Deutschlandradio Kultur Die Reportage WOHIN? Wenn junge Menschen pflegebedürftig werden. Autor Johannes Nichelmann Redaktion Ellen Häring Sendung 16. September 2012 - 13 Uhr 07 M A N U S K R I P T 01. Atmo: Band singt auf dem Sommerfest (3:02) - darüber: Bunte Girlanden, Kuchenstände, Grill-Geruch. Auf einer kleinen Bühne spielt eine Band. An den Biertischen davor sitzen rund fünfzig Männer und Frauen - einige von ihnen im Rollstuhl. Sommerfest im "House of Life" in Berlin-Kreuzberg. Eines der wenigen Pflegeheime für junge Menschen. Czeslaw, Anfang vierzig, steht unweit der Bühne. Er wohnt hier. Seine Lieblingsbeschäftigung: Menschen beobachten. 01. O-Ton: Fantasie (0,11) (Czeslaw) Die Fantasie erhält mich am Leben. Ich hab gute Laune, trotz meiner HIV-Erkrankung. Durch mein Krebs, egal was war, ich bin immer wieder auf die Beine gestiegen. Ich konnte nicht laufen, ich konnte nicht denken... Autor Gerade blickt er die "Prinzessin" an - eine psychisch kranke Mitbewohnerin im pinkfarbenen Kleid. Sie spielt in den Händen mit einem Diadem aus Plastik. Unweit davon sitzt der 39-jährige Saye im Rollstuhl und lässt sich von seinem älteren Bruder Maurice durch die Menge schieben. Seitdem Saye in einer U-Bahn verprügelt worden ist, lebt er hier. Insgesamt 118 Bewohnerinnen und Bewohner sind im "House of Life" zu Hause. Die einen haben, wie Czeslaw, eine HIV-Infektion oder psychische Krankheiten, Krebs, Multiple Sklerose, massive Drogenprobleme. Andere sind durch einen Unfall oder durch Gewalttaten nicht mehr in der Lage ein eigenständiges Leben zu führen. Sie alle haben eines gemeinsam: sie brauchen Hilfe jeden Tag. Die einen mehr, die anderen weniger. Auf der Bühne beginnt jetzt der offizielle Teil. Die Band macht Pause. Vor das Publikum treten eine junge Frau im langen, schwarzen Rock und ein kahlköpfiger Typ in Jeans und weißem Hemd. 01. Atmo: Ende/ Blende 02. Atmo: Sommerfest, ohne Musik (2,17) - darüber: 02. O-Ton: Preisverleihung I (0,23) (Katschewitz) Ja, ich bin Nicole Katschewitz und wurde gebeten heute die Laudatio für den diesjährigen Preisträger des "Price of Life" zu halten. Der "Price of Life" ist eine Auszeichnung für Menschen, die sich im besonderen Maße für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer Stadt und darüber hinaus engagiert haben. Thomas Oh ist die zweite Person, der dieser Preis übergeben wird. Autor Der Preisträger legt die Hände an seine Oberschenkel, hält dann wieder seine Umhängetasche fest. Der Sozialarbeiter, 49 Jahre alt, hat vor über zehn Jahren die Idee, eine Einrichtung für jene Menschen zu gründen, die zu krank sind, um alleine zu leben und zu jung, um ins Seniorenheim zu gehen. Seit 2006 gibt es das "House of Life" - eine Pflegeeinrichtung für Menschen zwischen 20 und 55 Jahren. Die erste in Deutschland. 03. O-Ton: Preisverleihung II (0,20) - inkl. Atmoüberhang (0,11) (Katschewitz) (Applaus) Den Melis jetzt netterweise übergeben kann. (Oh) Nicole, vielen lieben Dank für die Laudatio! 02. Atmo: Ende/ Blende 03. Atmo: Fotosession nach der Preisverleihung (1,20) - darüber: Autor Oh tritt von der Bühne. Eine sportliche Frau mit Tattoo auf dem Oberarm drückt dem Preisträger einen Blumenstrauß in die Hand. Melis Schröter, die Assistentin der Geschäftsführung. Thomas Oh lächelt, geht durch die Menge, nimmt sich Zeit für ein paar Worte hier und da, schüttelt Hände. Dann bahnt er sich den Weg zu einer Sitzbank - nippt immer mal wieder kurz an einem weißen Plastikbecher mit Orangensaft. 