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REGIE Kennmusik TAKE OPENER 3: Maike Ossenbrüggen, Verein Söl'ring Foriinning MD 4, 027, 01:32 Plötzlich hat man begriffen, dass man die Insel verteidigen muss - dass sie gefährdet ist, weil sie so schön ist. ... (alles was schön ist, ist auch gefährdet.) REGIE OPENER 4: MD 6 Herbert Seckler, Sanisbar Sylt ist ein Ort, wo, wenn man Glück hat, seinen Frieden finden kann. Die Menschen, wo kommen, die bestätigen mir das täglich. REGIE Kennmusik (darüber) SPRECHER: Sand und Sisyphus Sylt - die größte deutsche Nordseeinsel Eine Deutschlandrundfahrt mit Michaela Gericke TAKE ATMO 1 Wellen / Möwen ..... AUTORIN Abgenagt ragen die dunklen Pfähle aus weißem Sand. Das Wasser schwappt an diesem Tag nur sanft ans Ufer. Lange, geschwungene Linien im Sand verraten, bis wohin die Wellen eben noch klatschten. Jetzt zieht sich die Nordsee zur Ebbe zurück. Am hellen Himmel fliegen wie zum Greifen nah ein paar graue Wolken. Aus Gras bewachsenen Dünen hinter dem breiten Strand erhebt sich ein Leuchtturm. "Buhnenreste am Ellenbogen" - steht unter dem Foto des Wandkalenders. "Ellenbogen": So heißt der abgewinkelte schmale Land-Zipfel von List, dem nördlichsten Ort der Insel Sylt. Die eingefangene Naturszene ist eine der vielen, die Hans Jessel aufgenommen hat. REGIE O-TON 1: (0'21) Hans Jessel Ich bin heute morgen um 20 vor 4 aufgewacht, kriegte so einen Adrenalinschock, als ich die Sterne sah, weil, ich seh' an den Sternen schon, was für 'ne Sicht ist, das war einer dieser typischen Tage, wo wir über 70 km Sicht haben. das sind die fotografischen Highlight-Tage und ich bin dann bald nach 5 aus'm Haus, Richtung Kampen gefahren, um da ein paar Fotos zu machen. AUTORIN Hans Jessel: nicht sehr groß, ein sportlicher Mann mit kräftigem, braunrotem Haar, eine Art Wind und Wetter-Typ. Er und seine Frau Silke von Bremen sind in Westerland auf Sylt zu Hause. Sylt - vor 8000 Jahren vom Festland getrennt, ist seit 1927 über den Hindenburgdamm zu erreichen - oder von Dänemark aus mit der Fähre. Etwa ein Drittel der langgestreckten Insel nehmen die Dünen ein, der Rest ist Geest und Marschland. Hans Jessel wurde 1956 auf Sylt geboren. Sein Vater: Mediziner und Bioklimatologe. Das Bioklimatische Institut lag in den Westerländer Dünen. REGIE O-TON 2: (0'39)Hans Jessel Mit dem Wetter und mit dem Klima zu leben, das war das Hauptthema hier bei uns im Hause und so hab ich schon als 10-Jähriger ein Wettertagebuch geführt und ... das hat mich letztendlich auch dazu geführt, mich für das Thema Klimatologie zu interessieren und ... so hab ich Geografie studiert und die zweite Sache, die mich immer interessiert hat, ist das Thema Landschaft. Ich hab dann meinen Zivildienst auch auf der Insel Sylt bei der Schutzstation Wattenmeer absolviert, in Hörnum, und ... und da hab ich ... gespürt, was für ein tiefes Verhältnis ich zu der Landschaft hier habe. .... AUTORIN Hans Jessel und Silke von Bremen wohnen abseits des touristischen Trubels in der Mitte der Insel. Ihr modernes Haus wirkt von der Straße aus gesehen fast unscheinbar. Drinnen sind die knapp 80 qm wie ein kleines geräumiges Wunder feinster Architektur: Jessel schaut durch eine breite hohe Fensterfront in einen Garten und auf das Gebäude, in dem er aufwuchs: Es ist aus rotem Backstein mit dickem Reetdach - wie die anderen echten Friesenhäuser auf der Insel. Nur wenige Hundert Meter Luftlinie dahinter liegt der Strand am offenen Meer. REGIE ATMO 2: Wasser, Wellen REGIE O-TON 3: (0'45) Hans Jessel Es ist für jemanden, der hier aufwächst und die große Sandkiste - 40 km lang - direkt vor der Haustür hat, absolut fantastisch. Ich kann mich an viele Tage erinnern, wo ich morgens vor der Schule schon an den Strand gegangen bin, um mir da meine große Sandburg zu bauen, die niemand betreten durfte, außer mir und jeden Tag wurde sie größer und größer und ins Wasser zu springen und Sonne zu haben: es war für mich zwar immer selbstverständlich, so groß zu werden, aber heute weiß ich, wie besonders das war, hier aufwachsen zu dürfen. Als Jugendlicher dann begannen die ersten Probleme, ... dann wird einem das sehr schnell zu eng hier auf der Insel. ... AUTORIN Sylt - für mich als Stadtkind und Jugendliche: der Inbegriff von Sommer und Ferien: Sonne, Sand, Dünen, Wind und Meer. Wir kamen zum ersten Mal Mitte der 60er Jahre mit dem Auto auf dem zweistöckigen Zug über den Hindenburgdamm. REGIE ATMO 3: Bahn / Hindenburgdamm AUTORIN Damals galt die Insel noch als Geheimtipp. Unterkunft fanden wir in einer kleinen Pension. Erst in Westerland, nicht weit vom Bahnhof, in darauf folgenden Jahren wurde List unser Ziel. 20 km entfernt von Westerland, das schon um 1850 herum als Badeort attraktiv war und jede Menge Menschen anlockte, die im Strandkorb Schutz vor Wind suchten. List dagegen: dörflich geheimnisvoll, mit hohen weißen Wander-Dünen, Brandung auf der einen, Watt auf der anderen Seite. Zum West-Strand geht es noch heute vom Parkplatz aus über einen langen Holz-Steg durch Dünen und Heide-Landschaft. Kleine violette Blüten rechts und links in niedrigem Gestrüpp duften im Sommer nach Heide. Am Strand juchzten