DEUTSCHLANDFUNK ? Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay und Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay und Diskurs Verstädterung 1. Suburbs in Europa von Klaus Englert Sprecherin: Kerstin Fischer Sprecher: Axel Gottschick Zitator: Hendrik Stickan Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 02. April 2010, 09:30 ? 10:00 Uhr Sprecher : Der vor einem Jahr publizierte UN-Habitat-Bericht "State of the World's Cities? untersucht die dramatische Verstädterung in den Ballungszentren unserer Erde. Auf der Umschlagsseite des Berichts ist ein Foto zu sehen, das seine Schockwirkung nicht verfehlt: Eine nächtliche Straßenszene im Stadtzentrum Dhakas, der Hauptstadt Bangladeschs, zeigt direkt neben den Schildern westlicher Firmen das geballte Elend: Hunderte Menschen haben sich auf dem gepflasterten Gehsteig zum Schlafen gelegt, ungeschützt auf nacktem Stein. Die sieben Millionen-Metropole Dhaka ist natürlich ein Extrembeispiel unter den wuchernden asiatischen Städten. Denn der UN-Habitat-Report belegt auch, dass allein in den nächsten 15 Jahren zusätzlich neun Millionen in die berstende Stadt strömen werden. Sprecherin: Der Bericht schlug Alarm, weil seit zwei Jahren bekannt ist, dass die Mehrzahl der Weltbevölkerung in Städten lebt. Und zwar mit steigender Tendenz. Denn Globalisierung kommt einher mit globaler Verstädterung. In vierzig Jahren wird in den Agenturmeldungen der Tagespresse zu lesen sein: 70 Prozent der Weltbevölkerung sind städtisch. Es bleibt die Frage, wie dann die Armutsquartiere ? die Ghettos, Slums und favelas - aussehen werden. Wachsen sie weiter und vergrößern das Elend? Momentan sieht es so aus, als ob ausgerechnet die ärmsten Städte am stärksten anwachsen würden. Setzten wir uns in H. G. Wells' "Zeitmaschine" und schauen uns im Jahre 2050 die afrikanischen Städte südlich der Sahara an, dann würden wir feststellen, dass dort 1,2 Milliarden Menschen leben. Das läuft auf eine Verdreifachung des heutigen demographischen Niveaus hinaus. Die nigerianische Hauptstadt Lagos ist nicht nur die bevölkerungsreichste Stadt Afrikas, sie ist zudem unangefochtener Spitzenreiter unter den weltweit ärmsten Megacities. Um Lagos herum bildet sich ein metastatisches Geflecht von dreihundert Städten, das in wenigen Jahren eine Gesamtbevölkerung von sechzig Millionen Bewohnern aufweisen wird. Das ist vergleichbar mit der Bevölkerung der gesamten US-amerikanischen Ostküste. Der Hamburger Stadtökonom Dieter Läpple bemerkte dazu kürzlich: Zitator: "Die Stadtbevölkerung Chinas wuchs in den letzten dreißig Jahren von 170 Millionen auf 530 Millionen Einwohner an. Die Ursache ist in der Land-Stadt-Migration zu suchen ( ... ). Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Städte der nördlichen Hemisphäre seit etwa fünfzig Jahren nicht durch Land-, sondern durch Stadtflucht aus. Aufgrund des starken Anstiegs der Produktivkräfte, des Lebensstandards und des Massenverkehrs wurde die zentripetale Dynamik der industriellen Urbanisierung zunehmend durch die zentrifugalen Tendenzen der Suburbanisierung abgelöst" Sprecher: Die Europäer fliehen also aus den Innenstädten in die wild wuchernden Vororte. Ein schlagendes Beispiel für diese demografische Tendenz ist London. Zu Beginn des Industriezeitalters, als die Landbevölkerung ihren Lebensunterhalt in den großen Städten suchte, war London neben Peking die weltweit größte Metropole. 