03. Atmo: Ende/ Blende 04. Atmo: Sommerfest, lang (3,43) - darüber: Autor Noch ist das hier der Anfang, sagt Thomas Oh. Es gibt zwar betreute Wohngemeinschaften und ähnliches - aber bis heute eben nur sehr wenige Pflegeeinrichtungen, die sich auf junge Menschen spezialisiert haben. 04. O-Ton: frischer Fall (0,23) (Oh) Also ich hab erst die Tage einen 45-jährigen Mann besucht, der in einem sicher guten Altenpflegeheim untergebracht ist. Aber ich kam da rein in den Raum, da saßen 18 alte Leute und mittendrin saß der und keiner sagte ein Wort. Das einzige, was ich von ihm vernommen hab, war "Ich möchte tot sein!". Autor Solche Patienten müssen "befreit" werden, sagt er. Es kann nicht gut sein, wenn junge Menschen den Rhythmus und den Alltag von 70, 80 oder 90-jährigen aufgedrückt bekommen. 05. O-Ton: Ansprüche (0,17) (Oh) Wo ich denke, ja junge Leute, die haben einen anderen Anspruch. Die muss man aktivieren, da ist manchmal auch noch was rauszuholen. Die wollen vielleicht auch eine andere Musik hören. Ich denke, es gibt so altersadäquate Geschichten, die fehlen in der Pflege absolut! Autor Wer ins "House of Life" kommt, erzählt Thomas Oh weiter, blüht meistens richtig auf. Sein Blick wird ernst. Die Menschen, die hier sind, dürfen wir nicht abschreiben. Einige von ihnen können vielleicht bald wieder ein selbstbestimmtes Leben draußen führen, so hofft er. Atmoblende Maurice schiebt seinen Bruder Saye im Rollstuhl vorbei. Saye gehört nicht zu denen, für die Hoffnung besteht. Er ist schwerbehindert und reagiert empfindlich. Zu viel Trubel heute auf dem Sommerfest. Maurice fährt ihn zurück in den großen Plattenbau hinter der Bühne. Saye will in sein Zimmer. 04. Atmo: Ende/ Blende 05. Atmo: Interview, Innen (1,51) - darüber: Autor Als Saye nach einer halben Stunde eingeschlafen ist, erzählt Maurice ihre gemeinsame Geschichte. Die Geschwister kommen aus Burkina Faso. Sein Bruder lebt schon länger in Berlin. Vor fünf Jahren dann der Abend, an dem Saye von zwei Typen aus einer U-Bahn gezerrt und verprügelt wird. Am Ende springt einer von ihnen mit ausgestrecktem Bein in seinen Rücken. Daraufhin knallt Saye mit dem Kopf auf den Bahnsteig. Sein Schädel bricht. Er fällt ins Koma. 06. O-Ton: Bruder II (0,53) (Französisch) Sprecher Ich habe Burkina Faso verlassen, um meinem Bruder helfen zu können. Nach so einer schweren Kopfverletzung ist es sehr wichtig, dass jemand aus seiner Familie bei ihm ist. Momentan versuche ich Deutsch zu lernen und besuche einen Integrationskurs. Außerdem habe ich eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis bekommen. Als nächstes muss ich mir einen Job hier suchen. Autor Die Hirnverletzungen, erzählt er weiter, lassen kein normales Leben mehr zu. Maurice' Bruder Saye, der auch eine achtjährige Tochter hat, ist zu achtzig Prozent gelähmt und leidet unter epileptischen Anfällen. Es ist nicht immer leicht den "neuen" Alltag im "House of Life" zu bewältigen, meint Maurice. 07. O-Ton: Bruder I (0,46) (Französisch) Sprecher Ich kümmere mich jeden Tag um meinen Bruder. Zu Hause bereite ich Essen aus unserer Heimat für ihn zu und bringe es dann hier her. Dabei muss ich auch sehr darauf achten, dass er wirklich etwas isst. Anschließend helfe ich den Pflegerinnen und Pflegern ihn zur Toilette zu begleiten. Danach ist es Zeit ihn hinzulegen. Wir sprechen viel in unserer Heimatsprache miteinander. Die soll er schließlich nicht vergessen. Und dabei lachen wir auch viel gemeinsam. Wir kommen klar. Autor Sein Blick geht auf die Uhr. Es ist kurz vor acht, vom Fenster aus sieht Maurice, wie die Bierbänke draußen abgebaut werden. Bevor er in seine Wohnung fährt, will er noch einmal nach Saye sehen. 