COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Die Macht der Experten Gutachter, Sachverständige, Berater & Co - begehrt und zwiespältig Susanne Billig und Petra Geist Geräusch 1 "Bitte erheben Sie sich" (O-Ton aus einem Gericht) O-Ton 1 Klaus Marxen Kein Richter kann aus dem Beratungszimmer rausgehen und sagen, ich weiß es nicht. Es muss zu einer Entscheidung kommen. Schulterzucken als Ergebnis eines Prozesses kann es nicht geben. Aufgeben darf er nicht (lacht), würfeln darf er nicht - also es bleibt nichts anderes übrig, als dass er sich die allergrößten Mühe gibt, notfalls, wenn man zwei sich widersprechende Gutachten hat, notfalls muss dann ein sogenanntes Ober-Gutachten herbei. Geräusch 2 "Das Urteil ergeht im Namen des Volkes" (Anmerkung siehe voriges Geräusch) Musik 1 Treibende elektronische Klänge | Musikalisches Hauptthema AUTORIN 1 Hunderttausende von Prozessen werden jährlich in Deutschland geführt, viele davon verhandeln hoch komplexe Sachverhalte. Da geht es um riesige Bauvorhaben wie Großflughäfen oder Industrieanlagen. Da geht es um das Innenleben von Gewalttätern, den Grad ihrer Impulsivität oder ihrer Persönlichkeitsstörung und die Schuldfähigkeit. Da landen Fragen des Medizinrechts vor Gericht, in allen wissenschaftlichen Einzelheiten. Damit Richter sich überhaupt ein Urteil bilden könnten, beauftragen sie Gutachter, ihre Expertise beizusteuern. Als Gehilfen des Richters sollen sie dessen Wissen in Spezialgebiete hinein erweitern. Geräusch 3 Collage "Wissensgesellschaft" AUTORIN 2 Die moderne Wissensgesellschaft. An Spezialgebieten herrscht kein Mangel. Explosionsartig vermehren sich die Details, über welche die Forschung Kenntnis hat. Parallel steigt, in allen Lebensbereichen, der Bedarf an Know-how. Wissen gilt, mehr als je zuvor, als Leitlinie menschlichen Handelns. Klaus Marxen hat lange als Richter gearbeitet. Heute lehrt er als Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsphilosopie an der Humboldt-Universität zu Berlin. O-Ton 2 Klaus Marxen Einmal ist sicherlich festzustellen, dass es gegenüber früher sehr viel häufiger vorkommt, dass Sachverständige eingeschaltet werden. Zustimmen kann man der Analyse, dass immer wieder die Gefahr besteht, dass der Richter ungeprüft Gutachten hinnimmt. Er darf es nicht. Die Entscheidung muss der Richter selbst fällen. Das Urteil muss von ihm stammen. Der Sachverständige soll, wie gesagt, ihm nur helfen. AUTORIN 3 Doch es liegt in der Natur von Spezialgebieten, dass sie schwer zu durchschauen sind. Und so steigt mit dem Bedarf an Expertise auch die Abhängigkeit der Richter von den Gutachtern. Das letzte Wort hat also der Richter und er ist gehalten, seine Gutachter so lange zu befragen, bis er die Materie durchschaut und sich sein Urteil bilden kann. Kritisch beurteilt Reiner Geulen die Situation. Der Fachanwalt für Verwaltungsrecht zieht im Auftrag von Bürgerinitiativen und Kommunen gegen umstrittene Großprojekte vor Gericht. O-Ton 3 Reiner Geulen Wir haben sehr wohl die Erfahrung gemacht, dass in Verfahren, wo es um großtechnische Anlagen ging, wovon Juristen nun ganz wenig nur verstehen - zum Beispiel die Sicherheit eines Atomkraftwerks oder die Auswirkungen von Schwefeldioxid-Emissionen auf den Wald -, dass in solchen Verfahren die Sachverständigen eine übermäßig starke Bedeutung und ein großes Gewicht bei der Entscheidungsfindung hatten. Geräusch 4 Weiterführen: Collage "Wissensgesellschaft" Musik 2 Collage versenken in: Helle elektronische Klänge AUTORIN 4 Gerichte beauftragen ihn. Unternehmen, Politiker, Medien bitten um seine Dienste. Wer ist