damals nackte Volleyballer. Wir fanden einen Platz im Sand ohne viel Menschen drum herum. Spielplatz war das Meer: hohe Wellen spülten mich an den Strand. Und der kam mir schier endlos vor. Nie aber langweilig. Manchmal lief ich bis zum Roten Kliff bei Kampen: Dessen Farbenspiel bei wechselndem Licht und die steile, immer weiter bröckelnde Kante - auch für Hans Jessel oft ein lohnendes Motiv. Eines seiner Farb-Dias vom Roten Kliff wurde zur knapp 200 Quadratmeter großen Kulisse auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin. Dass Jessel einmal der Insel-Fotograf werden würde, ahnte er als Jugendlicher noch nicht: REGIE O-TON 4: (0'49) Hans Jessel Ich bin gleich nach dem Abitur mehrmals mit Interrail durch ganz Europa gefahren, ... - alle Küsten Europas hab ich mir angeguckt, oben vom nördlichsten Norwegen bis Südportugal und Griechenland und alles, überall, wo Sandstrände waren, hab ich mir alle angeguckt, ob das in Frankreich war oder die portugiesische Atlantikküste oder Mittelmeerküste, um zu vergleichen mit Sylt und eigentlich damals noch in der Überzeugung, dass es überall schöner sein müsste; was sich hinterher gegenteilig herausstellte; weil so einen schönen Strand, wie wir hier auf Sylt haben, da muss man schon verdammt lange suchen, bis man so was wieder findet. Ob es die Sandkörnung ist, ob es die Dünenwelt dahinter ist, die ohne Bäume ist, also viele Strände konnte ich gar nicht akzeptieren, z.B. in Südfrankreich, weil dahinten gleich in den Dünen Bäume stehen. AUTORIN Sylt wird durch die Dynamik an der Westküste beherrscht, sagt Hans Jessel, der in die Landschaft eintaucht, um Betrachtern vor allem die wilde, ursprüngliche Atmosphäre der Insel zu vermitteln. "Ich liebe die Unberührtheit, auch wenn sie nur ein Schein ist", schrieb der Fotograf auf seinen Kalender 2009. Die Insel versteht er noch immer als "ein Dorado für Menschen, die Einfachheit und Klarheit zu schätzen wissen". Denn sie ist "nahe an dem, was wir Schöpfung nennen", glaubt Jessel: REGIE O-TON 5: (1'10) Hans Jessel Ich hab verschiedne Punkte auf der Insel, das sind einmal die alten Buhnen vor Rantum, die sind 120, 130 Jahre alt und sehen dementsprechend aus, vom Meer malträtiert, ... Man sieht an dem Zerfall dieser Buhnen die Vergänglichkeit der Insel. ... Die hat man damals gebaut und musste schon bald feststellen, dass die durch Bohrmuscheln und durch den Sandschliff in der Brandungszone und einfach durch die Gewalt der Natur so stark malträtiert werden, dass die Unterhaltung viel zu teuer wäre. ... Das ist ein Platz, wo ich im Winter sehr sehr gern hingehe. ... Es gibt andere Jahreszeiten, da besuche ich andere Gebiete, gerade die Lister Dünenwelt, ist auch ganz spannend, ... diese Frühjahrsphase ist für die Lister Dünen besonders schön - ...so hab ich in jeder Jahreszeit bestimmte Punkte, die ich besonders angehe. wenn ich jetzt persönlich sagen sollte, was ich am allerliebsten fotografiere, ist es das Meer. AUTORIN Hans Jessels Fotos sind keineswegs Abbilder der Wirklichkeit, sagt seine Frau, Silke von Bremen. Die blauen Augen mit Lachfältchen, das offene, freundliche Gesicht vermitteln eine ansteckend positive Sicht aufs Leben. Silke von Bremen kommt aus dem Alten Land bei Hamburg und führt inzwischen Gäste durch Keitum, Braderup, Kampen. Dörfer, die schon früh von Schriftstellern und Malern, Prominenten aus Wirtschaft und Politik entdeckt wurden. Silke von Bremen hat auch über die Geschichte der Orte geschrieben, seit der begehrte Flecken in der Nordsee für sie ebenfalls zum Lebens-Mittelpunkt wurde. Doch sie sieht und erlebt die Insel in anderer Weise als ihr Mann: TAKE O TON 6: (1'11) Silke von Bremen: Wenn wir am Strand gemeinsam laufen, man würde uns beobachten, ich glaub, die Leute hätten viel Freude. Hans guckt immer aufs Meer, ich guck immer woanders hin. Vielleicht 'nen Bernstein finden oder ... also wir haben ne völlig andere Wahrnehmung. ... Ich habe erst Sylt durch Hans kennen gelernt. ich weiß noch, dass ich ein gigantisches Bild gehabt haben muss und es war ein Winter, wie wir ihn selten hatten, ich hab damals noch gedacht, es ist total normal, dass das ganze Meer voller Eisschollen ist und der Strand glitzert wie ein Diamantenmeer, das fand ich durchaus schön, ... Ich war total verliebt und da ist man ja auch anders drauf, wir liefen von Kampen am Strand Richtung Norden und ich hatte von Sylt - ich weiß gar nicht, was für eine, aber 'ne andere Vorstellung und plötzlich springen aus den Dünen vier Splitterfaser nackte Menschen, krebsrot, rennen über den Strand ins Meer und ich hab gedacht, ich bin auf 'ner Insel der komplett Verrückten, oder die werden verfolgt, ich hatte keine Ahnung, dass es Strandsaunen gibt und das ist irgendwie mein erster Eindruck von Sylt gewesen und der ist auch nachhaltig gewesen. AUTORIN Silke von Bremen und Hans Jessel haben sich vor mehr als 25 Jahren während des Geografie-Studiums kennen gelernt. Mit der Fotografie finanzierte sich Hans Jessel damals bereits - eher begleitend - sein Studium. Als Geograf mit Kamera bereiste er schließlich die ganze Welt, seine Insel aber ließ ihn nicht los: REGIE O-TON 7: (1'22) Hans