1900, auf dem Höhepunkt der Industrialisierung, erreichte sie die Rekordzahl von 10 Millionen Einwohnern. Doch seither ist die demografische Entwicklung rückläufig, und heute wird London nicht mehr unter den zwanzig größten Megacities aufgeführt. Ricky Burdett, der Städtebau an der London School of Economics lehrt und den Londoner Bürgermeister berät, geht auf die Gründe für diese Umkehr ein. Er kritisiert die schier endlosen Reihenhaus-Siedlungen in den Vororten. Luftaufnahmen enthüllen diese gesichtslosen Siedlungen mit ihren gleichförmigen roten Klinkerhäuschen und dem obligatorischen Garten, der sich wie ein grünes Teppichmuster zwischen den Häuserreihen erstreckt. Burdett kommentiert Londons Wachstum, das sich deutlich von dem in Lagos, Caracas oder Mumbai unterscheidet: Zitator: "London durchlebt im 21. Jahrhundert eine nie zuvor da gewesene Wachstumsphase. Der Großraum London erstreckt sich über 1.500 km², mit einer Einwohnerzahl von 7,5 Millionen. Die britische Hauptstadt, wo durchschnittlich nur 4.800 Menschen pro Quadratkilometer leben, weist also eine wesentlich geringere Dichte auf als die Weltstädte New York, Paris oder Tokio. London hat einen doppelt so großen ökologische Fußabdruck wie New York" Sprecherin: London steht paradigmatisch für den "low-density urbanism". Diesen Urbanismus, der sich durch einen besonders hohen Flächenverbrauch auszeichnet, trifft man auch vielerorts in Deutschland an. Das Ruhrgebiet, Deutschlands größtes Ballungszentrum, wird von vielen aufgrund der vermeintlich extremen Bevölkerungsdichte beargwöhnt. Dabei vergisst man, dass auf 4.500 Quadratkilometern nur 5,2 Millionen Menschen leben. Das Ruhrgebiet mag zwar als Metropolen-Region bezeichnet werden, aber vergleichbare Regionen in den Entwicklungsländern weisen eine wesentlich höhere Dichte auf. So leben etwa in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Pearl River Delta, die unwesentlich größer als das Ruhrgebiet ist, 60 Millionen Menschen. Low-density urbanism am Beispiel Ruhrgebiet und London bedeutet: Unaufhaltsame Dezentralisierung unserer Städte. Sinn- und Wunschbild der ausufernden urbanen Gebilde ist das freistehende Einfamilienhaus mit Garten. Deyan Sudjic, Direktor des Londoner Design Museums, warnt vor einer in Europa sich ausbreitenden Urbanisierung, die starke ökologische Risiken birgt: Zitator: "Low-density urbanism steht für den destruktiven Egoismus der gated communities und die fatalen Resultate einer schwach verdichteten und autogerechten Suburbia. Diese suburbs, die nichts zur Energie und Vitalität des städtischen Lebens beitragen, werden sich, lange bevor das Erdöl zur Neige geht, als Auslaufmodell erweisen" Sprecher: Zu den grundlegenden Problemen des Ruhrgebiets gehört die wahnwitzige Zersiedlung der vorhandenen Flächen. Das lässt sich in fast allen westeuropäischen Ländern beobachten. Als Ende Februar 2010 die Ortschaft L'Aiguillon-sur-Mer an der französischen Atlantikküste durch den verheerenden Sturm Xynthia überschwemmt wurde, waren massive Schäden und insgesamt 29 Todesopfer zu beklagen. Diese Auswirkungen wären durchaus vermeidbar gewesen. Denn die Siedlung war an einer sehr instabilen Küstenregion errichtet worden, und es verbot sich, ausgerechnet hier Ferienwohnungen für den Massentourismus zu bauen. Der Geologe Jean Renard kritisierte nach dem Unglück, die Kommune hätte dem Druck der Investoren und Käufer