COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 25.7.2012, 19.30 Uhr Der Dichter und sein Dorf Wie Wertach im Allgäu an seinen Schriftsteller W. G. Sebald erinnert Von Edelgard Abenstein (Musik CD, Wertacher Spezialitäten, Track 5, 8, 9) Atmo 1 (Wasserrauschen, T 4, 152) O-Ton 1 Inge Speker Wir sind hier am Alten Zollhaus, Oberjoch, das ist die Grenzstation zwischen Österreich-Deutschland. Da beginnt der Sebaldweg, den gibt's seit 2005, d.h. den Weg gibt's schon länger. Aber als Sebaldweg, der wurde von der Gemeinde Wertach initiiert. Es sind sechs Stelen, wo der Text von dem Roman von Winfried Georg Sebald Il ritorno in patria geschrieben worden ist. Den Weg ist er 1987 wieder gegangen. Da ist er zum ersten Mal wieder nach Wertach gekommen, in seine alte Heimat. In Wertach ist er geboren am 18. 5. 1944, ist ein großer, weltberühmter Schriftsteller mit guten Büchern, mit schwer zu lesenden Büchern, mit diesem Weg möchten wir Ihnen den Schriftsteller ein bissle näher bringen. Autorin Inge Speker ist ehrenamtliche Gästeführerin im Allgäu. Ihr Spezialgebiet: der Sebaldweg. Den wandern wir von Oberjoch ins Tal, zwölf Kilometer bis hinab nach Wertach, genau wie der Held in W. G. Sebalds erster Erzählung, Il ritorno in patria - Rückkehr in die Heimat. O-Ton 2 Wilfried Zinke (liest aus Sebald, Ritorno) Auf der einen Seite stiegen die Berge in den Nebel hinein, auf der anderen dehnte sich eine nasse Moorwiese und dahinter erhob sich aus dem Vilsgrund herauf der kegelförmige, aus nichts als aus schwarzblauen Fichten bestehende Pfrontnerwald. Autorin Wilfried Zinke liest die Zeilen auf einer mannshohen Stele aus Metall. Die steht wie ein außerirdischer Grenzpfeiler inmitten der wilden alpinen Landschaft. Rechts und links wachsen steile Abhänge in die Höhe, munter sprudelt die Ach durch den Wald. Der Tübinger, der seit zwanzig Jahren zur Sommerfrische ins Allgäu kommt, kennt Sebald nicht. Er ist heute zum ersten Mal mit von der Partie. Anders als Heidi Schumacher. O-Ton 3 Heidi Schumacher Ich bin einmal in den Genuss gekommen, mit Inge Speker alleine hier zu wandern, das hat mir sehr gut gefallen, den Schriftsteller lieb ich sehr, ich bin aus Isny, Wahlallgäuerin. O-Ton 4 Inge Speker W. G. Sebald hat bis 1952 in Wertach gelebt. Er ist aufgewachsen bei seinem Großvater, den er sehr geliebt hat, Josef Egelhofer, der war 20 Jahre Polizeikommissär in Wertach und war seinem Enkel sehr zugetan. Er war Naturliebhaber und das hat den W. G. Sebald sehr geprägt. Sein Vater war Offizier in Hitlers Wehrmacht und ist erst 1947 wieder zurückgekommen, hat in Wertach keine Arbeit gekriegt, ist dann nach Sonthofen und kam nur am Wochenende nach Hause. Dadurch hat er zu seinem Vater keinen so großen Kontakt gehabt. Für ihn war der Vater der Großvater. Atmo 1 (Wasserrauschen) O-Ton 5 H. Schumacher (liest aus Sebald, Ritorno) Der Tobel war erfüllt von einer Dunkelheit, wie ich sie mitten am Tag nicht für möglich gehalten hätte. Nur zu meiner Linken, über dem Weg aus dem nicht sichtbaren Bachlauf, schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Selbst diejenigen, die zuunterst aus dem Tobelgrund emporwuchsen, hatten erst weit oberhalb des Niveaus, auf dem der Weg fortlief, schwarzgrüne Wipfel. Immer wieder, wenn die Luft dort droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. ... Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei, nichts. In zunehmendem Maße verspürte ich ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust, und es war mir auch, als ob es, je weiter ich hinunter kam, desto kälter und finsterer werde. Autorin Von Düsternis kann hier und jetzt keine Rede sein. Seit jenem Novembertag, als Sebald nach Wertach hinab stieg, das er zum letzten Mal als Kind gesehen hatte, hat sich die Landschaft verändert. Kyrill - Lothar, die Stürme der letzten 20 Jahre, haben den Fichten den Garaus gemacht oder wurden aus Altersgründen abgeholzt. Jetzt spielt das Sonnenlicht auf hellen Buchenstämmen. Atmo 2 (Vogelgezwitscher) O-Ton 6 (Melchior Fischer liest aus Sebald, Ritorno) Am meisten ...sind mir aus der Krummenbacher Kapelle ...die Kreuzwegstationen in Erinnerung geblieben, die von einer ungeschickten Hand um die Mitte des 18. Jahrhunderts gemalt worden sein mussten und von denen die Hälfte bereits von Schimmel überlaufen und zerfressen war. O-Ton 7 Inge Speker Jetzt ist sie schön renoviert, die Leut haben sich da viel engagiert. Sie waren natürlich a bissle enttäuscht über Sebalds Text. Haben gesagt, das gibt's doch net, wir haben die jetzt so schön renoviert und der schreibt so schlimme Dinge über unsre Kapelle. O-Ton 8 Melchior Fischer Aber der Zustand der Kapelle kam Sebald sicher gut zupass, denn er lebt ja in seiner Literatur von der Melancholie, vom Katastrophentum im Kleinen wie im Großen, von Zerstörung. Autorin Melchior Fischer ist Experte in Sachen Sebald. Der Grundschullehrer und Hobbymaler hat im letzten Jahr die Gedächtnisausstellung zum zehnten Todestag des Dichters in Wertach organisiert. Ein Kollege und er zeigten eigene Werke, Aquarelle, Zeichnungen, Graphiken, die von Sebald-Texten inspiriert waren. Eine kleine Sensation, denn bis dahin hatte es in dem Ort noch nie eine Ausstellung gegeben, in der Leben und Werk des großen Sohnes gewürdigt wurden: Es ging auch um seine Themen, die ihn weltberühmt machten, das Schicksal von Ausgewanderten, die NS-Zeit und die Zerstörung der Natur. O-Ton 9 (M.Fischer) Viele sagen, hör mir mit dem Schmarren auf, lass doch die Sachen ruhen, auch die Sache mit dem unseligen Nazitum, der Umgang mit dem jüdischen Volk, es ist teilweise immer noch so, dass man nicht gerne davon spricht, davon hört. Autorin Für Unruhe hatte Sebald aber mindestens genauso gesorgt, weil er das Dorfleben seiner Kindheit auf eine Weise schildert, die nicht jedem gefällt. Er denkt an unglückliche Existenzen wie die Engelwirtin, die an Alkoholismus starb oder an den nach Kriegsende zugewanderten Arzt, Dr. Rambousek. Ein Melancholiker, der von den Dorfbewohnern isoliert am Morphium zugrunde ging. O-Ton 9a (M. Fischer) Ich hab festgestellt, dass Sebald gegenüber ein großes Ressentiment existiert hat innerhalb von Wertach, weil viele sich auf den Schlips getreten gefühlt haben, wie Sebald über Wertach teilweise schreibt. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass Bauern in der Wirtschaft ihr Bier trinken, das gibt's also an anderen Orten auch, dass manchmal über den Durst getrunken wird, ist auch keine Seltenheit, von daher gesehen gibt's nicht unbedingt einen Grund, dass man Sebald ablehnt. Es war aber trotzdem so. Nach wie vor meine ich, dass auch in Wertach Sebald nicht von allen Schichten getragen wird. Autorin: Auch Inge Speker, die Gästeführerin, hatte es nicht immer leicht. Wenn ein großer Dichter aus einem kleinen Dorf ziemlich schonungslos über seine alte Heimat schreibt, weckt er den Zorn nicht weniger Dorfbewohner. Und der war keineswegs verraucht, als der Gedanke aufkam, mit einem Wanderweg an den berühmtesten Sohn zu erinnern, der in dem Dorf aufgewachsen ist. O-Ton 10 (I.Speker) Sebald - sowieso alles verlogen, was er geschrieben hat. Da braucht man keine Erinnerungswanderung machen. Da muss ich mich schon wehren dagegen. Ich kann sie schon a bissle überzeugen. Oder sie sagen dann einfach nix mehr - wie's der Allgäuer so hat. Was sie hintenrum sagen, weiß ich auch nicht. Aber ich glaub, wir haben schon ein bissle Akzeptanz dazugekriegt aufgrund dieser Wanderungen. So ein Entgegenstellen wie am Anfang gibt's eigentlich nimmer. O-Ton 11 ( M.Fischer liest aus S.) "Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals in ihnen gesehen oder gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille." Atmo 3 Autorin Grausamkeiten? In friedlicher Koexistenz steht die Kapelle inmitten von Schumpen auf der Weide, wie man die Jungrinder hier nennt. Die Almwiesen blühen in Violett- gelb-weiß. Storchenschnabel, Pyramidengünzel, Knabenkraut - naturgeschützte Gewächse, so selten heutzutage, als wären sie direkt Josef Egelhofers Naturkundebuch entwachsen. Rechts die Reutter Wanne, hinter einem saftig grünen Bergsattel ragt das Matterhorn in den Himmel. Denkt man unwillkürlich - denn es sieht ihm zum Verwechseln ähnlich. Einstein heißt der granitene Kegel im Allgäu. Flott geht es bergab, bis die Sorgalpe auftaucht, die Vesperstation. O-Ton 12 (Jürgen Kaeser) Als er länger in England war, hat er sich schon gesehnt nach Dingen, die's speziell im Allgäu gibt. Das war z. B. Sauerkraut oder Backsteiner, ein Käse, der Name kommt vom Ziegelstein. Einen stinkenden Backsteiner hat er sich gewünscht, das haben wir ihm auch mitgebracht, wenn wir ihn besucht haben in England. Autorin Jürgen Kaeser kennt Sebald noch aus Volksschultagen. Sie waren acht, als Sebald damals mit den Eltern von Wertach ins 20 Kilometer entfernte Sonthofen zog. Auch im Gymnasium gingen sie in eine Klasse. Ihre Freundschaft überdauerte alles, die unterschiedlichen Vorlieben - Kaeser wurde Biochemiker - und die räumliche Trennung. Sebald wanderte 1966 nach England aus, wurde Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität von Norwich - und Schriftsteller, seit den späten 80er Jahren: "Nach der Natur. Ein Elementargedicht"; "Schwindel. Gefühle"; "Die Ausgewanderten"; "Luftkrieg und Literatur"; "Austerlitz". W. G. Sebald: ein deutscher Schriftsteller, der in England, den USA, in Frankreich berühmt war, sogar als Literaturnobelpreiskandidat gehandelt, aber in Deutschland erst spät entdeckt wurde. Ein Literat, der aneckte und polarisierte. Der sich aus der Ferne empörte über das Schweigen der Vätergeneration, den Holocaust und die "Gruppe 47". "Austerlitz" - sein Roman über die Suche eines jüdischen Wissenschaftlers nach seiner Herkunft - war Sebalds letztes großes Werk, bevor er 2001 im Alter von nur 57 Jahren durch