COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. "In den Falten erst sitzt das Eigentliche" - Walter Benjamins Orte des Erinnerns (Sendemanuskript) Autor: Michael Opitz Erzähler: Frank Arnold Zitator Benjamin: Max Volkert Martens Musik: Terje Rypdal: "Skywards", Laurie Anderson: "Strange Angels?: The dream before (For Walter Benjamin) Redaktion: Sigried Wesener Sendedatum: 17. Februar 2008 Musik: Terje Rypdal: "Shining": 1. O-Ton Th. W. Adorno: "Wenn ich das Äußere wiedergeben soll, so müßte ich sagen, dass Benjamin etwas von einem Zauberer hatte, aber in einem sehr unmetaphorischen, sehr wörtlichen Sinn. Man hätte sich ihn gut mit einem sehr hohen Hut und mit einer Art von Zauberstock vorstellen können." Musik: Laurie Anderson: "The dream before? (For Walter Benjamin) And he said: History is an angel being blown backwards into the future He said. History is a pile of debris And the angel wants to go back and fix things To repair the things that have been broken But there is a storm blowing from Paradise And the storm keeps blowing the angel backwards into the future. And this storm, this storm is called Progress 2. O-Ton H. Arendt: "Dass er dichterisch dachte" Erzähler: daran bestand für Hannah Arendt kein Zweifel. 3. O-Ton H. Arendt: "Entscheidend war, dass Hofmannsthal wortwörtlich recht hatte Erzähler: gemeint ist Hugo von Hofmannsthal, der 1924 Benjamins Essay über "Goethes Wahlverwandtschaften" in den "Neuen Deutschen Blättern" veröffentlichte 4. O-Ton H. Arendt: wenn er den Wahlverwandtschaften-Aufsatz des damals gänzlich unbekannten Autors, 'schlechthin unvergleichlich? nannte. Und schlechthin unvergleichlich, durchaus sui generis, war alles, was Benjamin machte." Musik: Terje Rypdal: "Shining" 5. O-Ton E. Bloch: "Er war der Beste in unserem kleinen Freundeskreis" Erzähler: sagt Ernst Bloch über Walter Benjamin und erinnert an einen hochkarätig besetzten Kreis von jungen Intellektuellen. Ihre Namen haben in der Welt der Philosophie, der Literatur und der Musik einen einzigartigen Klang: 6. O-Ton E. Bloch: "Adorno, Kracauer, Weill, Brecht, ich und wenig andere." Erzähler: Theodor W. Adorno war tief beeindruckt, als er Benjamin 1923 kennenlernte: 7. O-Ton Th. W. Adorno: "Benjamin war von einer geradezu unerschöpflichen, sich aus sich selbst heraus erneuernden Produktivität. Man konnte kaum mit ihm reden, auch nicht über die scheinbar banalsten und gleichgültigsten Dinge, ohne dass diese Produktivität alles, was er berührte, verwandelt und ergriffen hätte. [ ... ] Ich glaube, dass es keine Rückphantasie ist, wenn ich sage, dass ich vom ersten Augenblick an von Benjamin den Eindruck eines der bedeutendsten Menschen hatte, die mir je entgegengetreten sind. [ ... ] Dass, was Benjamin sagte, klang, als ob es aus dem Geheimnis käme." Erzähler: Siegfried Kracauer verweist auf Benjamins Nähe zu Marcel Proust und Hannah Arendt erwähnt das Besondere an der Freundschaft zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht: 8. O-Ton H. Arendt: "Die Freundschaft Benjamin Brecht ist einzigartig, weil in ihr der größte lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zusammentraf. Und es spricht für beide, dass sie dies wussten. Brecht soll auf die Nachricht von Benjamins Tod gesagt haben, dies sei der erste Verlust, den Hitler der deutschen Literatur zugefügt hat." Erzähler: Zu Benjamins Freunden außerhalb des Kreises gehörte der jüdische Theologe und Kabbala-Forscher Gershom Scholem: 9. O-Ton G. Scholem: "In den ganzen Jahren, von dem Moment an, wo ich ihn kennenlernte, machte er mir einen sehr bedeutenden Eindruck, sowohl als Person, als auch in seiner Denkart, die überaus seltsam und unkonventionell war. Sein Denken verlief kaum je bei einem Gespräch über ernste Gegenstände in den Bahnen oder Gedankengängen, die man bei solch einem Thema erwartet hätte. Er packte jede Sache von einem gänzlich originellen und unerwarteten Gesichtspunkt aus an und tastete sich an die Dinge an." Erzähler: Das Interesse für scheinbar Unbedeutendes, für abwegige Dinge, beschreibt Ernst Bloch als eine der auffälligsten Eigenschaften des Benjaminschen Denkens: 10. O-Ton E. Bloch: "Hierbei konnte Benjamin seinen Feinsinn fürs Ausgefallenste durchaus verspotten. Also etwa konnte er fragen [ ... ]: Gnädige, ist ihnen schon einmal das kränkliche Aussehen der Marzipanfiguren aufgefallen? Eine echt Benjaminsche Frage, mit Ironie darin, aber: Nichts war skurril genug, das ihm nicht gegebenenfalls ein Aufschauen, ein Hineinschauen abforderte. Und so war Mikrologie linkster Hand am Werk." Erzähler: Geschrieben hat Benjamin mit der rechten Hand, in mikroskopisch kleiner Schrift. Er wollte verhindern, dass gleich der erste Gedanke seinen Weg aufs Papier findet - der beste musste gefunden werden. 