, Worte von einem anderen, nichts, was man begreifen konnte. (...) Alice überquerte die Kreuzung, vorschriftsmäßig. Pass auf dich auf! ... Musik Erzählerin: Die Figuren in den Romanen von Juli Zeh haben keine Illusionen, aber sie haben Ideen und Humor. Sie lassen sich nicht schnell normieren, weder in ihrem Denken, noch in dem, was sie tun. O-Ton8)Zeh1: "Weil das Leben so sinnlos ist", sagt Mia, "und man es trotzdem irgendwie aushalten muss, bekomme ich manchmal Lust, Kupferrohre beliebig miteinander zu verschweißen. Bis sie vielleicht einem Kranich ähneln. Oder einfach nur ineinander gewickelt sind wie ein Nest aus Würmern. Dann würde ich das Gebilde auf einen Sockel montieren und ihm einen Namen geben: Fliegende Bauten, oder auch: die ideale Geliebte. Erzählerin: Die Schriftstellerin Juli Zeh mischt sich immer wieder kritisch ein in gesellschaftliche Diskussionen. Ihr kommt es höchst suspekt vor, dass "Freiheit" heutzutage weitgehend mit "Sicherheit" gleichgesetzt wird oder dass in unserem System nur noch ökonomisch- verwertbare Leistungen zählen. In ihrer Dankesrede für den Carl-Amery-Preis, der ihr 2009 verliehen wurde, analysiert sie scharfsichtig: O-Ton9)Zeh2 (CD) Wir leben in einer Gesellschaft, die nicht nur ökonomische Entwicklungen, sondern zunehmend auch den Einzelnen als Problemfall innerhalb eines Optimierungsprozesses betrachtet. Wir reden dauernd vom "Individualismus" - und denken in Normierungen, in Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Erzählerin: Ein Kernproblem der heutigen Zeit sieht Juli Zeh darin, dass Menschen immer weniger fragen, warum sie etwas tun. Alles muss zielorientiert sein und konzentriert sich damit auf die Frage wozu? O-Ton10)Zeh3 Die "Warum"-Frage forscht in die Vergangenheit. Sie erkundigt sich nach Ursachen, nach Hinter- und Beweggründen, möchte Zusammenhänge erwägen. Ihre Schwester "Wozu" ist frecher. Schneller. Fordernder. Irgendwie zeitgemäßer. Ihr Blick richtet sich auf die Zukunft. Wozu gehen wir arbeiten, treffen Freunde, lesen Bücher, treiben Sport? Mit welchem Nutzen? Wozu" ist im weitesten Sinn ökonomischer Natur. O-Ton11)Zeh4 Wozu lässt keine Zeit mehr für das Warum. Musik Erzählerin: Warum tue ich etwas? Und wozu? Die wozu-Frage bestimmt zunächst auch Gerhard Warlichs Leben. Warlich, der Protagonist des Buches "Glück in glücksfernen Zeiten" von Wilhelm Genazino, erschienen 2009, ist promovierter Geisteswissenschaftler und hatte keine Chance, beruflich etwas mit seiner Ausbildung anzufangen. Er lebt seit vielen Jahren mit seiner Freundin Traudel zusammen. Traudel arbeitet bei einer Bank, Warlich hat als Ausfahrer bei einer Wäscherei angefangen. Inzwischen organisiert er die Fahrpläne und kontrolliert die anderen Fahrer. Alles scheint in bester Ordnung zu sein. Aber als Traudel auf ihrem Kinderwunsch besteht und auch gerne geheiratet werden will, gerät Warlichs normales Leben ins Wanken. Zitator: In den letzten beiden Monaten ist der innere Drang, mein Leben in neue Bahnen zu lenken, deutlich stärker geworden. Von dem Wunsch nach Veränderung geht ein Druck aus, dem ich fast wehrlos ausgesetzt bin, weil ich nicht die geringste Ahnung habe, wie und womit ich irgendwelche Veränderungen herbeiführen könnte. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Dann und wann zeigt sich ein Hoffnungsschimmer, der eine Art Glanz in mir zurücklässt. Erzählerin: Surreale Wahrnehmungen bestimmen immer mehr Warlichs Alltag. Er beobachtet zum Beispiel einen Kuchendieb und wird derweil selber beobachtet. Das amüsiert ihn. Gleichzeitig zieht er sich mehr und mehr in seine innere Welt zurück. Er denkt über die Vergänglichkeit alles Lebendigen nach und landet bei seinen Überlegungen beim Verfallsdatum von Dingen. Er hängt eine Hose auf den Balkon und beobachtet interessiert den allmählichen Verfall des Stoffes. Zitator: Ich rutsche in die Wirklichkeit zurück, das heißt ich zerbreche mir den Kopf darüber, auf welche Tätigkeit die Entdeckung der Bildkette verweist. Bin ich ein Philosoph, ein Ästhet, ein stiller Kommunikator? Und wie kann es mir gelingen, aus dieser Tätigkeit einen Beruf zu machen, der mich hinreichend ernährt und mir endlich die Gewißheit verschafft, daß ich mich in einem sinnvollen Leben befinde? Erzählerin: Solche Überlegungen füllen Warlichs Tagesablauf mehr und mehr aus. Als sein Chef verlangt, Fahrerkollegen nach illegalen Pausen auszuspionieren, hat er eine geniale Idee: Zitator: Ich sitze entspannt im Auto und habe doch das Gefühl, einen harten Arbeitstag schon hinter mir zu haben. Wieder entdecke ich, daß die Menschen (ich) nur für die erste Hälfte des Tages genug Kraft haben. Wenn ich könnte, würde ich das Projekt "Halbtags leben" erfinden. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der ersten zu erholen. Kurze Musik? Erzählerin: Warlich schwärzt die Kollegen nicht an, treibt sich ein wenig in der Stadt herum, schaut einer Demo zu - und wird deswegen fristlos entlassen. Die Folge davon ist, dass er sich noch mehr in seine Innenwelt zurückzieht. Bald ist er auch nicht mehr willens oder in der Lage, sich um einen neuen Job zu kümmern. Wilhelm Genazino erklärt seinen melancholischen Helden: O-Ton12)Genazino1 Der Mann leidet darunter, dass er den Anforderungen nicht mehr nachkommen kann. Das ist seine Hauptangst: diese irgendwann hereinbrechende Ratlosigkeit. Weil er schon seinen Frieden damit gemacht hatte, dass er als ausgebildeter Geisteswissenschaftler eine Stelle als Ausfahrer bei einer Wäscherei angenommen hat. Also das war schon prekär genug. Und nun verliert er auch noch diese Stelle. Und das ist etwas, womit er wirklich nicht mehr klar kommt. Erzählerin: Die Grenzen zwischen Innen und Außen werden bei Warlich immer durchlässiger, die Überempfindlichkeit, mit der er auf seine Umwelt reagiert nimmt immer mehr zu. Bestimmte Gegenstände lädt er mit absurder Bedeutung auf. Zum Beispiel eine Scheibe Brot, die er einer verdutzten Bekannten in die Hand drückt. Schließlich wird Gerhard Warlich aufgrund seines merkwürdigen Verhaltens von seiner Freundin in die Psychiatrie eingeliefert. Zitator: Das Angenehme an meinem Grauen ist, daß sich meine Innenwelt mehr und mehr vor die Außenwelt schiebt und daß mich unter dem Eindruck dieser Verschiebung die Außenwelt immer weniger interessiert. Es durchflutet mich ein angenehmes Gefühl des Entkommenseins. Erzählerin: In der Gesellschaft ist kein Platz für einen Gerhard Warlich. O-Ton13)Genazino2 Ich bin Gott sei Dank nicht davon betroffen, aber ich habe viele Freunde und Kollegen, die in solchen Situationen stecken. Das sind Menschen, die in erheblichen inneren Anspannungen leben, und es ist durchaus nicht ausgemacht, zu welchem Ende sie das hinbringt, weil sie, selbst wenn sie solche Jobs haben wie