dieser Experte, dessen Kenntnisse so unverzichtbar scheinen? Und was macht seine Aussagen so unwiderstehlich? Im Vergleich zur Schar der Laien ist der Experte in eine komplexe Welt der Details und Fachspezifika eingeweiht. Gleichzeitig soll er eben diese Komplexität auch wieder reduzieren. Reiner Grundmann von der Aston Universität in Birmingham beschäftigt sich mit der soziologischen Betrachtung der Expertise. Gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Nico Stehr publizierte er das Buch "Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern". O-Ton 4 Reiner Grundmann Das machen Experten eben, die durchhauen den ganzen gordischen Knoten und sagen, vergessen wir mal dieses und jenes, es geht nur darum, was hier getan werden soll, und dafür gibt es diese und jene Gründe, genau das zu tun. Und die Gesellschaft kann nicht warten oder will nicht warten, die will was entscheiden und will dafür Wissen präsentiert haben als Handlungsgrundlage. AUTORIN 5 Der Experte - das zumindest muss er glaubhaft versichern können - besitzt das nötige Know-how, aus der endlosen Fülle von Informationen, die den Laien erschlagen, die wichtigen Elemente herauszufischen, in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und im Idealfall die eine Entscheidungsoption aufzuzeigen. Der Auftraggeber kann diese Entscheidungsoption dann in die Tat umsetzen. Hier wird die zweite große Aufgabe des Experten sichtbar: die Legitimation von Entscheidungen. In einer Gesellschaft, die sich als rational und wissensbasiert begreift, ist "Wissen" der wichtigste Wert, der bei jeder Entscheidung ins Feld geführt werden muss. Gewünscht sind Entscheidungen nach Lage der Fakten. Der Experte liefert sie. O-Ton 5 Reiner Grundmann Einerseits will die Klientel eine klare Auskunft, sie möchte eine Antwort haben, man möchte gerne eine Option begründet bekommen. Präsident Truman in den USA hat mal gesagt, er möchte einen "one armed economist", also einen Wirtschaftswissenschaftler oder Berater, der nur einen Arm hat, weil die Ökonomen ihn immer gesagt haben, "on the one hand and on the other hand". Musik 3 Seltsame elektronische Klänge AUTORIN 6 Wissenschaft aber ist ein weites Feld. Pluralität, Methodenvielfalt, konkurrierendes Wissen kennzeichnen sie. Das macht die Expertise so paradox: Hier braucht man Experten, die sagen können, wie es wirklich ist. Dort tauchen viele Experten auf, mit vielen Stimmen und vielen Theorien. O-Ton 6 Reiner Grundmann Insofern führt diese Situation dazu, dass wir Expertenstreit bekommen, der zum Zynismus beim Publikum führen kann, wenn das Publikum sagt: Die Experten können sich ja selbst nicht einigen - und wenn das so ist, dann wird unsere Erwartung enttäuscht; also Autoritätsverlust der Experten ist eine Möglichkeit in dieser Konstellation, in der man da ist. AUTORIN 7 Anstelle der gewünschten Legitimation und Sicherheit liefern Experten oftmals ein umstrittenes Wissen. Auf diese Weise kollidieren sie in der öffentlichen Wahrnehmung mit einem starken Mythos: Dem Wissenschaftler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der zuverlässig wie ein Fels in der Brandung absolutes Wissen präsentiert, durch Beweise und Experimente unumstößlich gemacht. Von der Idee, Wissenschaft könne "Wahrheit" produzieren, hat sich die Wissenschaft in weiten Teilen selbst längst verabschiedet. Das mythische Bild wirkt dennoch nach. O-Ton 7 Reiner Grundmann Seit es die Moderne gibt mit diesen rationalistischen Annahmen, dass wir die Welt erklären und verstehen können, dass wir begründete Meinungen haben, also Wissen, wird man davon auch