11. O-Ton G. Scholem: "Alles Kleine hatte die größte Anziehung auf ihn. Im Kleinen und Kleinsten Vollkommenheit auszudrücken oder zu entdecken, war einer seiner stärksten Impulse. [ ... ] Dass im Kleinsten sich das Größte aufschließt [ ... ], das waren in den verschiedensten Bezügen für ihn grundlegende Einsichten. Diese Neigung gibt seinem Bande "Einbahnstraße" die besondere Note, denn nicht das Aphoristische ist hier bestimmend, sondern die Absicht, in kleinsten Niederschriften ein Ganzes zu geben." Erzähler: Bereits 1924 wollte Benjamin ein Aphorismenbuch veröffentlichen. Zunächst dachte er daran, die Namen seiner Freunde als Überschriften zu verwenden und das Buch "Plaquette für Freunde" zu nennen. Als sich sein Interesse von den Freunden auf Berlin verlagert, bekommt das Buch auch einen neuen Namen und soll nun "Straße gesperrt" heißen. Doch auch diesen Titel verwirft Benjamin und nennt es schließlich "Einbahnstraße. Das Buch hat einen grundlegenden Wandel durchgemacht, bis statt der Freunde die Großstadt im Zentrum steht." Berlin beeindruckt Benjamin. Die Stadt ist in den zwanziger Jahren eine pulsierende Metropole. Das Tempo ist rasant und der Pulsschlag der Stadt enervierend. Benjamin beobachtet, wie Mietskasernen und Luxusetablissements aus dem Boden schießen. In einem Rundfunkbeitrag für Kinder über die Berliner "Mietskaserne" macht er darauf aufmerksam, wie die Stadt ihr Gesicht verändert. Wer es sich leisten kann, logiert im vornehmen Berliner Westen. Herrenreiter im Tiergarten und das Proletariat im Prenzlauer Berg. Beide Gesichter prägen das Bild und die Geschicke der Stadt. Mit dem einen macht sie Reklame, und das andere hält sie bedeckt. Dazwischen liegen Welten, die Benjamin nicht verborgen bleiben. In der Hauptstadt ticken die Uhren schneller. Ständig ist 'Berlin damit beschäftigt zu werden und hat kaum Zeit zu sein?. Selbst die Straßen der Metropole stehen in einem Wettbewerb, jede will Haupt- und keine nur Nebenstraße sein. Musik: Laurie Anderson: "The dream before": And this storrm, this storm is called Progress Erzähler: Äußerst modern und der allerletzte Schrei sind Einbahnstraßen, die es erst seit 1927 in Berlin gibt. Benjamins gleichnamiges Buch ist auf der Höhe der Zeit, als es 1928 im Rowohlt Verlag erscheint. Auf der von Sasha Stone für den Umschlag gestalteten Fotomontage sind mehrere rot umrandete Verkehrszeichen mit der Aufschrift Einbahnstraße vor dem Hintergrund einer belebten Geschäftsstraße zu sehen. Benjamin verwendet in der "Einbahnstraße" Geschäftsnamen, Hinweisschilder, Reklamesprüche und Aushänge als Überschriften, die dem Leser helfen sollen, sich in der literarischen Straße zu orientieren. Als Eingeweihter und Kenner der Großstadt kann der Leser mit Namen wie "Fundbüro", "Optiker", "Zum Planetarium" oder "Reiseandenken" etwas anfangen. Er entdeckt Bekanntes, stößt aber auf diese Namen und Hinweise an einem Ort, wo er sie nicht unbedingt erwartet hätte. Diese Gleichzeitigkeit von Überraschungs- und Wiedererkennungseffekt ist beabsichtigt. Der Leser soll zwischen der Großstadtrealität und der, die ihm im Buch eröffnet wird, eine Beziehung herstellen. Die Schrift wird dabei Benjamins Verbündete. Er setzt sie als Mittlerin zwischen der Welt des Buches und der Großstadt ein. Zitator Benjamin: "VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt. Das ist der strenge Schulgang ihrer neuen Form. Wenn vor Jahrhunderten sie allmählich sich niederzulegen begann, von der aufrechten Inschrift zur schräg auf Pulten ruhenden Handschrift ward, um endlich sich im Buchdruck zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam sich wieder vom Boden zu heben. Bereits die Zeitung wird mehr in der Senkrechten als in der Horizontale gelesen, Film und Reklame drängen die Schrift vollends in die diktatorische Vertikale." (GS IV/1, 103) Erzähler: Bei der Lektüre der "Einbahnstraße" ist der Leser gut beraten, auf die Wahrnehmungstechniken zurückgreifen, die er sich als Großstädter angeeignet hat. Die Großstadt hat ihn im Hin- und Wegsehen geschult. Er weiß, wie er mit der Fülle von Reizen umgehen muss, um nicht die Orientierung zu verlieren. Gelassen kann er auf visuelle Eindrücke reagieren und Schriftzüge wie eine Parade an sich vorüberziehen lassen. Was ihn nicht interessiert, ignoriert er. Er muss sich auch nicht an alle Regeln halten. Als Fußgänger kann er in einer Einbahnstraße nach Lust und Laune flanieren, ohne auf die Richtung zu achten. Diese Freiheiten hat der Leser auch in Benjamins Buch. Zwar empfiehlt ihm der Autor mit der Anordnung der Texte eine Richtung, doch der Leser entscheidet, ob er dieser Empfehlung nachgehen will. Niemand hindert ihn daran, sich einen eigenen Weg durch den Text zu bahnen. Es ist erlaubt, sich planlos in der "Einbahnstraße" zu bewegen. Wird sie schlendernd