COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport 07. November 2016 Zu Besuch in der sachsen-anhaltinischen Altmark Gardelegen - Porträt einer kleinen großen Stadt Autor: Michael Frantzen Die Hansestadt Gardelegen ist der Fläche nach die drittgrößte Kommune Deutschlands. Allerdings hat der Ort in Sachsen-Anhalt gerade mal rund 15.000 Einwohner. Und noch eine Besonderheit kann Gardelegen aufweisen: Auf einem Gelände, das einst als Truppenübungsplatz der DDR-Volksarmee und der Sowjet-Armee diente, baut die Bundeswehr seit Jahren an einer Retortenstadt - zu Übungszwecken. Die Wege bei uns im Rathaus sind zumindest überschaubar. Überschaubar ist es tatsächlich - im Rathaus der Hansestadt Gardelegen. Montagnachmittag, kurz vor zwei. Draußen kriecht Nieselregen durch alle Ritzen, drinnen verschafft sich Bürgermeisterin Mandy Zepig bei ihrer Sekretärin einen Überblick darüber, was heute noch ansteht: Ein, zwei Telefonate, Papierkram. Keine besonderen Vorkommnisse. In Deutschlands drittgrößter Stadt. Drittgrößte Stadt?! Na, das is gar nich so klein. Ich mein, wir kommen nach Berlin und Hamburg. Und find ich: Wir reihen uns da ganz gut ein. 620 Quadratkilometer groß ist Gardelegen seit der Sachsen-Anhalter Gebietsreform 2011. Knapp 24.000 Einwohner verteilen sich auf 49 Ortschaften. Macht: Pro Quadratkilometer 38 Einwohner. Die SPD-Frau mit den roten Locken rattert die Eckdaten ihrer Mega-Gemeinde nur so runter. Zahlen, Fakten, Statistiken: Damit kennt sich die Juristin aus. Mit der Genese der Gebietsreform auch. Es war keine leichte Geburt. Also: Freiwillig. Mittelmäßig freiwillig. Und total unfreiwillig. Ging die Gebietsreform in Gardelegen über die Bühne. So richtig wollte sie eigentlich keiner - die Zwangsehe. Schon gar nicht die Ortsbürgermeister. Einige zogen bis nach Magdeburg, vors Landesgericht: Vergeblich. Ergo wächst jetzt zusammen, was zwar nicht unbedingt zusammengehört, aber wegen der Magdeburger Vorgaben zusammenwachsen muss. Einen Effizienzzuwachs?! Gibt es bestimmt in einigen Bereichen. Gibt es aber auch bestimmt in einigen Bereichen nicht. Weil - gerade bei uns kann man das gut sehen - die Wege so lang sind, dass man in bestimmten Sachen nicht gerade von Effizienzsteigerung sprechen kann. Das ist auch immer son Irrglaube: Dass Gardelegen unglaublich scharf darauf war, die Gemeinden um uns herum im Rahmen der Gebietsreform als Partner aufzunehmen sozusagen. Es gab verschuldete Gemeinden, die gekommen sind, es gab auch nicht verschuldete Gemeinden, die gekommen sind. Ich möchte damit nur zum Ausdruck bringen: Wir konnten es uns genauso wenig wie alle anderen aussuchen. Zepig ist zurück in ihr Amtszimmer im ersten Stock gegangen. Das Aquarell links vom Schreibtisch mit einer Stadtansicht von Gardelegen: Hat sie selbst gekauft. Alles andere stammt noch von Fuchs, ihrem Vorgänger: Der wuchtige, schwarze Schrank mit den historischen Büchern genauso wie das Schwert mit den Boxhandschuhen direkt gegenüber von der Tür. Sie lacht. Da staunen immer alle. Besonders die Neubürger, die sie manchmal einlädt; Leute aus Wolfsburg oder Berlin, die es in die Altmark verschlagen hat, wegen der Ruhe, dem bezahlbaren Wohnraum. Man kann natürlich nicht