einen Autounfall starb. O-Ton 13a (Jürgen Kaeser) Wenn wir uns unterhalten haben, haben wir uns Allgäuerisch unterhalten. Autorin Der Schriftsteller in England und das Allgäu: Jürgen Kaeser, der Freund aus Volksschultagen, war für Sebald eine Verbindung zur alten Heimat und ihrer Sprache. Sebald liebte es, mit Kaeser in der vertrauten Mundart zu sprechen. O-Ton 13b Wenn wir allein unterwegs waren, waren wir wieder sofort im Allgäuer Dialekt drin. Das ist wie - man kann sich mit der "angeborenen" Sprache ganz anders ausdrücken. A paar kurze Sätze, und die ganze Mentalität ist erklärt, wo man sonst vielleicht umständlich erklären müsste. Das ist wie eine Erholung, wenn man seine Sprache wieder sprechen kann. Autorin Sebald, der sich dem Computer verweigerte, und jeder Art von E-Mail-Verkehr, war ein großer Briefschreiber. Mit seinem ältesten Freund, den er gerne im Allgäu besuchte, tauschte er sich schriftlich regelmäßig aus. O-Ton 14 (Jürgen Kaeser) Wenn er dann hier war, dann hat er festgestellt, dass es doch provinziell und ein arges Nest ist. Und dass das braune Hemd von manchen doch immer noch arg durchschimmert - ein Zitat von ihm. Aber an seinen Briefen und wenn wir uns auf Allgäuerisch unterhalten haben, merkt man schon, dass er sehr mit dem Allgäu noch verhaftet und verknüpft war. In seinen Briefen, 60-70 Prozent sind auf Allgäuerisch geschrieben - ich erinnere mich da an eine Stelle noch ganz gut: ich hab ihm nach England einen Backsteiner geschickt, also den Stinkkäs. Er hat da so ungefähr geschrieben: (Dialekt) ich habe gedacht, ich rieche nicht recht, wie ich heut in der Früh, nachdem ich den Postler habe mit dem Briefkasten klappern und bloody foreigners fluchen gehört, wie mir eine Zugluft, also ein Wiff von dem adligen Käsle zugetragen hat. Autorin Kostproben aus der Korrespondenz hat Kaeser vor drei Jahren schon mal im Gasthof Hirsch in Wertach zum Besten gegeben - sehr zur Freude der Dorfbewohner. Dass der Nobelpreiskandidat mit dem großen Ernst auch eine ganz andere Seite hat, das hätte man nicht gedacht. O-Ton 15 (Jürgen Kaeser) Wenn man sich mit jemandem unterhält, der nur seine Werke gelesen hat und ihn selber nicht kennt, glaubt, dass er sehr melancholisch und depressiv war. Er hatte bestimmt depressive Seiten und Zeiten, aber er war auf der anderen Seite auch sehr lustig und fröhlich, ein ganz normaler Bub wie wir alle auch. Das kommt in den Briefen durch. Alle Allgäuer Briefe sind im Prinzip lustig, zeigen deutlich Allgäuer Lebensgefühl und Allgäuer Lebensart, nicht nur durch die Wortwahl, sondern auch durch den Inhalt. O-Ton 16 (Melchior Fischer) Ich denke, dass dieser Humor ein sehr hintergründiger Humor ist, der nicht so offen zum Tragen kommt, sondern einen hinterrücks überfällt. Wie's mir alle machen. O-Ton 17 (Jürgen Kaeser) Es gibt einen sog. Sauerkrautbrief. Da zeigt er die Möglichkeiten, was man mit Sauerkraut alles anfangen könnte, z.B. wenn man das mit Ofenrohrfarbe, also silbern einspritzen würde, dann könnte man es als Lametta verwenden. Oder - einer der groteskesten Vorschläge - da hat er gesagt, man soll sich vorstellen, was man mit Sauerkraut im Krieg anfangen könnte, man würde eine Ladung Sauerkraut in ein Flugzeug laden und über dem Trafalgar Square abwerfen, was das für