COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft 6. März 2008 Redaktion: Peter Kirsten Marketing statt Innovationen Von Verschwinden der Pharmaforschung in Deutschland von Reiner Scholz Im Hamburger Congress-Zentrum treffen sich Deutschlands Rheumatologen zu ihrer Jahresversamm- lung. Rheuma gilt als Volkskrankheit Nummer eins. Der letzte Tag steht wie immer im Dienste der Patienten- information: O-Ton 1: Rheumakongress Atmo (drunterziehen) An diesem Vormittag sind über 800 Zuhörer gekommen. Sie wollen wissen, was es für neue Therapien und Medikamente gibt. Vor den Besuchern auf den Tischen liegt ein Spendenaufruf: "Rheuma braucht Forschung. Unterstützen sie uns". Das verwundert. Der Kongress steht - wie die meisten seiner Art - ganz im Zeichen der Pharmaindustrie, ihre Werbeauftritte sind nicht zu übersehen. Ausgerechnet im Bereich der Forschung nun müssen die Rheumatologen bei den Patienten um Spenden bitten. Christel Kalesse, die stellver- tretende Vorsitzende der Rheumaliga in Hamburg, erläutert den scheinbaren Widerspruch: O-Ton 2: Kalesse "Die Forschung für Rheumaerkrankung wird kaum unterstützt, da gibt es leider nicht viel Geld. Die Pharma forscht natürlich sehr stark und bringt Millionen in die Forschung, aber wir wollen eine unabhängige Forschung von der Pharma an den Universitäten oder auch im Kompetenznetz Rheuma, was unabhängig ist und da fehlt es einfach an Geldern. / Unser Endziel ist ja wirklich die Heilung der verschiedenen rheumatischen Erkrankungen und da ist die Pharma dann wohl doch nicht so ganz interessiert dran." Die deutsche Rheumaforschung hat in den letzten Jahren ihre wissenschaftliche Arbeit überwiegend mit öffentlichen Mitteln bestritten. Weil diese Förderung weitgehend ausgelaufen ist, wollen die Wissenschaftler nun eine Stiftung errichten. Zuerst wandten sie sich an diejenigen, die mit Rheumamitteln viel Geld verdienen, die Pharmaindustrie. Sie gründeten ein Industrieforum. Dort sitzen zwar Vertreter aller relevanten Firmen - übrigens überwiegend Personen aus dem Marketing - doch zeigten sie sich bislang wenig spendabel. Deren Interessen und die Interessen der unabhängigen Forscher seien eben nicht unbedingt deckungsgleich, gibt Andreas Radbruch zu bedenken, der wissenschaftliche Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums in Berlin: O-Ton 3: Radbruch "Die Forschung der Firmen konzentriert sich auf die Entwicklung neuer Medikamente, die den Patienten ein möglichst beschwerdefreies Leben ermöglichen sollen. Unsere Forschung konzentriert sich auf die Entwicklung von Therapienverfahren, die möglichst die Krankheit heilen sollen. Dazu gehören auch Therapieverfahren, die wenig Medikamente brauchen, zum Beispiel die Stammzelltherapie. Da greifen viele Sachen ineinander, das wird für jeden Patienten persönlich zusammengestellt und diese Verfahren sind eine Domäne der öffentlich geförderten Rheumaforschung." Die meisten rheumatischen Erkrankungen kann man bislang nicht heilen, sondern nur behandeln. Umso überraschender ist, dass in Deutschland - obwohl an Universitäten und Kliniken mittlerweile ein gut funktionierendes Kompetenznetz existiert - kaum genügend Mittel zur Forschung bereit stehen: O-Ton 4: Radbruch "Unsere Rheumaforschung ist noch relativ jung. Das deutsche Rheumaforschungszentrum ist erst 20 Jahre alt. Die pharmazeutische Industrie setzt sehr viel mehr auf die Vereinigten Staaten und andere Länder und die Konzernzentralen sind auch meistens