Jessel : Mein Ziel ist es ja, die Landschaft so abzubilden, dass man unter ihre Oberfläche guckt, dass man ein bißchen mehr sieht, als man auf einem normalen Foto sehen würde und ... immer wenn ich eine Landschaft anseh', muss ich wissen, wie ist die entstanden, wie lange hat das gedauert, in was für einem Wandel steht sie und wo soll das mal hinführen und das ist ja auf Sylt eine besonders dramatische Geschichte, weil Sylt ja eine ganz junge Insel ist, die erdgeschichtlich gesehen, einen Wimpernschlag alt ist und auch beim nächsten Wimpernschlag schon wieder verschwunden sein wird. Es ist eine landschaftliche Dramatik hier, wir sind die Glücklichen, die diese Insel im Moment erleben dürfen, die wenige hundert Jahre noch existieren wird und wenn der Meeresspiegel weiter ansteigt, ist sie in wenigen hundert Jahren von der Landkarte verschwunden - das zu dokumentieren auf der einen Seite und auf der andern Seite das künstlerisch zu bearbeiten, diese Dynamik, die in der Landschaft drin ist, das ist das, was mich reizt. eine der ganz wichtigen Sachen ist ... der Sonnenstand, aber auch der Wind. z.B. heute morgen nun war ein so starker Wind, ... dass ich die Aufnahme mit einer langen Belichtungszeit von 8 - 16 sec aufnehmen musste, dieses Bild wird schon zeigen, was für eine Dynamik da ist, weil das Bild verwackelt sein wird. Find ich total klasse! (lacht!) REGIE ATMO WIND MUSIK 1 Interpret: Sergiu Celibidache / Münchner Philharmoniker Titel: DEBUSSY CD: EMI CLASSICS Track: 4 / Dialogue du vent et de la mer Komponist: Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: ATMO 4 Wind / SPRECHER: Sylt ist ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuerndes stetes kleines Wunder: Ob die zartlila Dünenveilchen - winzige Biedermeier- Stiefmütterchen - im vom Sonnenglast ausgedorrten Sand, ... oder der bleiche Finger des Leuchtturmfeuers, der durch den Novembernebel streift, als wolle er die Dünengespenster herbeistreicheln. Manchmal, in den Sommernächten, gibt ein schweigendes Meer weit draußen Sandrippen frei, der Wind schält Fetzen von der Haut des Meeres, und die winzigen Vögel, die Strandläufer in ihrer possierlichen Emsigkeit, bilden ein flatterndes Hohlsaummuster; manchmal hängen die Regentropfen wie Glasperlen im windgeschützten Dünengras (S. 7 f Zitat aus "Mein Sylt" / Fritz J. Raddatz) AUTORIN "Mein Sylt", so heißt die kleine Hommage an die Insel von Fritz J. Raddatz, und "Sylt - meine Insel" der Kalender von Hans Jessel. Jeder, der den Reiz der Insel einmal entdeckt hat, macht sie in gewisser Weise zu seiner Insel. SPRECHER Das Meer zieht den Schmutz aus der Seele. Ein Spätnachmittag, ein früher Abend am unendlich scheinenden Kampener Strand, kaum Menschen, nur Wolken, späte Sonne und donnernde Brandung - es ist, als würde der Mensch innerlich gewaschen, als kehrte er zurück in eine Vorexistenz. AUTORIN Doch das Meer zieht nicht nur den Schmutz aus der Seele, wie Raddatz es poetisch beschreibt, sondern der "Blanke Hans hat Hunger", sagt prosaisch der Volksmund. Soll heißen: die Nordsee nagt am breiten und langen West-Strand. Als Jugendliche, die alle zwei Jahre auf die Insel kam, bemerkte ich, dass der Strand immer schmaler wurde. Bis 1972 plötzlich vor der Sommersaison große laute Ungetüme an den Stränden entlangfuhren. Sie spuckten jede Menge Sand aus, der dann schließlich ordentlich verteilt wurde. REGIE O-TON 8: Karsten Reise Sylt ist eine fragile Insel am Rand einer tobenden Nordsee und die zu halten für die vielen Menschen, die sie auch sehen wollen in ihrer Pracht, das ist die Herausforderung, ... der wir uns zu stellen haben. AUTORIN: Karsten Reise sitzt in seinem Büro im nördlichsten Dorf Deutschlands, in List. Der gut gelaunte, schlanke Mann mit grauem Haar und Brille ist Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gesellschaft. Deren Wattenmeerstation liegt nur wenige Meter hinter dem Lister Hafen, auf der Ostseite der Insel. Karsten Reise blickt aus dem Fenster aufs Meer und - wenn gerade Ebbe ist - auf die Muschelbänke. Er kennt sich aus mit allem, was im Watt und im Wasser, aber auch in der Luft lebt. Und mit dem Küstenschutz: REGIE O-TON 9: Karsten Reise Man hat vieles versucht, um die Insel zu bewahren, man hat früher Buhnen gebaut aus Steinen und aus Spuntwänden, dann hat man so genannte Tetrapoden, das sind vierarmige Betonklötze, genommen, um dem Meer Einhalt zu gebieten, das hat alles nichts genützt und das, was wirklich hilft, das ist eine Sandzugabe, denn wenn das Meer schneller ansteigt, dann entwickelt es quasi einen Sandhunger, um ein möglichst flach geneigtes Gefälle zwischen Land und Meer aufzubauen, um so die Wellenenergie optimal zu verteilen und dazu braucht das Meer den Sand und den Sand nimmt es sich da her, wo er herzukriegen ist, also von der Insel und wenn wir das nicht wollen, weil wir unsere Häuser drauf haben, dann müssen wir eben selber vom Meeresboden weit draußen mit Hilfe von Baggerschiffen Sand vor der Insel deponieren, damit der Sandhunger des Meeres immer gestillt werden kann. ... AUTORIN Allein in den Jahren 2006 und 2007 wurden 3,8 Millionen Kubikmeter Sand für den Küstenschutz