eine heillose Verwirrung gäbe, deutsches Sauerkraut auf dem Trafalgar Square. Musik Atmo 4 (Laufen auf Kies) Autorin Rund drei Stunden dauert die Wanderung, bis, drei Stelen weiter, hinter dem Engen Plätt im Tal Wertach auftaucht. Ein schmuckes, idyllisch gelegenes 2.400-Seelen Dorf. Der Sebaldweg endet vor dem Geburtshaus des Dichters, an einer Tafel aus Glas mit seinen Lebensdaten. Auf Anhieb zu finden ist sie nicht, da das Haus von der Straße aus gesehen in der zweiten Reihe steht. Von dort ist es ein Sprung zum Tourismusamt mit der Leihbibliothek. Die hält das Gesamtwerk von Sebald parat, darunter auch verschiedene fremdsprachige Ausgaben. O-Ton 18 (Tobias und Heidi Schumacher) Wir gehen jetzt gleich in die Bücherei und ich nehm mir ein Buch mit. - Nur eins? - Schau' mer mal! Musik O-Ton 19 (Dieter Kraus) Sebald wird keine Massenbewegung sein, touristisch gesehen ist es eine Marktnische. Es kommen hier zwar Leute aus Mexiko und USA, die mal für drei Tage ein bisschen recherchieren, immer wieder, aber damit können wir nicht unsere zweitausend Betten füllen. Dennoch sind wir touristisch hier so aufgestellt, dass wir viele Nischen belegen, ob das die Gruppe der Angler ist oder der Mountainbiker, so gibt es jetzt auch die Gruppe der Sebald-Fans, die nach Wertach kommen, auch wenn's eine kleine Klientel ist, aber sie kommen. Autorin Im Kulturamt gibt man sich keinen Illusionen hin. Dieter Kraus, seit Anfang der 80er Jahre als Leiter im Dienst, ist in Wertach aufgewachsen. Er kennt hier jeden Grashalm. Il ritorno in patria hat er mindestens fünfmal gelesen, auch die anderen Erzählungen in dem Band Schwindel.Gefühle. An die schwierigen Anfänge mit dem verlorenen Sohn erinnert er sich lebhaft. Nachdem der Text als Fortsetzungsroman im Allgäuer Anzeigenblatt erschienen war, stand zwar rasch der Vorwurf des "Nestbeschmutzers" im Raum, geriet dann aber wieder in Vergessenheit. O-Ton 20 (Dieter Kraus) Als Sebald damals starb, war das natürlich groß in der Zeitung, dadurch ist er hier erst richtig bekannt geworden. Damals war das so: Wir hatten das Buch Schwindel.Gefühle. Wir durften das nicht öffentlich in der Bücherei auslegen. Die dort erwähnt waren - es waren mehrere Familien - hatten uns eine Klage angedroht, wir konnten das Buch damals nur unterm Ladentisch - ich hatte es in der Schublade, und wer es wollte, der kriegte es von mir inoffiziell, nicht offiziell über die Bücherei. Mittlerweile hat sich das alles gelegt. Viele sind auch verstorben, die in dem Buch genannt wurden. Viele denken durch die Zeit nicht mehr so negativ über ihn, wir durften mittlerweile auch in die Häuser rein, wo er mit seiner Familie gelebt hat. Das wäre früher nicht denkbar gewesen. Autorin Indirekt ist Dieter Kraus auch persönlich betroffen. Sein Vater, Benedikt Kraus, seit jeher Metzger im Ort, taucht in einer Passage in "Austerlitz" auf. Ein Folterkeller der Nazis in Belgien erweckt in Sebald die Erinnerung an den eisernen Haken, der in der Wertacher Metzgerei an einem Strick von der Decke hing und den Schlauch, mit dem die Kacheln abgespritzt wurden. O-Ton 21 (Dieter Kraus) Da ist mir aufgefallen, dass der Sebald geschrieben hat, dass er, wenn er auf seinem Schulweg war, an der Metzgerei vorbeigekommen ist und wenn er beim Fenster