COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Das "Neuschwanstein der Moderne" Eine Bahnreise von Leipzig nach München im Jahr 2017 Autor Heiner Kiesel Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 06.093.2012 - 13.07 Uhr Länge 18.07 Minuten MUSIK Fanfare Star Trek ("Die größten TV-Hits aller Zeiten" CD 1, Titel 4, Star Trek Theme, Alexander Courage, Universal 2004, LC 04324) Herbert von Karajan: Richard Wagner: Das Rheingold. Titel 9. Einleitung 2. Szene. Deutsche Grammophon Universal), LC 00171 Moderation Gut Ding braucht Weile, heißt es im Volksmund, aber diesmal sind wir zu ungeduldig, um zu warten. Es geht um das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8. Das ist der offizielle Name für die schnelle ICE-Strecke von Berlin nach München und die wurde schon vor 20 Jahren beschlossen. In den vergangenen Monaten sind wieder eine ganze Reihe von Brücken und Tunneln im Thüringer Wald und in Franken fertiggestellt worden, weil ja noch ein Stop in Erfurt stattfinden muß. Nun, es wird noch (mindestens) fünf Jahre dauern bis die Züge rollen. Wir wagen jedoch den Blick in die Zukunft und nehmen Sie, liebe Hörer, mit auf eine imaginäre Reise im Jahr 2017. Die neue Strecke, die nicht nur das Reisen beschleunigen soll, sondern auch ein verkehrstechnisches Symbol für die Wiedervereinigung sein soll. Und die derzeit viel Ärger und Häme begleiten. Heiner Kiesel stieg schon mal in Leipzig zu. -folgt Script Sendung- Script Sendung G 01 Fanfare Star Trek ("Die größten TV-Hits aller Zeiten" CD 1, Titel 4, Star Trek Theme, Alexander Courage, Universal 2004, LC 04324) REGIE darauf Sprecher setzen SPR (im Duktus der TV-Serie) "Deutschland. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2017. Dies sind die Abenteuer der Deutschen Bahn. Mit nie dagewesenem Aufwand, viele Kilometer jenseits der Ballungszentren dringt die Bahn in Regionen vor, die noch nie zuvor einen ICE gesehen haben." REGIE Musik kurz frei & unter Bahnhofgeräusche G 02 Blende zu Atmo Bahnhof/Zugeinfahrt G 03 Gong (Durchsage: Gleis 10 ICE nach Wiesbaden, ICE nach München über Nürnberg Gleis 11... AUT Das ist er, der Zug nach München über Erfurt und Nürnberg. Ein schnittiger ICE Typ 3. Spitze-Schnauze mit umlaufendem roten Band. G 04 Einstieg/Im Gang AUT Ein edler Zug, viel Buchenholz, Chrom und Leder. Auf den dunkelblauen Sitzen machen es sich die Fahrgäste bequem. Es ist schon ein Abenteuer, auf dieser Strecke zu fahren. Erst 2016 taucht sie im Fahrplan auf, seit 2017 wird sie befahren. Im Abteil sitzt einer, den das ganz besonders zufrieden macht. Olaf Drescher mittelgroß, rundes Gesicht und kurzgeschorene lichte Haare. Er ist von der DB ProjektBau, einer Tochterfirma der Deutschen Bahn. G 05 Zuganfahrt/Beschleunigung (Olaf Drescher) Ich bin der Projektleiter für die gesamte Strecke, Berlin in Richtung Nürnberg, Neu- und Ausbaustrecke. Ich mache das seit 2007. Wir haben einen neuen Verkehrsweg geschaffen, eine Menge an Ingenieurbauwerken geschaffen, eine Menge an neuer Verkehrsinfrastruktur durch den Thüringer Wald, der dazu dienen soll, dass die Reisezeit zwischen Berlin und München sich auf unter vier Stunden verkürzen kann und die auch die Möglichkeit eröffnet, Güterverkehr auf