Wäscheausfahrer, Anzeigenvertreter usw., hören die nicht auf, in ihrer Innenwelt weiterhin davon auszugehen: eines Tages werde ich irgendwo in einer deutschen oder ausländischen Universität eine Dozentenstelle an der philosophischen Fakultät oder sonst wo kriegen. Und auf diesen Tag hin lebe ich. Und diese Fiktion hält die Menschen aufrecht. Selbst wenn sie immer genauer wissen -je älter sie werden- es wird nicht eintreten. Ihre Bildung wird ein Jugenderlebnis sein. Meine hervorragende Bildung war ein Jugenderlebnis. Und jetzt ist meine Jugend vorbei. Da kann ich meine Bildung vergessen. Das muss man sich mal vorstellen. Musik Erzählerin: Mit bitterem Humor schildert auch Jakob Hein die Entwicklung eines Mannes, der seine Arbeit verliert. Herr Jensen steigt aus - so der Titel des schmalen Bandes. Herr Jensen arbeitet seit fünfzehn Jahren als Postbote und ihm wird von der Post von einem Tag auf den anderen gekündigt. Zitator: Warum? Ich war selten krank, ich habe meine Arbeit immer gemacht, ich trinke nicht. Oder hat es Beschwerden gegeben? Zitator2: Aber nicht doch, Jensen. Es hat keine Beschwerde gegeben. Sie besitzen alles, was wir in einem Mitarbeiter suchen. Sie sind qualifiziert, routiniert und nicht überambitioniert. Es tut mir -und ich glaube, ich kann da für die ganze Abteilung sprechen - es tut uns allen leid, daß Sie gehen müssen. Zitator: Aber wenn es sich so verhält, warum muß ich dann gehen? Zitator2: (seufz) Ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Wir müssen Ihnen leider im Rahmen unseres neuen Programms zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigung kündigen. Sie waren nie ein richtiger Mitarbeiter. Sie haben als Student angefangen und wurden dann von uns auf eine frei gewordene Stelle gesetzt. Sie wurden aber nie von uns ausgebildet, deswegen zählen Sie nicht als regulärer Mitarbeiter, und darum trifft der Sozialplan auf Sie nicht zu. Erzählerin: Herr Jensen richtet sich zwangsläufig in seinem neuen Leben ein, in dem er sehr viel Zeit hat. Er kauft zunächst einen neuen Fernseher und nimmt sich vor, die Flut von Nachrichten, Beiträgen und Filmen, die er sich täglich anschaut, zu analysieren. Er hatte schon immer davon geträumt, einmal etwas ganz Besonderes zu tun. Herr Jensen will herausbekommen, wer eigentlich was sagt und warum. Nach einigen Monaten ist Herr Jensen von der Analyse total überfordert. Auf seinem Wohnzimmertisch türmen sich Videoaufnahmen. Zitatorin: Früher war einem gesagt worden, wie man zu leben hatte. In den Sendungen, die Herr Jensen in den letzten Monaten studiert und analysiert hatte, konnte man statt dessen sehen, wie man nicht mehr leben durfte. Das hatte Herr Jensen herausgefunden. Erzählerin: Herr Jensen notiert seine Erkenntnisse, was nach der öffentlichen Meinung erstrebenswert ist und einen normalen Menschen ausmacht, auf einem Zettel: Zitator: Man sollte arbeiten gehen. Zitator2: Man sollte eine Frau oder zumindest häufig Sex haben Zitator: Man sollte viele Freunde haben Zitator2: Man sollte die aktuelle Mode kennen Zitator: Man sollte Ahnung von Musik haben Zitator2: Man sollte fröhlich sein Zitator: Man sollte Geld haben Zitator2: Man sollte etwas mit sich anfangen Zitatorin: Herr Jensen mußte feststellen, daß er nicht normal war. Er seufzte erschöpft. Herr Jensen konnte sich nicht erinnern, jemals etwas falsch gemacht zu haben. Stets hatte