reingeschaut hat, dann hat er meinen Vater gesehen und natürlich mit dem blutüberströmten Schurz und hat das in Querverbindungen gebracht mit Schwertern usw. Ich hab das meinem Vater mal erzählt, weil er das gar nicht gewusst hat, dass er da drin steht, und ich hab gedacht, vielleicht ist er sogar geehrt, dass er bei dem berühmten Sebald erwähnt wird, aber das Gegenteil war der Fall. Er war dann doch relativ sauer, dass er eben mit solch negativen Sachen in Verbindung gebracht wurde, und er wollte dann auch nichts mehr wissen von dem Buch. O-Ton 22 (E. Jehle) Ich bin ziemlich neutral, ich bin hier nicht aufgewachsen, ich musste mich auch erst ein bisschen einlesen und hab dann von verschiedenen Gruppierungen gehört, ja halt mal! Das war doch ganz anders, wie er das beschreiben hat. Ja gut, das muss man so stehen lassen, es gibt unterschiedliche Meinungen dazu. Autorin Als Bürgermeister setzt man sich nicht in die Nesseln, zumal wenn man, wie Eberhard Jehle, erst vier Jahre im Amt ist und noch dazu ein "Reing'schmeckter". Die einen sind eben für, die anderen gegen Sebald. O-Ton 23 (E. Jehle) Ob er da den einzelnen Wertacher oder die Wertacher selbst denunzieren möchte, glaube ich nicht einmal, sondern ich denke, es ist einfach ein großer Literat, der das mit seinen Augen anders sieht und beschreibt, und ich denke, weil er so eine internationale Anerkennung auch hat, können wir das nur nutzen und ihm den Weg bereiten. Ich habe jetzt auch eine Sebald-Straße im neuen Baugebiet nach ihm benannt - ich denke, er hat's trotzdem verdient. O-Ton 24 (D.Kraus) Seit wir das Museum renoviert haben, gibt's jetzt neuerdings im Museum auch eine Sebald-Ecke. O-Ton 25 (E.Jehle) Wir erwähnen das immer, dass Sebald ein Wertacher war und ein bekannter Sohn Wertachs ist. Stärkeren Bekanntheitsgrad haben letztlich die Gebrüder Kramer mit dem Weißlacker, der in Wertach erfunden wurde. Das ist auch so eine zwiespältige Geschichte. Autorin Die Allgäuer Spezialität, ein Käse mit extremer Geruchsentwicklung, verdankt ihre Existenz einem Zufall. Angeblich vergaßen die Kramer-Brüder einen missratenen Limburger in der Lake und obwohl er zum Himmel stank - der Allgäuer ist sparsam und wirft nichts weg - drehten sie das schmierige Etwas einem vorbeifahrenden Großhändler an. Der Trick funktionierte, und siehe da, in Münchner Bierkellern ist der Käse fast noch berühmter als in der Allgäuer Heimat. Musik Autorin Sophie Willer betreibt mit ihrem Bruder das Eisenwarengeschäft in der Hauptstraße, schräg gegenüber von Sebalds Geburtshaus. Sie kannte und schätzte die Familie Egelhofer-Sebald, sie mochte den Dichter als kleinen Bub. Deshalb empört es sie: O-Ton 26 (S.Willer) Was der alles geschrieben hat, was nicht sein kann. Autorin Eigentlich möchte sie gar nicht mehr über ihn sprechen. O-Ton 27 (S.Willer) Dann hat er geschrieben, er sei nach der Schule die lange Gasse hinaufgelaufen. Er hat ja gar nicht da oben gewohnt. Der hat ja dort drüben gewohnt. Autorin Besonders zornig macht sie die Geschichte des Schigulla, der im Buch Sellaba heißt. O-Ton 28 (S.Willer) Was mich noch am narretsten gemacht hat, der Schigulla hat vom Krieg einen Fuß weggehabt, der hat zwei Buben gehabt, dann hat man eine Bedienung gehabt, die Rosl. Jetzt hat die Rosl von dem