COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Die Reportage, 5. September 2010 O-Ton 1 0'42 Collage ATMO 4 Mertes: 0'6 Ich habe nie daran gezweifelt, dass das ein richtiger Schritt war. Beim Thema Missbrauch stecken eigentlich alle Themen des Christentums drin. ATMO 4 Mertes: 0'4 Wenn Jesus für mich ein Vorbild ist, dann muss ich mich auch mit ihm vergleichen dürfen. 3/21 ATMO 4 Mertes: 0'12 dann kann man eben auch aushalten dieses beprügelt werden als Nestbeschmutzer oder kein richtiger Katholik und illoyal und was dann eben so als Vorwürfen so hintenrum kommt. Atmo 4 hoch Sprecher Der Initiator Pater Klaus Mertes und die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche Eine Reportage von Svenja Pelzel Atmo 2 hoch 3'00 Abifeier 2/1 Stimmen - Mertes: Also hilf dem Kevin, ich hab dem gesagt, er soll richtig nach Mustermann Manier da vorne stehen und die Leute - Schüler: also die ersten vier Reihen? - Mertes: damit die ersten vier Reihen für die Abiturienten frei bleiben. Autorin 1 Der junge Mann macht ohne zu zögern, was Rektor Pater Klaus Mertes ihm sagt, geht nach vorne, hält die ersten vier Reihen in der Turnhalle für seine Mitschüler frei. An diesem Nachmittag ist Abifeier am Canisius Kolleg, einem katholischen Gymnasium, am Rande des Berliner Tiergartens. Pater Mertes trägt hellen Anzug, Brille, streicht sich ab und zu den Schweiß von der Halbglatze, plaudert mit den hereinströmenden Eltern und Schülern, wirkt fröhlich und entspannt. Aber nur auf den ersten Blick. Wer den 56jährigen Pater besser kennt, merkt, dass die Augen, die sonst oft schelmisch blitzen, müde blicken, dass dieser zwölf Kilo leichter ist als vor ein paar Monaten. Der ganze Mann scheint leer gebrannt. Der Grund ist ein Brief, geschrieben im Januar an 600 ehemalige Schüler, in dem er über sexuellen Missbrauch am Canisius Kolleg informiert und die Opfer bittet, sich zu melden. Ein Brief, in dessen Folge hunderte Betroffene in ganz Deutschland ihr Schweigen brechen, Bischof Mixa zurück tritt, die katholische Kirche sich verändern muss. Wer ist dieser Mensch, der mit einem einzigen Brief so viel bewirken kann? An diesem Nachmittag zuallererst einmal Rektor des Canisius Kollegs, der gewohnt schwungvoll die Bühne in der Turnhalle betritt. O-Ton 2 0'14 Rede Pater Mertes 2/7 Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern, liebes Kollegium, liebe Schulleitung, liebe Angehörige und Freunde. Ich heiße sie zu dieser Feierstunde hiermit herzlich willkommen. Autorin 2 Atmo 3 darunter, 2/11 Schüler, Verwandte und Freunde im Saal applaudieren immer wieder ausgelassen und erleichtert, die Abiturienten in den ersten Reihen etwas aufgeregt. Sie sind sichtlich froh, dieses ungewöhnliche Schuljahr hinter sich zu haben, auf das ihr Rektor in seiner Rede schnell zu sprechen kommt. O-Ton 3 0'36 Mertes, 2/14 Es ist allen bekannt, dass seit Monaten, die Welt hier auf dem Kopf gestanden hat. Auch für mich persönlich hat sie phasenweise auf dem Kopf gestanden. Ich bin unserer Schulleiterin Frau Hüdepol von herzen dankbar für die Unterstützung, die ich in diesen Monaten bekommen habe. Gabi ich möchte Dir dazu folgendes sagen: Es gibt eine Szene, die ich nie vergessen werde. Als am 29.1. ich in meinem Büro stand und alles voll mit Journalisten war, da bist du von hinten gekommen, hast dich durchgewalkt, mich am Kragen gefasst und gesagt, so! jetzt musst du zuerst einmal mit den Schülern und mit den Lehrern sprechen. Autorin 3 Atmo 4 darunter 2/3 Mertes versammelt daraufhin in der Turnhalle des Canisius Kollegs sämtliche