COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 18. Februar 2010 Redaktion: Peter Kirsten Nur der Tod ist sicher Theorie und Praxis der Risikoabwägung Von Matthias Eckoldt Regie: Musikakzent Sprecherin: Ende der siebziger Jahre wuchs das Verkehraufkommen in Mexiko-City und Umgebung so enorm, dass sich die örtlichen Behörden zum Handeln genötigt sahen. Die Kapazität des Viaducto - einer vierspurigen Autobahn - musste erhöht werden. Die Verbreiterung der Straße war nicht möglich, ein Neubau zu kostspielig. In dieser Situation kamen clevere Stadtplaner auf die Idee, die Fahrbahnmarkierungen so zu verändern, dass aus der vier- eine sechsspurige Bahn wurde. Sprecher: Die Beförderungskapazität stieg mit diesen Pinselstrichen statistisch um fünfzig Prozent. Von 4 auf 6. Leider aber verhagelte dieser Trick in kurzer Zeit die Unfallstatistik so sehr, dass die Autobahn wieder in eine vierspurige Straße umgewandelt werden musste. Um dennoch einen Erfolg zu feiern, machten die Stadtbeamten folgende Rechnung auf: Sprecherin: Die Reduzierung von sechs auf vier Spuren entsprach einer Abnahme der Beförderungskapazität um 33 Prozent, da zwei bekanntlich ein Drittel von sechs ist. Diese 33 Prozent zog man von den zuvor erreichten fünfzig Prozent ab und beglückwünschte sich zur immerhin 17-prozentigen Erhöhung der Verkehrskapazität und damit zur Förderung der Infrastrukturentwicklung. Regie: Musik Sprecher: Für solche und ähnliche Narreteien eignet sich die Statistik hervorragend. Auch wenn die exakte wissenschaftliche Methode eigentlich zum systematischen Umgang mit Daten geschaffen wurde und verlässliche Resultate liefert, können durch die Interpretation der Prozente Zerrbilder entstehen. Sprecherin: Winston Churchill wird verschiedentlich der vielzitierte Apercu zugeschrieben: Zitator: Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe. Sprecherin: Ob das der ehemalige britische Premierminister wirklich jemals gesagt hat, ist nicht sicher. Aber was ist schon sicher? Zitator: In dieser Welt ist nichts sicher außer dem Tod und den Steuern. Sprecher: Das sagte, beziehungsweise schrieb - ganz sicher - ein anderer Staatsmann. Benjamin Franklin im Jahr vor seinem Tod. Sprecherin: Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, hat den Satz des Gründungsvaters der USA zum Gesetz erhoben. (1)O-Ton(51:40): Die elementarste Stufe ist die, dass man die Illusion der Gewissheit loswird. Also, man kann sich jeden Tag zum Zähneputzen Benjamins Franklins Satz vorsagen: In dieser Welt ist nichts sicher außer dem Tod und den Steuern. Dann sind wir eins weiter. Und dann glaubt man nicht mehr an Astrologie, an die Versprechungen von manchen Versicherungen undsoweiter. Man ist etwas entspannter und kann etwas selbstbestimmter mit seinem Leben umgehen. Sprecherin: Diesen Weg fort von den falschen Sicherheitsversprechen in einer stets im Wandel begriffenen hochkomplexen Welt weist der Psychologie-Professor Gigerenzer mit Büchern wie "Reckoning with Risk" und "Calculated Risks". Sprecher: Auf diese Bücher - letzteres erschien nach dem internationalen Erfolg in deutsch unter dem Titel "Das Einmaleins der Skepsis" - wurde der britische Investmentbanker David Harding aufmerksam. Nach der Lektüre stiftete er Gigerenzer einen siebenstelligen Euro-Betrag für den Aufbau eines Zentrums für Risikoforschung in Berlin. (2)O-Ton(3:50): Als das Harding Center für Risikokompetenz eröffnet wurde, hat David Harding ... es so erklärt: Er sagte, ich habe mein Vermögen gemacht zum Teil aus der Unkenntnis der Bevölkerung, mit finanziellen Risiken