in Augenschein genommen, dann schaut der Leser wie der Großstädter nur flüchtig hin. Er kann an Texten wie an Geschäften vorbeigehen und nur en passant erhaschen, welche Waren ihm angeboten werden. Zitator Benjamin: "GALANTERIEWAREN Wer die Umgangsformen beachtet, aber die Lüge verwirft, gleicht einem, der sich zwar modisch kleidet, aber kein Hemd auf dem Leibe trägt." (IV/1, 112) Erzähler: Wenn Benjamin die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen will, muss er sie verzaubern. Damit sie vor seinen Texten innehalten, müssen sie Schaufenstern ähneln. Mit seinen literarischen Angeboten buhlt Benjamin um ihre Gunst und verhält sich wie ein Geschäftsmann, der nach Käufern sucht. Zitator Benjamin: ""KURZWAREN Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen." (IV/1, 138f.) GALANTERIEWAREN Wenn der Zigarettenrauch in der Spitze und die Tinte im Füllhalter gleich leichten Zug hätten, dann wäre ich im Arkadien meiner Schriftstellerei. (IV/1, 112f.) CHINAWAREN In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er 'kann?. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden." (IV/1, 89) Erzähler: Die Texte der "Einbahnstraße" entfalten ihre eigene Aura. Der Leser ist überrascht, was er vorfindet und bekommt doch den Eindruck, als hätte er schon immer gerade danach gesucht. Seine Textangebote hat der Autor mit einem zauberischen Glanz versehen. Sie müssen sich durch eine gewisse Ausstrahlungskraft auszeichnen. Dass es Arbeit gekostet hat, ihnen diesen Glanz zu verleihen, darf man ihnen nicht ansehen. Zitator Benjamin: "POLIKLINIK Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafés. Lange Betrachtung: denn er benutzt die Zeit, da noch das Glas - die Linse, unter der er den Patienten vornimmt - nicht vor ihm steht. Dann packt er sein Besteck allmählich aus: Füllfederhalter, Bleistift und Pfeife. Die Menge der Gäste macht, amphitheatralisch angeordnet, sein klinisches Publikum. Kaffee, vorsorglich eingefüllt und ebenso genossen, setzt den Gedanken unter Chloroform. Worauf der sinnt, hat mit der Sache selbst nicht mehr zu tun, als der Traum des Narkotisierten mit dem chirurgischen Eingriff. In den behutsamen Lineamenten der Handschrift wird zugeschnitten, der Operateur verlagert im Innern Akzente, brennt die Wucherungen der Worte heraus und schiebt als silberne Rippe ein Fremdwort ein. Endlich näht ihm mit feinen Stichen Interpunktion das Ganze zusammen und er entlohnt den Kellner, seinen Assistenten, in bar." (GS IV/1, 131) Erzähler: Selbst die schönsten Geschäftsstraßen kommen nicht ohne "Tankstelle", "Stehbierhalle", "Wettannahme" oder "Steuerberatung" aus. Und auch Annoncen und Hinweise wie "Wegen Umbau geschlossen!", "Nachtglocke zum Arzt" oder "Betteln und Hausieren verboten!", gehören zum Straßenbild. Da Benjamins "Einbahnstraße" ein Abbild der städtischen Realität im Kleinen ist, finden sich auch diese Namen in seinem Buch. Die literarische Konstruktion hält sich an das Sichtbare, aber sie wurde auch angelegt, um auf die verdeckte Seite des Waren- und Geldverkehrs aufmerksam zu machen. Die damit verbundenen Schattenseiten entgehen Benjamins Blick nicht. Zitator Benjamin: "?Armut schändet nicht.? Ganz wohl. Doch sie schänden den Armen. Sie tun's und sie trösten ihn mit dem Sprüchlein. Es ist von denen, die man einst konnte gelten lassen, deren Verfalltag nun längst gekommen. Nicht anders wie jenes brutale 'Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen?. Als es Arbeit gab, die ihren Mann nährte, gab es auch Armut, die ihn nicht schändete, wenn sie aus Mißwachs und anderem Geschick ihn traf. Wohl aber schändet dies Darben, in das Millionen hineingeboren, Hunderttausende verstrickt werden, die verarmen. Schmutz und Elend wachsen wie Mauern als Werk von unsichtbaren Händen um sie hoch. [ ... ] Nie darf einer seinen Frieden mit Armut schließen, wenn sie wie ein riesiger Schatten über sein Volk und sein Haus fällt. Dann soll er seine Sinne wachhalten für jede Demütigung, die ihnen zuteil wird und so lange sie in Zucht nehmen, bis sein Leiden nicht mehr die abschüssige Straße des Grams, sondern den aufsteigenden Pfad der Revolte gebahnt hat." (GS IV/1, 96f.) Erzähler: Die aphoristischen Texte der "Einbahnstraße" erinnern an Embleme, die aus einem Motto, einem Bild und einer auslegenden Unterschrift bestehen. Auf diese bildhaften Ausdrucksmittel, die zum Nachdenken anregen, stieß Benjamin zu Beginn der zwanziger Jahre, als er seine Habilitation über die barocken Trauerspiele schrieb. Das fertige Buch "Ursprung des deutschen Trauerspiels" erscheint wie die "Einbahnstraße" 1928. Benjamin entwickelt im Barockbuch besonderes Interesse für den Allegoriker, dessen Weltsicht ihm alles andere als vergangen erscheint. Der Allegoriker sieht sich von einer in Bruchstücke zerfallenen