Schüler und Kollegen. Er erzählt ihnen, dass sich vor kurzem einige Opfer vertrauensvoll an ihn gewandt haben. dass er seitdem von ihnen sicher weiß, dass an ihrer Schule in den 70er und 80er Jahren Kinder von Jesuiten sexuell missbraucht und sadistisch gequält wurden, dass die Täter bekannt waren, jedoch niemand über ihre Verbrechen reden und sie anklagen wollte. Mertes berichtet weiter, dass er deshalb - um das jahrzehntelange Schweigen endlich zu beenden - an alle 600 ehemalige Canisianer der betroffenen Jahrgänge geschrieben, ihnen von den Taten berichtet hat. Außerdem hat er alle Opfer aufgefordert sich zu melden, und diese ausdrücklich um Entschuldigung gebeten. Weil die Berliner Presse von diesem Brief erfahren hat, wird die Schule seit diesem Morgen von Journalisten regelrecht belagert. Noch ahnt niemand, dass hier in der Turnhalle des Canisius Kollegs ein wahrer Sturm seinen Anfang nimmt, dass Taten im Kloster Ettal, der Odenwaldschule, im Bonner Aloisiuskolleg und unzähligen anderen Einrichtungen in ganz Deutschland aufgedeckt werden. Wochenlang beherrscht das Thema Medien und Gespräche, auch am Canisius Kolleg. Atmo hoch Selbst bei der Abifeier an diesem Nachmittag werden die Ereignisse in jeder Rede erwähnt. O-Ton 4 0'35 Schülersprecher, 2/46 Umso mehr sind wir dankbar dafür einen Rektor zu haben, der diese Angelegenheit mit Ausdauer und Feingefühl behandelte und die Kinder und Jugendlichen, die danach bedurften vor dem großen Presseansturm schützte. - Und nicht nur dafür möchten wir danken, sondern auch für neun - oder auch zehn Jahre, die aus kleinen unschuldigen Hochwasserhosen-Jungs und Matrosenkleidchen-Mädchen verantwortungsbewusste Abiturienten gemacht haben, die nur noch darauf warten, die Welt zu erobern. Applaus Autorin 4 Atmo 5 darunter 2/47 Zuerst einmal erobern die Abiturienten die Turnhalle. Zu lauter Musik schreiten die Mädchen und Jungs wie auf dem Laufsteg durch den gesamten Mittelgang Richtung Bühne. Per Videobeamer werden solange Name und Bild auf eine große Leinwand projiziert. Oben gibt's Applaus und das Zeugnis. Atmo 5 hoch Musik, Applaus 2/47 0'5 frei stehen lassen, dann darüber Autorin 5 Atmo 6 (Aula) darunter 2/68 Die Mädchen sind durchgehend schlank, hübsch, tragen fast alle schulterfreie Minikleider, hohe Schuhe, haben so klingende Namen wie Olympia, Dominika, Mercedes oder Marie-Charlotte. Die Jungen in Sakko oder Anzug heißen Felix, Adam, Fabian und Omar. Der einzige Kevin stammt aus Singapur. Das Canisius-Kolleg ist ein Elitegymnasium. Auch die Verwandten und Freunde, die nach der Zeugnisausgabe zum Imbiss in die Aula strömen, passen in dieses Bild: schicke Anzüge, edle Schuhe und Handtaschen, Perlen, Designerkleider und Kostüme. O-Ton 5 0'18 Marion Scheller, 2/58 Canisiusschule ist die Eliteschule. Viele versuchen, ihre Kinder auf diese Schule zu bekommen. Das geht so weit, dass Pater Mertes gewisse Vorteile in Aussicht gestellt werden, wenn er die Kinder nimmt. Und wenn man es dann nicht schafft, dann ist das vielleicht ein bisschen die Häme jetzt. So nach dem Motto, ah, toll, diese Eliteschule hat auch ihre Probleme. Autorin 6 Von dieser Häme hat Marion Scheller in den letzten Monaten einiges ab bekommen. Drei Kinder hat die Elternvertreterin am Canisius-Kolleg. Die Älteste - Abiturientin Caroline - schnappt sich gerade die letzte Brezel aus einem großen Korb, stellt sich zur Mutter. Caroline und Marion Scheller finden gut, dass Mertes zu jeder Zeit Eltern und Schüler informiert hat. O-Ton 6 0'29 Caroline, Marion Scheller, 2/69, 2/52 - Ich finde