umzugehen. Und jetzt möchte ich etwas dazu tun, das sich das ändert. Sprecher: Die von Harding apostrophierte Unfähigkeit der Bevölkerung im Umgang mit Risiken gründet wesentlich darin, dass Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung menschheitsgeschichtlich eher jüngeren Datums sind. Sprecherin: Zwar geht die klassische Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Blaise Pascal zurück, der bereits im 17. Jahrhundert versucht, dem Zufall seine Gesetzmäßigkeiten abzulauschen, um die Chancen eines Freundes beim Glücksspiel zu erhöhen. Doch öffentliche Statistiken gelten noch bis Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Europa als Staatsgeheimnisse. Sprecher: Erst in den modernen Demokratien ergießt sich die Flut der Relationen und Zahlen in die Öffentlichkeit und täuscht den Einzelnen darüber hinweg, dass nichts wirklich sicher ist ... Zitator: ... außer dem Tod und den Steuern. Sprecherin: So scheint Franklins Gesetz in seiner ganzen Tragweite bis heute noch nicht im gesunden Menschenverstand angekommen zu sein. Wir halten es - nicht zuletzt auch in Bildung und Ausbildung - eigentlich lieber mit der Mathematik der Sicherheiten wie Geometrie und Algebra, als mit der Wissenschaft der Unsicherheit. Sprecherin: Die Erhöhung der Kompetenz, aus abstrakten Prozentzahlen tatsächliche Gegebenheiten und mögliche Risiken abschätzen zu können, ist Gegenstand der Arbeit am Berliner Harding Center. In den mittlerweile zehn Monaten seiner Existenz widmeten sich die Wissenschaftler um Gerd Gigerenzer beispielsweise dem Thema Gesundheit. Hier steht die Krebsfrüherkennung an erster Stelle. Zitator: Ab dem Alter von 50 Jahren bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres besteht für Frauen alle zwei Jahre ein Anspruch auf ein qualitätsgesichertes Mammographie- Screening - eine Röntgenuntersuchung der Brüste. Flächendeckend sollte dies bis 2009 realisiert werden. Zum Untersuchungstermin werden die anspruchsberechtigten Frauen schriftlich eingeladen. Sprecher: So ist es auf der Seite der Deutschen Krebshilfe zu lesen. Verbunden mit den Hinweisen: Sprecherin: ... dass je früher ein Tumor erkannt wird, desto größer die Heilungschancen sind. Sprecher: ... und Sprecherin: ... dass Krebsfrüherkennungsuntersuchungen zu den Standardleistungen der Krankenkassen gehören. Sprecher: Bei soviel medizinischer Autorität wird jede verantwortungsvolle Frau der Einladung zum Mammographie-Sreening folgen. Zumal, wenn sie noch einen Blick auf die Statistiken wirft: Zitator: Für Frauen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren ergaben die Metaanalysen eine statistisch signifikante Reduzierung der Brustkrebs-Sterblichkeit als Folge der Mammographie-Screening-Programme um 20 Prozent nach 5 bis 6 Jahren. Sprecherin: Die unabhängig von jedem Verdacht durchgeführten Reihenuntersuchungen der Frauen verringern also ihr Risiko an Brustkrebs zu sterben um ein Fünftel - könnte man meinen. Sprecher: An dieser Stelle setzte Gerd Gigerenzer mit seinem Team ein und sah sich die Statistiken genauer an: (3)O-Ton(Gigerenzer 22:10): Was meistens nicht erklärt wird, ist der Nutzen und der mögliche Schaden von diesem Screening. Dieser ist bestens bekannt. Von ungefähr tausend Frauen, die zum Screening gehen in diesem Alter, werden etwa vier an Brustkrebs innerhalb der nächsten zehn Jahre sterben. Und von tausend Frauen, die nicht gehen, werden es fünf sein. Also die Reduktion ist von fünf auf vier in tausend. Also eins in tausend. Das sollte man jeder Frau erklären. Sprecherin: Eine Frau von tausend stirbt durch