bewegt. Vom Seegrund herauf an Strände des Westufers. Seit Anfang der 1970er Jahre gehören die Sandvorspülungen zum Küstenschutzprogramm. Jährlich verliert die Insel gut eine Million Kubikmeter Sand. Und die werden im Jahr darauf wieder vorgespült. Eine Sisyphos-Arbeit: denn der Hunger der Nordsee ist kaum zu stillen: Karsten Reise glaubt, dass die Sandvorspülungen auch auf der Wattenmeerseite notwendig werden: REGIE O-TON 10: (1'25) Karsten Reise Das kostet uns viel Geld, aber ich denke, das sollte es uns wert sein, denn es hängt daran das ganze Ökosystem mit den Seehunden, mit den Vögeln. Wenn die Watten ertrinken, bei dem schneller steigenden Meeresspiegel, dann wird auch die Insel Sylt nicht mehr zu halten sein. Für die Menschen ist es schwierig mit einem Prozess, der langsam verläuft, umzugehen, an der Seeseite der Insel, da manifestiert sich der Anstieg des Meeresspiegels schon jetzt in aller Deutlichkeit, auf der Wattseite dagegen, da gehen diese Prozesse langsamer vor sich ..., aber die Vorhersagen aufgrund der globalen Erwärmung über den schnelleren Meeresspiegel sind so eindeutig und so sicher geworden, dass wir davon ausgehen können, wenn unsere Generation nicht jetzt schon damit anfängt, dann werden die folgenden überfordert sein. AUTORIN Überfordert fühlen sich aber bereits heute viele Inselbewohner in der Frage, wie der Schutz nicht nur an den Küstenbereichen der Insel aussehen kann, sondern auch auf dem Gelände im Inneren. Sand und Dünen prägten einst das Bild der Insel Sylt, die aus Ablagerungen während der vorletzten Eiszeit entstand. "Betreten verboten" - heißt es lange schon für die hohen, weißen, weichen Hügel, die an der Auto- Straße nach List als "Wanderdünen" bekannt sind und bis zu 35 Meter hoch werden. Als Feriengast in den 1970er Jahren glaubte ich manchmal, die hellen Sandmassen näherten sich allmählich tatsächlich der Straße. REGIE O-TON 10: (1'25) Karsten Reise Sylt war einmal vorwiegend mit Wanderdünen besetzt, aber dann, wie Sylt 1864 zu Preußen kam, wurde die Situation aus Sicht des Menschen verbessert, man hat die Dünen alle bepflanzt, so dass inzwischen auch viele Häuser darauf entstanden sind und nur ganz im Norden der Insel, da ist es drei Wanderdünen noch erlaubt, weiter zu wandern, die eine davon kommt jetzt dicht an die Straße ran und es ist zu befürchten, dass sie vielleicht bepflanzt wird, ich wär' mehr dafür, das wir einen Tunnel bauen, so dass die Düne dann über die Straße laufen kann und der Verkehr weiter gehen kann - (ich glaube, es ist noch nie ein Tunnel gebaut worden, bevor der Berg ankommt.) Diese Wanderdünen haben die Insel erhalten - sie haben Sand von der Seeseite, dort wo die Insel immer schmäler wird, auf die andere Seite getrieben vom Wind, getragen, so dass die Insel auf der See abgewandten Seite wachsen konnte, so hat sich trotz ihrer länglichen fragilen Form die Insel doch über tausende von Jahren halten können. - AUTORIN Wie schnell sich das Ökosystem allerdings in den letzten wenigen Jahrzehnten gewandelt hat, konnte Karsten Reise mit eigenen Augen beobachten. Es ist Ebbe und das Watt frei gelegt. "Ein breit gedeckter Tisch", sagt Karsten Reise: REGIE O-TON 11:(1'06) Karsten Reise Vor allen Dingen für die Vögel, sie kommen viel besser an einen Wurm im Wattboden heran, als an einen Regenwurm in der Wiese und deswegen kommen sie in Scharen - im Wattenmeer sind es im Jahr 10 - 12 Mio. an Vögeln, die hier durchziehen und da ist es dann einfach, einen Käfig in den Wattboden zu setzen, so dass die Vögel nicht mehr rankommen und dann können wir quantitativ ermessen, wie viel von den Bodentieren, den Muscheln, Krebsen, Schnecken von ihnen gefressen wird. Von solchen Untersuchungen haben wir viele durchgemacht und jetzt stellen wir fest, dass vieles von dem nicht mehr so ist, wie wir es mal erforscht haben, denn es sind Arten hinzu gekommen, die es vorher nicht gab. Ich denke da an eine Schwertmuschel, die so groß wird wie eine Zigarre, sie stammt aus Nordamerika, ist im Ballastwasser eines Schiffes in die deutsche Bucht gekommen und in wenigen Jahren ist sie zur häufigsten Muschelart avanciert; die Vögel haben zwar Schwierigkeiten, diese große Muschel aus dem Boden rauszukriegen, aber wenn sie dann doch einmal raus gekommen ist, gibt das eine große Mahlzeit ab. AUTORIN Wir gehen auf dem Deich entlang, und schließlich hinunter zum Strand, wo wir durch schlickigen Boden waten. Eines der Sand-Riffe war bis vor einer Weile eindeutig eine Miesmuschelbank, erzählt der passionierte Meeresbiologe, der seit Mitte der 70er Jahre auf Sylt lebt, am Alfred- Wegener-Institut arbeitet und zahlreiche Gutachten geschrieben hat: REGIE O-TON 13: (0'41) Karsten Reise Diese Miesmuscheln im Wattenmeer bilden Bänke, die so für 3 Stunden während der Ebbe auftauchen, ...aber diese Miesmuscheln sind hier schon nicht mehr alleine, weil durch den Seeverkehr und durch Importe mit Aqua-Kultur von Übersee andere Tiere und Algen eingeschleppt worden sind und diese Miesmuscheln hier müssen sich jetzt schon den Platz teilen mit Austern, die aus dem pazifischen Raum hier her gebracht worden sind. Die Miesmuscheln mussten denen den Platz