nicht in Deutschland, so dass es für die lokalen Vertreter der Firmen auch selbst in der Firma schwer ist, gezielt die deutsche Rheumaforschung zu fördern." Die Entscheider sitzen nicht in Deutschland - dieses Dilemma beschränkt sich nicht auf Rheuma. Die Bundesrepublik ist als Absatzgebiet für Medikamente wichtig. Nach den USA und Japan ist es der drittgrößte Markt. Aber als Wissenschaftsstandort in Sachen Medizin rangiere sie längst unter ferner liefen, sagt Peter Schönhöfer, der große alte Mann der Pharmakritik in Deutschland und Mitherausgeber des pharmakritischen "Arznei-Telegramms": O-Ton 5: Schönhöfer "Die Firma Hoechst, 1984 noch der weltweit größte Hersteller von Arzneimitteln, war 10 Jahre später nicht mehr existenzfähig, weil das Entscheidende, Grundlagenforschung und Produktentwicklung, eingespart wurde. Und damit war plötzlich dieser größte Hersteller nicht mehr in der Lage, Neuheiten zu produzieren. Und wir sehen das, dass die große Pharmaindustrie in Deutschland verschwindet. BASF hat seinen Pharmabereich, die Knoll AG, an Abbott verkauft. Boehringer Mannheim verschwand, wurde verkauft, weil die Firma Roche den Betablocker dieser Firma haben wollte. Da wurde dann die ganze Firma aufgekauft, alles still gelegt und der Betablocker, den Roche haben wollte, der wird jetzt als Roche-Produkt verkauft." In der gesamten forschenden Pharmaindustrie in Deutschland arbeiten nur noch gut 90.000 Beschäftige, bei Daimler-Benz - zum Vergleich - sind es 160.000. Dabei macht die Arzneimittelbranche nach wie vor ausgezeichnete Geschäfte, auch in Deutschland. Zahlten die Deutschen vor zehn Jahren noch 17 Mil- liarden Euro für Medikamente, so waren es 2006 knapp 26 Milliarden. Jeder Patient der gesetzlichen Krankenkasse gibt jährlich umgerechnet 513 Euro für Medikamente aus. Längst zahlen die Kassen mehr Geld für Medikamente als für Arztbesuche. Jedes Jahr kommen unzählige neue Medikamente auf den Markt. Sie sind in aller Regel deutlich teurer als ihre Vorgänger. Aber sind sie auch besser? O-Ton 6: Schönhöfer "Seit 1990 hat die Pharmaindustrie bis heute so ungefähr 470 neue Stoffe in den Markt gebracht. Davon sind ganze sieben echte Innovationen, die die Therapie verbessern. Dann gibt es vielleicht noch 20, 30, die für kleine Gruppen ein Vorteil sind und alles andere sind Scheininnovationen. Die Scheininnovationen kommen deshalb in den Markt, weil sie die Behandlungen verteuern. Wenn wir ein traditionelles Behandlungsprinzip haben und es kommt mit dem gleichen Wirktyp eine neue, patentfähige Substanz in den Markt, dann kostet die so drei- bis zehnmal mehr als die alten, wirkt aber nicht besser." Experten wie Peter Schönhöfer werfen der Pharmaindustrie vor, für unnütze, wenn nicht gar gefährliche Pillen viel Geld zu kassieren. Eine Kritik, die Cornelia Yzer, Geschäftsführerin vom "Verband forschender Arzneimittelhersteller" kurz VFA, so nicht stehen lassen will. Der VFA ist einer der einflussreichsten Lobbyverbände der Berliner Republik überhaupt und hat seine Zentrale am noblen Gendarmenmarkt in Berlin, nicht zufällig in der Nähe von Kanzlerin und Regierung. Der Verband vertritt, anders als der eher mittelständisch orientierte "Bundesverband der pharmazeutischen Industrie", die Interessen der Großen der Zunft, 42 Firmen, darunter weltweit führende wie Roche, Bayer, AstraZeneca, Sanofi-Aventis und Novartis: O-Ton 7: Yzer "Unsere Mitgliedsunternehmen investieren 12 Millionen täglich in Forschung und Entwicklung in Deutschland. Das macht im Jahr immerhin 4,4 Milliarden Euro aus. Und ich denke, wir sollten unser Licht als Standort auch gerade im Forschungsbereich nicht unter den Scheffel stellen. Unsere Unternehmen sind allesamt in der klinischen Forschung in Deutschland aktiv. 