den Einsatz des flächendeckenden Mammographie- Sreenings weniger an Brustkrebs. Das entspricht jedoch in Prozent ausgedrückt nicht 20 Prozent, sondern lediglich Null Komma einem Prozent oder einem Promill! Sprecher: Was ist nun richtig? Verringert das Mammographie-Sreening die Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs zu sterben um 20 oder um null Komma ein Prozent? Sprecherin: Es ist beides richtig - es kommt, wie bei jeder Statistik - nur auf die Darstellungsweise an: (4)O-Ton(Gigerenzer 24:20): An diesem Beispiel kann man das ganz gut zeigen. Eines ist der Unterschied zwischen den relativen und den absoluten Risiken. Ein absolutes Risiko ist ehrlich, klar, das versteht jeder: Eine in tausend stirbt mehr an Brustkrebs. Das werden viele Frauen, die diese Sendung hören, zum ersten Mal hören. Denn wenn sie Informationen kriegen, ist das meistens in relativen Risiken, weil die Zahlen besser aussehen. Sie sind größer. Nämlich, man sagt: Die Reduktion von fünf auf vier in tausend ist zwanzig Prozent. ... Zwanzig Prozent Risikoreduktion klingt viel besser als null Komma ein Prozent. Also hier wird auch mit der Bevölkerung gespielt, indem man den Nutzen so darstellt, als wäre er viel größer. Und wir wissen, dass die meisten Frauen das auch gar nicht ahnen, dass sie hier in die Irre geführt werden. Und zugleich, wenn dann der mögliche Schaden vom Mammographie-Screening angegeben wird, dann spricht man in absoluten Zahlen. Man sagt, dass vielleicht eine von zehntausend Frauen durch die Strahlen mehr Brustkrebs bekommt oder dran stirbt. Da wird plötzlich mit absoluten Zahlen gesprochen, weil die jetzt klein aussehen. Sehen Sie den Trick? Und dieser Wechsel von relativen und absoluten Risiken - je nachdem, wie man die Menschen beeinflussen möchte - das ist eine sehr, sehr verbreitete Methode. Sprecher: Die absoluten Zahlen stimmen nicht sonderlich optimistisch. Aber die eigentliche Pointe kommt erst noch. Denn wenn man tiefer in die wissenschaftlichen Untersuchungen einsteigt, wird deutlich, dass die Frauen, die sich für die Teilnahme am Screening entscheiden, gewissermaßen nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben: O-Ton(Gigerenzer 22:40): Und es ist auch wichtig, dass man weiß: Das ist die Sterblichkeit an Brustkrebs. Die Gesamtsterblichkeit an allen Krebsformen - da gibt es keinen Unterschied. Also wird kein Leben gerettet damit. Es stirbt halt eine Frau weniger mit der Diagnose Brustkrebs, sondern stirbt ... mit einer anderen Diagnose. Sprecherin: Zudem hat das Mammographie-Sreening jenseits der Strahlenbelastung noch weitere negative Begleiterscheinungen. Sprecher: Eines der gravierenden Probleme der Früherkennung sind die Definitionskriterien für ein positives Resultat. Schließlich liegt es in der Natur der Sache, dass es unabhängig von ersten Symptomen oder Verdachtsmomenten durchgeführt wird. Zum Screening kommen also überwiegend gesunde Frauen. Sprecherin: Nun werden bei der Untersuchung alle möglichen Formen von Zellveränderungen als positives - also verdächtiges - Resultat diagnostiziert, die sich zu einem großen Teil überhaupt nicht zum Brustkrebs entwickeln. Diese Ergebnisse nennt man falsch-positiv. (6)O-Ton(Wegwarth 2:45): Dass also Frauen, die gar keinen Brustkrebs haben, als positiv diagnostiziert werden. Sprecher: Odette Wegwarth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Harding Center im Max- Planck-Institut für Bildungsforschung. (7)O-Ton(dito): Eine Mehrzahl dieser Frauen kann noch durch weitere Biopsien, die dann aber schon eingreifend in den Körper sind, kann