überlassen. AUTORIN Die Globalisierung hat sogar am Erscheinungsbild der Miesmuschel ihre Spuren hinterlassen: REGIE O-TON 14: (0'44) Karsten Reise Diese Miesmuscheln, die sind alle überkrustet mit fest sitzenden Krebsen, die heißen Seepocken und diese Seepocken, die hier drauf sitzen, die stammen aus Australien. Die sind mal mit britischen Schiffen nach Europa gekommen und haben sich dann selbständig vom britischen Kanal aus auch in das Wattenmeer ausgebreitet. Lange Zeit gab es immer nur hier und da mal eine einzelne davon, aber jetzt haben sie den ganzen Bereich hier überwuchert und übernommen, denn es ist wärmer geworden. das ist entscheidend vor allem für die aus dem Süden kommenden Arten - es gibt keine frostigen Winter mehr und im Sommer wird es wärmer und da können sie sich besser vermehren - während von den heimischen Arten viele auf der Strecke bleiben. ... MUSIK 2 Interpret: BOSTON SYMPHONY / CHARLES MUNCH Titel: DAPHNE ET CHLOE Complete CD: Track: 17 / Sunrise Komponist: MAURICE RAVEL Text: LC/Best.-Nr.: 0316 DLR- Archiv#: AUTORIN Sylt - die größte deutsche Nordseeinsel hat im Jahr Eintausend- siebenhundert-und fünfzig Stunden Sonne. So steht es in ihrem "Steckbrief". Ich erinnere mich an trübe Tage auch im Sommer; Regen und Nebel. Welchen Einfluss hat das sich verändernde Klima auf das Ökosystem vor der Insel? Wie kann sich Sylt gegen bedrohliche Sturmfluten wappnen? Wie ist die Insel überhaupt zu erhalten? Diese Fragen beschäftigen nicht nur den Meeresbiologen Karsten Reise an der Wattenmeerstation in List auf Sylt. Einer seiner ehemaligen Studenten am Alfred-Wegener-Institut heißt Matthias Strasser. Der gebürtige Hamburger kam schon als Kind regelmäßig auf die Insel und ist seit 1995 hier zu Hause. Als er an der Wattenschutzstation seine Doktorarbeit schrieb, kam ihm die Idee für eine multimediale Einrichtung in unmittelbarer Nähe: REGIE O-TON 15: Matthias Strasser Der Titel meiner Doktorarbeit war die Auswirkung des Eiswinters 1995 / 96 auf die Tiere des Wattenmeeres, insofern hatte das gleich so einen klimatischen Bezug, wir hatten 1995 / 96 im Winter den letzten wirklich frostigen Winter, das ist eine Besonderheit gewesen, weil wir hier 3 Monate Frost am Stück hatten, was dann zu großen Eisbergen auf der Wattlandschaft führt - was viele Organismen nicht abkönnen, wenn es zu lange Frost gibt und wir hatten damals schon gedacht, - die Debatte um die Erwärmung ist ja in der Forschungslandschaft schon sehr viel länger bekannt als in der öffentlichen Wahrnehmung, - das könnte einer der letzten dieser Winter sein, die in unregelmäßigen Abständen aber doch verlässlich im letzten Jahrhundert, das könnte dazu führen, dass es ein sehr viel selteneres Ereignis ist, und bislang ist es ja so gekommen, dass besonders die durchschnittlichen Wintertemperaturen extrem gestiegen sind in den Jahren danach. ... ich denke mal, ... wir haben fast gar keine Frosttage mehr hier im Winter, die kann man an ein oder zwei Händen ablesen und ich denke, wir haben durchschnittliche Wassertemperaturen von 4 - 5° im Winter. AUTORIN Der schlanke, sehr große Mann im orangeroten Sweatshirt ist heute Geschäftsführer vom Erlebniszentrum Naturgewalten in der Nähe des Lister Hafens. Nach der Eröffnung vor wenigen Monaten ist das Gebäude mit meerwasserblauer Fassade und leuchtendem Orange auf dem Dach ein Publikumsmagnet. Die Besucher bekommen an der Kasse Kopfhörer. Die stöpseln sie an den vielen Multi-Media-Stationen ein: REGIE ATMO Sturmraum AUTORIN Drei Themenbereiche sind Mittelpunkt der ständigen Ausstellung: Leben mit Naturgewalten, Klima und Wetter, die Kräfte der Nordsee. Kinder stehen mit großen Augen vor einer Anlage, die per Knopfdruck Ebbe und Flut rund um die Insel simuliert, sie begeistern sich an der Wellenmaschine und im Sturmraum, in dem die verschiedenen Windstärken am eigenen Körper spürbar werden: REGIE O TON 17: (Lehrerin) Das ist Naturgewalten zum Erleben, das ist das, was mich am meisten beeindruckt hat, den Wind auf der Haut zu spüren, die Wellen zu hören, im gleichen Moment zu sehen, wie sie entstehen, also toll! wir haben das im Heimat und Sachkunde-Unterricht schon erarbeitet und für die Kinder war es faszinierend: wir kommen ja nun von der Ostsee und die Nordsee ist denn doch noch mal ein Riesenunterschied. ....(lacht) AUTORIN Aber die Naturphänomene, mit denen die Insel und ihre Bewohner zu kämpfen haben, gehorchen keineswegs nur "höherer Gewalt". Ihre zerstörerische Kraft haben die Menschen selbst potenziert. REGIE O-TON 18: (0'15)Hans Jessel Ein Problem ist auf Sylt, dass auf der einen Seite zig Millionen Beträge ausgegeben werden müssen, um die Insel zu schützen, weil sie immer weiter abbricht an der Westküste ... was auch ganz gut funktioniert, so lange man diesen hohen Geldeinsatz fährt. AUTORIN Der Fotograf Hans Jessel fühlt sich in besonderer Weise mit seiner Heimat Sylt verbunden. Er ärgert sich über unsinnige Bauprojekte, die vor allem dem Tourismus dienen sollen, aber der Insel selbst Schaden zufügen: Als Anfang der 1970er Jahre in Westerland das gigantische Hotel Atlantis entstehen sollte, bildeten Einwohner eine Bürgerinitiative