KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : ?Alexis Sorbas? Ein geistiges Abenteuer, eine Freundschaft, ein Roman Autor/in : Renate Maurer und Theodora Mavropoulos Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 17.02.2013 Besetzung : Sprecherin 1 (Erzählerin) Sprecherin 2 (Voice Over) Zitate-Sprecherin n) Zitate-Sprecher Regie : Beatrix Ackers Produktion : O-Töne, Musik COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Dradio Kultur Literatur Redaktion: Dorothea Westphal Alexis Sorbas Ein geistiges Abenteuer, eine Freundschaft, ein Roman Renate Maurer, Theodora Mavropoulos Sprecherin 1 (Erzählerin) Sprecherin 2 ( voice over) Zitate-Sprecher Zitate-Sprecherin Atmo Meer/Musik Zitat-Sprecher Du willst keine Scherereien murmelte Sorbas erstaunt. Was willst du denn sonst? Ich antwortete nicht. ?Das ganze Leben ist eine Schererei,? fuhr Sorbas fort. ?Der Tod ist es nicht. Weißt du, was es heißt ein lebendiger Mensch zu sein? Den anderen zum Kampf herauszufordern?. Ich antwortete nicht. Ich wusste, dass Sorbas recht hatte. Ich war so tief gesunken, dass ich vor die Wahl gestellt, mich in eine Frau zu verlieben oder ein gutes Buch über die Liebe zu lesen, das Buch vorgezogen hätte. ?Laß das Rechnen,? fuhr Sorbas fort, ?laß die Zahlen! Schlage diese verdammte Waage kurz und klein, schließ den Laden, sag ich dir. Jetzt gilt es nur deine Seele zu retten?. Musik Atmo Bus Sprecherin Nach Myrtia fährt nur einmal am Tag ein Bus. Das Dorf liegt irgendwo versteckt hinter Knossos im kretischen Bergland, von Iraklion sind es nicht mehr als 18 km. Die Fahrt geht eine gewundene Straße hoch, vorbei an Weinbergen, Algarven, windschiefen Olivenbäumen. Im Oktober kann es vorkommen, dass man mit dem Fahrer ganz alleine im Fahrzeug sitzt. Atmo Myrtia Sprecherin In Myrtia steht das Kazantzakis-Museum. Ein eleganter Gebäudekomplex aus Quadern, weiß und taubengrau mit einem schlanken Riegel aus Holzlamellen, mitten auf dem Dorfplatz. Ein paar Platanen, ein leiser Wind, kein einziger Tourist. Das Museum trägt außen die Signatur Nikos Kazantzakis, in riesigen Metalllettern läuft sie längs über die Holzrippen des Riegels. Auf Griechisch eine rasante Linie mit spitzen Ausschlägen wie bei einer Herzfrequenzkurve - als hätte der Dichter sein Haus vom Jenseits aus handsigniert. Atmo Sprecherin Auch im Inneren des Museums begegnet man Kazantzakis Handschrift auf Schritt und Tritt: auf Briefen, Manuskripten, in Notiz- und Tagebüchern, neben einer staunenswerten Vielfalt seiner gedruckten Werke, Hunderten von Büchern! Neben seltenen Fotos und persönlichen Sachen, Handschuhen, Brillen, Teetassen, neben Bühnenbildern, Theaterkostümen, Audio-und Filmdokumenten. Die Museumsleiterin, Varvara Tsaka, empfängt die deutschen Besucherinnen mit strahlendem Lächeln und führt sie zu einer Wand mit Briefen und Karten hinter Plexiglas: 1 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Ein Großteil seiner Korrespondenz besteht aus Postkarten, die er gewöhnlich von seinen Reisen schickte, Kazantzakis schrieb nicht nur auf Griechisch, sondern auch auf Französisch, Deutsch und Englisch. Im Museum hier gibt es viele Postkarten, die auf Deutsch geschrieben sind und sich an seine Freundin Lia Levin richten. Sie war eine der fünf Frauen, die den ?Feurigen Kreis? bildeten, einen Kreis von Frauen, die er in Berlin kennen gelernt hatte. Sprecherin ?Liebe, liebe Lia?, liest man da, ?ich bin in Paris... und ?Très Chere Rachel? auf Karten aus dem Jahr 1923. Unter dem Einfluss der revolutionär gestimmten Jüdinnen begeisterte sich Kazantzakis Anfang der 20er Jahre in Berlin vorübergehend für Lenin. 2 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Mit ihnen hatte er intellektuelle Gespräche, die Frauen inspirierten seine Weiterentwicklung und sein philosophisches Werk, das er in dieser Zeit zu schreiben begann. Musik Sprecherin Nikos Kazantzakis, 1883 in Iraklion auf Kreta geboren und leidenschaftlicher Grieche, verbrachte den größten Teil seines Lebens im Ausland. In Athen studierte er Jura - seinem Vater zuliebe, in Paris Philosophie aus Neigung. Er beschloss, ein Leben als Dichter und Denker in einer Person zu führen; um davon existieren zu können, schrieb er ungeheuer viel. Atmo Museum Sprecherin Da sind seine Dramen, philosophischen Essays, Romane, Reiseberichte, Schulbücher, Übersetzungen von Welt- und Kinderliteratur in griechischen Erstausgaben und zahlreichen Ausgaben in fremden Sprachen. Da ist schließlich sein gewaltiges Hauptwerk ?Odyssee?, ein Versepos als moderne Fortsetzung von Homers Werk: großes Format, 33 333 Verse. Die meisten Besucher aber kommen wegen eines einzigen Romans hierher, den die wenigsten gelesen haben. Und vor allem wegen eines weltberühmten Films. Musik Sirtaki aus ?Zorba, the Greek? 4 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Was vielleicht nicht allen bekannt ist: Den Alexis Sorbas gab es wirklich, er hieß Giorgis Sorbas. Er war ein Freund von Kazantzakis. Und im Buch, in dem Kazantzakis ihn zu seinem Helden macht, lässt er die Handlung auf Kreta spielen. In Wirklichkeit aber spielte sich die Geschichte mit Sorbas an einem Strand auf dem Peleponnes ab. Atmo Meer/Wellen Sprecherin Das war 1916, als sich Kazantzakis mit dem schnauzbärtigen Makedonier und Minenarbeiter Giorgis Sobas zusammentat, um auf der Halbinsel Mani ein verrottetes Braunkohlebergwerk wieder flott zu machen. Der eine 33 und jung verheiratet, der andere fast 50 und gerade Witwer geworden. Das Geld für das Projekt stammte von einem reichen Onkel Kazantzakis, der die Summe allerdings für die Eröffnung einer Rechtsanwaltskanzlei vorgesehen hatte. Für die Schürfung bei Prastova wurde das halbe Dorf eingestellt, der frisch verwitwete Sorbas, als Vorarbeiter engagiert, erschien mit sieben seiner zehn Kinder. Das Unternehmen scheiterte nach sechs Monaten. Zitate- Sprecher Das Braunkohleunternehmen ist feierlich Pleite gegangen. Dieser Sorbas und ich hatten alles getan, um lachend, spielend, diskutierend die Katastrophe herbeizuführen. Sprecherin Ein Scheitern mit großem Gewinn. Der Gedankenaustausch des Dichters mit dem herrlich verrückten Individualisten und Nihilisten Sorbas begründet eine lebenslange Freundschaft und geht 30 Jahre später in einen weltberühmten Roman ein. Dies ? obwohl sich die beiden Männer nach Mani nur mehr zweimal sehen. 