Schigulla ein Kind gekriegt. Dann hat er geschrieben, das ist ja kein Wunder, dass der nebennausgangen ist, auf Deutsch gesagt, weil die Frau Schigulla so wüst gewesen ist. Da bin ich ganz entsetzt gewesen, weil das war eine sehr hübsche Frau, die war nicht so schlank, aber hübsch. So ein Zeug schreibt der, da bin ich wieder narret. Das hat's immer schon gegeben, dass man ledige Kinder hatte, aber er braucht nicht schreiben, dass die Frau wüst gewesen ist. Das stört mich. Autorin Den Hügel hinauf steht die Pfarrkirche Sankt Ulrich, in der Sebald auf den Namen Winfried Georg getauft wurde. Den Winfried legte er als zu "germanisch" ab, den Georg, weil sein ungeliebter Vater, ein Wehrmachts- und Bundeswehroffizier, so hieß. Anstelle seines Taufnamens wählte er Max als Rufnamen. Am Ende der hohen Friedhofsmauer: der Heilige Georg. Der durchbohrt, wie schon seit 500 Jahren, mit einem Spieß zuverlässig den zu seinen Füßen liegenden Drachen. Unterhalb des Kirchhofs betreibt Dr. Martha Egger-Feichtinger eine Praxis für Allgemeinmedizin. Sie gründete in den 80er Jahren die Unabhängige Frauengruppe, die bis heute im Gemeinderat mitmischt. Und sie ist die Drahtzieherin des Sebaldweges. O-Ton 29 (Egger-Feichtinger) Der Sebald ist tödlich verunglückt und dann hat sich an die Gemeinde die Frage gestellt, was tut man da, wie erinnert man an den doch jetzt berühmten Sohn. Dann ist die Mutter eines Tages gekommen und seine beiden Schwestern und waren in der Gemeinde. Ich war in der Zeit dritte Bürgermeisterin. Dann hat die Mutter gesagt, der Bub hätt niemals ein Denkmal, das will der gar nicht, sondern höchstens eine Straße, dass man nach ihm benennt, das könnte sie sich vorstellen. Dann war meine spontane Idee, weil das immer schon im Kopf war - das ist einfach der Sebald-Weg, wenn man den Weg kennt und die Beschreibung - das liegt nahe, dann war meine Idee, könnte man den Weg doch als Sebald-Weg auch bezeichnen. Autorin Seit 30 Jahren praktiziert die gebürtige Wertacherin am Ort. Keiner, den sie nicht kennt. Fünf Jahre lang hat sie zähe Überzeugungsarbeit geleistet, EU-Gelder und private Sponsoren aufgetrieben. Und schließlich - trotz anfangs harten Widerstands - den Gedenkweg durchgeboxt. O-Ton 30 (E.-Feichtinger) Im Gemeinderat damals, die hat es schon gereut, das Geld, das man da eingesetzt hat. Das war also nicht so ganz, dass jeder gesagt hat, wunderbar, da tun wir noch mal einen Fünfhunderter drauf, sondern da habe ich schon kämpfen müssen, obwohl das für die Gemeinde nicht soviel gekostet hat. Autorin Warum die Dorfbewohner auf den Sebald und sein Buch so böse waren, meint sie genau zu wissen O-Ton 31 (E.-Feichtinger) Die Leut können nicht unterscheiden zwischen einer literarischen Figur und einer realen Figur, das ist das Problem. Da hat es einen gegeben, den Berger Lucas, der ist erst vor 5 Jahren gestorben. Der wird beschrieben als mit einer Krallenhand. Das hat die Frau als Diskriminierung empfunden und auch z.B. die Metzgerei Kraus. Da ist also - der Sebald assoziiert ja auch, das ist seine spezielle Erzähltechnik: Ein Kind schaut halt bei einem Metzger beim Fenster hinein, das haben wir auch gemacht, das ist normal, weil eine gewisse Faszination da ist. Die Leut haben das Gefühl, er wird unmittelbar mit der