nachgegeben. Man wollte nicht wahrhaben, dass der Küstenstreifen ein Überschwemmungsgebiet ist, das allenfalls für die Landwirtschaft taugt. Von derartigen Überschwemmungen war die holländische Randstad verschont geblieben. Allerdings ist hier der "urban sprawl" eine tägliche Bedrohung. Der Rotterdamer Landschaftsarchitekt Adriaan Geuze beschreibt, welche Auswirkungen er in Holland und Frankreich hat: Zitator: "Die vor zwanzig Jahren begonnene Suburbanisierung hat die gesamten Niederlande nachhaltig ruiniert. ( ... )Vor zehn Jahren konnte man noch auf der Autobahn von Rotterdam nach Den Haag zehn Minuten durch grüne Landschaften fahren. Heute sind es nur noch zwei Minuten. ( ... ) In weiteren zehn Jahren wird von diesem Restgrün nichts mehr zu sehen sein. (...) Das grundsätzliche Problem in Holland besteht darin, dass die einzelnen Gemeinden zu viel Macht besitzen und ihr eigenes Programm durchsetzen wollen. Dieses deregulative System bedingt, dass jede Stadt eine eigene Autobahnausfahrt besitzt, die zwei Kilometer von der nächsten entfernt ist. Es kommt hinzu, dass jeder Bürgermeister sein Heil damit verbindet, direkt an der Ausfahrt ein Business-Center und ein McDonald's zu bauen, nicht zu vergessen ein Stadttheater und alle zehn Jahre, mitten im Grünen, eine Wohnsiedlung ( ... )". "Dabei gleichen sich die städtischen Peripherien zusehends den amerikanischen suburbs an. In Frankreich hat sich gezeigt, dass durch die Einführung der 'péage', der Mautgebühr, alle Städte eine einzige Ausfahrt haben ? die sogenannte 'Péage'-Ausfahrt. Sämtliche Supermärkte und kommerzielle Einrichtungen haben sich an diesen Ausfahrten angesiedelt. Die schöne Stadt ist zwar geblieben, aber die Programmbereiche und kommerziellen Aktivitäten haben sich zu den 'Péage'-Ausfahrten verlagert. Diese Entwicklung hat sich mittlerweile in ganz Europa ausgebreitet." Sprecherin: Adriaan Geuze hat die Anfänge der holländischen Suburbanisierungs-Tragödie miterlebt. Es haben sich urbane Metastasen herausgebildet, in denen weder Zentren noch Peripherien erkennbar sind. Geuze erzählt, dass die niederländische Regierung Anfang der achtziger Jahre beschloss, eine Million Häuser binnen zehn Jahren zu bauen. Und so kam es, dass in den letzten Jahrzehnten die Ausuferung der Städte schwindelerregende Ausmaße annahm. Der Rotterdamer Architekt kritisiert, dass diese suburbanen Landschaften monofunktional und eintönig sind. Nach seiner Meinung brachte die Stadtplanung Krebsgeschwüre von Reihenhäusern ohne funktionierende Infrastrukturen hervor. Begünstigt wird diese verhängnisvolle Entwicklung durch konkurrierende Kommunen, die unentwegt auf der Suche nach neuen Gewerbe- und Wohnflächenausweisungen sind. Der Berliner Architekturkritiker Robert Kaltenbrunner sieht darin eine verfehlte staatliche Förderung, die sowohl in Holland als auch in Deutschland anzutreffen ist. Das ernüchternde Ergebnis ist die urbane tristesse diesseits und jenseits der Grenze: Zitator: "Großsiedlungen mit Infrastrukturdefiziten, Bürostädte mit Urbanitätsdefiziten, Verbraucher- und Fachmarktagglomerationen mit Gestaltungsdefiziten. Amorphe Siedlungsteppiche mit eingesprenkelten Wohnsiedlungen in autogerechtem Ambiente, schier unüberwindbare Verkehrsschneisen, Vergnügungsparks und Shoppingcenter". Sprecher: Solange das Eigenheim weiterhin als Ausdruck persönlicher Freiheit gilt, schreitet die Dezentralisierung unserer