5 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (over voice) Sorbas, also Giorgis Sorbas, ist aus Griechenland weggezogen und ließ sich in Skopje nieder, Kazantzakis ging nach Frankreich. Die beiden haben sich jahrelang nicht getroffen. Dann, während der deutschen Besatzungszeit 1942, erhielt Kazantzakis die Nachricht, dass Sorbas gestorben sei. Ich glaube, da brach alles in ihm zusammen, weil er nicht glauben konnte, dass so jemand sterben könne. Und so suchte er nach Möglichkeiten, ihn wiederauferstehen zu lassen Musik Zitat-Sprecher Und wäre es auch der Tod, sagte ich, werden wir ihn in Tanz verwandeln; wir, mein Herz, laß uns ihm unser Blut geben, dass er lebendig wird; laß uns alles tun, damit dieser herrliche Esser, Trinker, Arbeiter, Frauenjäger, Herumtreiber noch weiterlebe. Der Tänzer und Kämpfer. Die weiteste Seele, der sicherste Körper, der freieste Schrei, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe. Sprecherin Den Schauplatz der Handlung verlegt Kazantztakis nach Kreta. Nicht nur, weil er hier geboren wurde und aufwuchs, zur Schule ging und mit dem Schreiben begann. 6 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Hier erlebte er ganz jung den Befreiungskampf der Kreter, 1897 gegen die Türken, und das hat ihn nachhaltig geprägt. Er hatte eine besondere Liebe zu Kreta. Immer, wenn er auf die Insel kam, ist er hier herumgegangen, in die Dörfer. Für ihn hatten diese Dörfer etwas ganz Ursprüngliches, Authentisches. Er liebte es, mit den Leuten zu reden und sammelte Worte und Redewendungen, die er dann später in seinen Werken verwendete. Sprecherin Varvara Tsaka deutet auf das griechische Original in der Vitrine neben einer chinesischen Übersetzung und vielen anderen fremdsprachigen Ausgaben. 7 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Hier die erste griechische Ausgabe des ?Sorbas? und Übersetzungen in verschiedene Sprachen. ?Sorbas? ist das meistübersetzte Buch von ihm. Dann gibt es hier Ausstellungsstücke zur Person des realen Giorgis Sorbas und einige Briefe, die er an Kazantzakis geschickt hat. Sprecherin Es gibt tatsächlich Briefe von Sorbas. Und was für welche! Ein Brief aus Kairo, mit gestochener Schönschrift ? auf Griechisch. Dann eine Karte aus Serbien mit Foto auf der Vorderseite, die Karte, die Kazantzakis in ?Alexis Sorbas? zitiert: Musik Zitate-Sprecher: Ich lebe noch, hier ist es verteufelt kalt, deshalb war ich gezwungen zu heiraten. Dreh die Karte um und schau ihr Gesichtchen an, ein Leckerbissen. Ihr Leib ist ein bisschen geschwollen, sie bereitet mir nämlich einen kleinen Sorbas. Auf der Vorderseite war Sorbas abgebildet, gutgenährt, im Hochzeitsstaat, mit seiner Pelzmütze, einem Gigerlstöckchen und einem funkelnagelneuen Mantel. Am Arm hing ihm eine reizende Slawin von ungefähr 25, eine lebhafte kleine Stute mit breiten Hüften, mit hohen Stiefeln, mit einem gesegneten Busen. Darunter in dicken, handfesten Buchstaben: ?Ich, Sorbas, und die Sache, mit der keiner zu Rande kommt, die Frau. Dieses Mal heißt sie Ljuba.? Sprecherin Den Mann hinter Katzantakis Romanhelden Alexis Sorbas kennen nicht viele. Aber alle kennen den Sirtaki tanzenden Anthony Quinn in der Titelrolle der Verfilmung ?Zorba, the Greek? von 1964 ? selbst wenn sie den Film nie gesehen haben O-Ton Film ?Teach me to dance, will you? ? Did you say dance? Come on, my boy! ? 8 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Hier ist das Filmskript mit der Unterschrift des Regisseurs Michalis Cacoyannis, dann Kostümbilder zur Theateradaption des Werks. Außerdem haben wir auch die touristische Verwertung berücksichtigt, indem wir Gegenstände wie Zigaretten, Gläser, Weine ausstellen, die den Namen ?Zorba? aus kommerziellen Zwecken verwendet haben. Sprecherin Das Drehbuch zu ?Zorba, the Greek? ist nicht nur wegen der Signatur des Drehbuchautors und Regisseurs Cacoyannis sehenswert. Ganz oben auf dem Titelblatt steht in Handschrift noch ein anderer berühmter Name: ?Mr. Anthony Quinn? mit den Telefonnummern des Stars im ?office? und ?home? im Astoria Hotel. Der irische Mexikaner Quinn, so heißt es, habe erst nach langem Feilschen zugesagt, unter der Bedingung, dass er für die Tanz-Szenen gedoubelt werde. Musik Sirtaki (Zorba, the Greek) 9 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Ob Quinn komplett gedoubelt wurde? Da bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube, er hat schon auch selbst getanzt, zumindest für ein paar Augenblicke in diesem 3 Minuten langen Tanz am Schluss. Aber es gab tatsächlich jemanden, der ihn gedoubelt hat. Nach dem Film kam er oft nach Griechenland, das er liebte, er hat sich sogar ein Haus gekauft auf Rhodos und traf sich oft mit Mikis Theodorakis und anderen berühmten Griechen. Sprecherin Mit Anthony Quinn stieg Sorbas in den 60er Jahren zum Lieblingsgriechen der Europäer und Amerikaner auf und der Sirtaki mit der federleichten Musik von Theodorakis zum populärsten Ausdruckstanz der griechischen Seele für Touristen. Zum Ohrwurm in allen Tavernen. Es ist aber so, sagt Varvara Tsaka, dass es den Tanz vor dem Film gar nicht gab Sirtaki 10 O-Ton Varvara Tsaka Sprecherin (voice over) Er wurde erst für den