erwarten, dass man auf dem sogenannten flachen Land - so sagen immer alle so schön über uns, ja?! - Günstige Preise für Wohnraum hat und gleichzeitig ne kulturelle Versorgung wie in Berlin. Das funktioniert nicht. Und wir haben natürlich auch keine dementsprechende Verkehrsanbindung. Allerdings: Wenn ich nach Magdeburg zum Konzert fahre, fahre ich 45 Minuten. Und auch wenn ich in bestimmten Bereichen von Berlin wohne, brauch ich 45 Minuten, um die Location zu erreichen. Kein Autobahnanschluss: Zepig winkt ab. Das Thema ist durch. Daraus wird in absehbarer Zeit nichts. Industrie hat sich seit der Wende auch so angesiedelt. Ein Kunststoffhersteller mit rund tausend Mitarbeitern, diverse Autozulieferer, die VW in Wolfsburg beliefern. Ikea war auch mal da, bis sich der schwedische Möbelhersteller 2009 entschloss, seine Bücherregale aus Kostengründen lieber in der Slowakei produzieren zu lassen. Mit einem Schlag fielen 178 Arbeitsplätze weg. Haben sie auch noch weggesteckt. Die Altmärker sind hart im Nehmen. Und bodenständig. So ein richtiger Altmärker ist dem Boden im wahrsten Sinne des Wortes wirklich sehr verbunden. Und bei mir war es tatsächlich so gewesen: Ich bin zum Studium weggegangen, das ging nicht anders, aber dann wollte ich auch nirgendswo anders wohnen als hier, das mein ich eigentlich. Vor acht Jahren hat Zepig geheiratet, unten im historischen Standesamt. Richtig romantisch, auch wenn die Ehe - unromantischerweise - nach drei Jahre in die Brüche ging. Hat sie halt mehr Zeit für ihre Tochter. Und ihren Job als Bürgermeisterin. Schließlich gilt es, eine Familientradition hoch zu halten. Mein Großvater war schon Bürgermeister - allerdings in einem kleinen Ortsteil, der jetzt zu Gardelegen gehört. Das war zu DDR-Zeiten. Da war das Ganze noch nen bisschen anders: Die Bürgermeisterei. Und auch mein Großvater als Bürgermeister wäre ne Persönlichkeit, die heute wahrscheinlich so nicht mehr bestehen könnte. Wie soll ich sagen: Die Art der Zusammenarbeit unter den Bürgermeistern und auch den damaligen sowjetischen Freunden wäre heute vielleicht nicht mehr so ganz zeitgemäß. Die sowjetischen Freunde - das waren die 15.000 Soldaten, die bis zur Wende auf dem größten DDR-Truppenübungsplatz stationiert waren. Zepig schließt für ein paar Sekunden die Augen. Laut war es damals, sehr laut. Besonders, wenn Manöver war. Dann musste immer die große Scheibe des Konsums in Hottendorf, ihrer Heimatgemeinde, mit Spanplatten verbarrikadiert werden. Wegen der Detonations-Wucht. Den Großvater störte so etwas nicht. Ich weiß nur: Es war irgendwann mal was glatt zu biegen und da hat er die sowjetischen Freunde gefragt, ob se mit nem Panzer drüber fahren könnten und das haben se auch gemacht. Das hat auch funktioniert. Guten Tag. - Guten Tag.Das ist Herr Kaiser. - Ich bin Herr Kaiser. Nur ein paar Schritte sind es vom Rathaus bis zum Stadt-Museum von Gardelegen - und damit zu Rupert Kaiser. Alias Julius Beck. Uralt-Bürgermeister. Gardelegens Rekord-Bürgermeister aus Wilhelminischer Zeit ist so etwas wie Kaisers Alter Ego. Kommen se mal! Schauen se mal hier! Zu schauen gibt es eine Menge - im Museum. Allein schon die Original-Apotheke aus dem 19. Jahrhundert: Ein