da noch abgeklärt werden, dass das falsch- positive Befunde sind. Aber für einen gewissen Anteil von Frauen eben nicht. Und die Schätzungen, die variieren. Es wird geschätzt, dass ungefähr fünf von tausend Frauen überdiagnostiziert und überbehandelt werden. Also für diese fünf Frauen wird der pathologische Befund, der dann aufgrund der Biopsie gestellt wird, weiterhin positiv bleiben. Sie werden auf Brustkrebs behandelt, weil sie die Brustkrebsdiagnose erhalten. Und hätte es kein Screening gegeben oder hätten sie nie am Screening teilgenommen, wären sie nie als Brustkrebspatienten diagnostiziert worden und hätten ... gelebt ohne jemals zu glauben, sie wären Brustkrebspatientinnen. (8)O-Ton(Gigerenzer 42:00): Ich habe einhundertsechzig Gynäkologen - das sind alles erfahrene Gynäkologen - es handelt sich hier um die ärztliche Fortbildung - gefragt: Stellen Sie sich vor, eine Frau kommt zu Ihnen, die gerade Anfang fünfzig ist, ... sie ist zum Mammographie-Sreening gegangen, und das Ergebnis ist positiv, das heißt verdächtig. Sie möchte jetzt von Ihnen wissen: Herr Doktor oder Frau Doktor, habe ich jetzt Brustkrebs? Wie wahrscheinlich ist es denn? ... Also wie soll ich schlafen, bis ich das Ergebnis der Biopsie habe. Sie müssten jetzt eigentlich meinen, dass jeder Arzt das sofort beantworten könnte. Und die wissenschaftliche Evidenz, die ist da. ..... Die Mehrheit dachte, dass von zehn Frauen, die im Screening positiv getestet sind, neun oder acht Krebs haben. Die wissenschaftlichen Studien zeigen, dass das nicht richtig ist, sondern nur eine von zehn! Und Sie sehen hier, wie wiederum mangelnde ... Risikokommunikation, das Verstehen von Prozenten, ... dazu führt, dass unnötige Ängste geschürt werden in den Frauen. ... Wenn ein Arzt sagen kann: Schauen Sie, von zehn Frauen, die in ihrer Situation sind, hat nur eine Krebs. Neun sind falscher Alarm. Dann geht man doch etwas beruhigter raus. Sprecherin: Ähnlich erschreckend waren die Ergebnisse einer Umfrage, die Odette Wegwarth initiierte. Sie rief mit ihrem Team in gynäkologischen Arztpraxen an und gab sich als Tochter einer fünfundfünfzigjährigen Frau aus, die gerade eine Einladung erhalten hat, am Mammographie-Sreening teilzunehmen. Sprecher: Die Mutter, so die Under-Cover-Legende, will jedoch nicht zu dem Screening gehen, sie als Tochter aber denkt schon, dass ihre Mutter teilnehmen sollte und will nun - bevor sie weiter mit ihrer Mutter diskutiert - die Meinung eines Experten hören und will mehr über den Test und über das Risiko wissen, ob ihre Mutter Brustkrebs haben könnte. (9)O-Ton(Wegwarth 5:15): Wir haben dort angerufen und haben diese Fragen gestellt und haben gemerkt, dass wir in der Mehrzahl der Fälle keine Zahlen erhalten. Also auf Nachfrage des Nutzens wurde der Nutzen als groß und gut dargestellt. Und wenn er überhaupt quantitativ dargestellt wurde, dann war es in der Form der relativen Risikoreduktion - also ... 20 Prozent. ... Wenn es dann um die Frage der Nebenwirkungen ging, ... dann wurde die Informationen noch schlechter. In der Mehrzahl haben uns die Gynäkologen gesagt: Absolut harmlos. ... Ich würde den - verglichen mit dem Nutzen nicht als harmlos bezeichnen. Und wenn, sollte das natürlich absolut in der Entscheidung der Frau selbst sein, ob sie das harmlos findet oder nicht. ... Insgesamt waren die Gynäkologen nicht besonders informiert über den Nutzen und Schaden der Mammographie. Es ist also anzuzweifeln, dass zumindest ... diese Stichprobe von Gynäkologen, die wir befragt haben, ihren Patiententinnen ein realistisches Bild über