Film kreiert, und der Choreograph war ein gewisser Giorgis Provias, der Tänzer in Athener Nachtlokalen war. Provias sollte Anthony Quinn die Tanzschritte beibringen. Der Tanz wurde also extra für den Film geschaffen und basiert auf den Schritten des Xasapiko, den es schon vorher gab. Später nannte man ihn Sirtaki, weil er an die griechischen Sirtos-Tänze erinnert. Niemand, auch Provias nicht, ahnte damals, was für eine Resonanz dieser Tanz einmal haben würde. Sirtaki schnell Sprecherin (voice over) In Wirklichkeit tanzen wir den Sirtaki in Griechenland nicht. Hier ist der Xasapiko der traditionelle Tanz. Xasapiko Der Sirtaki wird mittlerweile auch im Bewusstsein der Griechen als folkloristisches Element wahrgenommen, meistens wird er für touristische Zwecke eingesetzt. Und manche Leute sagen, dass es zur Zeit nicht gerade zu unserem Vorteil ist, wenn man im Ausland glaubt, wir hätten nur Sirtaki und Moussaka. Musik Atmo Meer Sprecherin Kazantzakis ist 59, als er auf der Insel Ägina seinen ersten erfolgreichen Roman schreibt. ?Sinaksari tou Zorba?, ?Zorbas Heiligenlegende? nennt er die erste Fassung. Seine zweite Frau Eleni hatte ihn dazu ermuntert, sich dem Roman zuzuwenden, nachdem seine gedankenschweren Tragödien mit ihren Stoffen aus fernen Zeiten nur selten auf die Bühne gelangt waren. Als Kommunist verschrien, durfte während der Kriegsjahre nicht einmal seine Shakespeare-Übersetzung ?Othello? gespielt werden. 11 O-Ton Evi Petropoulou Kazantzakis wollte am Anfang keine Romane schreiben, das ist für ihn nur Beiwerk, und er fängt sehr spät in seinem Leben an, Romane zu schreiben, und er hat das aus finanziellen Gründen gemacht und hielt als sein eigentliches Werk, als sein Opus Magnus sozusagen, die ?Odyssee?. Sprecherin Evi Petropoulou lehrt an der Universität von Athen deutsche Literatur und Komparatistik, hat auf Deutsch eine Geschichte der neugriechischen Literatur herausgebracht und sich eingehend mit Nikos Kazantzakis und seinem Werk beschäftigt. 12 O-Ton Evi Petropoulou Kazantzakis verfasste also neben der ?Odyssee? Erzählungen, Theaterstücke, Biografien, Reiseberichte, Märchen, Schulbücher, zusammen mit seiner ersten Frau Galateia, aber auch mit seiner zweiten Frau Eleni, und er hat auch viele Übersetzungen gemacht. Er hat Homers Epen übersetzt, Dantes göttliche Komödie aus dem Italienischen, Goethes Faust aus dem Deutschen. Er schreibt Essays, Studien, philosophische Schriften, journalistische Texte usw. aber Romane nicht, und das fängt erst nach seinem 50. Lebensjahr, glaub ich, an. Verlagsatmo Sprecherin Wir sitzen mit Evi Petropoulou an einem warmen Oktobertag im Büro des Verlagshauses ?Kazantzakis Publications? im Zentrum von Athen. Der Verlag ist in einer stilvollen, alten Villa untergebracht, in einer lebhaften kleinen Straße. Hohe Räume, dunkle geschnitzte Möbel, Sofa und Sessel aus schilfgrünem Samt. O-Ton Evi Das ist sozusagen eine lange Inkubationszeit, eine lange Zeit der Inspiration, der braucht eine lange Zeit, damit er dann sozusagen sein ganzes Lebens aufs Papier bringt. Und das, was er erlebt hat, sehen wir tatsächlich als Handlung in ?Alexis Sorbas?, seine Freunde, Stavridakis, Sorbas selbst, sind reale Personen. Atmo Meer Sprecherin Im August 1941 ist Griechenland von den Deutschen besetzt. Kazantzakis lebt zurückgezogen in seinem würfelförmigen Haus mit den blauen Fensterläden auf Ägina, direkt an der Steilküste. Es herrscht schlimme Hungersnot, die Kinder gehen an Stöcken, die Bäuche aufgeschwollen, die Gesichter voller Wunden und Geschwüre. Auch Kazantzakis ist nur noch Haut und Knochen. Um ihre Kräfte zu sparen, berichtet Eleni, seien sie so viel wie möglich im Bett geblieben. Zitat-Sprecherin Während der schwärzesten Tage schrieb Kazantzakis seinen schelmischsten Roman: Alexis Sorbas. Atmo Sturm/Musik Zitate-Sprecher Ich begegnete ihm zuerst in Piräus. Ich war zum Hafen hinabgegangen, um den Dampfer nach Kreta zu nehmen. Der Morgen dämmerte. Es regnete. Ein heftiger Shirokko wehte und die Salzwasserspritzer flogen bis zum kleinen Kaffeehaus. Die Glastüren waren geschlossen, der Raum roch nach Menschen und Salbeitee. Draußen war es kalt und die Scheiben waren vom Atem der Gäste beschlagen. Fünf, sechs übernächtigte Seeleute in ihren dicken, braunen Ziegenhaarjacken tranken Kaffee und Salbeitee und blickten durch die trüben Scheiben auf das Meer. Die Fische, betäubt vom Peitschen des Sturmes, hatten sich auf den stillen Grund geflüchtet und warteten, dass sich das Meer oben wieder glätte. Und auch die Fischer, die in den Kaffeehäusern eng beieinander hockten, warteten auf das Ende des Unwetters, damit sich die Fische beruhigten, an die Oberfläche kamen und wieder anbissen. Die Seezungen, Wasserskorpione und Rochen kehrten von ihren nächtlichen Raubzügen zurück, um sich schlafen zu legen. Der Tag brach an. Sprecherin Die Zeit: kurz nach dem ersten Weltkrieg, 1919. Der Ich-Erzähler, Schriftsteller, 35, will der Tintenkleckserei entkommen und sich ins tätige Leben stürzen. Er ist unterwegs nach Kreta, wo er mit dem Geld seines Onkels jenes stillgelegte Braunkohlebergwerk gepachtet hat. Zitate-Sprecher Ich war jetzt dorthin unterwegs, um so ein Leben mit einfachen Menschen, Arbeitern und Bauern zu führen, weit weg von der Zunft der Papiermäuse. Sprecherin Sorbas, der frühmorgens in jenem Hafencafé in Piräus auftaucht und sich als Begleiter empfiehlt, heißt hier Alexis. Im Roman ist er deutlich älter als sein reales Vorbild, Mitte 65, und auch äußerlich von der Attraktivität des wirklichen Giorgis Sorbas wie von der des Filmhelden Anthony Quinn ziemlich weit entfernt. Ein großer, hagerer Mensch mit grauem, gelocktem Haar, eingefallenen Wangen, kräftigem Kinn, vorstehenden Backenknochen. Zitate-Sprecher Sein Gesicht