Schmuckstück - frohlockt Kaiser alias Beck - ehe er hinabsteigt in Gardelegens Unterwelt. Im Kellergewölbe lagern alte Bierfässer. Bis vor kurzem brauten sie in der Hansestadt noch das Garley, die älteste Biermarke der Welt. Bis der Besitzer Insolvenz anmeldete und den Hahn zudrehte. Kaiser schüttelt den Kopf. So etwas hätte es unter dem ollen Beck nicht gegeben. Es is so weit gekommen, dass ich den Mann nicht spiele: Dass ich den Mann lebe. Bei Führungen, bei Festen, bei Feiern. Ich lebe diesen Mann. Weil er ein Visionär war. Weil er die Stadt in seiner 42jährigen Dienstzeit eine ganze, ganze Menge geschenkt hat. Vom Straßenpflaster bis hin zur ersten Ansichtskarte. Und hat sozusagen aus Gardelegen ne Weltstadt in einer Westentasche gemacht. Bibliothekar ist Kaiser von Hause aus. Bibliothekar und Kabarett-Wissenschaftler. In der Endphase der DDR hat er in Leipzig Kabarett studiert. Das mag zwar schon etwas her sein, doch seine Liebe zum Kabarett ist ungebrochen - von der zu Julius Beck ganz zu Schweigen. Der Mann mit dem schlohweißen Haar kichert. Immer eine große Freude, wenn er mit Schirm, Charme und Zylinder in seine Parade-Rolle schlüpft; die weißen Handschuhe anzieht - und berlinert, was das Zeug hält - wie damals üblich. Und ick besann mich auf den alten Spruch von Kaiser Wilhelm I. Der sagte: Mir träumte, datt Leben wäre Freude. Ick erwachte und sah: Dett Leben war Pflicht. Ick handelte und siehe: Die Pflicht war Freude. Und so sagte ich mir: Julius! Lass gut sein. So. Nu komm mal rein. Komm. Uri! So is brav. Ganz brav machta das! Von freudiger Pflichterfüllung versteht auch Uri etwas - der Zwerg-Teckel von Joachim Brenz. Einmal Teckel immer Teckel. - Lautet das Motto des Jägers. So ein Kleiner: Können se in die Handtasche stecken. Das is kein Problem. Dienstag-Nachmittag, eine Plattenbausiedlung am Stadtrand. Hier laufen die Stränge des Gardelegener Ablegers des "Deutschen Teckelklubs 1888 e.V" zusammen. 91 Mitglieder hat der Verein, fast alles Jäger, wie Brenz. Der Vorsitzende hat gerade alle Hände voll zu tun. Uri ist erst drei Monate alt - und lässt in Punkto Pflichterfüllung noch zu Wünschen übrig. Kein Vergleich zu seinem Vorgänger. Wenn sie hier mal noch einen Blick reinwerfen möchten. Das sind einige Urkunden. Das ist mal: Der internationale Arbeits-Champion. Dann is der internationale Schönheits-Champion. Und das is dann praktisch der internationale Champion für Schönheit und Gebrauch. Auch wenn Brenzs Teckel allesamt Champions gewesen sind, aber: Die Jagd in den Wäldern und der Heide rund um Gardelegen ist schwieriger geworden. Nicht zuletzt wegen der landwirtschaftlichen Monokultur. Dadurch ist gerade Hasen-, Fasanen-Besatz, Rebhuhn-Besatz zurückgegangen dort. Gerade in der Landwirtschaft: Durch die Monokultur fehlt eben die Artenvielfalt - an der Nahrung und an der Deckung. Dadurch ist automatisch in den 50 Jahren überall hier nen Rückgang zu verzeichnen. Brenz stöhnt leise. Immer nur Probleme. Er ist das schon gewöhnt. Die letzten fünfundzwanzig, dreißig Jahre waren nicht gerade einfach für ihn. Die Wende: Für den Berufsoffizier der DDR- Grenztruppen ein tiefer Einschnitt. Ein paar Jahre lang arbeitete er danach als Leiter