05. Atmo: Ende/ Blende 06. Atmo: Übergabe mit Gewitter (1,49) - darüber: Autor Zwei Tage später, kurz vor 22 Uhr. Eine Gewitternacht. Andrea Gärtner beginnt ihre Nachtschicht im "House of Life". Übergabe im Aufenthaltsraum der Pflegekräfte. 08. O-Ton: Übergabe (0,09) (Gärtner) Ich wollt mir meine Übergabe schonmal holen. (Schlüssel klappern, Schwester I) Ach, hier war heute die Hölle los. Ne. Autor Eine Bewohnerin ist auf einmal spurlos verschwunden, ein Bewohner liefert sich selbst ins Krankenhaus ein und das schwüle Wetter macht den Leuten extra zu schaffen - so fasst die Kollegin von Andrea Gärtner den Tag zusammen. Aber zum Abend hin sind alle wieder da im "House of Life". Allerdings machen sich die Pflegerinnen große Sorgen um Klara. Sie ist Ende vierzig und im Endstadium einer schweren Krankheit. Seit Tagen hat sich der Zustand der Bewohnerin verschlechtert. Sie kann das Bett nicht mehr verlassen. Ist kaum noch bei Sinnen. 09. O-Ton: Frau liegt im Sterben (0,18) (Schwester I) Der Doktor war Nachmittag noch mal hier. Also sie ist jetzt, ich war gerade noch mal drin, sie trinkt auch schlecht, hustet dann gleich immer. (Schwester II) Vorletzte Nacht hat sie noch ganz gut getrunken. Immer eigenständig zwei Becher. Autor Die Befürchtung ist groß, dass Klara in den nächsten Tagen ihre Kraft verlieren könnte. 10. O-Ton: Klare Regel (0,25) (Gärtner) Also das wird heute Nacht auch so sein, dass ich dann runter gucke, wie es ihr geht. Was man vielleicht auch noch machen kann. Wenn der Frühdienst kommt, dann noch mal besprechen oder den Doktor auch bitten, wie es aussieht. Dass man das für die Frau so einfach machen könnte, wie es nur möglich ist. Autor Betretene Blicke bei den drei Pflegerinnen. 11. O-Ton: Übergabe Abschied (0,09) (Schwester II) Ne. Okay. (Stühle werden an den Tisch geschoben) (Schwester I) So, also das war heute ein sehr turbulenter Tag. 06. Atmo: Ende/ Blende 07. Atmo: Nachtrundgang (1,56) - darüber: Autor 22 Uhr 30: Für Andrea Gärtner beginnt der Rundgang über die acht Etagen. Jede wurde von Graffiti-Künstlern unterschiedlich gestaltet. An den Wänden: eine Unterwasserwelt, ein U-Bahnhof oder ein Film-Set. Auf einer Etage leben die psychisch Kranken zusammen, auf einer anderen sind besonders schwere Pflegefälle untergebracht. Alle anderen Patienten verteilen sich im Haus. Andrea Gärtner wird heute Nacht gemeinsam mit zwei Kolleginnen die Ansprechpartnerin für alle 118 Bewohner sein. Die Sache mit Klara geht der 50-jährigen Leiterin der Pflegeabteilung nicht aus dem Kopf. 12. O-Ton: Bindung (0,20) (Gärtner) Da ist schon auch eine Bindung zwischen Personal und Bewohner. Das ist manchmal sehr familiär, wenn man hier ist. Hier arbeitet. Ja und die jüngsten sind im Moment, glaube ich, Anfang 30. (Donner) Ja. 13. O-Ton: Sterben (0,22) (Gärtner) Und auch junge Menschen sterben einfach. Das ist so. Wenn man, wie auch immer eine Erkrankung hat, die nicht heilbar ist, Medikamente nehmen muss. Die Medikamente haben Nebenwirkungen und nicht jeder Körper verkraftet das. Ist einfach so. Autor Bevor sie zu Klara geht, will sie noch einige andere Bewohner besuchen. Schauen, ob alles in Ordnung ist. Vielleicht den Fernseher ausmachen. Oder frisches Wasser vorbei bringen. Sie schaut vorsichtig in das Zimmer von Czeslaw. Der schläft bereits. Auch bei Saye ist das Licht schon aus. In dem langen Flur steht eine der vielen roten Türen noch angelehnt. Die Pflegerin geht in das kleine Zimmer. Direkt am Eingang: ein Regal mit persönlichen Dingen. An den Wänden: Familienfotos, auf einem kleinen Tisch ein Radio. 