er getan, was ihm gesagt worden war, und niemals war er rebellisch geworden. Erzählerin: Herr Jensen wirft seinen teuren Fernseher aus dem Fenster und schottet sich zunehmend von der Außenwelt ab. Er geht nur noch auf die Straße, wenn es unbedingt sein muß. Seinen Briefkasten leer er nicht mehr. Ausgerechnet bei seinem nächsten Pflichtbesuch beim Arbeitsamt rebelliert Herr Jensen zum ersten Mal in seinem Leben. Seine Sachbearbeiterin versucht, ihn für eine Schulungsmaßnahme zu motivieren. Zitatorin: Hier. Fit for logistics. Da wäre noch etwas frei. Zitator: Kennen Sie denn meine Akte nicht? Ich habe mehr als fünfzehn Jahre bei der Post gearbeitet, bevor mir gekündigt wurde. Ich kenne mich in der Branche aus. Zitatorin: Dann ist doch der Kurs vielleicht eine gute Möglichkeit, wieder einzusteigen. Zitator: Nein, mir wurde gekündigt, um Kündigungen zu vermeiden, in der Branche gibt es keinen Wiedereinstieg. Ich bin fit für die Branche, leider ist die Branche nicht mehr fit für mich. Musik Erzählerin: Die Helden der Romane von Wilhelm Genazino und Jakob Hein sind müde und ratlos. Sie genügen nicht dem Attraktivitätsgebot, der Souveränitätspflicht. Ihnen bleibt nur der Rückzug. Dem einen in seine Gedankenwelt, dem anderen in seine Wohnung. Bei Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, erschienen 1929, liest sich das noch ganz anders. Döblins Hauptfigur, Franz Biberkopf, ist zwar auch zeitweise arbeitslos, aber nicht isoliert. Während der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre sucht Franz Biberkopf nach einem Gefängnisaufenthalt nach einem soliden Job, der ihn ernährt. Zitator: Franz Biberkopf geht auf die Suche, man muß Geld verdienen, ohne Geld kann der Mensch nicht leben. Franz Biberkopf setzte sich mit seinem Freund Meck an einen Tisch, an dem schon mehrere laute Männer saßen, und wartete den Beginn der Versammlung ab. Meck erklärte:"Du gehst nicht stempeln, Franz, und gehst auch nicht in die Fabrik, und zu Erdarbeiten ist´s zu kalt. Der Handel, das ist das beste. In Berlin oder aufm Land. Du kannst wählen. Aber er ernährt seinen Mann. So wahr ich Gottlieb heiße, sieh dir die Leute hier an. Wie die aussehn. Ob es nicht anständige Leute sind." "Gottlieb, du weißt, über Anstand lass ich nicht mit mir spaßen. Hand aufs Herz, ist es ein anständiger Beruf oder nicht?" "Sieh dir die Leute an, ich sage gar nichts. Tipptopp, sieh se dir doch an." "Ne solide Existenz, darauf kommt es an, ne solide.:" "Ist das Solideste, wo man hat. Hosenträger, Strümpfe, Socken, Schürzen, eventuell Kopftücher. Der Gewinn liegt im Einkauf." Erzählerin: Abends treffen sich Arbeiter, Arbeitslose -wenn sie es sich leisten können- und kleine Gauner in den Kneipen und Kaschemmen rund um den Alexanderplatz. Man tauscht sich aus, schmiedet Pläne und langsam deutet sich die kommende Katastrophe an. Wie die anderen vergisst auch Franz Biberkopf beim Bier manchmal seine Nöte. Zitator: So hat, jedenfalls vorläufig, die Nacht vom Sonntag zum Montag bei Reinhold geendet. Und wer noch fragt, ob Gerechtigkeit auf der Welt ist, der wird sich mit der Antwort bescheiden müssen: vorläufig nicht, jedenfalls bis zu diesem Freitag nicht. Musik Erzählerin: Katastrophen kündigen sich an und werden manchmal geradezu herbeigesehnt. Walter Benjamin schrieb: Zitator: In dem Schatze jener Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der