eines Sonderposten-Marktes, bis Aldi, Lidl und CO die Preise kaputt machten. Also noch mal Umsatteln, zum Anzeigen-Berater. Jetzt ist er in Rente - und hat Zeit. Viel Zeit. Für die Jagd und um sich als "mündiger Staatsbürger", wie er das nennt, zu informieren. Vorzugsweise über das, was schief läuft in Gardelegen, der Mega-City wider Willen. Vielfach gibt's keine Ortsbürgermeister mehr. Der also wirklich vor Ort Ansprechpartner ist dort. Und letztendlich hängt heute alles mit Finanzen zusammen. Demzufolge haben es die kleinen Orte sehr, sehr schwer, ihr eigenes Dorfleben zu gestalten. Die Leute haben wahnsinnige Wege. Es fängt an: Kindergarten, Schulen, berufliche Tätigkeit. Ich sag mal: Wenn sie jetzt nen Führerschein- Problem haben, müssen se jetzt von Gardelegen nach Salzwedel fahren. Sind über vierzig Kilometer. Bis nach draußen sind es nur in paar Schritte, einmal das Treppengeschoss runter. Na, ich werd mal meine Pfeife mitnehmen. Übung macht den Meister; den Teckel-Meister. Findet Brenz. Uri nicht unbedingt. Wo issa denn? Ach, da hinten hatta irgend watt. So geht das natürlich nicht. Von wegen Gehorsam. Doch Uri und sein Herrchen haben einen langen Atem. So is brav. Fein machta das. Andere in der Siedlung weniger. Brenz schaut rüber zur Garage, wo gerade ein glatzköpfiger Typ dabei ist, seinen Wagen reinzufahren. Der schon wieder! Den kennt er schon. Samt seines Anhangs. Fast in jedem Eingang sind hier Hunde. Bloß datt Problem is (lacht) Die werden nich ausgebildet. Nüscht. Die Hunde machen, watt se wollen. Die Leute nehmen kein erzieherischen Einfluss auf die Hunde. Da geht der Hund mit den Leuten spazieren und nich umgekehrt. Zumindest sie ist wohlerzogen: Nani, die Golden-Retriever-Dame von Gert Hinke. Ein neuer Tag, eine andere Ecke von Gardelegen, einmal quer durch die Heide - und auch hier ein Hundeliebhaber und Fusions-Skeptiker. Gert Hinke ist Pfarrer von Letzlingen und Solpke, zwei Ortsteilen von Gardelegen. Als solcher wohnt er im Pfarrhaus am Waldrand. Idyllisch ist es hier. Ziemlich sogar. Ab und zu fährt ein Auto über das krumme Kopfsteinpflaster: Ansonsten: Rauschen nur die Bäume leise vor sich hin. Hinke genießt das. Die Ruhe. Den Riesen-Garten. Eigentlich eine Bilderbuch- Idylle, doch auch den Gottesmann plagen Sorgen; Identitäts-Sorgen. Das halt ich für schwierig. In diesem Riesengebiet ne gemeinsame Identität zu schaffen, sozusagen: Wir sind Gardelegen. Ich würde mal so sagen: Lokal leben, aber global denken. Hinke versteht nicht nur etwas von Dialektik, sondern auch von Fusionen. Ähnlich wie die öffentliche Hand hat die Evangelische Kirche im Stammland der Reformation den Rotstift angesetzt - angesichts des demografischen Wandels und leerer Kassen. Stellenstreichungen, auslaufende Verträge, Fusionen: Hinke kennt das nur zu gut. Seit kurzem gehören auch die fünf Dörfer rund um Solpke zu seinem Pfarrbereich. Ich betreue ich jetzt zehn Dörfer in der Fläche - mit ganz unterschiedlichem Gepräge. Man möchte eigentlich nen bisschen schmunzeln und gleichzeitig auch nen bisschen weinen. Denn Fusionen sind ja nicht gerade Liebesehen. Sondern sie haben mit Vernunft zu tun. Mit Notwendigkeiten. Das hat in meinem Fall damit zu tun, dass