18 Unternehmen unterhalten sogar Forschungslabo- ratorien in Deutschland. Also wir haben ein Potential, das genutzt werden muss, gerade in einem globalen Wachstumsmarkt Gesundheit, in dem Deutschland schon aus volkswirtschaftlichem Interesse dabei sein sollte." Doch der langfristige Trend zeigt abwärts. Zwischen 1973 und 2004 halbierte sich der Anteil Deutschlands an den weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung fast von rund 13 auf 7 Prozent, so eine Studie der Fraunhofer Gesellschaft von 2005. Zwar verzeichnet die Branche in Deutschland im langfristigen Mittel im Bereich Forschung und Entwicklung Steigerungsraten von 5 Prozent. Doch Länder wie USA und Großbritannien weisen Zuwächse von über 10 Prozent auf. Am intensivsten forschen hierzulande noch kleine und mittlere Firmen. Ob Novartis, Pfizer, Glaxo oder Sanofi-Aventis - von den zehn größten Pharmaunternehmen der Welt unterhält überhaupt nur eines - Sanofi-Aventis - ein eigenes Forschungslabor in Deutschland. Auch der Lobbyverband VFA räumt ein, dass der Forschungsstandort Deutschland bereits bessere Zeiten gesehen habe. Er sieht die Schuld aber nicht beim Versagen der Firmen, sondern bei der Politik: O-Ton 8: Yzer "Wir haben als forschende Arzneimittelhersteller in den letzten Jahren erlebt, dass immer wieder Reglementierungen geändert wurden, ohne dass das Gesundheitssystem nachhaltig auf eine stabile Basis gestellt werden konnte. Für uns bedeutet das: wenig Planungssicherheit. Wer aber wie wir in ein neues Medikament durchschnittlich 800 Millionen US-Dollar investiert und 12 Jahre Forschungsarbeit braucht, der braucht auch Planungssicherheit. Insofern ist Deutschland zu einem sehr unsicheren Standort für uns geworden." Planungssicherheit bedeutet in diesem Zusammenhang, Medikamente, die neu auf den Markt kommen, unabhängig von ihrem Nutzen bis zum Ende des Patenschutzes teuer verkaufen zu können und von den Krankenkassen bezahlt zu bekommen. Bislang lief das weitgehend reibungslos. Deutschland gilt bis heute als Eldorado für Pharma- Gewinne, auch dank der Arbeit des VFA. In Deutschland gilt die Regelung, dass die Kranken- kassen jedes Medikament bezahlen müssen, was zugelassen wurde. Und zwar zu Preisen, die die Pharmaindustrie vorgibt. Entsprechend teuer sind manche Präparate. Die Pharmaindustrie begründet die im einzelnen schwer nachvollziehbaren hohen Preise mit hohen Forschungskosten. Völlig zu Unrecht sagt Gerd Glaeske, Professor für Gesundheitspolitik an der Uni Bremen und Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung. Glaeske schätzt, dass Forschung und Entwicklung höchstens 15 Prozent der Pharmakosten ausmachen, deutlich weniger als Marketing und Vertrieb: O-Ton 9: Glaeske "Die pharmazeutische Industrie argumentiert immer, ein neues Arzneimittel kostet 800, 900 oder eine Milliarde Dollar oder Euro. Wir haben im Sachverständigenrat darauf hingewiesen, dass uns diese Schätzungen zu unseriös sind, sondern dass wir genau so gut belegt Zahlen finden, dass ein neues Arzneimittel 240 Millionen Euro kostet, weil wir auch häufig sehen, dass neue Mittel, die in den Markt gebracht werden, im Grunde genommen ergänzende Präparate zu einer bestehenden