es auf jeden Fall sehr gut, dass er diesen Stein ins Rollen gebracht hat und bewundere ihn zutiefst dafür, dass er so viel ausgelöst hat. Ja, Ich bewundere ihn dafür. - Ich finde wir können wirklich stolz sein und ich hoffe, dass es die Schüler auch sind und ich glaube, das ist heute auch deutlich geworden in den Reden auch der Schülervertreter, dass die Schüler damit kein Problem haben, dass sie stolz sind, wie ihr Rektor das gemacht hat und das ist wirklich ein unglaubliches Vorbild für alle. Autorin 7 Viele im Saal denken so wie die beiden Frauen. Mertes ist für sie kein Nestbeschmutzer, sondern Vorbild. O-Ton 7 0'22 Mertes, 2/124, 2/129 Ja, ist das so? (lacht) Ich krieg das ja nicht, will ich auch nicht mit kriegen. Nein! Ich habe nicht die Absicht Vorbild zu sein. Und ich glaube auch, in dem Moment, wo sie die Absicht spüren würden, dass ich ihnen Vorbild sein will, würde ich es ihnen nicht mehr sein. Ich muss das leben, was ich für richtig halte und die Frage, wie es wirkt auf meine Schüler und meine Schülerinnen ist sekundär. Die Vorbildfrage beschäftigt mich nicht. Früher war ich eitler als heute und da habe ich es genossen, bewundert zu werden. Heute lege ich nicht mehr so viel Wert darauf bewundert zu werden. Es bedeutet mir nicht mehr so viel. Atmo 7 hoch Sakristei vor Gottesdienst mit leisen Glocken, 63 (eventuell zusätzlich Glocken aus dem Archiv) 0'5 frei stehen lassen dann darüber: Autorin 9 Die Kirche, in der Pater Mertes regelmäßig sonntags den Gottesdienst feiert, ist Regina Martyrum, die Gedenkkirche der deutschen Katholiken für die Opfer des Nationalsozialismus, unweit der NS-Gedenkstätte Berlin Plötzensee. An diesem Morgen steht Klaus Mertes noch in Hemd und Hose in der Sakristei, bespricht die geplanten Lieder mit dem Organisten. O-Ton 8 0'30 Mertes, 65, 67 Herr von Garnier, gibt es was Besonderes für die Lieder? - nee, Halleluja 260 Dideldadideldee oder 530, 7 dann ist es aber mit dem - dadaldaaadee da - dann muss ich aber noch den Zwischenvers singen - dadadadidldida - der sechste Ton, der passt immer am besten dazu - ja, alles klar, wunderbar. lacht. Autorin 10 Atmo 8 (Kirche) darunter 72 Lachend begrüßt Pater Mertes die Ministrantinnen und Ministranten, zieht sich das schwere, dunkelgrüne Priestergewand aus dickem Leinenstoff über, betritt mit gemessenem Schritt die Kirche. An die 200 Menschen sind an diesem Morgen gekommen, um mit ihm zu beten und zu singen. Atmo 9 hoch Mertes und Gemeinde, 78, 74 Herr erbarme dich unser, 0'7 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 11 Kräftig und klar schallt die Tenorstimme von Pater Mertes durch die Kirche, die Gemeinde antwortet ebenso laut und kraftvoll. Mertes liebt das Singen, hat als Junge überlegt, ob er zur Oper gehen soll. Atmo 9 hoch Mertes und Gemeinde, 78, 74 Christ erbarme dich unser, 0'6 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 12 (kürzbar) Schon als Kind hat er mit seinen Eltern, den drei Brüdern und der Schwester jeden Morgen vor dem Frühstück in einer kurzen Morgenandacht gesungen und gebetet. Bis heute kann Mertes das gesamte Trierer Gesangbuch auswendig. Dieses morgendliche Ritual ist damals für den jungen Klaus sehr wichtig. Sein Vater ein Diplomat, wird häufig versetzt. In den ersten elf Jahren seines Lebens zieht Klaus Mertes von Marseille nach Paris, Moskau und Bonn. Dort wird die Familie sesshaft, sein Vater Staatssekretär von Außenminister Hans Dietrich Gentscher. Mertes besucht das Aloisius Kolleg, macht Abitur. An den Abenden wird in der Familie viel über Weltanschauung und