bevorstehenden Katastrophe - indem es ja "nicht mehr so weitergehen, könne" - besonders denkwürdig. Erzählerin: Für Katrin Röggla ist die ständige Alarmbereitschaft schon zum Dauer- bzw. Normalzustand unserer Gesellschaft geworden. Sie schildert in ihrem vor kurzem erschienen Prosaband die alarmbereiten die Dramaturgie scheinbar allgegenwärtiger Krisen: ob Finanzkrise oder Klimakatastrophe,- das alles ist längst Teil unseres Alltags geworden und sei es nur über die Krisenrhetorik von Politikern und die Krisenberichte in alten und neuen Medien. Zitatorin: mal sehen, ob die wälder wieder brennen, mal sehen, ob starke hitze uns entgegenschlägt. mal sehen, ob der rauch die tiere aus den büschen treibt, deren namen wir nicht kennen, mal sehen, ob das eine stille nach sich zieht. mal sehen, ob wassermassen gegen brücken stemmen oder dämme längst gebrochen sind. mal sehen, ob sie wieder auf den brücken stehen und hinuntersehen, einen steinwurf weg von ereignissen, die sie doch nicht verstehen. mal sehen, ob sie dann zu anderen dingen übergehen, weil ihnen gar zu langweilig wird. mal sehen, ob sich wieder was tut. Erzählerin: In Katrin Rögglas Text spielt es keine Rolle, ob die Katastrophen wirklich stattfinden. In einem Interview erklärt sie ihre Intention: Zitatorin: Wir sind an Katastrophen gewöhnt. Mich hat interessiert, wie das eigentlich funktioniert, diese ständige Katastrophengrammatik, in die wir eingespannt sind. Wir sind ja medial von Katastrophenrhetorik und Katastrophenerzählungen umgeben. Unsere Antwort darauf bzw. unsere Disposition ist eine Alarmbereitschaft. Diese Alarmbereitschaft verbindet sich nicht wirklich mit dem Gefühl, dass wir die Welt gestalten können, sondern ist eher eins der Überrumpelung und der Überwältigung. Dass wir notfalls eben reagieren können. Erzählerin: In die alarmbereiten hört den Ich-Erzählern niemand mehr richtig zu. Die Texte haben teilweise etwas komisch-groteskes. Zitatorin: würde ich einmal mit der u-bahn fahren, sitze garantiert jemand drin, der mich über die sicherheitsrisiken in friedenszeiten aufklären wolle. ginge ich in die kneipe, würde ich sicherlich jemanden kennenlernen, der mir einzelheiten über warnlücken und organisationslücken verrate. Sie fahre ja nicht mehr mit der u-bahn, weil sie kaum noch vor die tür gehe. Kurze Musik? Erzählerin: In Dietmar Daths im Frühjahr 2010 erschienen Bilderbuch Deutschland macht dicht geht es um Hendrik und Rosalie, zwei mutige, beinah schon erwachsene Menschen, die erleben müssen, dass sich das Land in dem sie wohnen, auf unerklärliche Weise und angeblich zur Krisenabwehr gegen alles Abweichende und Unberechenbare abgeschirmt hat. Die Zeit vergeht nicht mehr richtig, das Leben lebt nicht mehr. Den beiden Helden helfen unter anderem ein alter Kommunist, der weise Hase Mandelbaum und ein Kunstwerk namens "ohne Titel". Es geht um nichts geringeres als den Widerstand des Besonderen gegen das Allgemeine, der Kunst gegen die Verwaltung und der Liebe gegen die Anpassung zu riskieren. Zitator: Das Kunstwerk litt Hunger. Es wußte nicht, was es essen sollte, weil es noch nie Hunger gehabt hatte. Nach einiger Zeit der Suche zwischen Vorstadtvillen, Trümmern eines Münchner Riesenrads, umgestürzten Blumentrögen vom Vorplatz des Hannoveraner Opernhauses erreichte das Kunstwerk, das sich inzwischen immer weniger minimalistisch und