ergänzenden Marktlinie sind, als Pflaster, als Spray, da habe ich nicht den gleichen Aufwand wie bei einem neuen Arzneimittel." Obwohl die Gewinne der Pharmaindustrie nach wie vor beachtlich sind und so schnell kaum in einer anderen Branche erzielt werden können, sind doch Zeichen einer Krise unübersehbar. Bei vielen alten Mitteln läuft der Patentschutz ab. Weltweit werden immer weniger wirklich innovative und wichtige Medikamente zur Zulassung eingereicht. Neue sogenannte Blockbuster, wie ehemals das in Deutschland entwickelte Aspirin, gibt es immer seltener. Für Experten wie Peter Sawicki ist dies eine Folge allzu großzügiger Rahmenbedingungen. Der Mediziner leitet das noch junge "Institut für Qualitätsprüfung in der Medizin" in Köln, kurz "IQWIG" genannt: O-Ton 10: Sawicki "Vor zwanzig war Deutschland die Apotheke der Welt. Hier wurden die meisten Medikamente entwickelt, erprobt und dann weltweit vermarktet. Nun sind die deutschen Firmen meiner Meinung nach auch durch eine bequeme Situation in Deutschland, gar nicht mehr angehalten gewesen, Forschung zu betreiben. Sie konnten ja jedes Präparat so ein bisschen modifizieren, dann hat es sich schon verkauft. Und dadurch wurden sie in den vergangenen 20 Jahren zu willkommenen Übernahmeobjekten für andere Firmen und jetzt ist es so, dass wir in Deutschland kaum mehr international tätige Pharmaunternehmen haben, was bedauerlich ist." Fast alle Firmen suchen d a s Supermedikament, das ihnen die Kassen füllt. Dabei sind die Großen längst zu schwerfälligen Giganten geworden. Eine Firma wie Pfizer mit einem Jahres-Umsatz von über 30 Milliarden Euro gehört weltweit zu den größten Firmen überhaupt. Allein mit ihrem teuren Cholesterinsenker "Sortis", der in Deutschland 2005 von gut 1,5 Millionen Menschen geschluckt wurde, macht der Pharma-Riese einen Umsatz von etwa 10 Milliarden. Es mangelt an Ideen und Risikobereitschaft, nicht aber am Geld. Längst bedienen sich die Großen der Branche der Hilfe vieler kleiner Zuträger. Sie brauchen Wissenschaftler wie den Hamburger Onkologen Hartmut Juhl: O-Ton 11: Juhl "Was wir hier bei Indivumed machen, ist, dass wir sehr kliniknah eine Proben- und Datenbank von Krebspatienten aufgebaut haben, die dann eben als Forschungstool zur Verfügung steht." Ganz unscheinbar neben dem israelitischen Krankenhaus in Hamburg steht der graue Zweckbau von "Indivumed". Hier verwirklicht Hartmut Juhl seit 2002 zusammen mit heute mehr als 50 Mitarbeitern eine verblüffend simple Idee: Er sammelt zu Forschungszwecken Krebszellen von Patienten umliegender Krankenhäuser und Arztpraxen und hat in wenigen Jahren eine einzigartige Proben- und Datenbank aufgebaut. Seine Kunden sind akademische Einrichtungen, andere Biotech-Firmen und vor allem die pharmazeutische Industrie. 80 Prozent seiner Geschäftsbeziehungen unterhält er in die USA. Zu seinen Kunden zählen acht der zehn größten Pharmaunternehmen der Welt. Allein in Deutschland gibt es mittlerweile 5000 derartiger Firmen, ganz kleine und größere. Die meisten basteln allerdings an der Entwicklung nur eines einzigen Produkts, tragen also ein hohes Risiko des Scheiterns. Sie, deren Start nicht selten mit öffentlichen Mitteln erfolgte, sind Pfadfinder für die großen Firmen. Scheitern sie, was nicht selten ist, verschwinden sie einfach vom Markt. Gelingt der Durchbruch, übernehmen die Großen dann die Kleinen, so die Regel: O-Ton 12: Juhl "Aufkaufen, das ist gang und gäbe. Viele Biotech- Unternehmen setzen