und konnten das verhindern. Es war ein vergleichsweise kleiner Erfolg. REGIE O TON 19: (0'45) Hans Jessel weiter Wenn das Kurzentrum nicht gebaut worden wäre für zig Mio. Mark damals, hätte man nicht diesen Zwang, genau diesen Punkt jetzt halten zu müssen. damals gab es Gutachten, die sagten, das ist überhaupt die potentiell gefährdetste Stelle der ganzen Insel Sylt, weil Westerland - sieht man auf Satellitenbildern - der herausragendste Punkt der Insel ist und damit der, der am stärksten angegriffen wird und genau da wird nun gebaut, obwohl geologische Gutachten sagen, das ist das unvernünftigste, was sie machen können. Das ist ne Sache, die ich nicht begreif. (genauso so was hat sich in Hörnum abgespielt, dass in einem Bereich der Insel, der schon vor Jahrzehnten vom Meer überspült worden war, jetzt eine neue Siedlung gebaut wird in einem wie ich sage: Absuffgebiet .... ) AUTORIN Noch immer empfinden viele Inselliebhaber die monströse mehrstöckige Appartement- und Touristenanlage an der Westerländer Promenade als einen Schandfleck. Es kamen und es kommen weitere hinzu. Am Hafen- und ehemaligen Kasernenort List beispielsweise und in Rantum, südlich von Westerland. Die Insel lebt vom Tourismus, sagen die einen - er macht sie aber kaputt, sagen die andern. Massen stinkender Autos in der Hochsaison - zum Flüchten, wettern jene, die gerade die Luft dort oben so lieben. Hans Jessel hat sein Auto abgeschafft und transportiert die schwere Kameraausrüstung in großen Taschen am Fahrrad, wenn er sehr früh morgens oder in der Abenddämmerung für Aufnahmen in unbebaute Gegenden fährt. Wolkenformationen über dem Meer, Spuren im Sand, archaisch knorrige Bäume im Klappholttal bei Kampen - am liebsten fotografiert er eben Landschaft. Nur ein Blatt im Kalender 2009 zeigt ein Friesenhaus in Keitum, auf der Wattseite: Ein spezieller Ort, findet Jessels Frau, Silke von Bremen: REGIE O-TON 20: (0'33) Silke von Bremen Ja, Keitum ist mein Herz. So wie Hans für die Buhnen und für das Meer sterben würde (lacht!), liebe ich mein Keitum. Es gibt diese wunderbare Szene, dass er mir Sylt zeigte und ... dann ist er mit mir nach Keitum gelaufen, und ich hab noch nie so wunderschöne Häuser gesehen und er zeigte auf ein Haus, damals wusste ich noch nicht, dass es das Heimatmuseum war und sagte: "Weißte, sollten wir zusammen bleiben, so würde ich schon gern mal wohnen" und dann sagte er: "vergiss es - das können wir uns niemals leisten" - und genau in diesem Haus - vielleicht gibt es ja doch einen Gott - haben wir dann viele Jahre gelebt, acht Jahre lang. AUTORIN Denn Silke von Bremen fand im Sylter Heimatmuseum Arbeit. Sie führte dort Besucher an die Geschichte der Insel heran. Sylts Bewohner lebten vom 15. bis zum 17. Jahrhundert hauptsächlich vom Heringsfang. Durch Salz machte man den Hering - "Sild" - haltbar. So wurde dieser Fisch das erste Sylter Wappentier und ist noch immer im Logo des Söl'ring Foriinning zu finden, des Sylter Heimatvereins. Im 17. Jahrhundert wurde der Heringsfang unrentabel. Viele Männer der Insel wechselten zum Walfang. Silke von Bremen ist immer wieder bewegt von der Geschichte des Kapitänsdorfes: REGIE O-TON 21: (1'42) Silke von Bremen Und da ist wirklich meine Liebe zu Keitum erwachsen, weil ich erfahren habe, wer hat dieses Haus gebaut: was für eine Tragödie. ein Mann, der mit 13 Jahren seinen Vater verlor, der Walfänger war - dieser Peter Uwen, sein Vater ist nur 42 Jahre alt geworden. ... Die Männer haben ein Leben geführt wie die Zugvögel - haben im Frühjahr zu ihren Frauen gesagt: wir müssen dann mal wieder los und dann haben die Frauen gehofft, dass die Männer im Herbst wieder kamen und wenn sie Weihnachten nicht am Tisch saßen, war eigentlich klar: er wird nie wieder kommen und genau das passierte der Mutter von Uwe - und der größte Schatz, den sie hatte, waren die fünf Jungs, weil die Landstelle war mager, der Boden brachte nicht viel, deshalb mussten die Männer zur See fahren und Uwe, dem bleibt auch nichts anderes übrig, als Seefahrer zu werden, allerdings wird er Handelsseefahrer. Walfang ist nicht mehr so lukrativ - er wird alle seine Brüder auf See verlieren, ein ausgesprochen erfolgreicher Seefahrer werden, der Preis dafür ist aber verdammt hoch. Er hat mit seiner Frau sieben Kinder - zwei Töchter und 5 Jungs und alle 5 Jungs müssen zur See fahren, die Insel bietet diesen Jungs keine Arbeitsplätze und nicht einer dieser Jungs wird überleben. Und als ich das rausgefunden hab, da war ich in der Sylter Geschichte angekommen und .... egal vor was für 'nem Haus wir stehen, ich kann mir das verblüffender Weise alles merken, dann erzähl ich Ihnen, was passiert ist. 3 Frauen im Kindbett gestorben. ...Man geht ja heut durch Keitum und dann steht in den Reiseführern "reiches Kapitänsdorf" und dann sag ich immer, das stimmt, es ist ein reiches Kapitänsdorf gewesen, aber verdammt teuer bezahlt, verdammt teuer. REGIE MUSIK 3: Interpret: Il Giardino Armonico Titel: Musica Barocca CD: Teldec Classic Track: 15 Komponist: J. Pachelbel Text: LC/Best.