schon fast ein wenig nach Renaissance anfühlte, einen ehemaligen Dumping-Supermarkt auf freier Fläche. Ob es sich ursprünglich um eine "Plus"-Filiale, einen "Aldi" oder einen "Penny Markt" gehandelt hatte, war nicht mehr auszumachen. Ein Ungeheuer hatte den Ort in Besitz genommen und verwandelt: Die alte Etzel, ehemalige Nachbarin der Familie Vollfenster, die jetzt nicht nur aussah wie Mick Jagger, sondern sich auch so kleidete, hatte ihren Vampirkatzen befohlen, ein Hauptquartier samt Labor für Schimärenforschung einzurichten. Danach sah der Ort jetzt aus. Daß die Alte eine wirkliche Finsterhexe geworden war, gehört zu den Feldeffekten der Selbstverschlingung Deutschlands, die den Hasen Mandelbaum faszinierten. Erzählerin: Die Helden sind auf der Suche nach dem Geld, um es wegen seiner Untaten zur Rede zu stellen. Der Theoretiker Mandelbaum sinniert: Zitator: Es hat mit der Energieerhaltung zu tun. Irgendwoher muss das Geld den Willen nehmen, der die Transformation angetrieben hat. Alles Geld woanders, das ganze materielle Substrat, Papier, Gold, jede Ware, die nur das Äquivalent anderer Waren ist, hat seinen Wert eingebüßt, auf der ganzen Welt, aus der Deutschland verschwunden ist. Sogar schon vor der Plombierung ging das los. "Stimmt", sagte Rosalie, "ich erinnere mich, daß ich die Verrottung schon Wochen vorher gesehen habe. In Amerika." Musik Sprecherin: Die Krise ist in der deutschen und auch in der angelsächsischen Literatur auf vielfältige Weise präsent. Mit Blick auf die niederländische, die auf dem deutschen Buchmarkt stark vertreten ist, meint Christoph Buchwald, ehemals Verleger bei Hanser und Suhrkamp und heute in Amsterdam: O-Ton14) Buchwald1 In der niederländischen Literatur von einer Richtung zu sprechen, die die Krise versucht zu beschreiben, oder das, was sie als solche empfinden, das wäre falsch. Ich sehe eigentlich im Moment keine Bücher wie von Kristof Magnusson Das war ich nicht - in Deutschland ein relativ großer Erfolg. So etwa spielt hier - noch- vielleicht keine Rolle. Eigentlich hat man eher das Gefühl, dass eine Tendenz, die wir schon lange haben, dass die sich fortschreibt. Und das hat zu tun mit dem Verlust von Utopien, die bis auf die Knochen sozusagen, ruiniert sind. In der Mehrzahl sind die Konflikte sehr individuell geworden. Das heißt, dass man sich beschäftigt: was tut die Zeit eigentlich mit uns? Was sind unsere Fragen und Konflikte? Die sind aber weniger auf die Gesellschaft gerichtet als mehr auf die Menschen selbst, condition humaine sozusagen. Wie wir zusammengebaut sind, wie wir funktionieren. Erzählerin: Der holländische Schriftsteller Bert Hiddema schreibt Romane und Biografien, die sehr dicht am Zeitgeschehen sind. Seine Helden erleben den Alltag nicht isoliert, sondern mehr oder weniger integriert in ihrem Umfeld. Gedankenspiele über eine andere, eine bessere Welt klammert er aus: O-Ton15) Hiddema1 Denn es immer so in der Gesellschaft: Die Leute, die die Macht haben sind immer dieselben Leute. Sie haben vielleicht andere Gesichter, aber es sind immer dieselben Leute. Und was man kann tun, ist: ein Schriftsteller kann ein Buch schreiben über das Leben. Mit meinem letzten Buch hab ich das getan. Ich habe einen Roman geschrieben über mein eigenes Leben, meine eigene Jugend in den Jahren 50 in Amsterdam. Meine Eltern haben die Krise in den 30er Jahren mitgemacht. Und