KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : Bienenstock aus Glas. Drei junge dänische Lyriker Autor : Peter Urban-Halle Redakteurin : Jörg Plath Sendetermin : 22.02.2011, 19:30 Regie : Stefanie Lazai Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Bienenstock aus Glas Drei junge dänische Lyriker Von Peter Urban-Halle Die dänische Lyrikszene ist eine der spannendsten und lebendigsten in Europa. Dabei fällt auf, dass vor allem ihre jüngeren Vertreter nicht einfach ein Gedicht nach dem andern schreiben - sie haben ein Projekt. Ihre Gedichtbände sind nicht mehr oder weniger zufällig zusammengestellte Sammlungen, sondern es sind Suiten, sie haben ein gemeinsames Thema, sie erzählen Geschichten, sie schildern die Wirklichkeit. Damit sind wir bei der zweiten Auffälligkeit: der Wiederaufnahme einer politischen Poesie. Aber im Gegensatz zu den siebziger Jahren, in denen alles, auch das Poetische, politisch war, wird nun alles, auch das Politische, poetisiert. Die Herangehensweisen und Inspirationsquellen sind dabei ganz verschieden. Gemeinsam ist ihnen die vielstimmige Komposition ihrer Texte. Mit Mette Moestrup, Morten Søndergaard und Ursula Andkjær Olsen werden drei der interessantesten Dichter des heutigen Dänemarks vorgestellt. Vier Stimmen: AUTOR SPRECHER SPRECHERIN 1 SPRECHERIN 2 MUSIK AUTOR: Der Kopenhagener Stadtteil Vesterbro westlich des Hauptbahnhofs war lange Zeit den Drogensüchtigen, Prostituierten und Pornokunden vorbehalten. Aber es gab dort auch billige Hotels und billige Wohnungen, die jüngere Künstler und Literaten anzogen. Hier schien das wahre, unverfälschte Leben zu herrschen, ein Leben, das überdies erschwinglich war. Das ändert sich langsam, die Hotels werden schicker und teurer, neue durchgestylte Stadtviertel entstehen. MUSIK METTE MOESTRUP: "Utilsløret i min gang og vild og lys som du, sene, endnu unge nat, du dobbelte veninde, gik jeg på Halmtorvet - en tås nymåne ku' anes gennem lak - og ... SPRECHERIN 1: "Unverblümt in meinem Gang, wie du so wild und hell, späte, noch immer junge Nacht, du Freundin und Komplize, ging ich über den Halmtorv - der Halbmond einer Zehe grell durch Lack zu ahnen - doch über des Viertels revitalisierter Spitze: deines Mondes Widerschein, Nacht, und in deinem weißen Tosen verlorne Wattestäbchen, gleich kleinen, weichen Doppelpfeilen, und du, Marktplatz, mit Subjekten, nackt unter Röcken, Hosen, dein Springbrunnen lud ein zu kosmetischem Verweilen - private Gelüste ertrug ich in dir, du öffentlicher Raum. Dort liegt ein Duft von stadterneuerter Klematis heute. Ein anonymes "Wieviel", ich verstummte, glaubt' es kaum. Der Bürgersteig sank ein und stank nach Pisse andrer Leute. Dann fing, am Fuße der Klematis mit Blüten lila und weiß, erhellt von Straßenlampen, ein gebrauchtes Kondom meinen Blick. So sehe ich mich selbst, sehe mich selbst als sie, deren Preis der Kunde mit anonymem Schwanz abschätzt für einen Fick. So gehe ich weiter, denke, ein Kunde, von jemandem geboren, du bedeutest mir viel - er ist das Wort, ich, in der dritten Person, gebrauche es für meinen Geliebten, meinen Sohn, meinen Vater und dich." MUSIK SPRECHER: "På Halmtorvet" heißt dieses Gedicht, "Auf dem Heumarkt". Er liegt nicht weit vom alten Schlachthof entfernt. Der Heumarkt kennt sie noch, die Fixer und die Prostituierten. Das Gedicht von Mette Moestrup ist in der Ich-Form geschrieben, sie wohnt hier in der Nähe, das Ich ist die Hure, die über den Unterschied nachsinnt zwischen den nächsten Verwandten, dem eigenen Blut gewissermaßen, dem Geliebten, dem sie sich hingibt - in Liebe? in Lust? im Vertrauen? - und schließlich dem