Theologie diskutiert. O-Ton 9 (kürzbar) 0'15 Mertes 2/87,2/89 Das Christentum als Immunisierungspille gegen jegliche Form von totalitärem Denken. Das war so die Schlüsselintuitionen meines Vaters. Das Ideologiekritische, das habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Autorin 13 (Kürzbar, Alternativtext, s.u.) Nach dem Abitur beginnt Mertes in Bonn Slawistik und Philologie zu studieren Doch die ganze Zeit beschäftigt ihn ein Gedanke aus seiner Kindheit. O-Ton 10 0'17 Mertes 2/101 Ich hatte den Wunsch, ich möchte dem auferstandenen Jesus selbst begegnen. Ich möchte so eine Erfahrung machen wie die Jünger damals- Drunter mache ich es nicht!! Ich wusste, das kriege ich nur realisiert, wenn ich in irgendeiner Weise radikal lebe. Autorin 14 Atmo 10 darunter (Predigt),88 Mit 23 wagt er endlich diesen Schritt, tritt in den Jesuitenorden ein, deren Ziele ihm aus seiner Schulzeit am Bonner Aloisius-Kolleg vertraut sind. Die Ordensbrüder verpflichten sich zu Armut, Keuschheit, absolutem Gehorsam gegenüber dem Papst und engagieren sich aktiv in sozialen Fragen. Mertes beginnt ein Theologiestudium und wird 1986 zum Priester geweiht. Er lebt in Indien, Frankfurt, Hamburg, Nordirland, arbeitet als Seelsorger, Lehrer und seit 2000 als Rektor am Berliner Canisius Kolleg. Als solcher ist er auch Rektor der Berliner Kirche Regina Martyrum, in der er an diesem Morgen predigt. (Atmo kurz hoch) Wie immer redet Mertes frei, hält lediglich den Bibeltext in der Hand. Und wie so häufig in letzter Zeit geht es irgendwann in seiner Predigt um das Thema Missbrauch, Opfer, Schuld und Sühne. O-Ton 11 (Kursives kürzbar) 0'41 Mertes, 89 Der Wunsch nach Gerechtigkeit und der Wunsch, dass derjenige oder diejenige, die mir was angetan haben, spüren, wie weh ihnen das getan hat, was ihnen angetan wurde. Das ist nicht nur ein Wunsch von Kindern. Das bedeutet nicht, dass wir all das machen müssen, was Opfer von uns fordern. Aber da ist ein legitimer Gedanke drin, finde ich. Autorin 15 Atmo 11 (Predigt) Atmo 12 (Rausgehen) Als der Gottesdienst zu Ende ist, unterhalten sich Klaus Mertes und einige älteren Frauen aus der Gemeinde im großen Vorhof der Kirche. Dem Pater ist der Kontakt zu den Gläubigen wichtig. Er weiß, wie sehr diese Menschen in den letzten Monaten an ihn geglaubt und zu ihm gehalten haben. O-Ton 12 Kursives kürzbar 0'35 drei ältere Damen, 104, 107, 108 - Det hätte längst veröffentlicht werden müssen, ne.- Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.- Ich mag ihn ooch seine Predigten, der ist so lebendig - richtig natürlich, wenn ich ihn so schreiten sehe zum Altar, das ist auch ein Spaß. - Also ich kann ich wirklich nicht verstehen, so von wegen Nestbeschmutzer oder so was. Das muss doch jeder zufrieden sein, wenn man diese Taten aufdeckt. Ja, ich finde auch, er hat Vorbildfunktion und das finde ich sehr schön. Es gibt heute wirklich wenig Leute, wo man sagen würde, dem würde ich nacheifern oder so. Autorin 16 Atmo 13 (Außenatmo) darunter Schon wieder - Pater Mertes ein Vorbild. Im Moment kümmert ihn das jedoch weniger, er ist mit einer guten Freundin tief in theologische Überlegungen zu seinem Predigtext von heute verstrickt. Die beiden interessiert vor allem eine Frage: Macht es Sinn, dass er an Stelle der wirklichen Täter die Schuld auf sich nimmt, sich mit den Opfern auseinander setzt und dadurch selbst leiden muss? O-Ton 13 0'26 Gespräch vor der Kirche 2/111 Was gibt es für Möglichkeiten, dass diese Augenhöhe wieder erreicht wird, das ist ja eigentlich diese Suche glaube ich auch - ja genau - das hast du ja gesagt.