war voller Runzeln, zerhackt, wurmstichig, wie zerfressen von der Sonne, Wind und Wetter. Was mir besonderen Eindruck machte, waren die Augen. Sie waren spöttisch, traurig, unruhig, ganz Feuer. Sprecherin Der Dichter und der alte Bergarbeiter und Abenteurer mit der ?unverbrauchten großen Seele? verbringen ein halbes Jahr miteinander an einem Strand von Kreta. Das Braunkohleprojekt ist dabei nur ein Vorwand für die Leute im Dorf. Atmo Zitate-Sprecher Wir konnten es kaum erwarten, dass die Sonne unterging, dass die Arbeiter aufhörten, damit wir beide uns am Strand niederlassen, unser schmackhaftes Bauernessen genießen, unseren herben, kretischen Rotwein und unser Gespräch beginnen konnten. Atmo Ich sprach selten: was soll ein Intellektueller einem Drachen erzählen? Ich hörte ihn von seinem Dorf am Olymp sprechen, vom Schnee, von den Wölfen, den bulgarischen Aufständischen, der Hagia Sophia, von Braunkohle, von Frauen, von Gott, vom Vaterland und vom Tod und plötzlich, wenn er vor dem Bersten war und die Worte ihm nicht mehr ausreichten, sprang er auf die dicken Kiesel und begann zu tanzen. Bejahrt, kerzengerade, dürr, mit geneigtem Kopf, mit kugelrunden kleinen Augen wie die eines Vogels, tanzte er und kreischte und schlug die schweren Fußsohlen auf das Wasser des Meeressaums und bespritzte mein Gesicht mit Meerwasser. Sprecherin Ein dialogischer, ein philosophischer Roman, der seine Energie und seinen Witz aus den Gesprächen zwischen einem ungleichen Paar bezieht, aus Sorbas unverschämt freien und frechen Gedankengängen und Sprüchen vor allem: Atmo Wellen Zitate-Sprecher Gott feiert, tötet, verübt Ungerechtigkeiten, geht arbeiten, geht zu den Frauen, und liebt lauter unmögliche Dinge, genau wie ich... Er ißt, was ihm schmeckt, er nimmt sich die Frau, die er will. Du siehst eine Frau, frisch wie Quellwasser, sie läuft auf der Erde herum, und dein Herz ist im siebten Himmel. Aber plötzlich ist die Frau verschwunden. Wo ist sie? Wer hat sie geholt? War sie brav, dann heißt es, Gott hat sie geholt. War sie eine feile Dirne, heißt es: Der Teufel hat sie geholt. Ich aber sage und wiederhole dir, Chef: Gott und der Teufel sind eins!? Sprecherin Neben dem Gedanken- und Ideenaustausch zwischen den beiden Protagonisten sorgt Sorbas vor allem für Handlung. Da gibt es seine grotesken Liebesabenteuer mit einer alten abgetakelten Chansonette, Madame Hortense, im Dorf und mit einer blutjungen Hure in der Stadt oder die trickreichen Geschäfte mit den Mönchen eines Klosters auf dem Berg, in dem ordentlich gesündigt wird. Da wechseln die Ereignisse vom Grotesken ins Tragische oder führen, ganz plötzlich, vom Blauen ins Schwarze. Im 22. Kapitel verbindet Kazantzakis den Tod der alten Sorbas- Geliebten, belagert und ausgeplündert in ihrem Haus von den Klageweibern und Dorfburschen, mit der Ermordung der jungen Witwe mitten auf dem Dorfplatz ? jener Frau, die mit dem Erzähler in der Nacht zuvor ihr Bett geteilt hatte. Die barbarische Szene im Namen der Ehre an Ostern und vor der Kirche gehört zu den unerträglichsten wie großartigsten im Buch: Musik Zitate-Sprecher: Mit einem Rippenstoß schleuderte Sorbas den Gegner zu Boden, entriss ihm das Messer und zerbrach es auf den Steinplatten. Er fuhr mit dem Taschentuch über das blutende Ohr und wischte sich den triefenden Schweiß ab. Sein ganzes Gesicht war blutverschmiert. Er blickte umher. Seine Augen waren rot und geschwollen. Steh auf und komm mit! rief Sorbas der Witwe zu und lenkte seine Schritte zur Hoftür. Die Witwe richtete sich auf mit Herzklopfen. Sie sammelte alle Kraft und nahm einen Anlauf, sich durchzuschlagen. Aber der alte Mavrantonis stieß wie ein Falke auf sie nieder, wickelte sich dreimal ihr langes Haar um den Arm und trennte mit einem einzigen Schnitt ihren Kopf vom Rumpf. ?Ich nehme die Sünde auf meine Rechnung!? Rief er und warf den Kopf des Opfers auf die Schwelle der Kirchentür. Dann bekreuzigte er sich. Sprecherin Sorbas, der Kraftkerl, der ?Echte? und ?Authentische? offenbart dem Leser immer wieder überraschende Charakterzüge. Ein Weiberheld, aber kein Macho, charmanter Tröster auch der Einsamen, Alten und Hässlichen. Ein Ungläubiger, der Gott und den Teufel für eins hält, der auf Patriotismus pfeift und dem Krieg und Gemetzel zwischen Griechen, Türken und Bulgaren abgeschworen hat. Ein Naturliebhaber, der die Rohheit gegenüber Tieren hasst und die archaischen Rituale der Blutrache auf Kreta verachtet. Atmo Museumscafé 16 O-Ton Athina Vouyouka Sprecherin (over voice) Kazantzakis hat Sorbas sehr geschätzt. Aber man muss natürlich wissen, dass der Sorbas im Buch nicht eins zu eins mit dem realen Sorbas aus Prastova ist, also mit Giorogis Sorbas. Es ist ein umgewandelter Sorbas, aus Giorgis wurde Alexis. Sprecherin Athina Vouyouka ist zu unserem Treffen in das Café des Akropolis Museums gekommen. Sie gehört der ? Internationalen Gesellschaft der Kazantzakis-Freunde an? und lehrte früher an der Universität von Straßburg. Vor kurzem hat sie einen Vortrag über Nikos Kazantzakis und seine Freundschaft zu Giorgis Sorbas gehalten. 