der Vorgänger in Ruhestand gegangen ist. Und es naheliegend war, den Nachbarn zu fragen, ob ich denn auch die Gemeinde übernehme. Hinke versucht das Beste aus der Situation zu machen; kurvt von einem Ort zum anderen, der manchmal mehr Probleme hat als Bewohner. Sich anpassen - das konnte er schon immer. Der Geistliche war früher Seelsorger im Gardelegener Krankenhaus - und davor 12 Jahre lang Soldaten-Seelsorger im nahegelegenen Gefechtsübungszentrum. Auch nicht immer einfach. Junge Soldaten in Zeiten von Auslandseinsätzen damit zu konfrontieren, dass es bei ihren Einsätzen um Leben und Tod gehen kann. Wir müssen diesen worst case immer vor Augen haben. Und das nicht ausblenden. Gerade junge Menschen, die sich gut und stark und fit finden, neigen dazu, sich nicht mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen. Da hatte ich immer den schwierigen Part zu sagen: Es geht um die letzten Dinge auch. Kritik an seiner Tätigkeit damals als Soldaten-Seelsorger: Nein, meint Hinke im Wohnzimmer des Pfarrhauses, in dem sich eine Martin-Luther-Playmobil-Figur in friedlicher Koexistenz mit einer Bach-Schallplatte übt: Nein, das habe es selten gegeben. Hier vor Ort erlebe ich, dass eine große Sympathie für das Gefechtsübungszentrum is. Dass Menschen sagen: Das is in Ordnung, dass das stattfindet. Dass diese Arbeit geleistet wird. Im Verhältnis zu Schnöggersburg is man hier, glaube ich, etwas zweigespalten. Schnöggersburg - das ist die Übungsstadt, die die Bundeswehr gerade auf dem Gelände des Gefechtsübungszentrums aus dem Boden stampft. Weil das ne ganz neue Dimension bekommt. Dann sagen auch Menschen: Warum habt ihr nicht in Hütten die alte Liegenschaft als Übungsstadt hergerichtet? Da runzeln manche Menschen schon die Stirn. Muss so viel Geld in die Hand genommen werden, um dieses Szenario abzubilden? Eine Retortenstadt, quasi als Lebensversicherung für Bundeswehr-Soldaten: Knapp 17 Kilometer Straßen sind schon verbaut, 350 Meter U-Bahn, diverse Häuser und ein sogenannter Sakralbau. Anfang 2018 soll es losgehen, werden sich Bundeswehrsoldaten in Häuser verschanzen, Scharfschützen auf den Dächern lauern. Krieg im 3-D-Format, als Teil einer Live-Simulation, ohne dass auch nur ein Schuss fällt: Die Bundeswehr lässt sich ihr Vorzeigeprojekt einiges kosten. 140 Millionen Euro, geplant waren eigentlich hundert. Für Thomas Herzog, den Pressesprecher des Gefechtsübungszentrums, gut investiertes Geld. Auch Afghanistan: Kabul, Mazar-e-Sharif, sind ja auch nicht gerade kleine Städte. Es wird also immer wieder darauf hinauslaufen, dass die Soldaten, die für diese Auslandseinsätze vorgesehen sind, so effektiv wie möglich dafür auszubilden sind. Und ausgebildet werden müssen." Herzog hat sich an diesem verregneten Herbstmorgen Verstärkung geholt. Neben ihm im Besprechungszimmer sitzt Versorgungs-Offizier Thomas P. Er ist für die ganze Logistik zuständig. Vom Kampfpanzer bis hin zur kleinsten Ausstattung. Nehmen wir an: Ein Spaten. Oder irgendwas. Thomas P. ist in Gardelegen geboren, seitdem er eigene Familie hat, wohnt er nicht allzu weit entfernt, in Bismarck. Tiefste Altmark. Sprich: Viel Platz, lange Wege und mit etwas Glück noch ein Verein im Ort. Als sozialer