Freier, auch er "von jemandem geboren". AUTOR: Mette Moestrup hat drei Gedichtsammlungen geschrieben. Ihr Ton ist entschieden, sie benutzt ein kräftiges Vokabular, handfest, herausfordernd. Ihr Thema, ihr Projekt heißt Nationalität, Ursprung und Geschlecht. Das Geschlecht sei keine so unausweichliche Bedingung wie die Hautfarbe oder der Tod, sagt sie. Es habe mit dem Körper zu tun und sei einerseits biologisch, andererseits kulturell bestimmt. Diese doppelte Sicht zeigt sich in ihren skurrilen Talkshow- Gedichten, in denen sie statt Eva, die der Rippe des Mannes entstammt, Lilith auftreten lässt, die laut apokryphen Quellen Adams erste Frau gewesen sein soll. Damit greift sie ein Symbol der Frauenbewegung der 70er-Jahre auf. LARS BUKDAHL: "En tendens der har vaeret nogle år, det har måske været et bravt forsøg at skrive en politisk poesi ... SPRECHER: Eine Tendenz der letzten Jahre war der Versuch, politische Poesie zu schreiben, auf neue Art und mit neuen Prämissen. Nach den 70er-Jahren, als alles politisch sein musste, auch die Lyrik und selten mit glücklichem Ergebnis, war in den Achtzigern alles Politische absolut tabu. Das hat sich in den letzten 5 bis 10 Jahren geändert, da versuchen Lyrikerinnen wie Mette Moestrup und Ursula Andkjær Olsen eine politische Lyrik neu zu etablieren und sozusagen neu zu poetisieren. Das ist die auffälligste Tendenz in der gegenwärtigen Lyrik ... AUTOR: ... sagt Lars Bukdahl, 42 Jahre alt - einer der leidenschaftlichsten und umstrittensten Literaturkritiker des Landes, er polarisiert beinahe mit jedem Artikel, den er in der großen Wochenzeitung "Weekendavisen" schreibt. Außerdem ist er Redakteur der Literaturzeitschrift "Hvedekorn", Weizenkörner, in der in erster Linie die Gedichte ganz junger Lyriker, oft Debütanten, stehen. MUSIK SPRECHER: Es gibt heute in Dänemark eine persönliche, fast private Lyrik, die mit der Bekenntnislyrik der 70er-Jahre verwandt ist, als Frauen- und Geschlechterpolitik eine wichtige Rolle spielten. Das findet man sowohl bei Mette Moestrup als auch bei ihrer Kollegin Ursula Andkjær Olsen. Beiden nehmen das eigene Selbstverständnis unter die Lupe und stellen es in Frage. Im Gegensatz zu den 70ern aber geschieht dies nicht plakativ. Beide Lyrikerinnen sind nichts und niemandem verpflichtet, keinem Guru, keiner Ideologie. Sie können es sich erlauben, scheinbar feste Rollen aufzulösen - insbesondere die des politischen Subjekts und die der Benutzerin von Sprache. Mette Moestrup: MOESTRUP: Jeg opfatter poesi som en måde ... SPRECHERIN 1: Ich begreife Poesie als ein Instrument, mit dem man neue Denkformen untersuchen kann, das heißt ich interessiere mich für Formen, insoweit sie unsere Gedankengänge beeinflussen. Das hängt für mich eng mit dem Stoff, dem Inhalt zusammen, und die Poesie ist eine ungeheuer offene und freie Form, wo man nicht gezwungen ist, irgendeine bestimmte Art von Geschichte zu erzählen. Die Lyrik ist für mich der Ort, wo man Gedanken und Bilder genau untersuchen kann und das heißt auch die Art, wie wir denken und fühlen." ... og føler på." MUSIK AUTOR: Anfang der 80er-Jahre explodierte die Lyrik in Dänemark geradezu, die meisten Debütanten jener Zeit gehören heute zu den arrivierten Dichtern des Landes. Unter ihnen die fast 60jährige Pia Tafdrup, mehrfach preisgekrönt und mittlerweile Mitglied der Dänischen Akademie. Damals war in ihren Gedichten viel von "Blut" und "eruptiven Segnungen" und "träumenden Körpern" die Rede. SPRECHERIN 2: Springflut ich lege mich entblöße mich werde dein Tier einen Augenblick die Sinne ausgespannt zwischen Nacken und Ferse Springflut mein Körper ein