darauf, dass sie eine gute Entwicklung nehmen, ein gutes Produkt haben, gute Patente haben, aufgekauft werden. Die Gründer verdienen ihr Geld, die Investoren verdienen ihr Geld und die Idee lebt dann im anderen Unter- nehmen weiter. Das ist, glaube ich, Standard in der Branche." Ein Weg, der dem Hamburger Wissenschaftler und Unternehmer nicht unbedingt behagt. Seine eigne Erfahrung mit den großen Pharmaunternehmen - vor allem in der Anfangsphase - machen ihn vorsichtig: O-Ton 13: Juhl "Was einem unheimlich Mühe macht bei einem Unternehmen wie dem unseren und dem Reden mit den Großen ist einfach die Trägheit der Entscheidungsfindung. Also das, was intern gilt, für das Anwerfen neuer Forschungsprojekte, gilt natürlich auch in der externen Beziehung. Man ist überzeugt, man kann deren Forschung fördern, man kann denen helfen. Die sind es im Prinzip auch, aber letztlich, bis ne Entscheidung fällt sind im Nu ein, zwei Jahre rum und diese Trägheit hätte ich nicht gedacht, dass die in dem Ausmaß da ist." Der Hamburger Onkologe Juhl findet übrigens, dass der Forschungsstandort Deutschland dem amerikanischen in mancher Hinsicht überlegen sei: O-Ton 14: Juhl "Meine Beobachtung ist, dass in den USA die Ängste, verklagt zu werden, so massiv sind, dass gerade was klinische Studien angeht, dass da enorme Hürden entstehen und dass die Industrie sich von den USA wegwendet. Bei uns - wäre mein Eindruck - ist es vielleicht ein stärkeres Ökologiebewusstsein, Umweltschutz, auch Ängste, dass was schief geht. Aber bei weitem nicht so ausgeprägt wie in den USA, weil die Angst, dass man hier irgendwelche Klagen hat, zumindest nicht so groß ist. Von daher würde ich dem Forschungs- standort Deutschland versus USA unter dem Strich Deutschland den Vorzug sogar geben." Nach einer Faustregel gilt heute nur ein solches Medikament als effektiv, dass im Jahr einen Umsatz von 200 Millionen Dollar einspielt. Mindestens ein Drittel davon wird für Marketing ausgeben. Dabei tummeln sich fast alle Firmen auf dem zahlenmäßig zwar kleinen, aber finanzstarken Markt der reichen Europäer, Nordamerikaner und Japaner. Hier werden weltweit 90 Prozent aller Medikamente abgesetzt, viele in ähnlichen Segmenten. In den letzten Jahren wurden knapp 180 Mittel allein gegen Herzkreis- laufbeschwerden zugelassen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass jedes dieser Mittel stark beworben werden muss, würde es doch ansonsten gar nicht auffallen. Umgekehrt wurden im selben Zeitraum nur drei Medi- kamente gegen Tuberkulose entwickelt. Es fehlt an Präparaten gegen Malaria und andere Tropenkrank- heiten. Während jedes Jahr in den armen Ländern der Erde etwa drei Millionen Menschen an Malaria sterben, forscht die Pharmaindustrie - gerne auch in ihren Laboren in Sambia, Südafrika und Indien - nach neuen Mitteln gegen Hustenreiz, Übergewicht und Unwohlsein. Doch auch in den Industriestaaten gebe es noch Nachholbedarf bei ernsthaften Krankheiten, sagt Gerd Glaeske: O-Ton 15: Glaeske "Ich sag' zunächst mal, dass wir gut versorgt sind im Bereich Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das gleiche gilt für den Bereich Diabetes, Asthma ebenfalls. Wir haben Probleme bei allen Krankheiten, die in irgendeiner Weise mit dem Immunsystem und dem neurologischen System zu tun haben. Das Auto-Immun-System, was eben auch aus dem Ruder laufen kann, und was denn Probleme macht, wie zum Beispiel rheumatoide Arthritis. Wir haben