-Nr.: 6019 DLR- Archiv#: ATMO Glocke von St Severin REGIE ATMO ORGEL REGIE O-TON 22: (0'19)Susanne Zingel Diese Kirche hier ist schon allein mit dem Blick über das weite Meer - wo Himmel und Erde sich berühren, ein Ort, wo sich viele Menschen begegnen: viele Gäste, Urlauber und Insulaner zusammen kommen, es ist einfach ein besonderer Ort. ... AUTORIN St. Severin thront auf einer Anhöhe am Rand des Dorfes Keitum und ist schon von weit her zu erkennen. Susanne Zingel, 47 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern, war lange in Hamburg Altona Pastorin, bevor sie die Pfarrstelle in St. Severin vom charismatischen Traugott Giesen übernahm. Die kleine Kirche in Keitum hat 2400 Mitglieder und ist über sämtliche Landes- und Konfessionsgrenzen hinaus bekannt. Gebaut wurde sie im 13. Jahrhundert auf einem altgermanischen Heiligtum. REGIE O-TON 23: (1'11) Susanne Zingel Die Geschichte ist, dass sich hier Tragik und Hoffnung und immer wieder Neuaufbruch verbinden. Es sind 14 Kirchen gegründet worden zur gleichen Zeit wie diese Kirche und von den 14 sind zwei übrig geblieben. St Martin in Morsum und St Severin hier oben auf dem Geesthügel. Die andern hat alle das Meer geholt oder die Dünen haben es unter Sandmassen begraben. ... Dann ist sie Seefahrerkirche geworden, der Turm ist angebaut worden nach all diesen Katastrophen, als ein deutliches Zeichen: Wir sind da - und kein Wind, keine Wellen, kein Sturm, nichts kriegt uns unter. Und es ist nicht klug einen Turm hier her zustellen auf den höchsten Punkt dieser Sturm umbrandeten Insel, der die - jeden Winter hat er zu leiden aber als Ausdruck von Zuversicht und Hoffnung und Glaubensstärke ist da was wunderbares, zumal er nicht wie ein bedrohlicher Zeigefinger sich in die Luft reckt, sondern gerade mal da ist mit seinen 24 Meter Höhe. AUTORIN Zu den Schätzen der im romanischen Stil erbaute Kirche gehören innen ein über tausend Jahre alter Taufstein, von Kapitänen gestiftete Kronleuchter aus den Niederlanden, eine Renaissance-Kanzel und vor allem: ein Flügelaltar aus dem 15. Jahrhundert; mit einem auferstandenen Christus. An dessen Seite: Maria und der Bischof Severin: REGIE O TON 24: (0'49) Susanne Zingel Nach den großen Fluten war diese Kirche verlassen, wahrscheinlich eine Bauruine einfach - und es kamen aus Köln Missionare und haben überhaupt wieder das Leben und den Glauben wieder gebracht bei der Wiederbesiedlung der Insel, sie brachten den Bischof Severin mit und haben der Kirche wahrscheinlich damals erst den Namen gegeben. ... Severin ist ein sehr menschenfreundlicher Bischof aus Köln, aus dem 4. JH, über den man wenig weiß, aber das entscheidende ist, wo Severin war, ging es den Menschen gut. Und er gebietet über Regen und Sturm das haben die Kölner wohl den Syltern gewünscht dass hier einer ist, der uns in Sturm Wind und Regen beisteht ... REGIE ATMO Orgelspiel Ivanov REGIE O-TON 25: (0'47)Alexander Ivanov Wir haben hier fast ausverkauftes Haus, das sind im Schnitt 300 Leute, die zu einem Orgelkonzert kommen und das ist eine sehr große Verpflichtung und auch eine sehr große Freude, aber auch eine gewaltige Herausforderung für mich, weil man natürlich sehr viele Ohren auf einmal hat in einem Kirchenraum, in dem kaum Akustik ist, was natürlich besonders verpflichtet zu sehr sauberem, klaren Intonieren und Spielen. ... eine etwas große Orgel in diese Kirche würde man normalerweise eine etwas kleinere Orgel stellen aber hier durch den großen Konzertbetrieb und das Interesse des Publikums erfüllt sich irgendwie diese Wunsch einer sehr großen Orgel. 007 mein Vorgänger, Matthias Eisenberg hat sehr mutige Projekte hier verwirklicht. ich möchte einfach in dieser Linie bleiben. AUTORIN: Dem bekannten Organisten Matthias Eisenberg vom Gewandhaus- Orchester Leipzig folgte Alexander Ivanov. Die Tradition der Mittwochabend-Orgelkonzerte setzt er fort. Er kommt aus St. Petersburg und lebt seit 1994 in Deutschland. Er ist seit fünf Jahren Organist und Kantor von St. Severin: REGIE ATMO Chorprobe REGIE O TON 26 mit ATMO vorn dran: (0'33) Elke Boysen Das gibt einem so viel, obwohl ich anfangs total dagegen war und ich so reingeschnackt worden bin ... das war von Anfang an so was von toll und wenn man sich so größere Sachen erarbeitet, das ist eigentlich der größte Spaß und die Musik ist so toll, ich bin total begeistert. .. AUTORIN: Elke Boysen hat es nicht weit zur Chorprobe. Sie lebt und arbeitet auf dem so genannten Mühlenhof am Kirchweg in Keitum. Hier ist sie geboren und aufgewachsen. Sie liebt das Dorf, das als "schönstes" auf der Insel gilt. Wegen seiner gewachsenen Struktur, den historischen, geduckten Friesenhäusern zwischen alten Bäumen. Wegen seiner Ruhe auf der Wattseite, wegen seiner Aura. Elke Boysen vermietet liebevoll eingerichtete Ferienwohnungen in dem Haus, das sie von Kindheit an kennt:. REGIE O TON 27: (1'40) Elke Boysen und Ragna Schacht Das war mal ganz früher eine Rapsmühle, der älteste Teil von dem Haus ist 1737, wahrscheinlich vorher gebaut und mein Ur Ur Großvater hat das gekauft und ein großes Gebäude angebaut und da 10 Jahre 'ne Rapsmühle betrieben und das wurde dadurch beendet, dass der Keitumer Hafen immer wieder verschlickte und versandete ... und dann war es ganz normal Bauernhof. Mein Großvater war Kapitän, der ist zur See - ist überall auf der ganzen Welt gewesen und als er dann aus Altersgründen aufhörte, hat er von seinem Vater den Hof gekauft und da weiter Landwirtschaft betrieben. Und mein Bruder und ich wir hatten beide kein Interesse für Landwirtschaft und ich hab eben dieses Haus. Ich häng unglaublich an dem Haus. Ich hab es geerbt als Ruine, hab mich wahnsinnig verschuldet, aber jetzt geht es ganz gut. (mit riesigen Garten ... 