Bogen aus Begierde ich dreh eine Schulter hebe den Kopf nach hinten Springflut ... AUTOR: Welch ein Unterschied zu den heutigen Lyrikerinnen! Ursula Andkjær Olsen und Mette Moestrup sind beinahe gewalttätig in ihren Versen, angriffslustig, böse. Aber die Fronten sind nicht mehr so klar wie vor zwanzig, dreißig Jahren. Damals konnte man die Männer noch als tumbe Brüllaffen abqualifizieren, während die Frauen in der Lyrik so schön introvertiert und empfindsam waren. Das Geschlechtliche blieb innerhalb des "Naturraums", wie ein Rezensent es nannte. Doch seit 1990 zeichnet die Lyrik der Frauen eine unerhörte Energie aus. Kirsten Hammann zum Beispiel schrieb 1992 dieses Gedicht: MUSIK SPRECHERIN 2: Ich habe meinen Körper so satt Ich muss ihn erziehen und kommandieren und anschnauzen Plötzlich trinkt er aus einer falschen Flasche oder hechelt nach Luft in einem ansteckenden Raum Waren wir im Park spazieren bleibt er auf einer Bank sitzen sodass ich zurück und ihn holen muss Er ist in jeder Hinsicht kindlich und unerträglich ich kann mich mit ihm bald nicht mehr sehen lassen ( ... ) MUSIK AUTOR: Dies unterscheidet sich vehement von der Betrachtung und der Rolle des Körpers in Pia Tafdrups Gedichten zehn Jahre zuvor. Bei Kirsten Hammann dreht sich zwar alles um den Körper, aber er ist selbständig geworden. Zwischen Ich und Körper kommt es zu einem richtiggehenden Gerangel. SPRECHER: Seit der Jahrtausendwende sind die lyrischen Beiträge zu den gesellschaftlichen, politischen, sexuellen Diskursen analytischer geworden. Lars Bukdahl nennt Mette Moestrup ein "Kulturtalent", dessen Klugheit aus der Lyrik, aus der Literatur stammt. Moestrup schreibt eine sehr literarische Poesie, sie benutzt intertextuelle Elemente, man hört Echos und Zitate, sie hat einen ungestümen Humor und einen tiefen Ernst, scharfsichtig und gnadenlos. Vielleicht kein Wunder bei jemandem, der Thomas Bernhards letzten Roman "Auslöschung" als einen Lieblingstext bezeichnet. MOESTRUP: "Jeg ville ikke synes det var fedt ... SPRECHERIN 1: Ich fände es nicht toll, wenn alles durchweg lustig wäre, so ein Buch würde ich nicht gern schreiben. Genauso wenig hätte ich Lust, ein rein konzeptuelles Ding zu machen, das sich also allein vom Konzept leiten ließe. Das würde mich einfach langweilen ... Ich glaub', ich bin wohl eine etwas rastlose Person. ... rastløs person." MUSIK SPRECHERIN 2: Ich rauche eine ägyptische Zigarette und lese ein Gedicht, auf schwedisch. Ich denke an 'kärlek', 'Liebe' - und ein bißchen an die Zigarette, Cleopatra Kingsize. Cleopatra war schön, giftig ihr Make-up, Quecksilber und Kupfersulfat. Rauch ist in meinem Mund, Eisenoxyd auf der Lippe, und mein Feuerzeug ist rot wie mein Mund, oder was? Und die Zunge in mir war deine und ein Feuerzeug ist kein Rubin und ein gutes Ende ist schlecht wie ... ein Gewissen. AUTOR: Liebe, Chemie, Erotik, Macht und Unterwerfung: Die Frau in Moestrups Texten hat etwas Hurenhaftes, aber immer Forderndes. In dem Gedicht mit dem paradoxen Titel "Die nüchterne Mänade" lässt sie die Mänadenskulptur am Grab Friedrichs des Großen vor dem Schloss Sanssouci in Potsdam sprechen: SPRECHERIN 2: Der König, der große, der alte, und seine elf Lieblingshündinnen liegen bestattet hier. Seine Knochen, posthum überführt, gehen vor die Hunde. Denn so war sein Wille: stark. Ein Echo von Flötenspiel in winterleeren Weinranken. Rauhreif wie Gloss auf meinen grünspanfarbenen Lippen. Wie nach eiskalter Fellatio, kurzum: Stocksteifvoll war ich als Schloßparkskulptur ( ... ) MUSIK AUTOR: "Je länger du schreibst, desto weiter gehst du mit deiner Lektüre zurück in die Vergangenheit. Wenn