die Mammographie vermitteln kann. Wenn man bedenkt, dass zehn Millionen Frauen zwischen fünfzig und neunundsechzig Jahren in Deutschland jetzt die Möglichkeit haben, an der Mammographie teilzunehmen, dort auch ... regelmäßig Einladungen bekommen, ist das natürlich eine erschreckende Bilanz. Regie: Musikakzent Sprecher: Gut, dass man keine Frau ist, könnten die Männer sagen, nachdem sie von der realistischen Risikoabschätzung des Mammographie-Screenings gehört haben. Sprecherin: Allerdings gestaltet sich die Sachlage bei dem Krebs, den die Männerwelt exklusiv bekommen kann, noch problematischer. Auch für das Prostatakarzinom gibt es ein weitflächiges Früherkennungsprogramm. Zitator: Ich rate jedem dringend, den PSA-Test machen zu lassen. Wenn der PSA-Wert normal oder niedrig ist, ist alles in Ordnung. Ist er aber hoch, dann gibt es ein Problem. Sprecher: So forderte der ehemalige Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani, seine Landsleute zur Vorsorgeuntersuchung auf, nachdem bei ihm Prostata-Krebs diagnostiziert wurde. Sprecherin: PSA steht für Zitator: Prostata-spezifisches Antigen. Sprecherin: Die Chancen allerdings, dass sich bei einem erhöhten PSA-Wert tatsächlich ein Prostata-Krebs entwickelt, sind nicht sehr hoch. (10)O-Ton(Gigerenzer 28:25): Prostatakrebs-Früherkennung. Der Nutzen, der liegt bei entweder Null in tausend oder eins in tausend - das ist ein Streitpunkt, der liegt irgendwo dazwischen - von Männern, die weniger an Prostatakrebs sterben. Und wiederum die Gesamtsterblichkeit ist dieselbe. Es wird kein Leben gerettet. Es stirbt nur keiner oder einer weniger mit der Diagnose Prostatakrebs von je Tausend. Auf der anderen Seite haben wir klare Nachteile, die dokumentiert sind. Nämlich eine sehr hohe Anzahl an falschen Alarmen, die dann zu unnötigen Biopsien führt. Und noch mehr als beim Mammographie-Screening als Konsequenz diese schlafenden Krebse, die sich nicht weiter entwickeln, die man aber nicht voneinander unterscheiden kann und dann operiert man sie halt. Und diese Männer, die an einem Krebs operiert werden, den sie nie bemerkt hätten, während ihres Lebens, die haben nur Schaden. Zum Beispiel Inkontinenz und oder Impotenz. Und das könnte man den Männern sagen. Und dann kann sich ein deutscher Mann sagen: Jetzt lass ich mir nichts mehr sagen, jetzt entscheide ich selbst! Aber um dahin zu kommen, brauchen wir ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Mehr Mut. Sprecher: Der von Gerd Gigerenzer eingeforderte Mut müsste sich daran bemessen, inwieweit Menschen willens und in der Lage sind - getreu des Franklinschen Gesetzes - die Illusion der Gewissheit abzustreifen und der Tatsache eingedenk zu sein, dass wir in einer riskanten Welt leben, die nicht gleich dadurch sicherer wird, dass es Tests und Vorsorgeuntersuchungen gibt. Sprecherin: Vor dem Hintergrund, dass Leben riskant ist - nicht zuletzt deswegen, weil es mit dem Tod endet - zeichnet sich die Verantwortung des Einzelnen ab, der die Risiken kennen, gegeneinander abwägen und gewichten muss. Dann wird man im Falle des PSA- Screenings vielleicht zu der Überzeugung kommen, dass man das Ergebnis des Testes erst gar nicht erfahren möchte. Denn wenn man den positiven Bescheid in der Hand hat, wird Unruhe und Angst genährt, die bei genauerer Risikoanalyse bei einem hohen Prozentsatz von Betroffenen gar nicht gerechtfertigt ist. (11)O-Ton(Gigerenzer 30:35): Also der Prostatakrebs ist einer der ungefährlichsten Krebse. Und man schätzt, dass jeder vierte Mann im Alter von fünfzig oder höher eine Form von Prostatakrebs