SS, mit der Festung gleichgesetzt und mit den Foltermethoden. Die Leut sind nicht geübt, das zu unterscheiden. Und viele solche Dinge hat er, zum Teil historische Orte mit fiktiven Namen verbunden oder reale Namen mit fiktiven Begebenheiten, das haben die Leut ihm sehr übel genommen. Viele haben gemeint, das ist so eine Art Heimatroman. Aber es ist ja an sich keine Ortsbeschreibung, sonst hätte er Wertach geschrieben, darum hat er W. geschrieben. Autorin: Man spürt, Frau Egger-Feichtinger ist Sebald-Kennerin und ein großer Fan. Sie versteht auch, warum er Mitte der 60er Jahre das Allgäu schließlich verließ. Schließlich ist sie selbst auch für eine Weile aus ihrem Dorf weggezogen, bis sie es doch vermisste, die Sprache, die Mentalität. Einmal hat sie W. G. Sebald persönlich erlebt: O-Ton 32 (E.-Feichtinger) In Oberstdorf, da hat er eine Lesung aus den Ringen des Saturn gehabt, da habe ich mir gedacht, das ist einfach ein Allgäuer, auf und ab. Der hat dann auch im Dialekt geredet, da oben und - er ist ja auch auf eine Allgäuer Art witzig, nicht rheinisch, sondern ein bisschen vertrackt, bissle ironisch, bissle leise, schon ein Allgäuer eigentlich. Oder so Personenbeschreibungen, in den Ausgewanderten beispielsweise, da beschreibt er einen Händler in Sonthofen, der etwas verkauft. Das ist auch ganz typisch allgäuerisch: Er lebt eigentlich von der Kundschaft, aber er hat's saumäßig dick, wenn einer kommt und was will von ihm, solche Dinge, mir ist das vertraut. Autorin Nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt steht ein alter Bauernhof in typisch Allgäuer Bauweise: Wohnhaus, Stall und Stadel liegen hintereinander in einer Front. Geranien blühen rot-weiß vom umlaufenden Holzbalkon. Beste Wertacher Hanglage. Der Ort zu Füßen, zur Linken der Grüntensee. Nebenan bekommt ein Neubau seinen Dachstuhl. Rosl Blank empfängt ihren Besuch auf der Terrasse. Die Bäuerin ging mit Sebald in die Volksschule. Damals hieß er noch Winfried. Nicht W-Punkt, G-Punkt. O-Ton 33 (Rosi Blenk) Der Winfried, den hat man so wenig beachtet wie andre auch, früher hätte man gesagt, der ist mit dem großen Haufen gesprungen. Da hat kein Mensch gedacht, dass das einmal ein Literat wird. Der ist weder aufgefallen, durch eine besondere Klugheit, der muss sich später erst entwickelt haben. O-Ton 34 (R. Blenk) Man hat ja gleich gar nicht gewusst, dass der ein Schriftsteller geworden ist. Und wie das in der Zeitung gekommen ist, habe ich jeden Morgen die Fortsetzung ausgeschnitten, die ist zwar ganz gelb, aber ich habe sie noch. Autorin Ein bisschen stolz sind in Wertach schon manche auf ihn. Auf "ihren" Literaten, der um ein Haar den Nobelpreis bekommen hätte. O-Ton 35 (R. Blenk) Ich habe auch schon Gäste gehabt, die sind etxra wegen dem gekommen... Sonst, der Großteil der Kurgäste interessiert sich nicht, die wandern, lesen das, aber tun sich da nicht vertiefen in die Literatur, aber es gibt welche. Autorin Die lebenskluge Bäuerin nimmt es, wie es kommt. Und wenn's lustig ist, verzeiht sie gern. Selbst das, was der Winfried in seinem Buch über die "schiechen" Allgäuer Fehlen gesagt hat, die nicht ganz so schönen Mädchen in Wertach. O-Ton 36 (R. Blenk) Die hat er nicht in so guter Erinnerung scheint's. Oder nicht in so hübscher Erinnerung. 1