dieser Strecke kürzer als bisher zu transportieren. AUT Endlich geschafft, signalisiert das leichte Lächeln um seine Mundwinkel. Ein Höhepunkt in den rund 40 Jahren, die er schon für die Bahn arbeitet. Das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8 ist fast vollendet. VDE 8 wird das korrekt abgekürzt. Es fehlen nur noch die Ausbauabschnitte nördlich von Nürnberg. Aber die Neubaustrecken sind fertig und damit können die Züge endlich diese Route in den Süden nehmen. (Ansage im Zug) Guten Tag, meine Damen und Herren, herzlich willkommen im ICE auf der Fahrt nach München, wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise! AUT Drescher lehnt sich zurück und schaut aus dem Fenster. Der Zug hat sich inzwischen durch das Schienengeflecht am Leipziger Bahnhof geruckelt und nimmt schnell Fahrt auf. Gleitet hinaus in die eher flache Landschaft. (Olaf Drescher) Also es ist mit Abstand das größte deutsche Verkehrsprojekt. Sselbst Stuttgart ist da immer noch etwas kleiner, zum heutigen Zeitpunkt mindestens, aber wir gehen davon aus, dass es nicht nur die schiere Größe ist, sondern auch die Länge der Infrastruktur. Immerhin reden wir hier von einer Gesamtlänge von fast 500 Kilometern und das ist, denke ich mal, schon eine relativ interessante Zahl. AUT Bescheiden ist nichts an der Strecke. Es ist ein Yes-We-Can-Bauwerk. Für 10 Milliarden Euro. Lauter Superlative. (Olaf Drescher) Die Augen fangen schon zu Leuchten an, bei unseren wichtigsten Bauwerken, das sind natürlich die Großbrücken und die Tunnel. Das sind die spektakulärsten Dinge, die man auch sehen kann. Die Tunnellängen sind spektakulär. Da bringen wir drei Tunnel in die Top Ten in Deutschland. Und das Interessante ist in der Tat, dass wir mit den modernsten Technologien, die uns zur Verfügung stehen, hier Bauwerke errichten, die eigentlich mehr als 100 Jahre stehen sollen und dann sehen die ein und die anderen auch noch ganz gut aus. AUT Zum Beispiel die Saale-Elster-Brücke, auf die der Zug jetzt kommt. Die längste Brücke Deutschlands, 6,5 Kilometer. Sie überspannt eine saftige Auenlandschaft. Ein Hochbauwerk mit Streckenverzweigung, auf dem die Züge aus Leipzig und aus Halle einmünden. Hier biegen wir Richtung Erfurt ab. Nicht gerade die kürzeste Verbindung von Berlin nach München. Drescher zuckt mit den Achseln. Das hat historische Gründe. G 06 Musik: Herbert von Karajan: Richard Wagner: Das Rheingold. Titel 9. Einleitung 2. Szene. Deutsche Grammophon (Universal), LC 00171 REGIE Musik kurz frei & unter Sprecher SPR Ein Blick zurück auf die lange Geschichte des VDE 8. Es sollte, wie die anderen 16 Verkehrsprojekte Deutscher Einheit den Osten enger an den Westen binden. Berlin - München unter vier Stunden. Ein ICE der den Airlines die Kunden abspenstig macht. Ein Symbol der Einheit, aber auch ein Milliardenprojekt, das Regionalpolitiker elektrisiert hat. Bernhard Vogel, Ministerpräsident Thüringens von 1992 - 2003, ist es zu verdanken, dass die Trasse heute so abseits über Erfurt führt. Bernhard-Vogel-Trasse sagen die Kritiker zu ihr und sprechen ihr jede Sinnhaftigkeit ab. Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit das VDE 8 im Bundesverkehrswegeplan festgeschrieben worden ist. 1999 stoppte Rot-Grün den Bau. Zu teuer, zu unsinnig. 