hat. Das heißt: Wir alle müssen damit rechnen. Es ist nichts besonderes. Und man schätzt auch, dass von den Männern, die Prostatakrebs haben, neunzig Prozent nicht an diesem Krebs sterben und die meisten davon ihn nie bemerken. Das heißt, es ist eine Zellveränderung, die sich nicht weiterentwickelt, in dem Sinne, dass es zu einem Symptom wird. ... Und diese einfache Information, die kann einem helfen, ein bisschen entspannter in sein Leben zu sehen. Sprecher: Bei Autopsien von Männern, die über fünfzig waren und eines natürlichen Todes starben, zeigte sich dann auch, dass fast ein Drittel eine Form von Prostatakrebs hatten. So gilt in jedem Fall: Zitat: Es sterben mehr Männer mit Prostatakrebs als an Prostatakrebs. Regie: Musikakzent Sprecherin: Die Aktivitäten des Harding Centers beschränken sich jedoch nicht nur auf medizinische Risikokalkulationen. Auch Wirtschaftsprozesse werden untersucht, ebenso wie das menschliche Fortbewegungsverhalten. Sprecher: Der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter Wolfgang Gaissmaier untersucht im Harding Center weniger konkrete Risikoabschätzungen und Statistiken, als vielmehr wie, warum und unter welchen Bedingungen sich Menschen für bestimmte Handlungsoptionen entscheiden, obwohl sie um das Risiko wissen. Sprecherin: Idealerweise eignet sich für derartige Untersuchungen die Entscheidungsfindung, ob man mit einem Flugzeug fliegt oder mit dem Auto fährt. Dass es riskanter ist ins Auto als ins Flugzeug zu steigen, dürfte sich mittlerweile überall herumgesprochen haben. (12)O-Ton(Gaissmaier 6:50): Um das Risiko eines Überseeflugs zu haben, müssen Sie gerade einmal zwanzig Kilometer mit dem Auto fahren. Sprich: Wenn Sie mit dem Auto zum Flughafen fahren und lebend dort ankommen, dann ist das schon die halbe Miete. Beim Fliegen ist fast nur das Starten und Landen gefährlich. Das heißt, die Distanz, die Sie in der Luft dann zurücklegen, spielt fast keine Rolle. Also ob Sie jetzt von München nach Frankfurt fliegen oder aber von Frankfurt nach New York, das wird fast keinen Unterschied machen. Sprecher: Warum aber fahren Menschen trotzdem mit dem Auto, auch wenn sie fliegen könnten? Sprecherin: Um dieser Frage nachzugehen wurde am Harding Center das Verhalten der US- Amerikaner in Bezug auf die Wahl ihres Beförderungsmittels nach dem 11. September 2001 untersucht. Sprecher: Tatsächlich haben die Amerikaner in den zwölf Monaten nach den Terroranschlägen von New York verstärkt das Auto genommen. Das Verkehrsaufkommen auf der Straße stieg dementsprechend um etwa fünf Prozent. Sprecherin: Die traurige Konsequenz dieses Anstiegs war eine Zunahme der Verkehrstoten. Eintausendsechshundert Menschen mehr als im Durchschnitt der vorangegangenen Jahre ließen auf den Straßen der USA im Jahr nach den Anschlägen ihr Leben. Eintausendsechshundert Menschen starben letztlich bei dem Versuch, das Fliegen zu vermeiden. (13)O-Ton(Gaissmaier 3:45): Wie man den Menschen hierbei helfen kann, ist, indem man ihnen versucht verständlich zu machen, wie ihre eigene Psychologie funktioniert. ... Dass man ihnen erstmal erklärt, wie es zustande kommt, dass sie vor bestimmten Dingen mehr Angst haben als vor anderen Dingen. ... Indem man versucht, ihnen da so Mechanismen erklärt, die da eine Rolle spielen. Also zum Beispiel, dass über Flugzeugabstürze in den Medien sehr viel wilder berichtet wird. Dass hier sehr viel dramatischere Bilder auch zu sehen sind, während die vielen Verkehrstoten sich quasi schleichend übers Jahr verteilen. Von denen bekommt man gar nicht viel mit. ... Es scheint