Städte, mithin der landschaftszerstörende Flächenfraß voran. Was den Suburbanisierungsprozess betrifft, bleibt Adriaan Geuze skeptisch: Zitator: "Man meint das Ei des Kolumbus in der angeblichen Vitalität suburbaner Siedlungen gefunden zu haben. Doch diese 'suburbias' haben weder eine städtische Dichte noch eine ländliche Atmosphäre, sie sind ein unsinniges Zwischending. Gute Infrastrukturen und funktionierende öffentliche Nahverkehrssysteme sind hier Fehlanzeige. Ich bin nicht gegen diese monofunktionellen Wohnsiedlungen, aber stellen Sie sich vor, dass 90 Prozent auf diese Weise vollkommen verbaut worden sind. 'Suburbia' darf nicht die offizielle urbanistische Strategie in Holland sein." Sprecher: Adriaan Geuze hat aus den Fehlern der holländischen Planer gelernt. In den letzten Jahren entwarf er für Amsterdams Östliches Hafengebiet einen Masterplan, der attraktives Wohnen am Wasser vorsieht. Dabei setzte Geuze auf eine durchmischte, dicht gebaute Siedlung. Ähnlich geht die niederländische Regierung heute auch in der Randstad vor. Sie hat sich zwar von den traditionellen Suburbia-Konzepten verabschiedet, aber trotzdem sollen hier in den nächsten zwanzig Jahren 500.000 neue Wohnungen errichtet werden. Allerdings möchte man das Städtewachstum vornehmlich auf Almere und Leidsche Rijn konzentrieren und damit unkontrolliertes Wachstum verhindern. Der Rotterdamer Architekt Willem Jan Neutelings begrüßt zwar die stadtplanerischen Eingriffe, die suburbanen Geschwüre sieht er dadurch aber mitnichten beseitigt: Zitator: "Die Randstad, der westliche Teil Hollands, erscheint wie ein riesiger Flickenteppich, der von der Nordsee bis zur Maas reicht. Jeder Flicken weist eine bestimmte körperliche Struktur auf. In diesem heterogenen Feld ist der Gegensatz Stadt/Land abgeschafft. Hier gibt es lediglich eine Serie von Mustern, in denen es keine nachweisbare städtische Struktur mehr gibt". Sprecherin: Das Suburbia-Modell passt bestens zur neoliberalen Ideologie, die das Eigenheim im Grünen und die Privilegien der Mittelstandsgesellschaft feiert. Seit Langem wurde das Modell immer wieder von Stadtsoziologen und Architekten als ökologisch verhängnisvoll kritisiert. Zu den Kritikern gehört auch der holländische Architekt Rem Koolhaas, der vor einigen Jahren an der amerikanischen Harvard University ein Seminar über Stadtentwicklung leitete. Er ist davon überzeugt, dass die einmal begonnene Zerfaserung der Städte unkontrolliert weiterläuft und schon lange nicht mehr aufzuhalten ist. Was Fachleute gemeinhin als "urban sprawl" bezeichnen, beschreibt Koolhaas als "eigenschaftslose Stadt". Sie ist zum Markenzeichen unserer Gegenwart geworden. Auch in Europa: Zitator: "Die siebziger Jahre waren die letzte Epoche, in der die Architekten noch ein unbegrenztes Vertrauen in ihre Fähigkeit hatten, präzise Hypothesen über zukünftige Städte aufzustellen. Heute wissen wir, dass sie dieses Vermögen niemals besaßen. Die Doxiadis-Dokumente zeigen drei verschiedene urbane Bedingungen. Zunächst die Zonen totaler Verstädterung, markiert durch schwarze Züge, die die hoch entwickelten Länder bedecken, eine graue Zone, die eine mittlere Entwicklung anzeigt, schließlich die weißen Flächen, die Leere und nicht-bevölkerte Landstriche bedeuten. Diese Betrachtungsweise geht allerdings an der tatsächlichen urbanen Entwicklung vorbei. Es ist zwecklos, den Gegensatz Stadt und Nicht-Stadt