14. O-Ton: Besuch (0,40) (Radio läuft) (Gärtner) Hallo! Liest Du noch Zeitung? Okay. Regnet ganz doll draußen. Haste schon mitgekriegt? (Bewohner I) Ne. (Gärtner) Ne! Haste noch was zu trinken da? (Bewohner I) Ja. (Gärtner) Gut. Ich gieße Dir noch mal ein. Ja? (Bewohner I) Ja. Danke. (Gärtner) Ja, bitte sehr. Gerne. (Tür schließt sich) 07. Atmo: Ende/ Blende 08. Atmo: Station, mit Musik (4,03) - darüber: Autor Eine Etage höher. Eine Gruppe von Bewohnern sitzt an einem Tisch, der auf dem Flur steht. Sie essen jetzt erst zu Abend. Kein Problem im "House of Life", jeder kann kommen und gehen, wann er will. Diejenigen, die dazu in der Lage sind, treffen draußen ihre Freunde oder machen Besorgungen. Ein Problem: nicht weit vom Haus entfernt, befindet sich ein Park, in dem mit Drogen gedealt wird. Alkohol gibt es sowieso an jeder Ecke. In der Einrichtung selbst ist das alles verboten. Wir wollen die Leute nicht anketten - aber Sorgen machen wir uns immer, meint Andrea Gärtner. Auch Sexualität ist hier ein wichtiges Thema - junge Leute eben. Die Pflegerinnen reden, klären auf und verteilen Kondome. 15. O-Ton: Sexualität (0,20) (Gärtner) Ja, dadurch dass wir ein offenes Haus sind, können unsere Bewohner Besuch haben. Der Besuch wird uns nicht immer vorgestellt, sag ich mal. Wir passen auf, dass unsere Bewohner oder Bewohnerinnen vor allen Dingen, sich nicht prostituieren. Also da haben wir schon ein Auge drauf. Autor Alles schon vorgekommen, sagt sie. Früher hat die Krankenpflegerin mit alten Leuten gearbeitet. Da gab es solche Probleme nicht. 16. O-Ton: Belastung (0,19) (Gärtner) Es ist belastend. Mehr belastend als in der Seniorenpflege, weil es junge Menschen sind. Teilweise wirklich mit starken Handicaps. Bei jungen Leuten ist schon... da muss man schon lernen damit wirklich gut umzugehen. Auch für sich selber. Autor Jeder Mitarbeiter sucht auf seine Weise Ausgleich. Andrea Gärtner geht jede Woche zu ihren Pferden - das tut gut, sagt sie. 23 Uhr 30 - der erste Rundgang für diese Nacht ist fast beendet. Jetzt will Gärtner zu Klara gehen, sehen wie es der todkranken Frau geht und was sie für sie tun kann. Ab 1 Uhr ist es ruhig im House of Life. Und so bleibt es die ganze Nacht. Am nächsten Morgen um 7 Uhr kommt die Ablöse. 08. Atmo: Ende/ Blende 09. Atmo: Büro, Melis (2,02) - darüber: 17. O-Ton: Andrea auf dem AB (0,10 ) (Schröter) Okay, das war jetzt der AB. Andrea, wenn Du das hörst, kannste noch mal anrufen, bei Melis? Äh... Jo. Ansonsten, schönen Arbeitsbeginn irgendwann mal. Autor Melis Schröter, 46 Jahre alt, sitzt in ihrem Büro. Mit dem Rücken zum Fenster. Auf dem Schreibtisch steht immer eine kleine Schale mit Gummibärchen oder Keksen. Auf ihrem Computerbildschirm hat sie Fotos vom Sommerfest geöffnet. Thomas Oh, der die Idee für das "House of Life" hatte, lächelt da gerade mit seinem Preis in der Hand. Melis Schröter gehört schon zur zweiten Generation der Mitarbeiter. Die meisten Kolleginnen halten die körperliche und psychische Anstrengung nur ein paar Jahre durch. Auch der Gründer arbeitet nicht mehr hier. Jetzt ist Melis Schröter oft die erste Ansprechpartnerin für Angehörige. 