grundsätzlich so zu sein, dass Menschen Angst haben vor Ereignissen, bei denen zu einem Zeitpunkt viele Menschen ums Leben kommen, während dieselbe Anzahl verteilt ums Leben kommt, das sind Dinge, die Menschen nicht so sehr fürchten. Sprecher: Tatsächlich kennt die Medienwissenschaft eine so genannte Nachrichtenwert-Theorie, in der die Selektionsmechanismen der Redaktionen kategorisiert werden. Ganz oben steht darin: Zitator: Das Ausmaß eines Ereignisses - beispielsweise die Anzahl der Toten. Sprecherin: Je mehr Tote zu beklagen sind, desto wahrscheinlicher wird diese Begebenheit ausgewählt, um in den Medien zu erscheinen. Aus einem Unfall, einem Erdbeben oder einem Terroranschlag wird ein Medienereignis. Sprecher: So gilt für die Medien das offene Funktionsgeheimnis: Zitator: Bad news are good news. Sprecherin: Tatsächlich ist es nur schlecht vorstellbar, dass die Realität da draußen in all ihrer Normalität über die Bildschirme flimmert. Oder wie wäre es, wenn über alle geglückten Starts und Landungen auf den Flughäfen dieser Welt berichtet würde? Sprecher: Offensichtlich verspüren wir Menschen eine untergründige Faszination an Katastrophen, eine Art Angstlust. (14)O-Ton(Gigerenzer 17:50): Warum ist das so? Einer der Gründe ist ein Mechanismus, den man so beschreiben kann: ... Wenn viele Menschen auf einmal sterben könnten - nix wie weg! Ein solcher Mechanismus ist wahrscheinlich rational gewesen in unserer Geschichte, wo wir in kleinen Gruppen lebten - zweistellig wahrscheinlich - und der plötzliche Tod eines Teils dieser Gruppe das Überleben des Rests gefährden konnte. Aber das ist heute keine Gefahr mehr. Wir leben nicht mehr in diesen kleinen Gruppen. Hier ist so ein Mechanismus, den man identifizieren kann. Wenn man ihn kennt, kann das Menschen helfen. (15)O-Ton (Gaissmaier dito): Wenn man ihnen versucht verständlich zu machen, wie sie selbst funktionieren, dann könnte es dabei helfen, dass Menschen das durchschauen und dann vielleicht auch von unüberlegtem Vermeidungsverhalten Abstand nehmen. Und das zeigt auch, dass eine Art der Terrorbekämpfung darin auch bestehen müsste, die Menschen darüber aufzuklären, was hier mit ihnen und ihren Ängsten infolge eines Terroranschlages passiert. Regie: Musikakzent Sprecherin: Das Risiko gehört, wie der Soziologe Ulrich Beck seit mehr als zwanzig Jahren in mehreren Büchern eingängig nachgewiesen hat, zur modernen Gesellschaft dazu wie das Amen zur Kirche. Risiko und Unsicherheit wird gleichsam systematisch produziert wie Computer und Autos. Sprecher: Eine unheilige Allianz aus ökonomischen Interessen, schlichtem Unwissen und skandalaffinen Massenmedien hat sich geformt und hält den Einzelnen immer wieder davon ab, für sich und seine Entscheidungen in einer Welt der Unvorhersagbarkeiten Verantwortung zu übernehmen. Sprecherin: Doch um zum vielbeschworenen mündigen Bürger zu werden, muss man - frei nach Kant - den Ausgang aus der teilweise selbstverschuldeten Unmündigkeit gegenüber den Prozenten schaffen. (16)O-Ton(Gigerenzer 48:40): Die gleichen Prinzipien gelten im Bankbereich genauso, man muss sich fragen: Prozent von was?, wie im Gesundheitsbereich, wie im ganz alltäglichen Bereich, wie zum Beispiel die Vorhersage von Regen. Wissen Sie zum Beispiel, was es bedeutet, wenn Sie im Radio hören, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es morgen regnet, dreißig Prozent sei. Dreißig Prozent von was? Wir haben Menschen in fünf Ländern untersucht. Die meisten Berliner denken zum Beispiel, dass das bedeutet, dass es morgen in dreißig Prozent der Zeit regnen wird. Also