im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen, also Parkinson, Demenz, multiple Sklerose sicher immer noch Nachholbedarf. Wir haben auch bei ganz bestimmten Erkrankungen, die wir mit dem Alter bekommen werden, onkologische Erkrankungen, insbesondere noch Nachholbedarf. Aber wir haben auch Krankheitsbereiche, wo wir noch gar nichts haben. Also wir wissen ja, so in etwa, 20.000 Krankheiten können wir definieren und wir haben wahrscheinlich bei 6.000 bis 8.000 Krankheiten überhaupt noch nichts in der Hand." Die Pharmaindustrie ist, auch wenn sie sich gern karitativ gibt, kein Wohltätigkeitsverein. Sie und ihre Anteilseigner wollen Gewinne machen. Deshalb ist es Sache des Staates, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die Medikamentenbranche nicht nur zum Wohle der Anteilseigner sondern auch zum Wohle der Patienten agiert. Ansätze dazu gibt es: Seit einigen Jahren begünstigt die Politik etwa durch besonderen Patentschutz die Forschung von sogenannten Orphan- Drugs, also Medikamenten von Krankheiten, die nur eine kleine Gruppe von Kranken befällt und deren Entwicklung sich sonst nicht lohnen würde. Folgt man Kritikern wie dem Bremer Sozialwissen- schaftler Gerd Glaeske, so reichen die staatlichen Vorgaben in Sachen Forschung gleichwohl noch längst nicht aus: O-Ton 16: Glaeske: "Es gibt die Situation, wo eine Firma genau weiß und so ist das auch bei manchen Arzneimitteln in der letzten Zeit geschehen, zum Beispiel bei den Coxx-II-Hämmern, also bei einer neuen Gruppe von Rheuma-Mitteln, dass längere Studien offensichtlich dann unerwünschte Wirkungen nahe legen oder sogar zeigen, die bei kürzeren Studien nicht aufgetreten sind. Also haben viele Firmen an dieser Stelle kürzer wirkende Studien laufen lassen und haben dann nach etwa sechs Monaten diese Studien beendet und man hatte dann das Empfinden, dass hier ganz bestimmte unerwünschte Wirkungen, da ging es beispielsweise um Herz- Kreislauf-Belastungen und ähnliches, nicht so klar erkennbar waren. Das sind noch immer Möglichkeiten, die ein Pharmaunternehmen hat, selektiv Studien vorzulegen." Die Pharmaindustrie drängt überall auf der Welt auf die Beschleunigung der Zulassung. Je früher ein Medikament auf den Markt kommt, desto eher lässt sich mit ihm Geld verdienen. Umgekehrt aber, wenn es Probleme gibt, dann lassen sich einige Firmen gerne Zeit: O-Ton 17: Glaeske "Es wurde kürzlich ein Mittel vom Markt genommen, das heißt Trasylol von der Firma Bayer. Es wurde eingesetzt bei bestimmten Operationen. Da haben die Ersten schon vor 8 bis 10 Jahren gesagt, das Mittel hat doch erhebliche unerwünschte Wirkungen. Dann kann das "Bundesinstitut für Arzneimittel" Auflagen machen, es kann anordnen, dass ganz bestimmte Studien durchgeführt werden. Das dauert dann wieder drei, vier fünf Jahre. Insofern kann das oftmals 5, 6, 8, 10 Jahre dauern, bevor das zu einer endgültigen Entscheidung kommt." Nicht allein die Krankheiten sind also ein Problem - längst sind es viele Medikamente selbst. Bei der klinischen Forschung existiert etwa die methodische Schwierigkeit, dass neue Mittel nur an einigen tausend Probanden ausprobiert werden. Statisch ge- sehen könnte dabei ein Risiko womöglich gar nicht bemerkt werden, dass bei millionenfacher Vergabe sofort deutlich würde: O-Ton 18: Glaeske "Wenn man mich fragen würde, wo beginnt eigentlich die wirkliche Forschung, würde ich immer sagen, die muss nach der Zulassung beginnen. Wenn Patienten, die nicht mehr in ein protokollgeleitetes