man anfängt zu schreiben, liest man zunächst die unmittelbaren Zeitgenossen, weil man sich mit ihnen messen will und muss. Aber wenn man mit dem Schreiben weitermacht, werden die Alten immer wichtiger." - Peter Laugesen, dänischer Dichter, 69 Jahre. LARS BUKDAHL: Hvis man skulle sammenligne med Mette Moestrup ... SPRECHER: "Mette Moestrup ist gegenüber allen Vorbildern und den Alten viel kritischer, bei ihr muss die Tradition ja ständig dekonstruiert und demontiert werden. Im Vergleich dazu nimmt Morten Søndergaard die alten und antiken Schriftsteller an, er benutzt sie als Inspirationsquelle, sie geben ihm eine Art Ruhe, er kann ein Medium sein für die Poesie und die Geschichte der Poesie, deswegen kann er sich auch in klassischen Dichterfiguren spiegeln. ... i klassiske digterfigurer. [ ... ] Han har en sølvtunge ... Søndergaard hat wirklich eine Silberzunge - in die er hin und wieder gerne ein paar Knoten schlingen will -, aber er dichtet ja makellos, im besten Sinne, schön, ja." ... i bedste forstand, smukt, ja. AUTOR: Morten Søndergaard gehört in eine Reihe mit Lyrikern wie dem etwa gleichaltrigen Søren Ulrik Thomsen und dem 65jährigen Henrik Nordbrandt; Letzterer ist nach dem Tod von Per Højholt und Inger Christensen der Doyen der dänischen Dichter. Sie und Søndergaard zeigen, dass die Lyriker des neuen Jahrhunderts keine Wortkrise kennen. Für ihn existiert der Reichtum der Sprache weiter, vielleicht sogar von neuem. Es gibt eher zu viel als zu wenig Sprache, sie führt uns überall hin. MUSIK AUTOR: Aber ehe wir irgendwo hingeführt werden können, müssen wir erst einmal aufstehen und unsere Beine bewegen. Søndergaards zuletzt auf Deutsch erschienener Lyrikband "Ein Schritt in die richtige Richtung" widmet sich dem Phänomen des Gehens. In einem phantastisch- taumelnden, ironischen Anfangsbild erwacht ein "Wir". MUSIK SPRECHER: "Zuerst bleiben wir ein bißchen liegen und sammeln uns, das ist im Grunde auch ganz in Ordnung nach all dem, was wir durchgemacht haben. Doch dann versuchen wir dennoch, uns zu erheben, wir sagen: Komm schon, wir müssen aufstehen, dann stehen wir auf, sagen wir: Steh schon auf! Und wir versuchen es, doch wir fallen zurück, kommen dennoch auf die Ellbogen hoch, schließlich auf die Knie, und nach einer Weile sind wir auf. Dann stehen wir da und schwanken und versuchen uns, an die Situation zu gewöhnen, machen die ersten prüfenden Schritte, doch dann fallen wir, und wir erheben uns und fallen, und so geht es weiter - lange. Nach einer Weile kommen wir wirklich in Gang, und wir wanken, und wir stolpern, und wir fallen, das macht nichts, weil wir uns wieder erheben und das Gleichgewicht wiedergewinnen. Doch dann fallen wir und bleiben eine Weile liegen [ ... ] AUTOR: Morten Søndergaard schildert das menschliche Laufenlernen im Zeitraffer. Ein langer Weg, bis man die 33 verschiedenen Arten der Fortbewegung beherrscht, die Søndergaard dann auflistet. SØNDERGAARD: "Jeg synes jo, at det at skrive og det at gå har meget med hinanden at gøre ... SPRECHER: Ich finde, dass das Schreiben und das Gehen viel miteinander zu tun haben. Zum Beispiel spricht man von Versfüßen und überhaupt von Vers, das heißt Wendung, man geht also zu einem bestimmten Punkt, wo man dann umdreht und von vorne anfängt, auf der Zeile darunter. Und ich finde, dass ein Gedicht als Spaziergang durch die Sprache aufgefasst werden kann, das Gehen ist fundamental für das Dichten, für den Rhythmus, der in Wirklichkeit ein Rhythmus des Gehens ist, ja, man sollte fast sagen: des Tanzens - das Gedicht ist ein Tanz zwischen Bedeutung und Laut, die Art, wie man etwas