- ja genau und das tut weh und man muss den Schmerz dann eben zulassen. Und in sofern hat auch dieser theologischer Gedanke, dass Leiden sühnt an der Stelle eine Parallele für mich. Das ist sehr interessant. Autorin 17 Einen Sekundenbruchteil stutzt Klaus Mertes, als ihm auffällt, dass er sich gerade mit Jesus vergleicht. Auch Jesus hat am Kreuz für Andere Leid auf sich genommen und so Schuld gesühnt. Das Zögern ist aber nur kurz, denn Jesuiten nennen sich selbst auch ,Gefährten Jesu'. O-Ton 14 0'20 Mertes, 3/21 Mit wem sollte ich mich denn sonst vergleichen bitteschön? Wenn Jesus für mich ein Vorbild ist, dann muss ich mich auch mit ihm vergleichen dürfen. Da finde ich überhaupt nichts Anstößiges daran sich mit Jesus zu vergleichen. Es ist falsche Ehrfurcht, wenn man zugleich eigentlich als Lebensprogramm auf die Fahnen geschrieben hat, Jesus nachfolgen zu wollen. Autorin 18 Klaus Mertes bringt gerne Dinge auf den Punkt. Manchmal provozierend, häufig treffend. Als Buchautor, Verfasser von Kolumnen für eine Berliner Zeitung, als Prediger und Talkshow-Redner. Immer wieder bewirkt er durch seine klare Sprache, dass sich Dinge verändern. Diese Mal ist es die Katholische Kirche, davon sind er und die Freundin an diesem Morgen im Hof von Regina Martyrum fest überzeugt. O-Ton 15 0'26 Bekannte, Mertes, 121, 122 Da bin ich sicher. Also es gibt auch welche, die sich davor drücken, das wahrzunehmen, aber im Grunde spüren die das. - man kann über bestimmte Dinge einfach nicht mehr so reden wie vorher, das geht einfach nicht mehr. Also ich glaube, es wird zu einer Veränderung der innerkirchlichen Sprache führen, eben zu großen Themen wie Sexualität, Priestertum, Macht, Vertrauen. Das wird was verändern. Glaub ich, glaub ich. Autorin 19 So wie Pater Klaus Mertes für einige Menschen Vorbild ist, so ist er für andere Verräter und Nestbeschmutzer. In den letzten Monaten hat er viele Mails, Briefe und Telefonanrufe bekommen, in denen er beschimpft und angegriffen wurde. Als überzeugter Querdenker und Jesuit stellt er sich trotzdem immer wieder auf die Seite der Schwachen. Atmo 14 hoch 1'40 vor Gefängnis, 1, 18,19 so, guten Tag, Lachen, schon okay, Verkehr, Stimmen 0'5 frei stehen lassen dann darüber: Autorin 20 Mit befreundeten Jesuiten organisiert Pater Klaus Mertes seit 16 Jahren alle drei Monate eine Mahnwache vor dem Abschiebegefängnis, besucht anschließend Gefangene. Das riesige Gelände liegt in einem ruhigen Berliner Vorort, 30 Autominuten von der Innenstadt entfernt. Die Lage ist Absicht, kein Berliner oder Tourist verirrt sich zufällig hierher. Mit der Mahnwache wollen Mertes und seine Mitstreiter dem Ort wenigsten ein bisschen Aufmerksamkeit verschaffen, den Menschen hinter den Mauern zeigen, dass draußen jemand an sie denkt. Atmo 15 hoch 2'00 Mahnwache, 22, 41 Gehen wir vielleicht ein bisschen enger in den Kreis, dass wir einander auch verstehen, dann brauchen wir den ersten Teil auch nicht mit der Flüstertüte zu mache. Beginnen wir mit einem Lied. 44. singt. 