aufrechtzuerhalten, da die Stadt zu einem globalen Phänomen geworden ist. Sie ist sogar dort, wo man sie nicht vermutet. (...) Wir leben und arbeiten heute in einem marktregierten System, das sämtliche Werte umstößt, die ehemals die Architektur- und Stadttheorie bestimmten." Sprecher: Als Rem Koolhaas vor einigen Jahren in einer ehemaligen Lagerhalle in Bordeaux die Ausstellung "Mutations" zeigte, ging es ihm darum, den Einfluss amerikanischer suburbs auf die europäische Stadtentwicklung nachzuweisen. Unter dem Leitmotto "Die globale Stadt im radikalen Wandel" zeigte der katalanische Fotograf Jordi Bernadó die Verfallserscheinungen der kompakten europäischen Stadt, die regelmäßig ausgeblendeten non-lieux, Unorte: Asphaltierte Industriebrachen, gesichtslose Fertigbaukisten, Fast-food-Läden und überdimensionierte Werbeflächen. Eine Luftaufnahme von Alex Mac Lean belegte treffend Koolhaas' These von der globalen Verstädterung: Sie zeigt das Shopping Center Katy Mills bei Houston, eine Stadt in der Stadt. Eine ringförmige, kommerzielle Trutzburg des 21. Jahrhunderts, umgeben von einem riesigen Parkplatz-Gürtel und einer "Périphérique", die den Verkehr von angrenzenden Autobahnen buchstäblich aufsaugt. Katy Mills hat keine metropolitane Signatur, der Kommerz-Komplex frisst sich einfach wie ein riesiger Termitenschwarm in die vorhandene Landschaft hinein. Rem Koolhaas' "eigenschaftslose Stadt" hat in Fachkreisen etliche Diskussionen ausgelöst. Auch der französische Philosoph Jean-François Lyotard warnte vor der grenzenlosen Verstädterung: Zitator: "Wenn die Urbs zur Orbs wird, wenn die Zone zur ganzen Stadt wird, dann hat die Megapolis kein Außen. Und folglich auch kein Innen. (...) Die Megapolis umgürtet die Erdkugel von Singapur bis Los Angeles und Mailand" Sprecherin: Eine unheilvolle Verstädterung erlebt auch Spanien. Die unscheinbaren Anfänge der heutigen Urbanisierungslawine waren bereits Ende der fünfziger Jahre zu beobachten, als man damit begann, ausländische Touristen ans Mittelmeer zu locken. Benidorm war vor dem Massentourismus noch ein kleines Fischerdorf. Innerhalb der letzten 50 Jahre schnellte die Einwohnerzahl des Küstenortes von 6.000 auf über 100.000 Bewohner hinauf. Einschneidend für die dramatische Beschleunigung der Urbanisierungsdynamik war ein 1998 von der Regierung Aznar verabschiedetes Bodengesetz. Dadurch wurde es möglich, zahllose Flächen, die nicht im Gemeindebesitz waren, in wertvolles Bauland umzuwandeln. Das für viele lukrative System nennt sich "recalificación", "Neubewertung" von Bauland. Sprecher: Der Boden wurde zum bevorzugten Spekulationsobjekt, an dem sich eine ganze Phalanx von Personen maßlos bereicherte - Politiker, private Käufer, Immobilienspekulanten und städtische "Urbanisierungsberater". Beispielsweise Juan Antonio Roca, berüchtigt als Drahtzieher des Korruptionsskandals in Marbella und als Hauptnutznießer der irrsinnigen Spekulationsblase im Immobiliensektor. Als "asesor municipal de urbanismo" erteilte er fast täglich Baugenehmigungen für Touristen-Ressorts und Golfplätze. Unter seiner Regentschaft entwickelte sich Marbella zum El Dorado der Immobilienspekulanten. Erst die Madrider Regierung ging entschlossen gegen den Marbella-Clan vor und entließ die gesamte Stadtverwaltung. Seither liegt die Verwaltung des Baulandes in den Händen der andalusischen Regionalregierung. Sprecherin: Im Sommer 2008 platzte