Anker, wie der Fußballverein, bei dem sich der Bundeswehrmann als Trainer engagiert. Zwei Mal die Woche die F-Jugend. Alles ganz easy, meint der Familienvater. Genau wie das mit der beruflichen Akzeptanz. Gerade Sachsen-Anhalt - sind ja viele noch verbunden mit der Armee durch die NVA. Haben da ihre entsprechenden Erfahrungen gemacht. Man kommt leicht ins Gespräch über solche Themen. Die fragen dann halt: Wie ist das heute? Im Gegensatz zu früher? Sagen natürlich: Ja, früher hatten wir es viel schwerer in der Armee. Die stehen dem alle wirklich aufgeschlossen und positiv gegenüber, muss man wirklich sagen. Das war nicht immer so. Nach dem Abzug der Sowjets wollten die meisten hier nur ihre Ruhe; beschloss der Landtag Sachsen-Anhalts 1991 die Heide zivil zu nutzen. Bundestag und Bundeswehr aber hatten andere Pläne. Mit dem sogenannten "Heide-Kompromiss" köderten sie die Bevölkerung; dem Versprechen neue Jobs zu schaffen. Tatsächlich entstanden 1200 Arbeitsplätze - bei der Bundeswehr und dem Technikzulieferer Rheinmetall. Die zusätzliche Kaufkraft für die strukturschwache Region gab es oben drauf: Soldaten - hieß es - seien nach Feierabend auch nur Konsumenten. Jemanden wie Malte Fröhlich wird da ganz anders. Für den Mann von der "Bürgerinitiative Offene Heide" ist das Gefechtsübungszentrum vor allem eines: Ein rotes Tuch. Die Motivation ist der Blick in den Abgrund. Eine der wesentlichen Aufgaben der Bundeswehr ist nicht mehr Verteidigung, sondern den Zugang zu Rohstoffquellen und Märkten abzusichern. Ne koloniale Aufgabenstellung wird von der Politik ganz offen formuliert. Der Friedensaktivist wohnt zwar außerhalb von Gardelegen, in Tangermünde, doch so oft es geht, macht er sich auf den Weg zum Gefechtsübungszentrum. Erst vorgestern war er wieder auf dem unwegsamen Gelände unterwegs. Wir sind zu wenig. Ja?! Wenn ständig Leute auf dem Platz rum turnen, dann wäre keine Übung mehr möglich. Das heißt, es ist schon ne Anforderung an uns. Es müssten nur ständig zehn Leute auf dem Platz sein - dann ist die Übung hier vorbei. Der Protest hat nachgelassen - das weiß auch Fröhlich. Selbst beim diesjährigen Protestcamp Ende Juli waren weniger Teilnehmer dabei als in den Jahren zuvor. Doch klein beigeben: Das kommt für den Gründer der Bürgerinitiative nicht in Frage. Und so legt er es weiter darauf an, sich von der Polizei erwischen zu lassen - beim "illegalen Grenzübertritt". Immer wieder hundert Euro kriegen wir. Es wird nicht mehr. Obwohl bei jedem Prozess sag ich immer dazu: Ich komme wieder. Geben se mir endlich mehr. Es hängt damit zusammen, dass ab 150 Euro wäre der Klageweg uneingeschränkt möglich. Und die wollen natürlich nicht, dass wir irgendwann mal vorm Verfassungsgericht stehen. So bleibt es bei den hundert Euro - und "nur" einer Ordnungswidrigkeit. Unglaublich, das ganze. Findet Fröhlich. Genau wie die Sache mit dem Werbe-Brief, der heute in der Post lag - für seine Tochter. Absender: Die Bundeswehr. Als potentieller Arbeitgeber. Fröhlich tippt sich an die Stirn - ehe er aufspringt und über den knarzenden Flur seines Fachwerk-Gemäuers nach draußen stürmt. - Spielplätze aus Holz: Auf die Geschäftsidee ist der Altmärker, der sture, schon vor