17 O-Ton Athina Vouyouka Sprecherin (voice over) Dieser Alexis drückt viel mehr die Ideen und die Lebenseinstellung von Kazantzakis aus, als die des echten Sorbas. Er drückt hauptsächlich die Idee vom Triumph des Lebens über den Tod aus, die Kazantzakis aus der Philosophie von Bergson übernommen hat: das Leben, das sich immer weiter entwickelt, zu immer höheren und vielschichtigeren Formen. Gleichzeitig ist er aber auch der Individualist wie ihn sich Nietzsche erträumt hat und zwar befreit von den althergebrachten Werten, die, wie Nietzsche fand, von anderen ersetzt werden sollten. Sorbas ist frei von: Religion, Vaterland, Familie, das sagt er ausdrücklich im Buch. Er verkörpert sozusagen die ?Nietzscheanische Seite? von Kazantzakis Denken. Zitate-Sprecher Du sprichst noch vom Vaterland! Du glaubst an die Albernheiten, die in deinen Schmökern stehen. Du solltest mir lieber glauben! Solange es Vaterländer gibt, bleiben Menschen Untiere, wilde Tiere. Aber ich habe mich Gott sei dank davon befreit, bin damit fertig, und du? 18 O-Ton Athina Vouyouka Sprecherin (voice over) Es liegt nahe, den Erzähler für Kazantzakis zu halten, aber auch der ist eine fiktive Figur. Dieser Erzähler ist versunken in buddhistischer Lebensverweigerung, die bringt ihn dazu, dass er nichts tut, dass er nicht schlafen kann, nicht mehr körperlich lieben, essen, trinken kann wie ein normaler Mensch und das Leben genießen. Aber mit Hilfe von Sorbas lernt er allmählich, sich von dieser buddhistischen Negation zu lösen. Nicht, dass er am Ende des Buches zu einem Sorbas wird, er wird wieder ein normaler Mensch, er lernt zu tanzen, er wird so wie alle andern Menschen Musik Zitate-Sprecher Bravo, du bist ein Teufelskerl! Rief er und klatschte in die Hände, um den Takt zu markieren. Bravo, Junge! Zum Teufel mit Papier und Tintenfaß! Zum Teufel mit Kapital und Zinsen! Zum Teufel mit Kohlengruben, Arbeitern und Klöstern! Was haben wir uns jetzt alles zu erzählen, wo du auch tanzt und meine Sprache lernst! Er wirbelte mit seinen nackten Füssen die Kiesel umher und klatschte in die Hände. Chef rief er, ich habe dir viel zu sagen, ich habe keinen Menschen wie dich geliebt. Ich habe dir viel zu sagen, aber meine Zunge schafft es nicht. Ich werde dir also vortanzen. Geh beiseite, dass ich dir nicht auf die Füße trete. Los! Hopp! Hopp! Er tat einen Sprung, seine Hände und Füße wuchsen zu Flügeln. Wie er so über dem Boden schwebte, vor diesem Hintergrund von Himmel und Meer, kam er mir wie ein alter, sich auflehnender Erzengel vor. Denn dieser Tanz war ganz Herausforderung, Trotz und Revolte. Als hätte er sagen wollen: Was kannst du mir antun Allmächtiger? Nichts, außer, dass du mich tötest. Töte mich! Das lässt mich kalt, ich habe mich ausgetobt, gesagt, was ich sagen wollte: ich habe die Zeit gehabt zu tanzen, ich habe dich nicht mehr nötig. 19 O-Ton Evi Petropoulou Kazantzakis Werk ist das Ergebnis eines philosophischen oder intellektuellen Eklektizismus: Nietzsche und Bergson spielen natürlich die Hauptrolle, aber auch Elemente aus de fernöstlichen Philosophiie und Religion, aus dem Buddhismus, all das kombiniert sich zu einem religiösen Mystizismus. Natürlich die Psychoanalyse spielt eine Rolle, seine Neigung zu einer sehr vagen Idee sozusagen vom Marxismus damals, also er ist kein strenger Marxist, all das kombiniert sich, all das findet man in seinem Werk. Sprecherin Anfang der 20er Jahre war Kazantzakis in Wien auf Freud und die Psychoanalyse gestoßen. 20 O-Ton Athina Vouyouka Sprecherin (voice over) Dort machte er eine große Entdeckung. Er litt an einem Hautausschlag im Gesicht und so ging er zu einem Psychoanalytiker, der ein Anhänger von Freud war, der sagte ihm, der Ausschlag sei psychosomatisch, dies sei die Krankheit der Asketen. Und Kazantzakis war davon tief beeindruckt. Sprecherin Der Freudschüler Dr. Wilhelm Stöckel erklärt ihm, dass diese ?Maske der Sexualität? von seiner buddhistischen Seele herrühre, die ihm nicht erlaube, mit einem Mädchen zu sündigen und prophezeit ihm, dass die Maske nach seiner Abreise aus Wien verschwinden würde. 21 O-Ton Athina Vouyouka Sprecherin (voice over) In Wien sah er zum ersten Mal die Anzeichen von Elend in der deutschen Welt. Er sah die Armut, den Hunger, die Demonstrationen der Hungernden, und er fing an, darüber nachzudenken, wie schlimm es um die Welt stehe. Sprecherin An seine Frau Galateia, deren linke Ideen er bewundert, schreibt er nach Athen: Zitate-Sprecher Die grauenhaften Zustände in Wien, das auf die Katastrophe zutreibt, sind nicht zu beschreiben. Ein polizeilicher Spezialdienst ist jetzt eingesetzt, um des Nachts die Menschen davon abzuhalten, in die Donau zu springen. Aber viele entgehen der Wachsamkeit der Polizei und tun es doch, insbesondere Mütter mit ihren Kindern. 22 O-Ton Athina Vouyouka Sprecherin (voice over) In der Folge kam er nach Berlin, wo sich sein Eindruck über die Misere der Deutschen festigte. Hier war er mit großer Armut konfrontiert. Um ein Brot zu kaufen, musste man Milliarden von Mark zahlen. Und es gab eine revolutionäre Stimmung, Aufruhr. Er ging zu vielen Versammlungen, lernte einen Kreis von polnisch-jüdischen Frauen kennen, die Kommunistinnen waren. Sprecherin Rahel Lipstein, Itka Horowitz und ihre Freundinnen Dina Matus, Lea Dunkelblum und Rosa Schmulewitz, fünf junge Jüdinnen, die für die russische Revolution glühen. Er nennt sie den ?feurigen Kreis?. Die Dichterin Rahel Lipstein mit den ?süßen, wilden Augen? und der krokusfarbenen Bluse lernt er beim Kongress der Schulreformer kennen, die Fabrikarbeiterin Itka im Völkerkundemuseum. Musik Zitate-Sprecher/Sprecherin ?Sie war klein, rundlich, mit praller Brust, starkem Kinn, gebogener Nase und Augen mit riesigen Wimpern. Sie warf mir einen langen, forschenden Blick zu, als sei ich selber eine Maske. ?Afrikaner?? fragte sie mich. Ich lachte. ?Nicht ganz?, antwortete ich. ?nur das Herz. ?Und das Gesicht?, sagte sie; und die Hände. Ich bin Jüdin. ?Furchtbare Rasse?, sagte ich, um sie zu necken. ?Gefährlich, sie will die Welt erlösen.? ?Wartet ihr immer noch auf den Messias?? ?Wir warten nicht mehr auf ihn; er ist gekommen?. ?Der Messias?? Ich lachte wieder: ?Wann? Wo? Wie heißt er?? ?Lenin?. ?Lenin?? Einen Augenblick schien mir, dass alle Masken vor mir sich bewegten, dass ihre dicken Kinnladen auf- und zuschnappten; das Mädchen sah aus dem Fenster in den schwärzlichen Himmel und schwieg. Verlagsatmo Sprecherin