schließlich die Immobilienblase, von der die Spanier fünfzehn Jahre lang gut lebten, wenngleich die Kreditklemme zusehends enger wurde. Die Praxis der "Neubewertung" von Bauland wurde zwar hart kritisiert, doch viele Lokalpolitiker wollten ungern auf die zusätzliche kommunale Einnahmequelle verzichten, und noch weniger auf die prall gefüllten Schwarzgeldkonten. Jedenfalls lassen sich durch die Immobilienpreise, die sich seit 1995 verdreifachten, noch heute satte Gewinne erwirtschaften. Und so ist es nicht verwunderlich, dass in Spanien zeitweise mehr neue Wohneinheiten errichtet wurden als in Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Vor drei Jahren befasste sich schließlich das Europäische Parlament mit dem Korruptionsdickicht in der spanischen Immobilienwirtschaft. Zwei EU-Parlamentarier, der Pole Marcin Libicki und der Brite Michael Cashman, schrieben in ihrem Bericht: Zitator: "Die Bewohner der spanischen Mittelmeerküste leiden darunter, dass die Kommunen und das kulturelle Erbe ausgeplündert, dass Flora und Fauna zerstört werden. Sie leiden darunter, dass die Küstenregion zunehmend zugebaut wird, und dass sich eine kleine Minderheit auf Kosten der Mehrheit maßlos bereichert. Zu dieser Minderheit gehören auch Dorfbürgermeister, die sich vom Sirenengesang der Immobilienhaie anlocken lassen." Sprecher: Derweil beklagte der Schriftsteller Manuel Rivas den "kannibalischen Kapitalismus", der dazu führt, dass Küstenstriche und die wenig geschützten Naturenklaven zerstört werden. Humangeograf Joan Romero spricht sogar vom "Kasino-Kapitalismus". Verständlich, denn noch vor zwei Jahren ging beispielsweise auf die Region Murcia ein regelrechter Geldregen nieder, nachdem freie Flächen plötzlich als Bauland für 800.000 neue Wohnungen freigegeben worden waren. Ähnliches geschah auf der Landzunge vor der Salzwasserlagune Mar Menor ? einem einzigartigen Naturschutzgebiet bei Murcia. Auf der Nehrung wurde die Errichtung von 200.000 Häusern genehmigt. Besonders die Costa del Sol, wo innerhalb weniger Jahre 540.000 Wohnungen errichtet worden sind, wandelte sich für Immobilienspekulanten, Urbanisierungsberater und zahllose Grundbesitzer, die anfangs nur wertloses Brachland besaßen, in eine wahre Goldgrube. Und immer ging es um das Zauberwort "Neubewertung". Mittlerweile werden an der Costa del Sol mehr Wohnungen als in ganz Katalonien gebaut. Der spanische Kolumnist Ignacio Camacho schrieb dazu in der konservativen Zeitung "ABC": Zitator: "An der Costa del Sol und überall an den spanischen Küsten geht die Sonne jeden Morgen über der Landschaft eines gigantischen Betruges auf. Nur die Korruption erklärt das entstellte und ausgeplünderte Profil des spanischen Strandes, jenes zerstörten Territoriums, in dem die Wohnblöcke und Reihenhäuser vom Meer bis zu den Bergen reichen. Es handelt sich um eine grenzenlose Korruption, die sich bis in sämtliche politische Institutionen verzweigt hat. Kein Haus- oder Grundstücksbesitzer, der nicht von einer wundersamen Neubewertung träumt, die er auf einen Schlag in den florierenden Clubs der Spekulanten erlangen würde, jener Leute, die in den Küstenorten geradezu als Vorbild gehandelt werden". Sprecherin: Die Korruptionswelle machte selbst bei Bürgermeistern nicht Halt. Zu den Stadtoberen, die dem Sirenengesang erlagen, gehört beispielsweise Manilvas Bürgermeister Pedro Tirado, der zu Hause 770.000 Euro in Plastiktüten