Prüfschema eingebunden sind, behandelt werden, wenn Patienten in der üblichen Praxis, wo Ältere kommen, Jüngere kommen, Männer kommen, Frauen kommen, Kranke kommen, die mit anderen Arzneimitteln behandelt wurden, dieses neue Arzneimittel bekommen, dann geht es darum, zu prüfen, wie ist eigentlich die Verträglichkeit dieses neuen Arzneimittels." Doch gerade in der Zeit nach der Zulassung wird kaum geforscht: O-Ton 19: Glaeske "Insofern könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass man Studien dazu macht: Wie ist der Nutzen von Cholesterinsenkern, wie ist der Nutzen von bestimmten neuen Rheumamitteln, wie ist der Nutzen von bestimmten neuen Mitteln von multipler Sklerose? Das wäre im übrigen auch etwas, wo sich die pharmazeutische Industrie in einer neuen Forschungsrichtung, nämlich Versorgungsforschung, etablieren könnte und wirklich ein ganze Menge dazu beitragen könnte vernünftige therapeutische Strategien einzuleiten. Nur, sie hat kein Interesse daran. Sie will ihre Arzneimittel vermarkten, umsatz- und absatzfördernd und das kollidiert halt mit unabhängiger Forschung, denn da könnte es hinderlich werden, wenn die Ergebnisse nicht so sind, wie sich das Unternehmen es verspricht." Pharmakritiker fordern seit langem, dass sich die Firmen finanziell an der Risikoforschung nach der Zulassung ihrer Medikamente beteiligen müssten, Experten sprechen von 1,5 Millionen Euro im Jahr. Doch die Pharmalobby winkt ab. Sie habe ja ihre Anwendungsbeobachtungen. Die Firmen beschäftigen dazu in Deutschland über 15.000 Pharmavertreter, die Kran- kenhäuser und Arztpraxen besuchen, um die Ärzte zum Verschreiben ihrer Medikamente zu animieren und deren Wirkung zu dokumentieren. Die Vergütung liegt zwischen 20 und 1000 Euro pro Patient. Diese Art der Einflussnahme ist in den letzten Jahren als reine Marketingaktion in Verruf gekommen. Der "Verband forschender Arzneimittelhersteller" gelobte im Mai 2007 Besserung durch eine Selbstverpflichtung. Geschäftsführerin Cornelia Yzer: O-Ton 20: Yzer "Anwendungsbeobachtungen liegen beim Leiter der Forschung, nicht im Marketing. Sie werden veröffentlicht. Spätestens zwölf Monate nach Abschluss der Anwendungsbeobachtungen müssen die Ergebnisse veröffentlicht werden. Wichtig ist auch, dass wir künftig darauf Wert legen, dass bei Anwendungsbeobachtungen der Patient informiert wird, dass eine solche Studie läuft, also auch Transparenz gegenüber dem Patienten geschaffen wird." Ob die neuen Richtlinien im Alltag wirksam werden, wird sich noch zeigen müssen. Für den deutschen Arzt ändert sich womöglich nicht viel. Er fühlt sich ohnehin unabhängig. 80 Prozent gaben in einer Studie an, sich von der Pharmaindustrie nicht beeinflussen zu lassen. Gleichzeitig hielten aber 60 Prozent der niedergelassenen Ärzte ihre Kollegen für beein- flussbar. Aus der Tatsache, dass es in Deutschland millionenfache Anwendungsbeobachtungen gibt, lässt sich zumindest schließen, dass viele Ärzte sich gern auf dieses schnell verdiente Zubrot einlassen. Nicht wenige sogar aus Existenznot, vermutet Bernd Reim, Hausarzt in Hamburg: O-Ton 21: Reim "Jede vierte Praxis soll vor dem finanziellen Ende stehen. Und dementsprechend ist es natürlich so, dass manche, die da weniger moralische Bedenken haben, einfach sagen, ach komm, da weiß doch jeder sowieso, das ist nur Mist. Ich trag' da fünf Patienten ein und krieg da meine hundert, zweihundert Euro und hab dann mehr. Das ist sicher in Zeiten, in denen es finanziell