Niki Stavrou, die Verlagschefin von Kazantzakis Publications, ist die Tochter des verstorbenen Verlegers Patroclos Stavrou, der 1983 im Alter von 50 von Kazantzakis Witwe Eleni adoptiert wurde. Das Verlagshaus verwaltet die griechischen und internationalen Buchrechte des Schriftstellers. Niki Stavrou hat jetzt den Platz auf der schilfgrünen Couch eingenommen. Sie schreibt gerade ein Buch mit dem Titel ?Pyrinos Kyklos?, ?Der feurige Kreis?, das von allen wichtigen Frauen im Leben des Schriftstellers handelt. Und wenn man sie nach dem revolutionären Frauenkreis in Berlin fragt, nach Rahel, Itka, Lea, dann sagt sie: 24 O-Ton Niki Stavrou Sprecherin (voice over) In dieser Zeit, als die Leute litten und diese revolutionäre Aufruhrstimmung herrschte ? die Leute wollten die Veränderung der Verhältnisse - in dieser Zeit traf Kazantzakis diese Frauen. Sie waren Jüdinnen, lebten in Berlin und vermittelten ihm dieses revolutionäre Gefühl, diese Entschlossenheit, dieses absolute Selbstbewusstsein und den Willen, die Welt zu verändern. Diese Kraft, diese Dynamik, die ihm die Frauen gaben, haben ihn tief beeinflusst, und das wird besonders deutlich in ?Rechenschaft von El Greco?: Zitate-Sprecher Ich sah diese brennende Jüdin mit Bewunderung an. Nachts war sie ein männerfressendes, unersättliche Ungeheuer; ihre Seele wurde zum Körper und tagsüber siebenmal geläuterte Flamme. Die ganze Nacht spielte sie mit mir; doch am Tage zog sie ihre Augenbrauen zusammen und sah mich hasserfüllt an. Schämst du dich nicht, sagte sie zu mir, in deinem Wohlleben? Du hungerst nicht. Du frierst nicht im Winter, besitzt keine durchlöcherten Schuhe! Schämst du dich nicht spazieren zu gehen und zu sagen: Schön ist die Welt, sie gefällt mir! 25 O-Ton Niki Stavrou Sprecherin (voice over) Kazantzakis hatte als Vorbild immer schon den heldenhaften, den kämpfenden Heiligen, zwar aus Fleisch und Blut, aber mit einer Seele aus Feuer, die den Körper mitreißt und den Köper in Seele umwandelt. Dieser Abend, an dem sie alle Tee tranken in der Wohnung von Itka war ein entscheidender Augenblick ins einem Leben, in dieser Phase jedenfalls. Denn er erlebte die kämpfende Frau, er sah die Verwandlung einer Frau in eine kämpfende Raubkatze. Sprecherin ?Frage nicht! Kämpfe? heißt es in seinem philosophischen Traktat ?Asketik - Salvatores Dei?, das Kazantzakis 1923 in Berlin schreibt, ein grundlegendes Werk, in dem er sein ganzes Denken systematisiert. Mit Elsa Lange, einer weiteren geliebten Freundin aus Jena, unternimmt er eine ausgedehnte Deutschlandreise auf den Spuren Nietzsches. 1925 bricht er nach Moskau auf, wo er auch Itka wiedertrifft. Zitat-Sprecher ?Itka = marxistische Abteilung meiner Seele? Sprecherin schreibt er auf Deutsch 1927 in sein Tagebuch. Itka Horowitz wird später unter Stalin exekutiert. Nein, ein armseliger ?Tintenkleckser?, der es nie wagte, aus seinem Elfenbeinturm herauszuspringen, war Kazantzakis ganz bestimmt nicht. Auch wenn er sich später im Vorwort zu seinem Sorbas-Roman und in seiner Autobiographie ?Rechenschaft vor El Greco? gerne so darstellt. Zitate-Sprecher Doch ich habe es nicht gewagt; ich sah Sorbas um Mitternacht wiehernd tanzen und mir zurufen, mich auch von dem bequemen Gehäuse der Besonnenheit und der Gewohnheit lösen, herauszuspringen und mit ihm auf die große Reise ohne Rückkehr aufzubrechen; ich zitterte und rührte mich nicht von der Stelle. Sprecherin Schon 1919, zwei Jahre nach dem Abenteuer auf Mani, führt Kazantzakis als Leiter des Ministeriums für Sozialfürsorge der Venizelos-Regierung eine große politische Aktion im Kaukasus durch: die Rückführung von 150000 griechischen Flüchtlingen nach Griechenland. Musik Mit dabei ist auch sein Freund Giorgis Sorbas. Bis Ende der 30er Jahre ist der Schriftsteller ständig in Europa, Asien und im Nahen Osten unterwegs: in Italien, Frankreich, Spanien, der Schweiz, Österreich, Deutschland und England, in Palästina, Zypern und Ägypten. Dreimal bricht er nach Russland auf und 1935 von Ägina aus noch einmal in den Fernen Osten, nach China und Japan. Sprecher Nach der gemeinsamen Kaukasus-Aktion 1919, so heißt es, sahen sich die beiden Männer nie wieder. Es gab aber wahrscheinlich noch ein weiteres Treffen, sagt Evi Petropoulou: 34 O-Ton Evi Petropoulou Man glaubt, dass Kazantzakis und Sorbas sich nach der Kaukasus- Expedition nie wieder getroffen haben. Und das ist eben nicht so; wir haben einen Brief gefunden und der belegt, dass sich Kazantzakis mit Sorbas, mit Giorgis Sorbas, also der realen Person, sich nochmal getroffen hat und zwar in Athen. Sprecherin Vermutlich im Februar oder März 1922. Der Brief stammt von Giorgis Sorbas und ist vier Seiten lang, das Postskriptum länger als der Text. 35 O-Ton Evi P. Das Postskriptum ist praktisch, könnte man sagen, genauso wichtig wie der Haupttext des Briefes, und da kann man tatsächlich den fiktionalen Charakter wiedererkennen, denn da tauchen alle Themen auf, die auch im Roman eine wichtige Rolle spielen: Frauen, die Verrücktheit, die Sorbas mit sich bringt, sein Glaube, alles Mögliche. Das finden wir wieder. Zitat-Sprecher Du wirst jetzt über mich lachen, aber ich bin dazu aufgelegt und ich werde dir viel von meinem Unsinn erzählen, oder sagen wir besser viele meiner Gedanken oder meiner Schwächen. Denn du schreibst mir in deinem Brief, ich sei angeblich Palikare, ich aber habe Schwächen, meine Schwächen sind Frauen, denn wo immer ich auch hingehe, heirate ich. 36 O-Ton Evi Petropoulou Wir sehen auch die Bewunderung von Sorbas für Kazantzakis, wir können auch die Bewunderung von Kazantzakis für Sorbas entnehmen, die Bewunderung des Mannes des Geistes für den Mann der Tat. Und das ist eben wichtig zu sehen, dass das, was Kazantzakis in Alexis Sorbas beschrieben hat, tatsächlich Elemente der Realität widerspiegelt. Sprecherin Die lesenswerten Sorbas-Briefe und Karten, in der Literatur nur auszugsweise zu finden, warten immer noch auf ihre Veröffentlichung. Und es gibt auch noch einen Brief eines Sorbas-Sohnes. Auf den stieß im Jahr 1975 der in Wien lebende Autor Dietmar Grieser bei seinen Recherchen auf Mani für sein Buch über literarische Figuren und ihre Vorbilder:?Sie haben wirklich gelebt?. 