Welt umgeben. Von einem einst prächtigen Ganzen sind nur noch einzelne Teile übriggeblieben. Ihnen wendet sich der Allegoriker in grüblerischer Versunkenheit zu, um aus den noch vorhandenen Teilen ein neues Ganzes zu konstruieren. Benjamin wird in den dreißiger Jahren, bei seinen Studien zu Charles Baudelaire, im Emblem das Signum der Moderne erkennen: Zitator Benjamin: "Die Embleme kommen als Waren wieder. Die Allegorie ist die Armatur der Moderne" (GS I/2, 681) Erzähler: schreibt er im "Zentralpark"-Fragment, wo es weiter heißt: Zitator Benjamin: "Die Ware ist an die Stelle der allegorischen Anschauungsform getreten." (GS I/2, 686) Erzähler: Das Trauerspiel-Buch und die "Einbahnstraße" haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Benjamin allerdings verweist mehrfach auf Beziehungen, die seiner Meinung nach zwischen den beiden Büchern bestehen. Bei näherem Hinsehen jedoch wird deutlich, dass die im Trauerspielbuch dargelegten wissenschaftlichen Anschauungen zum Emblem, zur Bedeutung von Bruchstücken und zur allegorischen Weltsicht das Fundament der "Einbahnstraße" darstellen. 12. O-Ton E. Bloch: Benjamin hatte [ ... ] einen ungeheuren, einzigartigen Blick eben fürs bedeutsame Detail, für das, was nebendran liegt, für die frischen Elemente, die von hier aufbrechen im Denken und in der Welt, für dieses, das Gewohnte und dann das Schematische unterbrechende und aufstörende Einzelsein, das nicht in den Kram paßt und das daher - oder auch daher - eine ganz eigene , einschwingende Beachtung verdient. Für solche Details, für dieses bedeutsame Nebenbei [ ... ] für dies bedeutsame und aufstörende Nebenbei besaß Benjamin einen mikrologisch- philologischen Sinn. Erzähler: Diese Aufmerksamkeit dem Kleinen gegenüber ist nicht nur Ernst Bloch, sondern auch Hannah Arendt aufgefallen. Vorschnelles Aussortieren ist Benjamins Sache nicht. Vielmehr geht er mit den Dingen wie ein Lumpensammler um, der mitnimmt, was er findet. 13. O-Ton H. Arendt: Benjamin hatte eine Passion für kleine und kleinste Dinge. Für ihn stand immer die Größe eines Gegenstandes im umgekehrten Verhältnis zu seiner Bedeutung. Auch diese Passion ist der Vorstellung von einem Urphänomen nahe verwandt. Hinter beiden steht keine Idee, sondern das durch die Reflexion gegangene Staunen vor der Faktizität des Samenkorns, dieses Winzigsten, aus dem alles entsteht und mit dessen konzentrierter Bedeutung nichts aus ihm Entwickelten es aufnehmen kann. Erzähler: Für den Lumpensammler ist Brauchbarkeit kein Kriterium. Er betrachtet die ausranggierten Dinge mit einem anderen Blick. Erst nachdem er alles aufgehoben hat, unterzieht er die gefundenen Objekte einer intensiven Betrachtung. Durch diese Haltung zeichnen sich auch der Sammler, der Allegoriker und der Flaneur nach Benjamins Ansicht aus. Sie lassen sich auf die Objektwelt ein und sind gerade mit den Dingen nicht fertig, die der Fortschritt aussortiert hat. Musik: Laurie Anderson: "The dream before": And this storrm, this storm is called Progress Erzähler: Der Versuch Benjamins, sich mit der Habilitation eine universitäre Laufbahn zu eröffnen, scheitert. "Ursprung des deutschen Trauerspiels" erscheint zwar als Buch, aber es markiert das Ende seiner akademischen Karriere. Die "Einbahnstraße" hingegen, die im selben Jahr wie das Barockbuch 1928 erscheint, ist als Notizbuch eines freien Autors zu lesen, der darin seine Erfahrungen als Warenproduzent notiert. In der "Einbahnstraße" wird das Ganze im Kleinen gespiegelt. Ohne Einsichten in das Getriebe der Großstadt hätte Benjamin dieses Buch nicht schreiben können. 1926 notiert er: Zitator Benjamin: "wundervolle Falten im abgetragnen Steinmantel der Stadt durchstöbert." (GB III, 166) Musik: Terje Rypdal: "Shining": Erzähler: Benjamin muss sich zwar beruflich neu orientieren, aber er kann weiterhin seiner Sammelleidenschaft nachgehen. Während er zuvor in den Büchern brauchbare Zitate gesucht hat, um seinen wissenschaftlichen Thesen Halt zu verleihen, entdeckt er nun die Großstädte für sich und sucht in ihnen nach historischen Zitaten. Zitator Benjamin: "Dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent. Und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange. Man braucht nur einen [Sammler] zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt." (GS III, 216f.) Erzähler: Als Physiognomiker ist Benjamin ein aufmerksamer Betrachter der Dingwelt. Wenn er als Flaneur Berlin oder Paris durchstreift, dann betrachtet er die Metropolen als wären sie Vitrinen. Ein Raum mag größer oder kleiner sein, für Benjamin ist entscheidend, was sich in ihm finden lässt. Fast immer wählt er als Perspektive den Blick von unten, damit ihm nicht die Dinge entgehen, die im Zuge des Fortschritts vergessen wurden. Benjamin, der Flaneur, ist ein