immer weiter bergab geht, und das kriegen wir ja alle mit, die Umsätze sind bis 20 Prozent weniger geworden, und vorher haben die Hausärzte ja auch nicht toll verdient, da denke ich schon, dass manche Kollegen sagen, ich streich' das Geld ein. Und mittlerweile sehe ich das auch nicht mehr so verbissen, weil, wenn's einem, nicht in dem Sinne, schlecht geht, dann nimmt man alles gerne in Kauf." Seit 2004 existiert in Deutschland ein Institut, dessen Arbeit darin besteht, zugelassene Medikamente zu prüfen: das bereits erwähnte unabhängige "Institut zur Qualitätsentwicklung in Gesundheitswesen". Hier, auf der linken Rheinseite in Köln-Deutz, sammeln Wissenschaftler alle frei verfügbaren Daten über bestimmte Medikamente und registrieren somit sehr genau, wie es um die kommerzielle Pharmaforschung bestellt ist. Weil von ihrem Urteil auch die Erstattung von Arzneimitteln abhängt, hat das kritische IQWIG sich bereits mehrfach den Zorn der Pharmaverbände zugezogen. Kürzlich erhob die "Kassenärztliche Bundesvereinigung" einen schweren Vorwurf. In mindestens zwei Fällen sollen wissenschaftliche Gutachter auf Druck der Arzneimittelhersteller darauf verzichtet haben, Expertisen für das IQWIG anzufertigen. Sie fürchteten, dass ihren Einrichtungen der Geldhahn für weitere Pharma-Forschungen abgedreht würde. So verwundert es nicht, dass IQWIG-Geschäftsführer Peter Sawicki den meisten Pharmafirmen kein schmeichelhaftes Zeugnis ausstellt: O-Ton 22: Sawicki "Eigentlich ist man verpflichtet, wenn man mit Patienten-Studien macht, auch ethisch verpflichtet, diese Daten zu publizieren und nicht nur für seine eigene Information zu nutzen. Leider ist das nicht immer der Fall. Also wir schätzen, dass etwa 50 Prozent der Studien, vor allem die Studien, die von der pharmazeutischen Industrie gemacht werden, nicht publiziert oder nicht vollständig publiziert werden, so dass der Ausschnitt des Wissens, den wir haben, ein selektiver sein muss." Dem IQWIG wird von Medikamentenherstellern gerne vorgeworfen, es diskreditiere die Arbeit der Pharmaindustrie. Darauf hat Peter Sawicki eine einfache Antwort. Die Industrie diskreditiere sich durch ihre tägliche Arbeit selbst: O-Ton 23: Sawicki "Im Grunde sollte die pharmazeutische Industrie ja ein sehr viel höheres Ansehen haben als zum Beispiel die Autoindustrie, die ein hohes Ansehen hat, weil sie ja Menschen heilen sollte. Nur durch das Verhalten der Industrie, dadurch haben sie selber ihr Bild so beschädigt, dass, wie ein Funktionär der pharmazeutischen Industrie mir einmal sagte, sie gerade in dem Ansehen nach Drogendealern kommen und das ist sehr schade. Ich glaube, dass man zu der Pharmaindustrie aufschauen sollte. Man sollte sie schätzen, nur dafür müssen wesentliche Veränderungen da passieren." Die Politik hat in den letzten Jahren mehrfach versucht, die Ausgaben für unnütze Medikamente zu reduzieren. Erfolgreich war sie nicht. Nun droht eine weitere Kostenwelle. Derzeit drängen die Pharmafirmen im Rahmen der EU darauf, das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Mittel abzuschaffen. Wenn erst den Kranken in Fernseh-Werbespots erzählt wird, ihren Krebs könne man mit dem Mittel "xy" schnell und ohne Nebenwirkungen heilen, dann, das zeigen Erfahrungen aus den USA, dürfte die Nachfrage nach teuren Medikamente noch weiter nach oben schnellen. Immer mehr Marketing - immer weniger substantielle Forschung: An dieser Entwicklung dürfte sich so schnell nichts ändern. ./. Ende 1