2002 ging es weiter, weil Gerhard Schröder Wahlkampf machte. 2011/2012 wurden die Tunnel durchstoßen. 2017, Erfurt - Nürnberg wird endlich befahren. G 07 Musik Ende G 08 Atmo Zug (Ansage im Zug) Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Erfurt Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss an die Regionalbahn nach Saalfeld Saale über Arnstadt, die Abfahrtszeit 12.41 Uhr auf Gleis 6. Zum IC nach Leipzig mit Halt in Weimar... AUT In Erfurt steigen nicht besonders viele Leute zu. Drescher bekommt einen Tischnachbar. Ein älterer Herr mit grauem Schnauzer packt seinen Laptop aus. Die Bahn hat sich mehr erhofft durch die neue Verbindung nach Nürnberg. Kann ja noch werden, die Strecke an sich ist schließlich eine Attraktion. Und, nach Erfurt wird es richtig interessant: Die Neubaustrecke. Ganz korrekt heißt sie VDE 8.1. (Olaf Drescher) Aus Erfurt heraus fahren wir relativ flach hinein in den Nordbereich des Thüringer Waldes und queren dann den Thüringer Wald. Und die Besonderheit hier ist, dass wir anders als bei den Alpen keinen Basistunnel gebohrt haben, der dann auch so ungefähr 60 Kilometer lang gewesen wäre, sondern wir sind relativ knapp oben an der Spitze der jeweiligen Bergrücken entlanggefahren und haben versucht, den Anteil der Tunnel relativ gering zu halten. Deswegen gibt es dann immer diese Folge von einem Tunnel, einer Brücke, einem Tunnel einer Brücke. Insgesamt 22 Tunnel und 35 Brücken. G 09 Tunnelfahrt (ggf. 8,06 Zugbegleiter "Noch wer zugestiegen?") AUT Dreschers neuer Sitznachbar nickt zustimmend. Erfurt-Nürnberg direkt im ICE - war langsam mal Zeit dafür. (Wolfgang Urban) Es ist auch eine sehr bedenkenswerte Verbindung, die hier zustandekommt, dass eine Verbindung zwischen Erfurt und Nürnberg geknüpft wird. Schlüsselorte der europäischen Kultur und Geistesgeschichte. AUT Drescher lächelt höflich. Der ältere Herr erklärt. (Wolfgang Urban) Beispielsweise einer der wichtigen Köpfe beispielsweise Nürnbergs auch für seine verfassungsmäßige Entwicklung in der Zeit nach 1500 ist Christoph Scheurl gewesen und der war zunächst ein Student in Erfurt und dann ein Student in Wittenberg gewesen. AUT Der Fahrgast belässt es dabei und beugt sich über seinen Computer. Aber der hochgewachsene Herr am Vierertisch über den Gang blickt jetzt offen zu Drescher. Er fährt sich mit der Hand über den Nacken. Er teilt die Begeisterung für die Strecke gar nicht. (Michael Holzhey) Na, man hätte sich bei Plauen und Chemnitz durchs Tal begeben - auch immer mal mit Neubauanteil, aber auch mit Bestandsstrecken und das wäre erheblich günstiger gewesen. AUT Der Reisende stellt sich als Michael Holzhey vor. Ein Mitarbeiter der Berliner Agentur KCM, Verkehrsberater. Holzhey ist Bahnkenner, seine Expertise geschätzt in Ministerien und Gremien. Das VDE 8.1 hätte er gerne eingestellt gesehen. Dreschers Augenbraue zuckt kurz, aber er bleibt gelassen. Man kennt sich. Von damals, als noch über Alternativstrecken und Gegengutachten diskutiert wurde. Bevor alles fertig war. Vor 2017. (Olaf Drescher) Ja, das ist mit Frage der Streckenführung immer so eine Crux. Es war vereinbart worden, dass es eine neue Strecke werden soll. Das