sagt, das macht ein Gedicht aus. MUSIK SØNDERGAARD: "Når jeg hat beskæftiget mig ... SPRECHER: Aber meine ursprüngliche Motivation, über das Gehen zu dichten, war meine Intention, über die Zeit zu schreiben. Aber das kann man nicht einfach so, wenn wir über die Zeit sprechen, dann mit Zeitmetaphern, die Uhr geht, die Zeit vergeht, sie rennt uns weg, sie steht still. Dann fing ich an, entsprechende Ausdrücke zu sammeln, die es übrigens nicht nur im Dänischen, sondern auch im Deutschen gibt und auch in anderen Sprachen, die gibt es überall. Wir überprüfen ja auch ständig unseren Gang, wenn wir uns fragen: Na, wie geht's? Ja, mir geht's prima - wieder auf den Beinen usw. Es gibt eine Menge Ausdrücke, die mit dem Gehen zu tun haben. ... med gang at gøre." AUTOR: Auch der zweite Teil von "Ein Schritt in die richtige Richtung" mit dem Titel "Orpheus und Eurydike", hat mit dem Gehen zu tun. Orpheus, der gottbegnadete Sänger und Leierspieler, der mit seiner Stimme und seinem Saitenspiel selbst wilde Tiere zähmte, steigt in die Unterwelt hinab, um seine Frau Eurydike zu erlösen, die an einem Schlangenbiss gestorben ist. Orpheus' Gesang erschüttert alle berühmten Büßer im Hades, von Tantalos bis Sisyphos, sogar die Erinnyen sind zu Tränen gerührt. Fast hätte er es geschafft, seine geliebte Eurydike wieder ins Leben zurückzuholen, aber er macht einen Fehler: Voll Sehnsucht und Ungeduld dreht er sich nach ihr um - damit verliert er sie zum zweiten Mal und endgültig. SPRECHER: Morten Søndergaard hat keine Berührungsängste vor der Antike, aber sein Orpheus und seine Eurydike bewegen sich im heutigen Kopenhagen. Sie lieben einander bis zur Verzehrung, sie heiraten im Rathaus, verbringen ihre Flitterwochen in Italien. Orpheus nimmt seine Leier aus "Schildpatt und Därmen und Hörnern" und singt, und alle Lebewesen stehen plötzlich still und lauschen. SPRECHERIN 1: "Das war cool, sagt Eurydike, wo hast du denn diesen Trick gelernt? (Poesie ist bloß ein Trick)" SPRECHER: Die Poesie ist ein Trick, aber sie ist eben auch, wie Tricks so sind, unvorhersehbar. Sie schlängelt sich wie die Schlange mit ihrem tödlichen Biss, sie nimmt Kurven und Wendungen - Verse eben. Und Orpheus ist ein Sänger, ein Dichter, deshalb schafft er es nicht, sich NICHT umzudrehen, NICHT den geraden Weg zu gehen, den Hades verlangt und den Søndergaard mit der Prosa gleichsetzt. Orpheus, der Dichter, muss sich umdrehen. Damit verliert er seine Frau, gewinnt aber den Vers - Orpheus ist für Søndergaard die Inkarnation des Verses. Das Langgedicht "Orpheus und Eurydike", dessen Strophen eher Kapitel sind, ist Søndergaards Theorie der gebrochenen Zeile. AUTOR: "In seinen Tagebüchern hatte Silvio die Angewohnheit, eine Zeile nie so lange fortzusetzen, bis sie dann vom Rand des Blattes sinnlos in der Mitte abgebrochen wurde. Jeder Satz, jede Wortverbindung, die seinem Gedanken frisch entsprangen, waren ihm wie eine Überraschung, die in einer neuen Zeile stehen musste." - Sophus Claussen, dänischer Dichter, in seinem symbolistischen Reisebuch "Wallfahrt", 1896. SØNDERGAARD: "Jeg vil gerne derud, hvor man i virkeligheden farer vild ... SPRECHER: Ich will gern dorthin, wo man sich in Wirklichkeit verirrt und wo man einen Umweg macht. Darauf kommt es mir mehr an als das große Subjekt mit den großen Empfindungen zu beschwören, das sich sozusagen selbst als Landschaft hat. Ich möchte gern in der Landschaft verschwinden, ich möchte gern verwirrt werden und mich fragen, wie kann man einen anderen Weg finden, wie kann man sich auf eine konstruktive Art und Weise verirren. ... på en konstruktiv måde." AUTOR: In den Mythen sieht