Augenmensch. Doch er ist nicht nur wachen Auges, sondern auch offenen Ohres unterwegs. Als Rausch erlebt der Flaneur, wenn er eine Straße entlanggeht und ihm beim Gehen die Gegenwart abhanden kommt, sodass er sich in immer tieferen Schichten der Vergangenheit verliert. Flanieren ist wie eine Droge. Der Flaneur ist real anwesend, aber in Gedanken ganz woanders. In der Rezension zu Franz Hessels Buch "Spazieren in Berlin" hat Benjamin diese Erfahrung beschrieben: Zitator Benjamin: "Im Asphalt, über den er hingeht, wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz. Das Gaslicht, das auf das Pflaster herunterscheint, wirft ein zweideutiges Licht über diesen doppelten Boden. Die Stadt, als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre eigene Geschichte. Was sie eröffnet, ist das unabsehbare Schauspiel der Flanerie [ ... ]. Die großen Reminiszenzen, die historischen Schauer - sie sind dem wahren Flaneur ja ein Bettel, den er gerne dem Reisenden überläßt." (III, 194f.) Erzähler: Als Benjamin im Herbst 1931 von der "Literarischen Welt" den Auftrag bekommt aufzuschreiben, was ihm in Berlin von Tag zu Tag bemerkenswert erscheint, kann er sich dem Müßiggang hingeben und Flanieren als Arbeit ausgeben. Um sich die Neuigkeiten der Stadt erzählen zu lassen, flaniert Benjamin nun mit absichtsvollem Grund. Doch als er sich im Frühjahr 1932 an die Niederschrift der Eindrücke in der "Berliner Chronik" macht, erscheint ihm weniger das Neuartige, sondern das Vergangene bemerkenswert. Bedeutender als alles Neue wird Vergessenes aus der eigenen Kindheit. Benjamin ist auf kleine Fundstücke gestoßen, die wie Türöffner zu immer neuen Funden funktionieren: Zitator Benjamin: "Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, von Kleinsten ins Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegentritt." (VI, 467f.) Erzähler: Die erinnerten Bilder sind willkommen, aber sie genügen Benjamin nicht. Seine Freude, etwas wiederzufinden, was er vergessen glaubte, ist nur von kurzer Dauer. Denn jedes erinnerte Bild weckt den Wunsch nach mehr. Aber wo muss man eigentlich suchen? Und: Wie kann man dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen? Zitator Benjamin: "Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, dass das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung echter Erinnerungen." (GS VI, 486) Erzähler: Im Gedächtnis schlummern Ereignisse, die man scheinbar vergessen hat. Erwachen sie aus ihrem Schlaf, und stellen sie sich unerwartet ein, ist man überrascht, wo sie herkommen, und warum sie sich gerade jetzt zeigen. Zu dieser Dunkelkammer des Erlebten will sich Benjamin in der "Berliner Chronik" schreibend einen Zugang verschaffen. Er kennt das Glück, wenn sich Erinnerungen unbewusst einstellen. Aber ihn lässt unbefriedigt, dass dies eine Sache des Zufalls ist. Um sich unabhängig vom Zufall zu machen, sucht er nach einem Schlüssel, durch den sich die Schatzkammer des Gelebten jederzeit öffnen lässt. Neben der Sprache und dem Wort entdeckt er bei der Suche, welche Bedeutung Geräusche für das Erinnern haben: Zitator Benjamin: "Man hat das déjà vu sehr oft beschrieben. Aber ich frage mich, ob die Bezeichnung eigentlich glücklich und die Metapher, welche allein dem Vorgang angemessen ist, nicht viel besser dem Bereiche der Akustik zu entnehmen wäre. Man sollte von Vorfällen reden, welche uns betreffen wie ein Echo, zu dem der Ruf, der Hall der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verfloßnen Lebens ergangen scheint. Dem entspricht, wenn wir nicht irren, dass der Chock, mit welchem Augenblicke als schon gelebt uns ins Bewußtsein treten, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Klopfen oder Rauschen, welchem die magische Gewalt verliehen ist, mit einem Male uns in die kühle Gruft des Einst zu bannen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhallen." (GS VI, 518) Erzähler: Die "Berliner Chronik" bleibt unvollendet, aber sie bildet nach der Ansicht von Gershom Scholem die Keimzelle für die "Berliner Kindheit um neunzehnhundert", die Benjamin 1932 zu schreiben beginnt. Während ihm das Miniaturmodell "Einbahnstraße" dazu diente, eine Straße so zu entwerfen, dass sich in deren Schaufenstern die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln, sollen in der "Berliner Kindheit" die Erlebnisse einer ganzen Generation aufgehoben werden. In der Fassung letzter Hand heißt es: Zitator Benjamin: "LOGGIEN Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. [ ... ] Der Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfens wiegte mich in Schlaf. Er war die Mulde, in der sich meine Träume bildeten. Zuerst die ungestalten, die vielleicht vom Schwall des Wassers oder dem Geruch der Milch durchzogen waren, dann die langgesponnenen: Reise- und Regenträume. Der Frühling