über zwanzig Jahren gekommen. Da ist die nächste Drachenskulptur. Aber ich komm immer nur Stückchenweise dazu. Das Geschäft läuft nicht schlecht. Fröhlich hat schon Spielplätze in Rostock gebaut; in München und Berlin. Demnächst geht es nach Frankfurt am Main. Ist ihm fast schon ein bisschen zu viel des Guten. Die ganze Rumfahrerei; dass er immer weniger Zeit hat für die Familie, seinen Protest. Doch der Klein-Unternehmer, der Friedensbewegte, hat keine andere Wahl. Schließlich läuft es in der Altmark nicht mehr so rund. Dass ich jetzt hier in der Region Probleme hab. Ich habe in diesem Jahr ganz viele Aufträge verloren. Und drei Leute sind zu mir gekommen, die haben mir unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit erzählt, dass ihnen nahe gelegt worden ist, mit mir nicht zu bauen, weil sie ansonsten Fördergelder nicht bekämen. Das ist unser kleines Reich hier. Wo sehr viel produziert wird. Zurück in die Altstadt von Gardelegen - ins Napoli, der Pizzeria am Platze. Und alles Deutsche: Ja. Das haben wa schon nen paar Mal gehört. So dass sie fragen: Oh! Ihr seid ja gar keine Italiener. Maik Eulenberg mag zwar kein waschechter Italiener sein, aber zumindest hat er sein Handwerk bei Italienern gelernt. Erst, direkt nach der Wende, neun Monate lang bei einem Pizzabäcker in Wolfsburg, später dann in Neapel, in der ältesten Pizzeria dort. Die machen doch nen bisschen weniger drauf. Aber bei uns die Leute: Am besten doppelt Käse. Oder doppelt Salami. Mehr ist mehr: Das ist auch das Motto von Maiks Angestellter Mella. Hawaii. Salami. Margarita. Die Hotdog-Pizza is sehr gut. - Da wird dann keine Tomatensauce drauf gemacht. - Senf und Curry und Ketchup. - Genau. Dann kommt Bockwurst mit drauf. Käse. Gurke und Röstzwiebeln. Fertig ist der kulinarische Leckerbissen. Da sieht man auch noch mal...is, glaub ich, einjähriges. Jawoll. Da wurde gefeiert. Anständig. Eine Pizzeria in der Altmark: Kurz nach der Wende hielten viele das für eine Schnaps-Idee, allen voran Maiks alter Chef aus dem Elektrobetrieb. Angefangen hatten wir mit nem Pizzawagen. In der Bauzeit, wo wa hier gebaut haben, hatten wa hier nen Pizzawagen zu stehen, inne Stadt. Und da schon Pizza verkauft. Das Geld, was wa da fleißig verdient haben, haben wa natürlich immer abends gleich Baumaterial von gekauft. Maiks Sprung ins kalte Wasser, das italienische: Er entpuppte sich als Glücksfall. Nach der Wiedervereinigung standen Maik und Dirk, sein Geschäftspartner, hinterm Pizzaofen - und seine ehemaligen Kollegen samt Chef auf dem Flur des Arbeitsamts. Maik hat es allen gezeigt - nicht zuletzt den Banken. So wie Gaststätten sind: Rote Tuch für die Banken. Erst mal gucken, wie's läuft. Ja. Und jetzt, wo wa uns selber Eigenkapital geschaffen haben, machen auch die Banken...geht das schon mit Finanzierung. Maik klappt die dicke Kladde mit den Zeitungsausschnitten und Fotos zu. Die Arbeit ruft. Gibt ja auch genug zu tun. Zumal die Konkurrenz nicht schläft. Längst sind andere seinem Beispiel gefolgt - und versuchen ihr Glück als falsche Italiener. Das sind Kosovo-Albaner. Die das machen. Gibt jetzt nämlich auch eine "Steinofen-Pizzeria" - in Gardelegen, der Groß-Stadt in den Weiten der Altmark.