nicht loskommen. Es gibt deshalb immer noch die Erwartung, dass Experten uns aufklären können und wissen, wie es wirklich ist. Musik 4 Irritierende Klänge Die Krise der Expertise. In den 1980er Jahren wird die Selbstgewissheit von Wissenschaftlern und Experten gleich auf mehreren zentralen Wissenschaftsfeldern massiv erschüttert. Die Katastrophe von Tschernobyl zerstört den Glauben an die Beherrschbarkeit der Atomenergie. Oben am Himmel reißt das Ozonloch auf. Fünf Prozent Ausdünnung hatte man errechnet. Die Realität schockt mit über fünfzig Prozent. Den Forschern selbst kommen tiefe Zweifel an der Prognosefähigkeit und Exaktheit ihrer wissenschaftlichen Modelle. Und eine neue tödliche Krankheit breitet sich aus - die Immunschwäche Aids. Junge Menschen sterben zu tausenden aus völlig unbekannten Gründen. Mit einem Mal rückt das Nichtwissen in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Die Biologin und Humanökologin Karen Kastenhofer vom Institut für Technikfolgen-Abschätzung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat sich in einem interdisziplinären Forschungsprojekt intensiv mit dem Thema "Nichtwissenskulturen" beschäftigt: O-Ton 8 Karen Kastenhofer Das Thema des Nichtwissens ist deshalb auch spannend, weil es der Wissenschaft so ein bisschen den Spiegel vorhält oder unserer Experten-Gesellschaft so ein bisschen den Spiegel vorhält und zeigt, dass es immer auch eine Rückseite von etwas gibt. Also, Wissenschaft und Wissenschaftsproduktion ist immer ein Operieren an der Grenze von Noch-nicht-Wissen, zumindest von Noch- nicht-Wissen und von Wissen. Musik 5 Treibende Klänge 2 AUTORIN 8 Auch das Nichtwissen ist ein weites Feld. Da gibt es das Noch-nicht-Wissen, begrenzt und eindeutig identifizierbar, aber auch das unüberwindliche prinzipielle Nicht-wissen-Können. Es gibt das potentiell gefährliche, unerkannte Nichtwissen, das so genannte "unknown unknown", wenn man nicht einmal weiß, dass man etwas nicht weiß. Wissenschaft, so dämmert es den Wissenschaftlern, produziert mit dem Wissen zugleich das Nichtwissen, das Ungewisse und blinde Flecken. Für diesen Sachverhalt wurde sogar ein wissenschaftlicher Ausdruck geprägt: "science-based ignorance" - "wissenschaftsbasierte Unkenntnis". O-Ton 9 Karen Kastenhofer In statistischen Fächern, in der Epidemiologie, gibt es einen eigenen Begrifflichkeits-Apparat, um Nichtwissen zu konkretisieren. Also man spricht hier von Wahrscheinlichkeiten, von "odds ratios", von "prevalues" - das sind alles Begriffe, die überhaupt nur dazu da sind, das Nicht-Wissen zu quantifizieren, zu spezifizieren und irgendwie in einen Ausdruck zu bringen. AUTORIN 9 Längst nicht alle Wissenschaftszweige sind an den ungewissen Anteilen ihrer Disziplin so offensiv interessiert wie die Statistik oder die Epidemiologie. Je nach Fachrichtung haben sich unterschiedliche Kulturen des Nichtwissens etabliert. Wenn sich öffentlich Verwirrung einstellt, weil Experten einander widersprechen, dann beruht dies häufig auf dem Zusammenprall unterschiedlicher Nichtwissenskulturen. Das lässt sich an kontroversen Umweltthemen gut belegen, beispielsweise der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen: O-Ton 10 Karen Kastenhofer Es ist bereits im Beginn der Diskussion um die Biotechnologie der Fall gewesen, dass es vor allem Molekularbiologen waren, die von Beginn an eher der Meinung waren, dass es hier keine Risiken geben würde, dass hier keine Schäden auftreten würden, und wenn es denn Schäden gebe, dass man die leicht kontrollieren könnte. AUTORIN 10 Und es waren eher Ökologen, die auf verstecktes