Søndergaard das Wissen der Menschheit in kompakter Form versammelt. Sie würden noch immer erzählt, weil sie etwas enthielten, was uns erstaune und verwundere. Sie seien eine Art Erinnerungsmaschine, die alle Bücher, ja, überhaupt alles übertreffe. Der Orpheus-Mythos erlaubt Søndergaard, sein gedankliches und poetisches Material zum Thema Gehen zu strukturieren. Hinzufügen ließe sich, dass der Versuch, die verstorbene Eurydike aus dem Totenreich wieder ins Reich der Lebenden zurückzuholen, offensichtlich eine Art der Reinkarnation ist. Dafür wird im Deutschen auch ein Begriff verwendet, der zum Vorstellungskreis der Orphik gehört, nämlich "Seelenwanderung" - womit wir wieder beim Gehen wären. Søndergaard gehört zu den Dichtern, die ein Thema, ein Konzept, ein System haben. SØNDERGAARD: "De fleste af mine bøger ... SPRECHER: Die meisten meiner Bücher haben eine bestimmte Art, wie sie laufen. Für mich ist es wichtig, dass es nicht bloß eine Ansammlung von Gedichten ist, die in einem Jahr oder über mehrere Jahre hin entstanden sind, sondern dass sie von etwas zusammengehalten werden dass sie eine innere Struktur haben. ... en indre struktur." AUTOR: Eine innere Struktur wie der Laptop, den Eurydike am Anfang stiehlt und von dem es heißt: SPRECHERIN 1: " ... jetzt stand er in der beinah leeren Wohnung und leuchtete wie ein Bienenstock aus Glas." SPRECHER: Ein Bienenstock hat zwei Charakteristika, die auch auf die Projekte jüngerer dänischer Lyriker zutreffen. Ein Bienenstock sieht verwirrend und spielerisch aus, dabei ist alles darin gewissermaßen vom Ernst des Lebens geprägt. Und er ist eine Welt für sich. Und bildet eine durchstrukturierte Gesellschaft ab. AUTOR: Viel kruder als Morten Søndergaard betrachtet Ursula Andkjær Olsen die Welt, besonders die Welt der Medien. Ihre atemberaubende, 230 Seiten lange Suite "Die Ehe zwischen Weg und Ausweg" von 2005 kam auf über 5000 verkaufte Exemplare. Es ist ein wilder Mix aus Fernseh- und Interneteindrücken, politischen Ereignissen, sozialen und künstlerischen Clips, eine Sturzsee ausgelassener Ideen, die sich zu einem verblüffenden Bild der dänischen Gesellschaft, ja, ganz Europas verbinden. Moestrup ist analytisch, Ursula Andkjær vor allem wütend, doch steckt in ihrem überbordenden Wortschwall etwas ungeheuer Begeistertes. BUKDAHL: "Ursula Andkjær er jo også intellektuel ... SPRECHER: Ursula Andkjær ist ja auch intellektuell, sie ist ja keine Kaspar-Hauser-artige Erscheinung, die aus dem Nichts kommt. Allerdings betrat sie die Poesie aus einer ganz anderen Richtung, ihr Vater war Musiklehrer, sie wuchs mit der deutschen Musik auf, vor allem mit den Liedern, und sie hat eine Art symphonischen Zugriff auf ihre lyrischen Projekte. Sie glaubt, man könne Lyrik schreiben, so wie man moderne Musik schreibt. Und das kann man nicht, aber sie weiß nicht, dass man das nicht kann, und deswegen kann sie es doch, sozusagen. Das heißt, sie ist eine richtige Quereinsteigerin in der Lyrikszene. Ich glaube nicht, dass sie keine Kontrolle hat über das, was sie macht, sie hat nur eine ganz andere Idee von einer unkontrollierbaren Form, die ungemein phantastisch orchestriert ist. Und dann besitzt sie eine Originalität, die einfach machtvoll ist und die aus sich selbst entsteht, man kann da gar keine Einflüsse erkennen. Die meisten Werke von anderen Autoren setzen sich ja aus verschiedenen literarischen Einflüssen zusammen, dazu kommt dann ein mehr oder weniger großer Anteil der eigenen Person. Ursula Andkjær hat sich nicht von Schriftstellern beeinflussen lassen, sondern von Komponisten, Anton Webern oder Mahler zum Beispiel. ... Men