sieben bis acht Stunden. Andere denken, dass es morgen in dreißig Prozent der Gegend regnen wird, also wahrscheinlich nicht da, wo ich wohne. ... Die meisten New Yorker sind sich sicher, dass weder das eine noch das andere Sinn macht. Sondern es bedeutet, dass es in dreißig Prozent der Tage regnen wird, für die diese Vorhersage gemacht wird. Das heißt, wahrscheinlich überhaupt nicht morgen. Hier sehen Sie an so einfachen Beispielen, wie ... die Menschen die Prozentaussagen gar nicht verstehen und es meistens nicht bemerken. Sprecher: Nur nebenher: Die New Yorker haben Recht! Wenn die Meteorologen Regenwahrscheinlichkeiten für den kommenden Tag angeben, meinen sie damit, dass es in dem betreffenden Gebiet an Tagen mit vergleichbarer Wetterlage in der Vergangenheit mit der im Prozentsatz angegebenen Häufigkeit ein Niederschlagsereignis gab. Regie: Musikakzent Sprecherin: Gerd Gigerenzer und das Harding Center empfehlen uns und unserer Gesellschaft ein Drei-Stufen-Programm zum kompetenten Umgang mit den unvermeidlich auftretenden Risiken. Sprecher: Dabei steht an erster Stelle des eingangs bereits erwähnte Franklinsche Gesetz: Zitator: In dieser Welt ist nichts sicher außer dem Tod und den Steuern. Sprecherin: Wenn durch dieses Mantra der Risikogesellschaft die Illusion der Gewissheit langsam verblasst, kann der nächste Schritt folgen, nämlich: Sprecher: Die fundamentale Unwissenheit über Risiken zu überwinden. Dazu gehört, dass an Schulen und Universitäten die realistische Einschätzung von Risiken gelehrt wird und sich auch jeder Einzelne ermutigt sieht, im Wissen um die Differenz von relativen und absoluten Prozentsätzen nach dem realen Risiko zu fragen. Sprecherin: Auf diesem Niveau könnte dann schließlich drittens der Ruf nach adäquaten Darstellungsformen laut werden, die deutlich herausstellen, was genau die entsprechenden Bezugsgrößen für Zahlen und Prozente sind. Damit wäre der Weg frei für eine effiziente Risikokommunikation sowie für das Misstrauen jenen gegenüber, die - aus welchen Gründen auch immer - die vernünftige Einschätzung von Risiken zu verhindern suchen. Sprecher: Ein erstes hoffnungsvolles Zeichen für eine steigende Risikokompetenz könnte die unerwartet hohe Impfzurückhaltung in Zeiten der Schweinegrippe sein. Denn trotz der Kampagnen von Bildzeitung bis Kanzleramt ist nicht einmal jeder zehnte Deutsche den dringenden Impfaufforderungen gefolgt. (17)O-Ton(Gigerenzer 32:25): Um es deutlich zu machen. Die Entwicklung von Schweingrippe, die kann auch heute ... 2010 niemand vorhersagen. Aber das ist der wichtigste Punkt erstmal. Man muss damit leben, dass man viele Dinge nicht vorhersagen kann. Aber man kann sich informieren. Ein wesentlicher Vergleichspunkt ist die reguläre Grippe. In Deutschland sterben in Deutschland so etwa zehntausend Menschen an normaler Grippe. Die Schweinegrippe, das ist nur ein Bruchteil davon. Dann gibt es die Hypothese, dass jetzt im Winter die große Katastrophe passieren wird. Das weiß man nicht, aber man kann sich informieren. Wir können uns die Südhalbkugel der Welt anschauen, da ist der Winter vorbei. Und was ist in Australien passiert? In Neuseeland? Nichts besonderes. Es gab Tote durch Schweinegrippe und es gab viel, viel mehr Tote durch normale Grippe. Also diese Katastrophe ist nicht passiert. ... Wir können uns die Fakten suchen, ... und wir können uns vor allen Dingen anschauen, wie gefährlich ist denn das Ganze relativ zu anderen Gefahren. Und wenn man sich das anschaut, dann gehen die meisten Menschen eben nicht impfen. Regie: Musik hoch und aus. 1