meine Mutter hatte eine Perspektive: die Krise der Jahren 30 kommt wieder zurück Es gibt jetzt eine Mentalität: Man kann alles tun, um Geld zu verdienen. Wenn man das nicht will, bist du verrückt. Und das ist - glaub ich -eine enorme Krise. Musik Erzählerin: "Über Leben im Umbruch" heißt ein groß angelegtes Projekt in Wittenberge, einer ostdeutschen Kleinstadt zwischen Berlin und Hamburg. Seit der Wende schrumpfte die Bevölkerung von 30.000 auf 18.000 Menschen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, es gibt Straßen, in denen Häuser leer stehen und verfallen. Es ist still in Wittenberge. Vor drei Jahren zogen Soziologen, Ethnologen, Fotografen los, zu um zu erforschen, wie man so lebt in der Stille. Die Menschen reden nicht viel. Die meisten sind vorsichtig, aber alarmiert. Vor zwei Jahren beteiligte sich auch das Berliner Maxim Gorki Theater, um ein realistisches Projekt zur Krise auf die Bühne zu bringen und schickte vier Autoren vor Ort: Fritz Kater, Thomas Freyer, Philipp Löhle und Juliane Kann. Zwischen Januar und Juni 2010 werden die Stücke im Theater in Berlin vorgestellt. Den Anfang machte Thomas Freyer mit "Im Rücken der Stadt". Es geht um die mühsame Verständigung zwischen den Alten, die dageblieben sind und den Jungen, die Wittenberge verlassen haben. Und es handelt von den jungen und alten Dagebliebenen, denen, die auf eine gute Zukunft hoffen und denen, die alle Hoffnung aufgegeben haben. O-Ton16) CDIm Rücken die Stadt (Maxim Gorki Theater) -Was willst´n? -Ich hätt da was für dich, Daniel. Was schaust denn so? Gefällt´s dir? Geht schnell, was? Geht vorwärts. Zwei Monate, dann sind wir durch, `n Riesenfest, ´ne große Sache! -Vezieh dich. -Mußt hier nicht rumstehen und glotzen. Ich nehm jeden. Ich nehm jeden mit ins Boot, der will. Bist jung, hast Kraft. Ich kenn dich doch, bist ´n ordentlicher Junge. Daniel, überleg dir das noch mal. Das machen wir ganz groß hier: Riesenrad, Autoscouter, Karussel. Da kommen die Leute. Weil was passiert. Weil´s hier ´n Angebot gibt. Hier in der Stadt. In der Stadt und nirgendwo sonst in der Nähe. Junge, du hast doch was auf´m Kasten. Worauf hast du Lust? Finanzen, Kasse, Sanitär, Sicherheit? -drauf geschissen. -Was willst du denn machen? Was willst du denn machen? Willst du immer so weiter machen? Was willst du deinen Kindern mal sagen ... -Diese Stadt braucht Bewegung! -Aufschwung und Bewegung (schreien sie) Musik: Sie singen: für Bewegung und Aufschwung Geräusch: die Kugel rollt (Kegelbahn) Erzählerin: Es gibt ein Unbehagen in unserer Gesellschaft. Unter der Oberfläche. Menschen scheinen in Gruppen oder Gemeinschaften integriert zu sein, aber sie sind es nicht. Die Schriftstellerin Juli Zeh nimmt dieses Unbehagen ernst. Nachdenken über das richtige Leben ist für sie keine Zeitverschwendung und der Wert eines Menschen bemisst sich nicht darin, wie viel Stunden er täglich einen legitimierbaren Zweck erfüllt: O-Ton17)Zeh5 Ein auf diesem Planeten vollkommen sinnloses Wort wie "Existenzberechtigung" geht uns inzwischen so glatt über die Lippen, dass uns nicht einmal mehr wundert, wenn wir selbst eine solche benötigen, nein: minütlich neu erwerben zu müssen meinen. O-Ton18)Zeh6 Gibt es schon Studien darüber, wie viel Prozent der Bevölkerung ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie länger als zehn Minuten aus dem Fenster sehen? mit Musik raus 10