Nichtwissen aufmerksam machten, Klärungs- und Forschungsbedarf anmahnten und vor den Risiken gentechnisch veränderter Pflanzen warnten. Der Laie wundert sich: Wie können ausgewiesene Experten dieselbe Technologie völlig gegensätzlich bewerten? O-Ton 11 Karen Kastenhofer Und hier hat sich eben tatsächlich gezeigt, dass diese unterschiedlichen Fachgruppen einen unterschiedlichen Umgang mit Wissen und Nichtwissen haben - das betrifft die Frage, ab wann ist denn Wissen ein sicheres Wissen? Wie gehe ich mit Nichtwissen um? Was sind meine räumlichen und zeitlichen Horizonte, die ich überhaupt betrachte, also wo suche ich überhaupt nach Wissen und Evidenz und wo kann ich denn Nicht-Wissen entdecken? Versuche ich meine Systeme direkt in ihrem Kontext anzuschauen... AUTORIN 11 ... wie es die Ökologen machen, die draußen in der Natur hochkomplexe Ökosysteme immer nur bruchstückhaft begreifen. Ökosysteme lassen sich nicht auf einfache Modelle reduzieren, ohne dabei wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstandes zu verlieren. Molekularbiologen dagegen tüfteln im Labor, wo sie stark kontrollierte Systeme ersinnen und erleben. Entsprechend zeigen sie die Neigung, ihre Technologien grundsätzlich und in jedem Kontext für kontrollierbar zu halten. O-Ton 12 Karen Kastenhofer Da kann man sehr kontrollierte, kontrollierbare Experimentalsysteme bauen, die dann wirklich zulassen, eine relativ sichere Wissens-Sorte über einen de- kontextualisierten Gegenstand zu produzieren (lacht). AUTORIN 12 Auch die Molekularbiologie produziert handfestes Wissen und beschreibt ihre Experimentalsysteme sehr präzise. Doch wie relevant ist solches Wissen, wenn man es in andere Kontexte verfrachtet? O-Ton 13 Karen Kastenhofer Diese Problemstellung tritt ja überhaupt erst auf, wenn wir diesen Transfer von einer disziplinären Nische in eine andere disziplinäre Nische oder in die Gesellschaft haben. Und da können Ökologen und Molekularbiologen darüber streiten, ob das jeweils eigene Experimentalsystem oder Wissenschaftssystem besser transferierbar ist in den gesellschaftlichen Kontext oder nicht. Das ist eben dann dieser interdisziplinäre Streit, zu dem man kommt, wo es nicht mehr darum geht, ob der einzelne Wissenschaftler an sich gut oder schlecht ist, sondern wo es darum geht, ob die einzelnen wissenschaftlichen Ergebnisse dazu geeignet sind, in irgendeinen anderen Kontext transferiert so werden, und was man dabei beachten muss. AUTORIN 13 Je komplexer die Realität ist, die eine Berufsgruppe erlebt, umso grundsätzlichere und größere Fragen geraten in ihr Blickfeld. Das konnte Karen Kastenhofer an praktisch arbeitenden Ärztinnen und Ärzten beobachten, die in ihre Beurteilung der Grünen Gentechnik noch weiter greifende Aspekte einfließen lassen: O-Ton 14 Karen Kastenhofer Die stellen dann ganz andere Entwicklungen infrage, wie zum Beispiel die Industrialisierung der Landwirtschaft, den Bezug der heutigen Menschen zur Ernährung, den Bezug oder Definition von Krankheit und Gesundheit. Da geht es viel mehr um Weltbilder auch, um Wertezuordnungen, um Lebensweisen, und das lässt sich wiederum erklären aus dem Kontext, in dem praktische Ärztinnen arbeiten, indem sie eben direkt mit konkreten einzelnen Personen zu tun haben und die Komplexität deren Lebenszusammenhänge auch wirklich als relevante Aspekte ihrer Arbeit erleben können. Musik 6 Treibende Klänge | Musikalisches Hauptthema AUTORIN 14 Fragen ohne Antwort, Experimente, die ins Nichts führen, wackelige Hypothesen - sie bestimmen die tägliche Routine in jedem Forschungszweig. Intern gehört es sowohl zum