war die Verabredung, die durchgeführt werden sollte. AUT Und deswegen also, meint Strecken-Kritiker Holzhey, muss jetzt nun diese Mega-U-Bahn mitten durch den Thüringer Wald rasen? Eine Verbindung, die trotzdem noch viel zu lange dauert, um den Billigfliegern die Kunden abspenstig zu machen. (Michael Holzhey) Es hat ja mal der Bahnchef Mehdorn, hinlänglich bekannt für derbe und klare Worte, mal gesagt, er selber fände eine Reisezeit über vier Stunden als eine Zumutung und sie kommen in diesen Bereich nur so gerade rein. Übrigens wird es noch Jahrzehnte dauern, bis mal wirklich unter vier Stunden ist, weil die Maßnahmen im Nürnberger Raum Nordwärts noch Jahrzehnte dauern werden. Man wird immer noch bei 4.15 h, 4,30 h bleiben lange Zeit. Und das ist ein Bereich, bei dem sie nicht viele Kunden vom Flugzeug abziehen. AUT Der ICE ist inzwischen durch den Tunnel Augustaburg gerast, über die gewaltige Geratalbrücke Ichtershausen und kurz darauf in den Tunnel Sandberg. Der Zug fährt immer schneller. 250. Da draußen irgendwo ist eine hügelige Landschaft, huscht vorbei, verschwindet hinter steingrauen Lärmschutzwänden, dann der nächste Tunnel. Hier wird gezeigt, was deutschen Ingenieuren möglich ist. Mit geradezu pornographischer Offenheit. Tunnel, Brücke, rein raus, rein raus - mit atemberaubender Geschwindigkeit wird die Landschaft durchstoßen. Holzhey kann das nicht genießen. (Michael Holzhey) Als Ökonom habe ich immer diese Brille auf, diese schreckliche Kapitallast zu sehen, die da unnötig irgendwo versenkt wurde - was für fast alle Hochgeschwindigkeitsstrecken in Deutschland gilt. Das kann ich auch nicht loslösen. AUT Der Projektleiter Drescher beugt sich vor und stützt sich mit den Unterarmen auf der hellen Buchenholztischplatte ab. Stabil wie seine Brücken. (Olaf Drescher) Das interessante bei Eisenbahnstrecken ist ja, dass sie desto interessanter werden, je älter sie sind. Was alte Brückenbauwerke, Viadukte, Bahnhofsgebäude betrifft, da leuchten bei den Großen und Kleinen die Augen und wir gehen davon aus, dass das hier genauso sein wird. AUT Und zum Staunen bietet die Trasse eine Menge, findet Drescher. Ganz dezent wollte man bleiben und die Bauten seien sehr schön geworden. Der Eisenbahner lehnt sich zurück. (Olaf Drescher) Ja, also uneingeschränkt ja. Wobei schön ist immer die Frage, was der Betrachter als schön empfindet? Ich finde es zum Beispiel sehr gut, dass es uns gelungen ist, dass wir die Möglichkeit gefunden haben, auch ästhetische Aspekte mit zu berücksichtigen. Das, was wir an Bauwerken installiert haben mit unseren neuen Möglichkeiten, die wir haben, also die schlankeren grazileren Bauwerke. Das ist uns gelungen kostenneutral herzustellen und darüber sind wir sehr glücklich. AUT Holzhey, der währenddessen an seinem Spiegelbild vorbei an die aktuelle Tunnelwand starrt, wendet sich Drescher wieder zu. Bei der Trasse durch den Thüringer Wald sei es nie wirklich um rationale Verkehrspolitik gegangen, meint er. Noch weniger seit dem Aufkommen der Billig-Airlines. (Michael Holzhey) Ja, ich habe in einem Zeitungsinterview gesagt, das sei das Neuschwanstein der Moderne. Schlösser zu bauen ist in einer demokratisch legitimierten Gesellschaft nicht