0'10 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 21 An die dreißig Ordensschwestern, Mitglieder verschiedener Kirchengemeinden und Jesuiten stellen sich neben Mertes im Kreis auf ein kleines Stück Rasen. Als sie zu singen beginnen, streckt ein Häftling seinen Arm durch die Gitterstäbe, winkt. Als Jesuit engagiert sich Pater Mertes besonders für Flüchtlinge. Von 2003 bis 2007 sitzt er als Vertreter der Erzdiözese in der Berliner Härtefallkommission, verhindert zahlreiche Abschiebungen, erkämpft für viele Familien Bleiberecht. Auch nimmt er in der Vergangenheit immer wieder Kinder an seiner Schule auf, die illegal in Deutschland leben. Aus solchen Erlebnissen und Begegnungen mit Menschen tankt Mertes neue Kraft. O-Ton 16 (Kursives kürzbar) 0'30 Mertes, 11,6 Es ist natürlich so, dass auch wenn man Menschen hilft, man auch etwas empfängt. Ich bin jetzt hier von den Gefangenen eingeladen und die freuen sich, wenn ich hier bin. Für mich ist es ja in meinem Leben wichtig, eine konkrete, eine leibliche Begegnung mit Jesus zu haben und die finde ich zum Beispiel hier bei den Gefangenen. Autorin 22 Andere Menschen gehen zur Entspannung joggen oder schwimmen. O-Ton 17 0'34 Mertes,8, 7 Ich entspann mich natürlich auch, wenn ich ins Schwimmbad gehe und schwimme oder jogge, das tu ich auch, das entspannt auch, aber das ist nicht die Tiefe der Entspannung oder Befreiung, die im wirklichen Leben trägt. Joggen kann nicht der Ort sein, an dem ich letztlich Kraft schöpfe. Also anstrengend ist immer dieses Sein für andere, für andere tun, anderen helfen, aber hier kann ich dieses helfen müssen oder bekämpfen müssen oder auseinander setzen müssen, das kann ich hier einfach mal fallen lassen, ganz grundsätzlich. Autorin 23 So ganz kann sich Mertes dann doch nicht fallen lassen. Er begrüßt die Anwesenden, er erzählt kurz, warum sie an diesem Nachmittag hier einen Gottesdienst feiern, stimmt die Lieder an, nimmt am Ende das Megaphon. Atmo 16 hoch (kürzbar) Gesang durch Megaphon, 46 Stellen wir uns hier in Reihe auf und singen über die Mauer. Gesang: We shall all be free... some day. 0'38 frei stehen lassen dann darüber: Autorin 24 Atmo 17 darunter (Tür) Nach einer Stunde ist die Mahnwache vorbei. Klaus Mertes fährt mit einem Mitbruder zurück in die Jesuiten-WG, seinem Zuhause und Refugium. Mit neun anderen Padres teilt er sich eine Wohnung, die direkt zur Schule gehört und in einem Seitenflügel des Canisius-Kollegs liegt. Viele Jesuiten leben in solchen Gemeinschaften, alleine in Berlin sind es drei WGs. Nach einem kurzen gemeinsamen Gottesdienst in der hauseigenen Kapelle versammeln sich an diesem Abend vier Padres am langen Tisch im Speiseraum, die sechs anderen Mitbrüder sind noch unterwegs. Atmo 18 hoch Gebet vor dem Abendessen 2/155 Im Namen des Vater des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. 0'6 frei stehen lassen, dann darüber Autorin 25 Der Speiseraum ist karg eingerichtet, mit Tisch, Stühlen, Vitrinenschrank, einem bunten Ölbild an der Wand, das einer der Brüder selbst gemalt hat. Ähnlich sehen die übrigen Räume im Haus aus. Einziger Luxus im Wohnzimmer: die Nachbildung einer antiken, hölzerne Madonnastatue und vier verschiedene Tageszeitungen, die auf einem Tisch liegen. Die Kommunität, wie die Jesuiten-WG richtig heißt, ist für Mertes wie eine Familie. O-Ton 18 0'35 Mertes 2/147 Wir treffen uns jeden Dienstagabend für Gottesdienst, gemeinsames Abendessen und anschließend gemeinsamen Abend, wo die Themen der WG besprochen werden. Von kaputten Fahrradschlössern bis hin zu, das hat mich gestern unheimlich geärgert, dass du gestern das und das gesagt hast und ich bin so unheimlich sauer auf dich und dann wird dann eine gruppendynamische Session gemacht, um die Beziehungen zu klären, was die Älteren immer ganz furchtbar finden, weil die das nicht gewohnt sind und protestierend raus laufen und sagen, ihr narzisstischen jungen Mitbrüder, draußen brennt die Welt und ihr redet über eure Wehwehchen. Wo es auch mal ordentlich knallt, das ist eine ganz wichtige Sache. Autorin 26 An einem Dienstag