guten Handwerk wie zur Diskussionskultur, über die weißen Flecken auf den Landkarten des Wissens intensiv zu debattieren. Zum Experten wird der Forscher aber erst, wenn man ihn öffentlich als solchen nachfragt. Und beim Schritt hinaus aus Laboren und internen Zirkeln findet eine Verwandlung statt. O-Ton 15 Karen Kastenhofer Sie begreifen sich dann als Expertinnen eher als verantwortlich dafür, Wissen zu präsentieren und Sicherheit zu produzieren, als vielleicht Nichtwissen zu präsentieren und damit auch Unsicherheiten zu produzieren. Da ist ein Rollen-Switch zwischen dem Forscher und dem Experten in der Öffentlichkeit. Ein Experte, der nichts mehr sicher behauptet, wird in der Öffentlichkeit, in der Politik nicht mehr nachgefragt werden. Der wird auch medial nicht nachgefragt werden. Kein Medium, keine Zeitschrift ist daran interessiert, Halb- Meinungen, Ideen, Vermutungen eines Wissenschaftlers zu publizieren. Geräusch 5 Collage "Wissensgesellschaft" AUTORIN 15 Die Auftraggeber von Beratern, Gutachtern, Experten, Sachverständigen sind nun genau mit dieser Situation konfrontiert: einer Pluralität des Wissens und einer Vielzahl an Umgangsweisen mit dem, was ein Wissenschaftler als öffentlich auftretender Experte nicht weiß, nicht wissen kann, nicht wissen will oder an Nichtwissen öffentlich nicht sichtbar machen möchte. Der Jurist Klaus Marxen hat im Gerichtssaal erlebt, was das zum Beispiel für einen Richter im Umgang mit seinen Gutachtern bedeuten kann: O-Ton 16 Klaus Marxen Zunächst einmal hofft der Richter natürlich auf ehrliche Wissenschaftler, die genau dieses auch zugestehen - wo ihre Grenzen sind. Das muss der Richter auch versuchen herauszubekommen: Wo sind die Grenzen und welche Aussagen sind verlässliche und welche Aussagen sind unsicher? AUTORIN 16 Es gehört zur richterlichen Pflicht, so lange nachzufragen, bis er selbst die Materie - auch die wissenschaftliche Methodik, die dem Gutachten zugrunde liegt - genug begriffen zu haben meint, um von der Rechtmäßigkeit seines Urteils später auch subjektiv überzeugt sein zu können. Doch wie soll er erkennen, wo Zweifel an der Verlässlichkeit eines Gutachtens angebracht sind? Werden angehende Juristen darauf vorbereitet? O-Ton 17 Klaus Marxen Na ja, das ist eine unangenehme Frage, im Studium wird man darauf überhaupt nicht vorbereitet, das Studium konzentriert sich auf Rechtsanwendungsfragen. In der Referendarszeit, also in der zweiten Ausbildungsphase, wird das auch nicht unbedingt gezielt geschult, man bekommt da einiges mit. Es ist daher der Jurist selbst in der jeweiligen Situation, der sich da fachlich einarbeiten muss. AUTORIN 17 So sucht der Richter, auf sich selbst gestellt, nach relativen Sicherheiten - nicht anders als die Experten. Musik 7 Seltsame elektronische Klänge AUTORIN 18 Denn die Grenzen des sicheren Wissens verschieben sich unablässig. Explodierende Fakten-Kenntnis, verdrängte oder offen zutage tretende Landschaften des Nichtwissens, die Wiederentdeckung alten Wissens, unterschiedliche Kulturen im Umgang mit Wissensdefiziten in den verschiedenen Fachdisziplinen - das ist die Gemengelage, in denen sich solche Verschiebungsprozesse vollziehen. Paradigmenwechsel geschehen selten auf einen Schlag - sie bahnen sich über viele Forschungsprojekte und Debatten hinweg an. O-Ton 18 Karen Kastenhofer Man kann bei Beispielfällen wie der Grünen Gentechnik, aber noch besser dem Rauchen schön nachvollziehen, wie über die Zeit die anfänglichen Risiko-Hypothesen langsam zu kollektiv angenommenen Risiko-Evidenzen gerinnen. Es gibt aber beim Nachweis des Zusammenhangs von