18. O-Ton: Eltern/ Kind Problem (0,20) (Schröter) Bei uns haben wir das Problem, dass die Eltern ihre Kinder in die Pflegeeinrichtung bringen. Und normalerweise bringen die Kinder ihre Eltern. Das ist schon immer schwierig. Man gibt Mama, Papa ab, aber andersrum ist es ja dann noch schwieriger. Da gibt es natürlich so eine Hemmschwelle. Problem bei uns ist aber, viele haben gar keine Angehörigen oder gar keinen Kontakt zu den Angehörigen. Autor Die meisten Patienten bekommen Geld vom Sozialamt, sagt Schröter. Die Krankenkassen machen große Probleme. Es werden die gleichen Pflegestufen wie für Senioren angewendet. Allerdings ist es oft viel aufwändiger, die jungen Menschen zu betreuen. Sie sind agiler und benötigen so mehr Aufmerksamkeit. Der Blick von Melis Schröter wird ernst, sie zuckt mit den Schultern. Bisher hat niemand so wirklich dieses Dilemma als solches anerkannt. Wie auch? Pflegeeinrichtungen für Leute zwischen 20 und 55 Jahren hat es bis vor sechs Jahren noch nicht gegeben. Die Mühlen mahlen langsam. 19. O-Ton: Lobby (0,33) (Schröter) Alt, heißt nicht gleich krank und ich häng dann immer hinten dran, krank heißt aber auch nicht gleich alt oder pflegebedürftig heißt dann nicht gleich alt. Weil es ist äh... wir tauchen nirgends auf. Wir haben jetzt schon ein paar Sitzungen auch im Bundestag erlebt, mit den Fraktionen, wo es um neue Pflegeplanung und so weiter geht. Wir tauchen nicht auf. Es tauchen dann Betroffenengruppen auf, wie Dementengruppen. Die haben ja auch ihren Teil vom Gesetz jetzt bekommen, die haben natürlich eine Lobby, weil Geld und Alter dahinter steckt und natürlich jeder jemanden kennt, der irgendwie dieses Problem hat. Aber wir tauchen nicht auf. Autor Schröter schließt die Fotos auf ihrem Desktop, fährt den Computer herunter - sie hat gleich einen Termin. 09. Atmo: Ende/ Blende 10. Atmo: Café Bohne, Spielen (1,28) - darüber: 20. O-Ton: Gewonnen! (0,18) (Frech) Ich hab gewonnen! (lacht) Nein! Hör auf, ich bin so kitzelig! So, willst Du noch mal? Willst nicht mehr? Autor Anke kitzelt Rosemarie Frech ab, sodass die sich fast nicht mehr auf ihrem Stuhl halten kann. Die ältere Dame hat gerade bei "Mensch ärgere Dich nicht" gewonnen. Jedes Wochenende spielen Anke und Rosemarie im "Café Bohne". Das öffnet immer samstags und sonntags im Erdgeschoss des "House of Life". An einer Theke gibt es verschiedene Sorten Kuchen, Knabbereien und Getränke. Organisiert wird das Café von den Zeitschenkern - heute sind es fünf freiwillige Helfer, darunter Rosemarie Frech. Die Zeitschenker lesen vor, reden, helfen bei Besorgungen oder veranstalten Konzerte. Und sie hören zu. 10. Atmo: Ende/ Blende 11. Atmo: Café Bohne, Jazz (1,45) - darüber: Autor Rosemarie Frech hat früher in der Altenpflege gearbeitet. Jetzt ist sie in Rente. Ihre Zeit will sie aber nicht daheim auf dem Sofa verbringen, deshalb hilft sie ehrenamtlich im House of Life. 21. O-Ton: Unbekannt (0,13) (Frech) Ich hab nicht gewusst, dass man für Leute, dieser Art, damit sie nicht in ein Seniorenheim müssen oder einer Seniorenresidenz, dass man extra für sie ein Heim geschaffen hat, wo sie doch mehr so unter sich sind. Autor Jedes Wochenende ist sie hier und bekommt dafür auch etwas zurück. Anke freut sich auf das "Mensch Ärgere Dich nicht"-Spiel mit ihr und auch die anderen sind dankbar, sagt Rosemarie Frech und lächelt. 