hißte hier die ersten Triebe vor einer grauen Rückfront; und wenn später im Jahr ein staubiges Laubdach tausendmal am Tag die Hauswand streifte, nahm das Schlürfen der Zweige mich in eine Lehre, der ich noch nicht gewachsen war. Denn alles wurde mir im Hof zum Wink. Wieviele Botschaften saßen nicht im Geplänkel grüner Rouleaux, die hochgezogen wurden, und wieviele Hiobsposten ließ ich klug im Poltern der Rolläden uneröffnet, die in der Dämmerung niederdonnerten." (VII/1, 386) Erzähler: Nicht dem hektischen und lauten Berlin gehört Benjamins Aufmerksamkeit, sondern er erinnert sich an einen Ort, zu dem die Großstadtgeräusche nicht vorgedrungen sind. Der Hof, in dem seine Wiege stand, war von anderen Geräuschen erfüllt. Will er sich an diese Geräusche erinnern, muss er sie aus einem geräuschvollen Durcheinander herausfiltern. Vergessenem nachhören bedeutet für ihn, sich Zugang zu dem Geräuscharchiv verschaffen, das seinem Gedächtnis eingelagert ist. Zitator Benjamin: "Ich glaube, das Traumschiff, das einen damals abholte ist oft über den Lärm der Gesprächswogen oder die Gischt des Tellergeklappers vor unsere Betten geschwankt und am frühen Morgen hat es uns abgesetzt in der Ebbe des Teppichklopfens, das an den Regentagen mit der feuchten Luft in das Fenster drang und unvergeßlicher dem Kinde sich eingrub als die Stimme der Geliebten dem Manne, das Teppichklopfen, das die Sprache der unteren Welt war, der Dienstmädchen, der wirklich Erwachsnen, eine Sprache, die sich manchmal viel Zeit ließ, träge und abgedämpft unterm grauen Himmel sich zu allem bereit fand, manchmal wieder in einen unerklärlichen Galopp fiel, als seien hinter den Dienstboten Geister, die sie verfolgten. Höfe waren es auch in denen die Stadt sich auftat, um das Kind zu entlassen oder es wieder aufzunehmen." (GS VI, 503) Erzähler: Benjamin ist ein Lauschender, der über das Ohr Zugang zur Geschichte findet. Um auf die Klangwelt seiner Kindheit zu stoßen, muss er zunächst die Geräusche des Zeitalters überhören, die das individuelle Erinnern stören. Der Wunsch, sich zu erinnern, steht im Bunde mit dem Vergessen. Benjamin muss alles Laute, mit dem sich das Zeitalter ins Gedächtnis eingeschrieben hat, ignorieren. Es braucht zunächst Stille, damit sich die Geräusche hervorwagen, die eine Beziehung zu seiner individuellen Lebensgeschichte aufweisen. Zitator Benjamin: "DIE MUMMEREHLEN Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr. Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbachscher Ballmusik, nicht einmal Pferdetrappeln auf dem Pflaster oder die Fanfaren der Wachtparade. Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, das aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen fällt, es ist der dumpfe Knall, mit dem die Flamme des Gasstrumpfs sich entzündet, und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt. Noch andere Geräusche, wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und Hintertreppe; endlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei. 'Ich will dir was erzählen, von der Mummerehlen.? Das Verschen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz. Die Muhme Rehlen, die einst in ihm saß, war schon verschollen, als ich es zuerst gesagt bekam." (GS VII/1, 417) Erzähler: In der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" erprobt Benjamin verschiedene Wege, um Zugang zur eigenen Kindheit zu finden. Neben der topographischen Verortung von Ereignissen und der visuellen Beschreibung erinnert er sich an Wörter als Zitator Benjamin: "Male katastrophaler Begegnungen", (VI, 474) Erzähler: Er hört das Zitator Benjamin: "Geschepper in der Aula" Erzähler: und erinnert sich an gesungene Verse. Selbst die Laute der Regentropfen haben sich ihm eingeprägt. Diese Geräusche gehören zu einem Fundus, in dem auch unterschiedliche Klingeltöne inventarisiert sind: Zitator Benjamin: "BLUMESHOF 12 Keine Klingel schlug freundlicher an. Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgner als selbst in der elterlichen." (VII/1, 411) Erzähler: Anders wird das Klingeln der Dioramen im "Kaiserpanorama" erinnert. Zitator Benjamin: "KAISERPANORAMA Musik, die Reisen mit dem Film so erschlaffend macht, gab es im Kaiserpanorama nicht. Mir schien ein kleiner, eigentlich störender Effekt ihr überlegen. Das war ein Klingeln, welches wenige Sekunden, ehe das Bild ruckweise abzog, um erst eine Lücke und dann das nächste freizugeben, anschlug." (VII/1, 388) Erzähler: Während das Klingeln im "Kaiserpanorama" einen Abschied vorbereitet, signalisiert das Klingeln des Telefons, dass ein Gespräch ankommt. Doch beide Signale lösen beim Kind ein ähnliches Erschrecken aus: Zitator Benjamin: "TELEFON Es mag am Bau der Apparate oder der Erinnerung liegen - gewiß ist, dass im Nachhall die Geräusche der ersten