Lungenkrebs und Rauchen nicht die Studie, die genau diesen Kipp-Punkt markiert. Das ist ein gradueller Prozess. Das ist so wie der Unterschied zwischen dem Sandkorn und einem Sandhaufen - es gibt nicht den Punkt, wo es als bewiesen gilt. AUTORIN 19 Mit der Komplexität des Wissens steigt nicht nur die Zahl der Experten - auch die Zahl der Laien nimmt zu. Schließlich müssen sie den notwendigen Gegenbegriff verkörpern. Sind Laien ausschließlich Konsumenten des Expertenwissens? Oder entfalten sie auch einen Einfluss in Fachwelten hinein? Und welche Rolle kommt ihnen zu, wenn Experten versagen? Das Beispiel Aids erhellt diese Dynamik. Professor Rolf Rosenbrock, Leiter der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, war Mitglied der Enquetekommission Aids des Deutschen Bundestages. Bevor Aids um sich griff, galt für die Gesundheitsexperten das Problem der Infektionskrankheiten dank Antibiotika als gelöst. O-Ton 19 Rolf Rosenbrock Das stimmte alles plötzlich gar nicht mehr. Das heißt, wir standen plötzlich vor einem Public-Health-Problem: Wie organisieren wir die Prävention, wenn wir nicht wissen, wie das Virus übertragen wird? Und wir standen vor einem medizinischen Problem, was ist das überhaupt, das HIV- Virus? Und das war die Ausgangslage etwa in der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Musik 8 Ernste elektronische Klänge AUTORIN 20 Versagen und Überforderung der Public-Health-Experten kennzeichneten zu Beginn der Epidemie die Situation. In den USA wollte die Politik die angebliche "Schwulenkrankheit" durch schlichtes Ignorieren aus der Welt schaffen. In vielen anderen Ländern, darunter auch Deutschland, schlugen Public-Health-Experten der alten Schule Quarantäne und massive Einschränkung von Bürgerrechten vor. Verwirrend kam hinzu, dass just zu diesem Zeitpunkt Medizinhistoriker beweisen konnten: Die Quarantäne alten Zuschnitts war niemals wirksam gewesen. Währenddessen griff die Immunschwäche weiter um sich, Menschen starben - was sollte man tun? In diese Lücke stießen die Betroffenen selbst vor. Ihre Prämissen lauteten simpel: O-Ton 20 Rolf Rosenbrock Okay, wir wissen nicht alles, aber wir wissen zum Beispiel, dass es ganz klar ist, dass das Virus über Blutkontakte und eben Kontakte mit anderen Körperflüssigkeiten übertragen wird, und wir formulieren eine pragmatische, auf Plausibilität - letztlich nicht auf Wissen! - beruhende Strategie, um, solange wir nicht alles wissen, wenigstens einen maximalen präventiven Erfolg zu erzielen; sowohl in den USA wie in Europa haben das nicht staatliche Stellen und nicht die Medizin zuerst gemacht, sondern zuerst die Betroffenen-Gruppen. Musik 9 Treibende Klänge | Musikalisches Hauptthema AUTORIN 21 Handeln auf Basis des best-verfügbaren Wissens. Ein solches Wissen ist nur dann vollständig, wenn es seine eigenen Lücken sieht. Wenn es weiß, wann es auf dem dünnen Eis von Hypothesen wandelt. Und wenn es gleichzeitig, obgleich überzeugende Studien fehlen, Plausibilitäten erkennt. Pragmatisch und experimentell erfanden die Aids-Aktivisten die simplen und bis heute noch gültigen Leitlinien des Safer Sex. Sie hoben damit auch eine neue Schule von Public Health mit aus der Taufe: Heute wird sie an Universitäten gelehrt und setzt auf Aufklärung, Prävention und Dialog zwischen Betroffenen, Politik und Forschung. Musik kurz frei und enden lassen AUTORIN 22 Ein zweites Beispiel für die Dynamik zwischen Laien- und Expertenwissen hat Rechtsanwalt Reiner Geulen hautnah in deutschen Gerichten erlebt und mit vorangetrieben. Als er die ersten Prozesse gegen Atommeiler führte, galt