im Januar erzählt Mertes in der WG-Runde, dass er vorhat, ehemaligen Schülern zu schreiben, dass er sich für den sexuellen Missbrauch und die Gewalttaten der Vergangenheit entschuldigen und nichts mehr verheimlichen will. Bruder Fabian, der neben Pater Mertes gerade sein Abendessen verputzt, muss lachen, als er daran denkt, wie naiv sie der Idee damals zugestimmt haben. O-Ton 19 0'36 Bruder Fabian 159/160 Ich glaub, wir waren da etwas blauäugig. Lachen. Am Tag, bevor es losgegangen ist, haben wir noch überlegt, wie gestalten wir unsere Ferien? Aber mit Ferien war dann erst mal wenig los, wir haben aufgeteilt. Ein paar Mitbrüder haben die Zeitungen gelesen, das Internet durchgeforstet, was gibt es da neues? Einige haben Bürohilfsarbeiten gemacht, Briefe und e-mails vorsortiert, so dass Pater Mertes überhaupt in der Lage war arbeiten zu können. Autorin 27 Atmo 19 darunter (Innenatmo) Wochenlang machen die Padres nichts anderes mehr, versuchen den Ansturm von Medien, Politikern und Betroffenen irgendwie zu bewältigen. Sie stehen geschlossen hinter Mertes und seinem Brief. Doch die Hauptlast trägt er, absolviert Interviews, Fernsehauftritte, zahllose Gespräche mit Schülern, Politikern und mit Opfern. Vor allem diese Unterhaltungen, die manchmal Stunden dauern, zehren an seinen Kräften. Mertes schluckt Johanniskraut gegen die aufkommenden Depressionen. O-Ton 20 0'15 Mertes, 2/140, 141 Manchmal bin ich sehr, sehr müde. Also ich halt auch nicht alles durch, ich muss reduzieren, ich musste auch die Konflikte reduzieren, in denen ich mich bewege und so muss ich auch lernen auf mich zu achten. Du kannst nicht selbst die ganze Welt erlösen, das geht nicht. Atmo 20 hoch Treppe, Zimmer 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 28 Nach dem gemeinsamen Abendessen zieht sich Klaus Mertes in seinen privaten Bereich zurück. Anderthalb Zimmer mit Bad, die an eine Studentenbude erinnern: zerwühltes Bett, Chaos vor und im Kleiderschrank, ein einziges Bild hängt an der Wand. Im Regal liegen neben den liebsten Büchern, Bratsche und Geige. Das Armutsgelübde verpflichtet Mertes zu dieser Kargheit, auch sein Gehalt als Rektor gibt er ab. Seine Bedürfnisse sind andere: O-Ton 21 0'22 Mertes 2/135 Liebe und Freundschaften von Menschen, die mich wirklich lieben und mir wirklich nah sind und mir wirklich gute Freunde sind. Und dann kann man eben auch aushalten dieses beprügelt werden als Nestbeschmutzer oder kein richtiger Katholik oder illoyal oder was als Vorwürfen dann so hinten rum kommt. Das lässt sich dann aushalten, weil es eben ein Fundament gibt, was einen trägt. Autorin 29 eventuell wieder Atmo 19 Dieses Fundament hat Pater Klaus Mertes nicht eine Sekunde daran zweifeln lassen, dass seine Entscheidung richtig ist. O-Ton 22 0'13 Mertes 3/27 Immer wenn ich an den Punkt gekommen bin - den Ausgangspunkt - war mir klar, all das ist kein Grund nachträglich die Entscheidung zu revidieren. Ich habe nie daran gezweifelt, dass das ein richtiger Schritt war. Sprecher Der Initiator - Pater Klaus Mertes und die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche Eine Reportage von Svenja Pelzel CD hoch 17 Hippies, Elf-Achtel Info für Online: Brief des Rektors Pater Klaus Mertes an die ehemaligen Schüler des Canisius Kollegs http://www.tagesspiegel.de/berlin/dokumentiert-der-brief-des-canisius- rektors/1672092.html Alternative, falls doch zu lang: Autorin 13 Statt Gesang studiert Mertes nach dem Abitur in Bonn Slawistik und Philologie. Doch die ganze Zeit beschäftigt ihn ein Gedanke aus seiner Kindheit. 4 1