Telefongespräche mir anders in den Ohren liegen als die heutigen. Es waren Nachtgeräusche. Keine Muse vermeldet sie. Die Nacht, aus der sie kamen, war die gleiche, die jeder wahren Geburt vorhergeht. Und eine neugeborne war die Stimme, die in den Apparaten schlummerte. Auf Tag und Stunde war das Telefon mein Zwillingsbruder. Ich durfte erleben, wie es die Erniedrigungen seiner Erstlingsjahre im Rücken ließ. [ ... ] Nicht viele, die den Apparat benutzen, wissen, welche Verheerungen einst sein Erscheinen in den Familien verursacht hat. Der Laut, mit dem er zwischen zwei und vier, wenn wieder ein Schulfreund mich zu sprechen wünschte, anschlug, war ein Alarmsignal, das nicht allein die Mittagsruhe meiner Eltern sondern das Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben, gefährdete." (VII/1, 390f.) Erzähler: Tatsächlich wird das Zeitalter durch das Aufkommen des Telefons erschüttert. Doch dieses zarte Klingeln ist nichts gegen den Lärm, der mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 einhergeht. Wer bis dahin glaubte, die Katastrophe gehört zum Bild der Zukunft, erlebt sie als Gegenwart. Im März 1933 verlässt er Deutschland und geht nach Paris. Zwar ist die französische Hauptstadt teuer, aber Benjamin weiß die Vorzüge der Stadt zu schätzen. Im Gepäck hat er neben anderen Manuskripten auch ein handschriftliches Exemplar der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert", an dem er in den nächsten fünf Jahren intensiv arbeiten wird. Jedoch bleiben alle Entwürfe der "Berliner Kindheit" Fragmente. Gewiss wäre es schwierig gewesen, das Buch zum Druck zu bringen, aber es hat auch den Anschein, als hätte Benjamin etwas gefehlt, wenn das Buch erschienen wäre. In der besonderen Situation des Exils bietet die Arbeit an der "Berliner Kindheit" die Möglichkeit, sich schreibend auf eine Reise in die eigene, unwiederbringlich verlorene Vergangenheit zu begeben. Immer wieder kann er sich in die entlegensten Winkel der Kindheit begeben. Seine mikroskopisch kleine Handschrift ist ihm bei diesen Exkursionen hilfreich. Die Kleinschrift erfordert spitze Schreibwerkzeuge, Sorgfalt und Zeit - aber sie verspricht auch lang anhaltenden Genuss. Zitator Benjamin: "Im Jahr 1932, als ich im Ausland war, begann ich mir klar zu werden, dass ich in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen müssen. Ich hatte das Verfahren der Impfung mehrmals in meinem inneren Leben als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen - die der Kindheit - mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebensowenig Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper. Ich suchte es durch die Einsicht, nicht in die zufällig biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten." (VII/1, 385) Musik: Terje Rypdal: "Shining" Erzähler: In Paris bewegt sich Benjamin auf vertrautem Pflaster. In den zwanziger Jahren hielt er sich schon einmal mehrere Monate in der Stadt auf. Damals übersetzte er zusammen mit Franz Hessel die ersten Bände von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Hessel war es auch, der ihn auf Spaziergänge durch Paris mitnahm und ihn im Flanieren unterrichtete. Benjamin wiederum bedankt sich bei den beiden Lehrern, dem Freund und der Stadt Paris, in seiner "Berliner Chronik", in der er sie als Führer erwähnt. Von ihnen hat er gelernt, wie man von einer Stadt geführt und verführt werden kann. In der "Einbahnstraße" finden diese Lektionen ihren ersten Niederschlag. Benjamin sagt von dem Buch, dass es in vielem Paris verpflichtet sei. Paris aber, und in erster Linie die Pariser Passagen, sollten im Zentrum eines Artikels stehen, den Benjamin Ende der 20iger Jahre zusammen mit Hessel für den "Querschnitt" schreiben wollte. Dieser Artikel wurde nie geschrieben, aber von Paris und den Passagen kommt Benjamin seit dieser Zeit nicht mehr los. Zitator Benjamin: "Die Arbeit über Pariser Passagen setzt ein immer rätselhafteres, eindringlicheres Gesicht auf und heult nach Art einer kleinen Bestie in meine Nächte, wenn ich sie tagsüber nicht an den entlegensten Quellen getränkt habe. Weiß Gott, was sie anrichtet, wenn ich sie eines Tages freilasse." (GB III, 378) Erzähler: Neben dem Architektonischen fasziniert Benjamin, was sich an diesen überdachten Straßen noch zeigen lässt. Zitator Benjamin: "Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen [ ... ]. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so dass eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, was er benötigt." (GS V/2, 1044) Erzähler: Das "Passagen-Werk" wird im Exil zu Benjamins Hauptbeschäftigung. Die kleine Bestie, die er geweckt hat, will ebenso wenig Ruhe geben wie die "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". Doch während die biographisch ausgerichtete "Berliner Kindheit" auf subjektive Erinnerungsmomente nicht verzichten kann, dürfen gerade sie im Paris-Buch keine Rolle spielen. Zitator Benjamin: "Was für die anderen Abweichungen sind, das sind für mich die Daten, die meinen Kurs bestimmen. - Auf den Differentialen der Zeit, die für die anderen die 'großen Linien? der Untersuchung stören, baue ich meine Rechnung auf. [ ... ] Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern [ ... ] errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens [ ... ] entdecken." (GS V/1, 570 u. 575) Erzähler: Voraussetzung für die Konstruktion des "Passagen-Werkes" ist Dekonstruktion. Es ist erforderlich, die Dinge in ihre kleinsten Bestandteile zu zerlegen, denn erst wenn sie als Bruchstücke vor ihm liegen, kann Benjamin sie - wie der Allegoriker - verwenden. Was im "Passagen-Werk" zu leisten ist, vergleicht er mit der Atomzertrümmerung. In der Geschichte wie in den Atomen schlummern ungeheure Kräfte. Gelingt es, das Zusammenspiel der einzelnen Kräfte aufzuzeigen, dann ist es möglich, anhand der Urgeschichte des 19. Jahrhunderts auf die Keime des 20. Jahrhunderts zu verweisen. Benjamins Aufmerksamkeit ist zwar auf das 19. Jahrhundert gerichtet, aber sein Interesse gilt ebenso der Gegenwart. Zitator Benjamin: "Was das Kind (und in der schwachen Erinnerung der Mann) in den alten Kleidfalten findet, in die es, wenn es am Rockschoß der Mutter sich festhielt, sich drängte - das müssen diese Seiten enthalten." (GS V/1, 494) Erzähler: Das "Passagen-Werk" ist ein ehrgeiziges Vorhaben, für das Benjamin seit dem 1. September 1939 immer weniger Zeit bleibt. Während er in der Pariser Nationalbibliothek arbeitet und Exzerpte anfertigt, nähert sich die deutsche Wehrmacht unaufhaltsam Paris. Die Arbeit bräuchte Zeit, doch die Umstände mahnen zur Eile. Lange hatte Benjamin gezögert, in die USA zu emigrieren. Im Juni 1940, kurz bevor die deutschen Truppen Paris besetzen, flieht Benjamin erneut. Wichtige Aufzeichnungen, die den deutschen Besatzern nicht in die Hände fallen dürfen, verstaut er vor seiner Flucht in Koffern, die sein Freund Georges Bataille in der Pariser Nationalbibliothek versteckt. Dort findet sie 1981 der italienische Germanist Giorgio Agamben, als er Batailles Nachlass ordnet. Er entdeckt Sonette von Benjamin, bis dahin unbekannte Aufzeichnungen zum Baudelaire-Buch, Materialien, die zum "Passagen-Werk" gehören und auch die Fassung letzter Hand der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". In einem Koffer findet Agamben auch Paul Klees Bild vom "Angelus Novus", das Benjamin 1921 erworben hatte. Es inspirierte ihn zur 9. These, die zu seiner letzten Arbeit "Über den Begriff der Geschichte" gehört: Zitator Benjamin: "Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheit vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." (GS I/2, 697f) Erzähler: Benjamin konnte auf den Weg über die Pyrenäen nur eine Aktentasche mitnehmen. In ihr befanden sich Papiere, von denen er sagte, dass sie wichtiger seien als sein Leben. Als das Schwierigste geschafft zu sein schien und die Berge hinter den Flüchtenden liegen, verweigern die spanischen Grenzbeamten Benjamin die Durchreise. Er sitzt in der Falle. Der Weg in die USA ist ihm verstellt und ihm droht die Rückführung in das von den Deutschen besetzte Frankreich. In dieser hoffnungslosen Situation nimmt er sich in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940, achtundvierzig jährig, das Leben. Die spanischen Behörden stellten den Totenschein auf den Namen Dr. Benjamin Walter aus und bestatten den Juden auf dem katholischen Friedhof von Port Bou. Freunde, die das Grab aufsuchen wollen, finden es kurze Zeit später nicht mehr. Auch die Papiere, die Benjamin in seiner Aktentasche hatte, bleiben verschwunden. Niemand weiß, was aus der goldenen Taschenuhr, Benjamins Brille, einer Röntgenaufnahme und seiner Tabakspfeife wurde, die das polizeiliche Protokoll erwähnt. Bereits bei seiner Flucht aus Berlin hatte Benjamin nur einen Teil seiner mehrere tausend Bände umfassenden Bibliothek retten können. Die restlichen Bücher, die er in seiner Pariser Wohnung zurücklassen musste, sind nie mehr aufgetaucht. Auch ein Tondokument seiner Stimme existiert nicht mehr, obwohl Benjamin vor dem Exil häufig für den Rundfunk gearbeitet hat. Musik: Terje Rypdal: "Shining" In Port Bou erinnert Dani Karavans begehbarer Gedenkort "Passagen" an Walter Benjamins Tod. Wer die Treppe hinunter geht, die zum Meer führt, sieht das Auf und Ab der Wellen. Erst unmittelbar bevor man Gefahr läuft, in die Tiefe zu stürzen, markiert eine Glasplatte eine durchsichtige Grenze. Auf diese Scheibe hat Karavan ein Walter-Benjamin-Zitat eingraviert: Zitator Benjamin: "Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht." (I/3 1241) Musik: Terje Rypdal: "Shining" 1