22. O-Ton: Motivierend (0,07) (Frech) Doch, da gibt es einige: "Hallo, schön, dass Du wieder da bist!". Und das motiviert natürlich auch. 11. Atmo: Ende/ Blende 12. Atmo: Café Bohne, Totale (4,14) - darüber: Autor Einen Tisch weiter sitzt Czeslaw und macht das, was er am Liebsten macht: andere beobachten. Dabei isst er langsam ein Stück Käsekuchen. Nun nimmt Zeitschenkerin Antje Lange nehmen ihm Platz, witzelt mit Czeslaw herum. 23. O-Ton: Czeslaw und Antje (0,13) (Czeslaw, singt) Über sieben Brücken musst Du gehen. Sieben harte Antjes überstehen. (Antje, lacht) Sieben harte Antjes überstehen... (Czeslaw) Aber Sommerfest fand ich richtig toll. Warst Du da da? (Antje) Ja, ich war da. Autor Czeslaw, ein kräftiger Mann mit gescheitelten Haaren, ist HIV-positiv und leidet an einigen Folgeerkrankungen. Früher hat er für die Stadt Berlin gearbeitet. Doch dann gerät er in die wilde Partywelt der 90er Jahre und findet nicht mehr heraus. Vor vierzehn Jahren - er ist noch keine 30 - der Schock. 24. O-Ton: HIV (0,08) (Czeslaw) Hab ich einen Test gemacht. Dann hab ich erstmal Depressionen bekommen. Antidepressiva bekommen. Ein paar Flaschen Wodka und dann war alles wieder gut. Autor Das exzessive Leben geht weiter. Bis zum Infarkt. Dann mit 40, muss er seine Sprache und seine Motorik wieder finden. Ein selbstständiges Leben ist nicht mehr denkbar. Jetzt, meint Czeslaw, baue ich mir in meinem Kopf eben eine Traumwelt. Das funktioniert ganz prima. 25. O-Ton: Gute Zeiten, schlechte Zeiten (0,19) (Czeslaw) Aus dem was ich habe, mache ich das Beste draus. Ich hab sehr gute Zeiten erlebt. Ich hab teilweise zehntausend Euro im Monat verdient. Natürlich ausgegeben. Ich kann Geld nicht sparen. Es kann sein, dass ich jeden Tag sterben kann. Was hab ich davon, wenn ich sterbe und dann hunderttausend Euro gespart habe? Autor In den Händen hält er eine alte CD von Hildegard Knef. Die lächelt ihn von dem schwarz- weiß Cover aus an. Czeslaw blickt auf das Bild und zeigt es Antje Lange. 26. O-Ton: Knef (0,18) (Czeslaw) Also diese Person. Kennst Du Hildegard Knef? (singt) Für mich soll's rote Rosen regnen und... (Antje) Sämtliche! (Czeslaw) ...Wunder begegnen. Hast Du Spliss kleines? (Antje, lacht) 27. O-Ton: Leben oder Theater (0,17) (Antje) Ich hab inzwischen so eine Methode entwickelt, dass ich oft irgendwie auch so eine Ebene dahinter sehe und mir manchmal vorstelle, wir sind jetzt in einem Theaterstück oder so. Dann wird manches so absurd, dass man das ganz gut ertragen kann. Autor Kurz nach 17 Uhr schließt das "Café Bohne" im "House of Life". Czeslaw bringt seinen leeren Kuchenteller weg. Unter den Arm hat er seine Hildegard-Knef-CD geklemmt. Antje verschwindet hinter der Theke, um gemeinsam mit den anderen Zeitschenkern aufzuräumen. Czeslaw will in sein Zimmer gehen und Fernsehen gucken. Die Debatten im Bundestag sieht er am Liebsten. Aber ohne Ton. Den denkt er sich lieber selbst dazu - sagt er und dreht sich noch einmal um. Antje winkt ihm hinterher. 28. O-Ton: Zu Gast bei Freunden (0,27) (Antje) Ich hab nur halt vielleicht ein bisschen länger gebraucht, um mir klar zu machen, dass wir hier sozusagen auch zu Besuch sind. Dass die hier leben. Dass wir in ihrem Wohnzimmer sind und in ihrem Flur und in ihrer Küche. Das hat ein bisschen gebraucht. Da hab ich früher immer so: das ist halt wie im Krankenhaus. Aber das ist es nicht. Das ist der Lebensmittelpunkt. 