hütete. Ebenso Esteponas Bürgermeister Antonio Barrientos, den die Polizei im Juni 2008 in Handschellen abführte, weil ihm ? wie unter seinesgleichen üblich ? Rechtsbeugung, Bestechlichkeit, Geldwäsche und Missbrauch öffentlicher Gelder vorgeworfen wurde. Barrientos plante, in Zusammenarbeit mit dem saudischen Königshaus, die Siedlung "El Paraíso" zu errichten ? eine Kleinstadt mit mehreren tausend Häusern. Erst vor wenigen Monaten ereilte ebenso Bartomeu Muñoz, sozialistischer Bürgermeister von Santa Coloma bei Barcelona, das gleiche Schicksal. Auch er wurde in Handschellen abgeführt. Gemeinsam mit seinem Mitarbeiterstab schöpfte Muñoz stattliche Millionengewinne aus illegalen Immobiliengeschäften ab. Das neue Bodengesetz der Regierung Zapatero hat zwar das ungezügelte, teils illegale Immobilienwachstum etwas gebremst. Aber die Baukräne verschandeln noch immer die historischen Stadtviertel, Vororte, Küsten und "parques naturales", die vermeintlichen Naturschutzgebiete. Der Madrider Architekturhistoriker Luis Fernandez-Galiano kritisierte mit harschen Worten den Immobilienboom. Er habe nichts weiter als "urbanismo basura" hervorgebracht ? umweltzerstörenden "Schrott-Urbanismus". Der lässt sich auch im Inland feststellen, beispielsweise in Madrid: Zitator: "Wenn ich von Schrott-Urbanismus spreche, dann beziehe ich mich auf zwei Erscheinungen. Zunächst auf das metastasenartige Anwachsen der Städte, bedingt durch die Immobilienblase. Dieses irrsinnige Wachstum in Spanien wurde, neben anderen Faktoren, durch die niedrigen Hypotheken begünstigt. Zum anderen besitzen die PAUs, die von der Madrider Stadtverwaltung genehmigten neuen Siedlungen, eine äußerst schlechte Qualität. Im Norden und Nordosten von Madrid fressen sie sich einfach in die bestehende Landschaft hinein, obwohl es eine schützenswerte Gegend ist." Sprecher: In Spanien gab es besondere Bedingungen für den nachhaltigen Immobilienboom. Nachdem Spanien in die Europäische Union eingetreten war und die EU-Subventionen reichlich flossen, florierte der Baumarkt. Es kommt hinzu, dass viele Mittelmeerstädtchen enorm angewachsen sind, weil Deutsche und Engländer ihr Vermögen in Ferienhäuser investierten. Und nicht zu vergessen: Wer zur Miete wohnt, gilt in Spanien als uncool. Seitdem Franco die Eigenheimwünsche der spanischen Familie mit großzügigen Krediten unterstützte, möchte jeder in den eigenen vier Wänden leben. Die Folge: In den Boomjahren entstand der Trend zur Zweit- und Drittwohnung. Sprecherin: Währenddessen hatte die türkische Megacity Istanbul jahrzehntelang ganz andere demografische Probleme. Ein Millionenheer ostanatolischer Bauern verließ die Heimat, um sein Glück in der größten türkischen Metropole, der verheißungsvollen boomtown am Bosporus, zu suchen. Aufgrund dieser innertürkischen Migration ist Istanbul zu einer Stadt mit 13 Millionen Einwohnern angewachsen. Während die vermögenden Schichten aus Westeuropa den Städten entfliehen, gab es im halb europäischen, halb asiatischen Istanbul die gegenläufige Tendenz, die vor allem asiatische und lateinamerikanische Länder auszeichnet: Die Arbeitssuchenden fliehen vom Land in die Stadt. Dabei entstanden vielerorts in Istanbul informelle Siedlungen, sogenannte Gecekondus. Ihren Namen erhielten sie, weil sie in Windeseile, "über Nacht" errichtet wurden. Es gab zwar niemals genaue demografische Angaben über ihre Bewohner, aber türkische Stadtforscher schätzen, dass 70 Prozent der Bewohner Istanbuls Gecekondu-Bewohner sind. Dieses unbestrittene Phänomen blendet selbstverständlich jeder Tourist aus, der die diesjährige Europäische Kulturhauptstadt besucht und der Touristenroute von der Blauen Moschee über Hagia Sophia bis zum Topkap?