30 O-Ton Dietmar Grieser Also es hat mal angefangen in diesem Dorf Prastova, wo ich tatsächlich noch vorgefunden habe völlig verschüttete Stolleneingänge diese Braunkohlewerks, das Kazantzakis gepachtet hat. Und so bin ich die nächste Ortschaft, die dann auf der Landkarte steht, Stoupa, das ist so ein kleiner Hafen, ein malerischer Fischerhafen. Also von dort gingen dann die Kohleschiffe weg, von Mani nach Piräus, nach Kalamata, und Kalamata, das war dann die entscheidende Station, und dort hab ich dann mit ziemlicher Mühe eines der Kinder des Giorgis Sorbas gefunden, angetroffen und gesprochen. Sprecherin Wir sind in Wien. Von Dietmar Griesers Dachwohnung im dritten Bezirk am Arenbergpark kann man noch eine Spitze des Stephansdoms sehen. Der Autor erzählt die spannende Geschichte seiner Begegnung mit Androniki, einer der Sorbas-Töchter: 31 O-Ton Dietmar Grieser ...die Androniki, von diesen zehn Kindern, ist es, glaub ich, die Nummer vier. Und die war eine an sich sehr liebenswerte Pensionistin, von, denk ich, etwa 77 Jahren damals, also die lebt inzwischen lang nicht mehr. Und die war nun, ganz entgegen der griechischen Art, auf Fremde zu- zugehen, sehr verschlossen, mürrisch und da hat sich sehr schnell herausgestellt, wieso. Also, sie war auf zwei Leute ganz schlecht zu sprechen: erstens mal auf ihren eigenen Vater, der diese zehnköpfige Familie im Stich gelassen hat, dazu noch damals Krieg und Hungersnot. Und der zweite, von dem sie auch nichts wissen mag, ist der Dichter, der nun ihren Vater, wie wir wissen, wer weiß wie in den Himmel gehoben hat, in der ganzen Welt bekannt gemacht hat. Und sie fand nun und ebenso die anderen neun Kinder, dass genau das Gegenteil gewesen ist: Kazantzakis hat die Familie entehrt und dagegen hat sie sich gewehrt. Sprecherin Die Sache nahm dann der älteste Sorbas-Sohn Andreas, Offizier bei der griechischen Armee, in die Hand. 1957 schrieb er Kazantzakis einen Brief: Zitate-Sprecher Monsieur Kazantzakis: Sie müssen eine schwere Last auf dem Gewissen haben! Sie haben eine Verletzung begangen, haben eine große Familie von anständigen Arbeitern beleidigt, die seit Jahren hart gekämpft und sich von Seiten der Gesellschaft Achtung und Ehre verdient hat. Wir, die lebenden Kinder von Georgios Sorbas, sowie seine zahlreichen Enkel, wir fragen uns, ob unser Vater der war, als den Sie ihn schildern: ein herumziehender Fiedler, ein Verrückter, ein Vagabund mit Ranzen und Bogen, ein Bettler, der in den Kaffeehäusern gespielt hat und mit seiner Mütze sammeln gegangen ist. (...) Ich habe das Recht, zu fragen, auf welche Weise Sie gedenken, dies wieder gut zu machen und unsere Familienehre wiederherzustellen. Andreas Sorbas, Athen, den 17. April 1957 32 O-Ton Dietmar Grieser Also man kann sich vorstellen, wie das auf den Dichter gewirkt haben muss, der fest davon überzeugt davon war, diesen Giorgios Sorbas, mit seiner Figur, als etwas Wunderbares dargestellt zu haben, dass die nun gegen ihn vorgehen wollen. also diese schwere Enttäuschung Musikbrücke Sprecherin Der Roman ?Leben und Lebensart des Alexis Sorbas ? erschien 1946 in Athen. In Frankreich wird er 1954 auf der internationalen Buchmesse als das beste ausländische Buch prämiert. Damit kommt der Erfolg im Ausland. Auch Kazantzakis weitere Romane, ?Freiheit oder Tod?, im griechischen Original ?Kapitán Michalis?, ?Griechische Passion? oder ?Die letzte Versuchung? finden damit ein größeres Publikum. 37 O-Ton Kostas Kosmas Der wurde sehr gerne und sehr viel übersetzt. Aber in Griechenland hat er nie so eine große Popularität genossen wie vielleicht im Ausland. Sprecherin Der griechische Literaturwissenschaftler Kostas Kosmas hat in Athen studiert, in Berlin promoviert und lehrt heute an der Freien Universität Berlin. 38 O-Ton Kosmas Ich vermute mal, einerseits liegt es daran, weil Kazantzakis als Prosaautor die Moderne verpasst hat. Der hat nie so richtig dazu gehört zu der literarischen Avantgarde, der hat tatsächlich nichts Neues gebracht in der Literatur. Der hätte zur linken Avantgarde gehören können, aber da hatte er auch große Feindschaften und die linke Literaturkritik war sehr kritisch ihm gegenüber. 39 O-Ton Evi Petripoulou Es gibt natürlich auch weitere Gründe, warum seine Werke misstrauisch rezipiert werden. Wir haben die orthodoxe Kirche erwähnt. Die orthodoxe Kirche wirft Kazantzakis Ketzerei und willkürliche Destruktion des kirchlichen Dogmas vor und verzeiht ihm natürlich nie den Versuch, einer individuellen Interpretation der christlichen Religion und einer persönlichen Auffassung von Gott Sprecherin Die Ablehnung der Kirche, meint Kostas Kosmas, hätte Kazantzakis aber eher genützt, als geschadet. 