12. Atmo: Ende/ Blende 13. Atmo: Taschengeld (2,10) - darüber: Autor Drei Tage später, es ist Dienstag. Der wichtigste Tag für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner. 29. O-Ton: Geld zählen (0,21) (Bendorf) Dreißig, achtunddreißig. Portmonee? Verlieren wir unterwegs? Gut. Dann wegstecken. (Münzen klappern) Bitte. Bis in vierzehn Tagen. Autor Mitarbeiterin Gabriele Bendorf hat in den Eingang ihres Büros einen kleinen Tisch gestellt. Dahinter, im Flur, hat sich eine lange Schlange gebildet. Heute wird das Taschengeld ausgegeben. 30. O-Ton: Highlight der Woche (0,16) (Bendorf) Die sind sehr angewiesen auf das Geld. Das ist ein sehr geringer Betrag, den sie haben, zur Verfügung. Und um das eben gerecht über den Monat zu verteilen, kriegen sie wöchentlich das ausgezahlt. Und das ist für sie dann natürlich auch so ein Highlight in der Woche. Autor Als nächstes ist eine junge Frau an der Reihe. Sie bekommt Zigaretten, statt Geld. 32. O-Ton: Zigaretten (0,04) + (0,21 Atmoüberhang) (0,25) (Bendorf) Das kommt bei manchen noch vorm Geld. Autor Gabriele Bendorf nimmt zwei Schachteln aus einem Schank heraus. Das hier ist eine Art zweite Währung, sagt sie. Die junge Frau hinter dem Tisch nimmt die Schachteln und strahlt, lässt nun einen Rollstuhlfahrer vor. 13. Atmo: Ende/ Blende 14. Atmo: Friedhof (2,30) - darüber: Autor Melis Schröter geht zum Friedhof - will sehen ob dort alles in Ordnung ist. Seit eineinhalb Jahren hat das "House of Life" eine eigene Grabstätte in der Nähe der Einrichtung in Berlin-Kreuzberg. 35. O-Ton: Abschied nehmen (0,09) (Schröter) Richtig Abschied nehmen oder Freunde noch mal treffen. Eigentlich ganz wichtig. Und passt auch. Weil das ist nicht soweit weg. Man kommt auch mit dem Rolli alleine hin. Autor Sie bleibt an einer Grasfläche stehen, die von einer kleinen Hecke umrahmt wird. In der Mitte ein großer Grabstein - darauf das Logo der Einrichtung. Zwei kleine bunte Plaketten aus Ton zeigen an, wo jeweils Urnen eingelassen worden sind. Die Namen der Verstorbenen sind eingraviert. Nicht alle, die im "House of Life" sterben, finden hier ihre letzte Ruhe - einige werden auch in ihren Heimatorten beerdigt. Hier sind diejenigen, die keine Angehörigen haben. Für diese Leute sind wir die Familie, sagt Melis Schröter. 36. O-Ton: Beerdigungen (0,22) (Schröter) Es gibt Jahre, da haben wir mehrere und es gibt Jahre, da haben wir nur zwei. Also es ist wirklich so, dass wir teilweise... Wir können auch fünf oder sechs im Jahr haben. Wir sind zwar auch ein Haus, wo gestorben wird, aber eben nicht so häufig, wie in Senioreneinrichtungen. Unser Konzept vom Haus ist ja auch, dass wir Leute wieder fit machen und wieder raus bringen ins Leben. Auf irgendeine Art und Weise. Aber es kommt eben auch vor, dass Leute sterben. Autor Melis Schröter nimmt ein paar heruntergefallene Blätter von dem Grab und macht sich auf den Rückweg zu ihrem Büro. Dort erwartet sie eine gute Nachricht. Klara, die sterbenskranke Patientin, kann wieder alleine essen und trinken. Der Arzt meint, sie ist über den Berg. 14. Atmo: Ende/ Blende // ENDE DKultur: Die Reportage - Wenn junge Menschen pflegebedürftig werden. DKultur: Die Reportage - Wenn junge Menschen pflegebedürftig werden. 12/13 1/13