-Palast folgt. Gecekondus kommen in keiner sight-seeing-tour vor. Der Wirtschaftshistoriker Orhan Esen beschreibt, wie die informellen Siedlungen, die man nach alter osmanischer Tradition ohne Baurecht errichtet hatte, zu einem Teil Istanbuls wurden: Zitator: "Die Gecekondus halfen den Migranten vierzig Jahre lang, die Zeiten hoher Inflation durchzustehen. Das Land gehört dem Staat, aber es wurde den Migranten, nachdem die einfachen Behausungen errichtet worden waren, einfach überlassen. Als man die Siedlungen erbaute, erreichte man fast alles durch Selbsthilfe und Mikrokredite. Die Gecekondu-Phase konnte bestens die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch den Abbau der Industrialisierung entstanden, abmildern. Sprecher: Doch den Gecekondus hat die Totenglocke geschlagen. Recep Tayyip Erdo?an und die Regierungspartei AKP wollen das vermeintlich chaotische Gewimmel der Siedlungen eindämmen. Das Zauberwort der AKP heißt "Stadtumbau". Und der läuft darauf hinaus, die am stärksten bevölkerten Zonen, die sich zumeist am Rande Istanbuls befinden, für neue, zahlungskräftige Schichten zu erschließen. Konkret bedeutet das: Arme Familien werden in die äußersten Randbezirke abgetrennt, Autobahnschneisen durch die Gecekondus geschlagen, Küstenstreifen und Parks privatisiert, Luxushotels und Shopping Malls errichtet. Zudem wird kulturelles Erbe internationalen Investoren anvertraut. Und schließlich: Die Armenviertel wandeln sich plötzlich in gated communities. Sprecherin: Es gehört zu den Paradoxien von Istanbuls Stadtentwicklung, dass ausgerechnet Erdo?an, Sohn armer anatolischer Immigranten vom Schwarzen Meer, für den renditeorientierten Stadtumbau verantwortlich ist. Erdo?an gehört nämlich zu den sieben Millionen Menschen, die in den informellen Siedlungen der Metropole aufwuchsen. Der Regierungschef möchte der unkontrollierten Urbanisierung ein Ende setzen und betreibt gleichzeitig eine marktorientierte Immobilienpolitik, die auf expansives Wachstum drängt. Katalysator dieser Verstädterungsdynamik ist die staatliche Wohnbaubehörde, die unmittelbar dem Ministerpräsidenten untersteht. Sprecher: Radikaler Stadtumbau heißt für die regierende AKP: Viele informelle Siedlungen wurden bereits abgerissen, um Platz für die im Bau befindlichen Verkehrsachsen zu schaffen. Bodenspekulanten ließen sich die einmalige Chance natürlich nicht nehmen. Und so kam es, dass innerhalb weniger Jahre entlang dieser Schneisen 47 Einkaufszentren und 650 Luxuswohnsiedlungen entstanden. Istanbul wurde zur Stadt der Finanzzentren, teurer Apartmenthäuser und gated communities. Mehr noch: Die in den Vereinigten Staaten entstandenen gated communities ? ummauerte, von privaten Sicherheitskräften bewachte upper class-Siedlungen ? halten jetzt auch im innerstädtischen Tarlaba?? Einzug. Dabei ist eine sozial-räumliche Segregation unausweichlich, die das einst homogene Stadtbild zusehends auseinander reißen wird. Angesichts dieser Entwicklung fragen sich viele Stadtplaner, wie Istanbul wieder zu einer sozial integrativen und nachhaltigen Stadtentwicklung zurückkehren kann. 15 15