die Anti-Atomkraft-Bewegung in der bürgerlichen Öffentlichkeit noch als Ansammlung von Öko-Utopisten. O-Ton 21 Reiner Geulen Noch in den siebziger Jahren oder auch in den achtziger Jahren wurden Gutachter, die gesagt haben, "das ist aber sehr gefährlich, da kann ein Unfall passieren" - also vor Tschernobyl, das war 1986, wurde ein solcher Gutachter belächelt als Dilettant und als jemand, der keine Ahnung hat. AUTORIN 23 Auch hier kippte nach Tschernobyl allmählich die Stimmung. Skeptische bis ablehnende Expertenmeinungen und Urteile fanden Eingang in die Prozesse. So erwiesen sich Richter wie Experten - im Idealbild frei und neutral über den Dingen schwebend - als durchaus sensibel für die breiten Meinungsströmungen der Gesellschaft. O-Ton 22 Reiner Geulen Das kritische Bewusstsein, das zum Beispiel gegenüber der Atomtechnologie oder gegenüber den Treibhausgasen oder gegenüber der Klimaveränderungen, also den Kohlekraftwerken, entstanden ist, das hat ja dann doch langsam sich durchgesetzt und auch zu den Richtern. Ich würde auch sagen, dass die Gerichte durchaus nicht zu den Langsamsten gehören, bei diesen Lernprozessen. AUTORIN 24 Der streitbare Rechtsanwalt zeigt es deutlich: Die normativen Konflikte der Gesellschaft sitzen mit im Gerichtssaal - und eben nicht nur Faktenfragen, die von Experten im Alleingang geklärt werden könnten. Dazu kommt ein weiterer Aspekt, darauf weist der Strafrechtler Klaus Marxen hin: O-Ton 23 Klaus Marxen Gutachten entstehen nicht von alleine, sondern es gibt Auftraggeber (lacht), die ja auch häufig Geld investieren. Auch da haben wir ein großes Problemfeld! AUTORIN 25 Der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nennt die Idee des unabhängigen Experten ganz unverblümt eine "romantische Illusion". Schon im Normalbetrieb ist Wissenschaft nicht neutral. Da gibt es die Eliten der besonders prestigeträchtigen Institutionen und Labore, die sich exklusiv miteinander vernetzen. Ihre Führungspersönlichkeiten kontrollieren Ressourcen und Publikationen und entscheiden über zukünftige Forschungsthemen - sowie darüber, was unter den Tisch fällt. Auch der öffentlich auftretende Experte bringt an Wissen nur mit, was in seiner Welt für wissenswert erachtet wird. O-Ton 24 Reiner Geulen Nehmen Sie mal irgendeinen Professor für Kernphysik. Der ist jetzt vielleicht achtundfünfzig Jahre alt, das ist ein Beispiel von mir. Was hat er gemacht sein Leben? Der hat studiert und dann hat er wo gearbeitet? Natürlich bei Unternehmen, die kernphysikalische Anlagen betreiben. Wo soll er auch sonst arbeiten? Das ist eben so, dass die ein Monopol haben auf diese Tätigkeiten. Man kann auch nicht Raumfahrtwissenschaft betreiben woanders als da, wo Raumfahrt gemacht wird, nämlich in Cape Canaveral oder auch in Guyana oder weiß ich wo, aber man kann das nicht in einer Bürgerinitiative machen - die hat wirklich kein Geld, um eine Rakete zu bauen. AUTORIN 26 Wer außer den Insider-Kreisen der Forschung kann noch mitreden bei Fachdebatten? Wer kann einem Professor, der als Gutachter vor Gericht auftritt, auf seinem ureigensten Gebiet eine tragfähige Expertise entgegensetzen? Rechtsanwalt Reiner Geulen gewann seine Prozesse gegen umstrittene Großanlagen nur durch geschickte Schachzüge. Ihm war klar: Kein Sachverständiger kann den Physikern und Technikern das Wasser reichen, die von den Betreiberfirmen in den Gerichtssaal entsendet werden. O-Ton 25 Reiner Geulen Die Fälle, die wir gewonnen haben, sind nicht wenige gewesen, zum Beispiel das Atomkraftwerk Mühlheim- Kärlich, das in der Vulkaneifel auf einem Vulkan thront, erloschen