mehr so einfach. Das, was heute eher die Präferenz ist, etwas Bleibendes zu hinterlassen, ist dann zum Beispiel so eine Strecke zu bauen. Aber das ist halt dramatisch für alle Projekte, die wirklich gebraucht werden. (Olaf Drescher) Dieser Vergleich mit Neuschwanstein hat mich sehr amüsiert. Denn auch dort gibt es diese Diskussion über Sinn und Unsinn dieses Objektes. Aber wenn man sich die Wirkung auf die Bevölkerung und die Gäste anschaut, dann ist das schon ein Symbol. Und es hat einen Bekanntheitsgrad - wenn wir den für die Strecke erreichen würden, dann wäre ich sehr zufrieden. G 06 Musik: Herbert von Karajan: Richard Wagner: Das Rheingold. REGIE Sprecher gleich auf Musik AUT Wümtalbachbrücke, Ilmtalbrücke. Wie sinnvoll ist Neuschwanstein? Wie sinnvoll ist VDE 8.1? Für was steht die ICE-Trasse? Für Bernhard Vogel oder die Wiedervereinigung, oder für den Machbarkeitswahn der Moderne? Gedanken, die einen begleiten durch den Tunnel Brandkopf, über die Wohlrosetalbrücke und in den endlosen Schlauch des Silberbergtunnels. Der Reisende verlässt seinen Platz im Tunnel, wäscht sich die Hände, tritt wieder in den Gang. Immer noch oder schon wieder Tunnel. Reinraus. Reinraus. G 10 Schritte Gang durch den Zug Tastaturklappern AUT Die Mitreisenden bleiben unbeeindruckt, vertieft in ihre Unterlagen. Vielleicht erleichtert darüber, dass ihnen die Streckenführung die Ablenkung der Landschaft erspart. (Frau) Klar, man hat kurzzeitig keinen Blackberryempfang. Aber das ist auch kein Problem. Im Gegenteil, da wissen wir, was die Bahn mit dem Geld macht, wenn sie Tunnel baut. G Atmo Bordrestaurant (Vibrationen, Klappern) AUT Massetalbrücke, dann hinein in den Masserberg, Dunkeltalbrücke. Der Zug fährt fast 300. Im Zugrestaurant sind Vibrationen zu spüren, trotz der stossfrei verlegten Gleise. Die meisten der blaßroten Sitzbänke sind leer. (Kellner) Ist ein Kaffee gewünscht (Carsten Ruhl) Ach, ein Glas Wein (Stephan Albrecht) Ein Bier. AUT An einem der Tische sitzt Stephan Albrecht. Ein schlanker Mann mit angegrautem Wuschelkopf. Er ist Professor für Kunstgeschichte und auf dem Weg nach Bamberg. Dort lehrt er an der Universität. Er mag die Gegend, durch die er fährt. Thüringen, hier ist die deutsche Romantik entstanden, auch der deutsche Nationalgeist. Irgendwo dort draußen. (Stephan Albrecht) Ich sitze im Zug, es wird dunkel, ich fahre in einen Tunnel ein, e wird wieder hell, ich sehe gegen Lärmschutzwände, es kommt wieder ein neuer Tunnel. ic sehe wieder auf Lärmschutzwände, ich merke gar nicht, dass ich an Städten vorbeifahre und irgendwann komme ich dann mal an und ich habe die Strecke dazwischen gar nicht erlebt. AUT Bei Albrecht am Tisch sitzt sein Kollege Carsten Ruhl von der Bauhaus-Universität Weimar. Er hat dort den Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der neuesten Architektur inne. Der schwarz-gekleidete Architekturexperte fährt mit den Fingern am Stil seines Weinglases entlang. Auch von außen, meint Ruhl, sei die Trasse nicht so toll. (Carsten Ruhl) Wenn ich mir die ganze Strecke anschaue, insgesamt und auch als Synopse mit allen Brücken, die gebaut werden, sind es doch eher konventionelle Brückenarchitekturen. Ich finde sie langweilig und definitiv