med Ursula der er det snarere Webern eller Mahler eller sådan noget." AUTOR: Dass Ursula Andkjær ein Kapitel ihrer Suite mit diesem berühmten Zirkusmarsch von Julius Fucik betitelt, ist natürlich Ironie, andererseits sehr passend: darauf folgt nämlich - wie bei Mette Moestrup - eine Fernseh-Talkshow, zu der ein dänischer Johannes B. Kerner einlädt. MUSIK SPRECHER: "Willkommen in unserm Programm ohne Themenbegrenzung, in dem du im Mittelpunkt stehst! Den ganzen Abend hindurch werden dir unsere geladenen Experten Rede und Antwort stehen, nur für dich sind sie da. Nicht, dass wir dem Spezialistentum oder der Geschmäcklerei frönten, aber es ist doch toll, wenn einer einem erzählt, was man so anpacken sollte. Wozu man sein Glück und seine hellen Nächte gebrauchen sollte. Wir erwarten ein unterhaltendes und informatives Gespräch." URSULA ANDKJÆR OLSEN: "Når jeg arbejder så meget med referencer, med stumper ... SPRECHERIN 2: Wenn ich so viel mit Bezügen arbeite, mit Zitatfetzen, Kinderreimen, festen Wendungen usw., dann, weil ich unterstreichen will, dass die Sprache nicht meine Sprache ist. Natürlich versuche ich nach wie vor, sie zu erobern und zu meiner Sprache zu machen. Aber ich habe eher so eine gegenteilige Auffassung zum Modernismus, der ja die Meinung vertritt, jeder habe seine ganz eigene subjektive Sprache. Für mich ist es sehr wichtig, dass man merken kann, dass die Sprache allen gehört. ... at sproget er alles." SPRECHER: Während also Moestrup ein "Kulturtalent" ist, wie der Kritiker Lars Bukdahl sagt, so ist Ursula Andkjær eher ein Naturtalent. Zum Beispiel schreibt sie ähnlich große Kompositionen wie Inger Christensen, aber ohne sie bei Christensen abgeschaut zu haben; es scheint fast, als hätte sie erst später ganz verblüfft entdeckt, dass es da eine große Kollegin gibt, die ein Vorbild sein könnte. SPRECHERIN 1: Mit Blick auf den 11. September 2001 schrieb Ursula Andkjær: SPRECHERIN 2: "Ehrlich währt am längsten, ehrlich währt am längsten, aber was, wenn Ehrlichkeit niemanden interessiert? Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden, der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden, aber was, wenn Gerechtigkeit niemanden interessiert? Die Stunde der Rache wird kommen! Die Stunde der Rache wird kommen! Die Wangen werden im Sand baden. Die Nasen werden mit Erde gefüllt. Dem Minister entströmen die Worte." GERÄUSCH SPRECHERIN 2: "Der Minister hat eine eindringliche Rede gehalten. Der Minister hat das Richtige gesagt (ohne größere dramatische Begabung und unter stetem Blick auf seine Papiere [das Richtige liegt so fern]). Die Staatsoberhäupter der ganzen Welt haben den Minister darin bestätigt, das Richtige gesagt zu haben. Die Welt ist einstimmig. Die Presse ist einstimmig. Es ist eine Spiegelung ohne Anmut. Eine Doppelung ohne Hoffnung. Der Minister macht jetzt einen Spaziergang. Den wohlverdienten." AUTOR: Die jüngeren dänischen Lyriker von heute können analytisch, traditionsbewusst oder musikalisch sein, aber Kompromisse gehen sie nicht ein: Sie wollen alles, zumindest in der Literatur. Gerade Ursula Andkjær Olsen ist dafür ein wildes, fast anarchistisches Beispiel. Stellvertretend für ihre Kollegen formuliert sie das unbescheidene Programm der jüngeren dänischen Lyrik: URSULA ANDKJÆR OLSEN: "Det tiltaler mig, hvis man kann få alting med ... SPRECHERIN 2: Es reizt mich, wenn man alles dabei haben kann in einem Werk, also, dass man die Dinge nicht immer trennen muss, ich will sowohl das Ernste als auch das Amüsante haben, ich möchte, dass diese Dinge zusammen existieren dürfen." ... at de ting eksisterer sammen." MUSIK 17