40 O-Ton Kostas Kosmas Die Autoren, die Ärger mit der Kirche hatten, hätten gute Chancen, gelesen zu werden. Das Problem von Kazantzakis war vielmehr, dass er zwischen den Stühlen saß, zwischen den Lagern. Und ich fürchte auch, seine Romane sind vielmehr philosophische Traktate, die sind angewandte Philosophie und weniger Fiktion. Kazantzakis konnte zwar gut schreiben, aber man kann auch nicht sagen, der der storyteller, der hat nicht die pageturner geschrieben, du willst auch nicht unbedingt wissen, was da weiter passiert. Hinzu kommt auch seine eigentümliche Sprache, die einen griechischen Leser eben sehr befremdet. Es war nicht die Sprache, die die Avantgarde der 30er Jahre durchgesetzt hatte. Es war auch nicht die altertümliche Sprache der konservativen Autoren. Der hat zwar die Volkssprache genutzt, aber man kann schon sagen, der hat eine sehr eigene Sprache mit sehr viel schwierigem unverständlichen Vokabular für einen Durchschnittsleser, mit sehr vielen Idiomatismen aus dem kretischen Dialekt oder eigenen Schöpfungen. Man sagt auch sogar, dass Kazantzakis besser lesbar sei in Übersetzungen als im Griechischen. Hinzu kann man vielleicht sagen, dass das verlegerische Schicksal seiner Werke sehr abenteuerlich war und immer noch ist. Es gibt keine vernünftige Edition seiner Werke. Es ist eine sehr komplizierte Sache, was die Rechte seines Werks angeht. Jedenfalls in Griechenland gibt es immer noch keine vernünftigen, guten Editionen seiner Bücher. Die findet man nicht in den Buchhandlungen. Wenn du in die Buchhandlung gehst, dann siehst du nicht vor dir die Werke von Kazantzakis Sprecherin In Deutschland gibt es schon 1952 eine Übersetzung von ?Alexis Sorbas?, aber der Roman findet kaum Beachtung. Im ?Spiegel? taucht der Name Kazantzakis zum ersten Mal überhaupt 1965 auf, in einer sehr knappen Filmkritik zu ?Alexis Sorbas.? 43 O-Ton Evi Petripoulou Ich hab vor einigen Jahren eine Recherche durchgeführt in den deutschen Bibliotheken und Zeitungsarchiven. Es hat sich heraus gestellt, dass Kazantzakis am Anfang als der Schriftsteller der ?Griechischen Passion? berühmt wurde. Es gibt sogar einen Artikel im Tagesspiegel aus dem Jahr 1957, also dem Todesjahr von Nikos Kazantzakis, mit dem Titel: ?Dichter der ?Griechischen Passion? Nikos Kazantzakis gestorben?. Bis zum Jahr 1964, also erst nach der posthumen Sorbas-Verfilmung, erst nach der Verfilmung, wird Kazantzakis berühmt in Deutschland. O-Ton Quinn/Filmmusik Sprecherin Viel berühmter als der Autor der Romanvorlage aber wird der Darsteller der Titelrolle in ?Zorba, the Greek?, Antony Quinn, der es, im wirklichen Leben, dem realen Sorbas nicht ganz unähnlich, auf 13 Kinder von fünf Frauen brachte. Von Quinn also weiß Niki Stavrou eine hübsche Geschichte, die er Eleni Kazantzakis und ihrem Vater erzählte, als sie noch ein Kind war: 44 O-Ton Niki Stavrou Sprecherin (voice over) Eines Nachts nach der Vorstellung von ?Zorba? lief er durch den Central Park in New York zu seinem Hotel. Plötzlich spürte er etwas Metallisches im Rücken und merkte, dass es eine Pistole war, jemand wollte ihn ausrauben. Und der sagte zu ihm: ?Dreh dich nicht um!? Anthony blieb zuerst unbeweglich, dann drehte er langsam den Kopf nach hinten, um mit dem Räuber zu reden. Und als der sein Gesicht sieht, sagt er: ?Oh, I´am sorry, Mr. Zorbas! Go, go, please!? Sprecherin Mit der Schuldenkrise des griechischen Staates tauchte hierzulande auch wieder der alte Sorbas auf, tanzt auf Titelblättern Sirtaki oder wird in Artikeln gerne als Symbolfigur des fröhlich dem Untergang trotzenden Lebenskünstlers beschworen. Nicht so bei den Griechen. 45 O-Ton Kostas Kosmas Ich glaube nicht, dass ein Grieche damit einverstanden wäre zu sagen: Hast du jemals etwas so schön zusammenbrechen sehen? Das ist eine Sicht, die kein Mensch hätte sehen wollen und kein Mensch will sie so sehen. Sprecherin Sorbas, sagt Kostas Kosmas, hat heute in Griechenland ausgedient. 46 O-Ton Kostas Kosmas ...weil man sucht nicht nach Konzepten des Griechentums. Kazantzakis hat in diesem Roman sich stark damit auseinandergesetzt, der hat nach einem Urmenschen, nach einem Urtypen eines Menschen, der auch sehr griechisch sein sollte, gesucht. Man sucht literarisch heutzutage etwas anderes. Man fragt sich: Wo bleibt der Roman, der sich mit der Krise auseinandersetzt, der endlich mal zeigt, wie es dazu gekommen war. Danach sucht man in Griechenland schon, aber nicht nach diesen Urmenschen oder diesen Geschöpfen von Kazantzakis. Sprecherin Mitte der 90er Jahre erschien in Athen ein bemerkenswerter kleiner Roman. ?Sorbas Remake ? eine Geschichte für Dienstagnachmittage?, so der Titel der deutschen Übersetzung von 2001. Eine junge amerikanische Filmemacherin, will ein Remake von ?Zorba, the Greek? drehen und sucht in Athen nach einem Hauptdarsteller. Aber die ?Chefin?, ?Jefa?, genannt, findet nur Antitypen. Der einzige wirklich verrückte Kerl und Individualist ist Alekos, der junge Regieassistent an ihrer Seite. Der Autor dieser satirischen Erzählung, Kostas Kondodimos, starb mit 36 Jahren. Atmo Hafen/Musik Zitat-Sprecher Septembersonne. Das Thermometer klettert auf dreißig Grad. Am Kai eine abgestellte Bierkiste. Ein sehr leichtes Lüftchen. Früher wäre man hier stehen geblieben und hätte darauf gewartet, dass Aphrodite auftaucht. Oder Poseidon. Oder im Extremfall die Meduse mit ihren wimmelnden Schlangenköpfen. Jetzt wimmelt es in dem kleinen Hafen von schleimigen, durchsichtigen Medusen, die überhaupt nichts Mythisches an sich haben. Das Meer schimmert grünlich, nicht um den Dichtern den Regenbogen vorzutäuschen, sondern weil auch die Dichter auf irgendeine Weise erkennen müssen, dass die Wellen verschmutzt sind, genau wie ihre eigenen Seelen ? hier liegen festgezurrt, fast bewegungslos, Hunderte von Millionen Drachmen, verwandelt in kleine Jachten. Sprecherin Zum 130jährigen Geburtstag von Nikos Kazantzakis hat das Verlagshaus Kazantzakis Publications zusammen mit dem Museum von Myrtia eine große Ausstellung in Athen ausgerichtet. Zu sehen sind Objekte, wie der Schreibtisch und die Schreibmaschine des Schriftstellers, auf dem Eleni die sieben Fassungen seiner ?Odyssee? abtippte, sein Reisekoffer, die Notizbücher, in die er seine Träume schrieb oder eine Karte von Sorbas an Kazantzakis Frau Galateia. Über eine Neuedition seiner Werke aber hätte sich der Schriftsteller bestimmt am meisten gefreut. 2