natürlich, aber mit großen geologischen Problemen und Statikschwierigkeiten errichtet worden ist - da haben Gutachter eine große Rolle gespielt. Das waren aber witzigerweise Vulkanologen und Geologen und letztlich keine Kerntechniker, die da mit die Entscheidung verursacht haben. Musik 10 Treibende Klänge | Musikalisches Hauptthema (bis zum Ende laufen lassen, leiser unter O-Tönen) AUTORIN 27 Die Achillesferse des Experten besteht genau darin: Experte zu sein. Was ihm fehlt, ist das vernetzte Wissen, der breite Überblick. Ein Atomkraftwerk als solches mag solide konstruiert sein - auf welchem Untergrund es errichtet wird und an welcher Tsunami-gefährdeten Küste, spielt aber auch eine Rolle. In komplexen Situationen zeigen sich Wissenschaftler viel eher überfordert als Laien, haben Wissenssoziologen in Studien herausgefunden. Denn die wissenschaftliche Ausbildung ist auf eine Klarheit der Fragen und Methoden ausgerichtet, die im realen Leben nicht existiert. Dagegen haben Politiker und Laien viel mehr Übung darin, sich in unsicheren Situationen zurechtzufinden. Unsicherheit aber ist der Hintergrund der meisten Entscheidungen in der Politik. Und oft stehen hohe und ihrerseits komplexe Güter dabei auf dem Spiel - Gesundheit, gesellschaftlicher Friede, Umweltschutz, Gerechtigkeit. In solchen Situationen werden Experten schwach. Sie können, in einer komplexen Welt, nur eine Stimme neben anderen sein. O-Ton 26 Reiner Geulen Aber das ist auch richtig so, man kann ja nicht die Politik oder die Gestaltung einer Gesellschaft den Professoren überlassen. Und jemand muss es dann auch mal entscheiden. Und man kann es auch. Man kann den Kernpunkt der Probleme - nämlich ist das sicher oder ist das nicht sicher, welche Auswirkungen das hat - kann man nachvollziehen. O-Ton 27 Karen Kastenhofer Entscheidungen brauchen auch Motive, die brauchen auch eine politische Einstellung, gewisse Interessenslagen, gewisse Wertigkeiten, gewisse Kulturen. Also da fließt immer, auch wenn man es nicht möchte, immer mehr ein als bloß das Wissen. O-Ton 28 Rolf Rosenbrock Als Wissenschaftler weiß ich, dass kein Wissen endgültig ist, also der gute Sokrates, "ich weiß, dass ich nichts weiß", heißt ja: Wissen ist kein fertiges Wissen, das ist immer vorläufiges und weiter entwicklungsfähiges, das ist der Stand des Wissens heute - und der Stand des Wissens morgen kann ein anderer sein. Musikende Die Autorinnen haben hier ein Geräusch, aber wenn die Regie das im Archiv in besserer Soundqualität findet, wäre es super. Autorinnen schlagen vor und bringen mit: Ricardo Villalobos, "Re: ECM", CD 1, Track 2, "Recat" (Bitte an die Regie: Alternativ-Musiken bitte auch mitbringen, damit wir in der Produktion eine Auswahl haben!) Autorinnen bringen die Collage mit, Experten-Stimmen in schneller Folge ineinander geschnitten Autorinnen schlagen vor und bringen mit: Conrad Schnitzler, "Electrocon" Autorinnen schlagen vor und bringen mit: Villalobos, CD "Re: ECM", Track 3, einsetzen evt. bei 2:03 min Autorinnen schlagen vor und bringen mit: Villalobos, CD "Re: ECM", Track 2 Ricardo Villalobos, "Re: ECM", CD 1, Track 2, "Recat" ab 2.28 Autorinnen bringen die Collage mit, Experten-Stimmen in schneller Folge ineinander geschnitten Wie oben, bitte aus dem Archiv besorgen: Jan Jelinek, CD Kosmischer Pitch, Track 1, "Im Diskodickicht" Autorinnen schlagen vor und bringen mit: Fennesz, CD "Venice", Track 9, "The Point Of It All", ab ca. 23 sec bis 1.12 Ricardo Villalobos, "Re: ECM", CD 1, Track 2, "Recat" ab 2.28 Ricardo Villalobos, "Re: ECM", CD 1, Track 2, "Recat" ab 2.28 1 von 19