kein Hingucker und schon gar nicht, wenn man von einer symbolhaften Ingenieurskunst sprechen möchte, schon gar nicht starke Bilder. AUT Ruhl stockt, schüttelt den Kopf, als ob er die Pfeiler und Bögen aus seinem Haupt verscheuchen wollte, die Olaf Drescher, der Bahnprojektleiter so schön und grazil findet... (Carsten Ruhl) Man hätte mehr machen können, wenn ich zum Beispiel an die Brücken von Calatrava in Frankreich denke oder die Erasmusbrücke in Rotterdam von Ben van Berkel. Es gibt ja anspruchsvolle Brückenarchitektur, die spektakulär wirken und einen Punkt markieren in der Landschaft. AUT Albrecht nickt bei diesen Worten zustimmend. Brücken sind Zeichen, sie verbinden - bei einem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit müssten sie mehr leisten, als einen Zwischenraum zu überwinden, meint Albrecht. Aber: (Stephan Albrecht) Ich habe da eher den Eindruck, es geht dabei mehr darum, größeren Schaden zu vermeiden, als darum, Landschaft optimal und positiv zu gestalten. AUT Es ist wieder dunkel geworden. Die acht Kilometer Schwärze des Blessbergtunnels. Kurz darauf geht es über die Landesgrenze nach Bayern. Der Kunst- und der Architekturhistoriker sind immer noch dabei, die Brückenarchitektur zu kritisieren. Offenbar stößt sie gerade das wenig Invasive, das Zurückhaltende ab, das die Bauherren so stolz macht. Den verkehrstechnischen Nutzen wollen Albrecht und Ruhl schon überhaupt nicht erkennen. Ruhl reibt sich das Kinn. (Carsten Ruhl) Ich frage mich natürlich, was ist der Zweck dieses ganzen Projektes vor diesem Hintergrund. AUT Beide halten inne, starren einen Augenblick schweigend auf ihre Gläser. Stephan Albrecht denkt an die Lärmschutzwände, die seiner Stadt Bamberg den Weltkulturerbestatus gekostet haben, weil sie die historischen Sichtachsen zerstören. Carsten Ruhl kommt Neuschwanstein in den Sinn, das Märchenschloss, das es doch tatsächlich 2015 auf die UNESCO-Welterbeliste geschafft hat. (Carsten Ruhl) Naja, die Ästhetik von Neuschwanstein zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass dort ein Phantasieschloss gebaut wurde, insofern hinkt der Vergleich einerseits, andererseits aber bringt er auch sehr auf die Spitze, was hier passiert: das Fehlen einer rationalen Grundlage, die noch irgendetwas mit Realität zu tun hat und das ist natürlich auch noch ein ziemliches Problem. AUT Die beiden trinken aus und gehen zurück zu ihren Sitzplätzen im Abteil. Stephan Albrecht muss bald aussteigen, Ruhl will einen Vortrag überarbeiten. Bald tauchen die Kirchtürme von Bamberg auf. Der Rest der Strecke bringt bisher noch nichts Neues. Kommt aber noch. Die Ausbaustrecke kommt. Es wird gebaut. Egal, wie sich die Welt ändert. Denn der Bundesverkehrswegeplan von 1992 will es so. G 01 Fanfare Star Trek - Ende 15" frei -ENDE Beitrag- MOD Das "Neuschwanstein der Moderne". Eine Bahnreise von Leipzig nach München im Jahr 2017. Heiner Kiesel nahm die Fahrt auf sich. Und wir erinnern gerne daran, dass der Bau von Neuschwanstein 17 Jahre dauerte und Bayern pleite war. Morgen dann im Länderreport ab 13.07 Uhr : Am braunen Ostseestrand. NPD- Hochburgen in Mecklenburg-Vorpommern. Am Mikrofon verabschiedet sich von Ihnen Claus Stephan Rehfeld. -ENDE Sendung -