7000 qm ungefähr - das ist etwas ganz seltenes, 7 000 qm Privatbesitz .... ich werd bald 70, man sagt: was quälste dich da mit ab, aber ich sag: das geb ich nicht her. Ich hab schon solche Krisen gehabt. und ich sag: und wenn ich Schwarzbrot mit Margarine essen muss und in Sack und Asche geh, das Haus geb ich nicht her ... Wir haben Gott sei Dank nichts im Baugebiet. Also mein Bruder hat das Land geerbt, aber das darf nicht bebaut werden. AUTORIN Von unsinnigen Bebauungen können auch andere Chormitglieder im wahrsten Sinn ein Lied singen. Das teure Bauland wird immer begehrter für Investoren. Deren Projekte aber haben selten etwas mit dem ursprünglichen authentischen Stil der Insel zu tun, finden inzwischen viele Einwohner Sylts. Noch gut 21 000 Menschen leben auf der Insel, 780 000 machen jährlich hier Urlaub. Sylt den Syltern - heißt da eine Parole, die allerdings nur bedingt fremdenfeindlich gemeint ist: Ragna Schacht, ebenfalls Chormitglied, kam vor über 20 Jahren aus Hamburg nach Wenningstedt und hat in einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert ihr Zuhause gefunden: REGIE O-TON 28: (1'10) Ragna Schacht Wir kranken ja jetzt daran, dass eine Generation jetzt alt wird und gern aufhören möchte und nicht das Geld hat, seinen eigenen Besitz zu erhalten ... und deswegen ist es jetzt so, dass viele alte Leute ihren Besitz verkaufen, die Preise sind ja auch entsprechend und dann sich aufs Festland zurückziehen und dann ihren Lebensabend da verbringen, weil sie das hier auf Sylt nicht können. Wir werden immer weniger. Wir werden immer weniger Einheimische und wenn die Alten hier sind und ihre Kinder sind - weil es hier keine Arbeit gab - auf's Festland gegangen oder sind ausgewandert nach Amerika und die Eltern sterben und der Besitz soll veräußert werden in der Erbauseinandersetzung, dann geht das Grundstück weg und jeder nimmt seinen Teil und ist glücklich, und sagt ... vielen Dank liebe Eltern - aber sie sind für uns verloren. und sonst kommen immer mehr Bettenburgen her "im Friesenstil" wie es so schön heißt. das ist unser großes, großes Problem hier auf der Insel - Wir sind eigentlich sehr unglücklich damit. AUTORIN Nicht nur gegen das Hotel Atlantis haben sich die Sylter einst vereint gewehrt, es gibt auch jetzt immer mehr Menschen, die es nicht zulassen wollen, dass der eigentümliche Charakter der Insel zerstört wird: Viel gebaut wurde in Keitum bislang nicht. Doch wer jetzt den Wattweg entlang geht, traut seinen Augen kaum. Unmittelbar in der Nähe des Alten Friesenhauses steht ein graues Monstrum aus Bausteinen. Es sollte eine Therme werden: REGIE O-TON 29: (0'27) Ragna Schacht: Hier in Keitum wird sich jetzt gewehrt wegen der Therme und in Wenningstedt haben wir uns gewehrt gegen den Riesenbau eines Kurhauses. und wir sind damit erfolgreich gewesen - wir sind keine Partei gewesen sondern eine Bürgerinitiative die gesagt hat: Jetzt ist Schluss - wir wollen so was nicht hier haben und das hat Erfolg gebracht. MUSIK Interpret: Musica Antiqua, Ltg. Reinhard Goebel Titel: Gigue: Ebbe und Flut CD: Track: Komponist: G. Ph. Telemann Text: LC/Best.-Nr.: DLR- Archiv#: Ob prominent oder nicht, Menschen kommen nach Sylt, weil die Insel auch jetzt noch eine Ausstrahlung hat, die schon vor hundert Jahren Dichter, Maler, Tänzer lockte. Auch mich lockt sie - außer in der Hauptsaison an ihren Strand, ins Watt, unter ihren Himmel. Hans Jessel, der Fotograf will hier nicht mehr weg. Höchstens mal nach Hamburg, ins Fotolabor: REGIE O-TON 33: (0'20) Hans Jessel Wenn ich meine Landschaften fotografieren kann und meine Ruhe hab und keinen Menschen sehe, bin ich der glücklichste Mensch von der Welt. und da zieht es mich immer hin und da steckt meine Seele. AUTORIN: Und manch einer möchte nicht nur auf Sylt leben, arbeiten oder Urlaub machen, sondern hier auch begraben sein: auf dem Friedhof von St. Severin: REGIE O-TON 33: (0'50) Susanne Zingel Dieser Friedhof bringt die Ewigkeit einem nahe ohne große Worte. Es ist ein wunderschöner Blick und so mit diesem hohen Himmel und dem weiten Horizont kann man es aushalten, dass wir nur kleine Menschen sind und nur ein kleines Leben haben. Zum Schluss braucht ein Mensch nur einen kleinen Platz ganz gleich wie groß oder klein er sich fühlte oder wie er angesehen wurde, - es wird auch gesagt, vor Gott sind wir alle berühmt ... es kommen Menschen auch weit gereist und sagen, hier möchte ich die Ewigkeit erwarten. (lacht) Plätze mit Wattblick sind natürlich besonders begehrt. ... Da muss man manchmal 20 Jahre warten und sich ein langes Leben wünschen. Sprecher Sand und Sisyphus Sylt - die größte norddeutsche Insel Eine Deutschlandrundfahrt mit Michaela Gericke 1