COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 11. Oktober 2010, 19.30 Uhr Wer will schon noch KLUG sein? Ein Streifzug durch die "Bildungsrepublik" Von Thomas Klug Regie: einen Klangteppich aus der Namensaufzählung bereiten, verbunden mit einer markanten Musik; alles kurz freistehend, dann im Hintergrund Sprecher und Sprecherin (im Wechsel): Albert Einstein. Immanuel Kant, Gotthold Ephraim Lessing. Johann Wolfgang von Goethe. Karl Marx. Johann Sebastian Bach. Rosa Luxemburg. Wilhelm Ostwald. Martin Luther, Jakob Grimm. Johannes Gutenberg. Max Planck. Otto Hahn. Mathilde Wagner. Friedrich Schiller. Ludwig van Beethoven. Johannes Stark. Bertolt Brecht. Wilhelm von Humboldt. Karoline von Günderrode. Leopold von Ranke. Thomas Mann. Wilhelm Grimm. Heinrich Mann. Ruth Berghaus. Joseph Beuys. Hope Bridges Adams-Lehmann. Friedrich Nietzsche. Adam Ries. Otto Dix. Johannes Gutenberg. Manfred von Ardenne. Friederike Caroline Neuber. Theodor Fontane. Carl-Maria von Weber. Christiane Erxleben. Wernher von Braun. Stefan Heym. Wilhelm Conrad Röntgen. Gerhard Hauptmann. Hanns Eisler. Max von Laue. Robert Koch. Emil von Behring. Günter Grass. Franz Schubert. Carl Bosch. Anna Seghers. Willi Steul. Otto Stern. Ferdinand von Freiligrath. Hans Fischer. Erich Kästner. Caspar David Friedrich. Victor Klemperer. Alexander von Humboldt. Christa Wolf. Gustav Hertz. Loriot. Ernst Otto Fischer. Martin Walser. Klaus von Klitzing. Christiane Nüsslein-Volhard. Autor: Zwei junge Männer fanden sich zusammen, um vorübergehend als Gesangsduo Karriere zu machen. Sie gaben sich einen Namen, von dem sie glaubten, dass er ihren Erfolg garantieren könnte. Die damaligen Comedians von RTL, Wigald Boning und Olli Dietrich nannten sich schlicht "Die Doofen". Selbstredend hatten sie Erfolg. Sie wurden geehrt mit Preisen wie "Goldene Stimmgabel", "Echo" und "Bambi". Das geschah 1995 im Land der Dichter und Denker. "Die Doofen" hatten frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannt: Sprecher v. Dienst: Wer will schon noch KLUG sein? Ein Streifzug durch die "Bildungsrepublik" Ein Feature von Sprecher: Thomas Klug CD: Die Doofen: "Wir sind die Doofen" Sprecher: Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit. Es hat sich die Buchdruckerkunst selbst erfunden, und nun arbeitet es unermüdlich an der großen Maschine. Sprecherin: Wolfgang Menzel Autor: Ein paar Brocken Latein. Ein Verweis auf die Alten Meister. Und das Zitat eines großen Schriftstellers, dessen Buch man gerade liest - natürlich in der Originalsprache. Neuerdings funktioniert auch der Verweis auf US-Fernsehserien, die man auf DVD gesehen hat - natürlich nicht die synchronisierte Fassung, weil: Die ist ja sooo schlecht. Wenn dazu noch ein paar Happen aus dem Feuilleton kommen - mit gedämpfter oder leicht empörter Stimme vorgetragen - dann ist die gebildete Wirkung nahezu perfekt. Jetzt geht es nur noch darum, sich ja keine Blöße zu geben. Und natürlich muss der Gesichtsausdruck stimmen - seriös dreinblicken, koste es, was es wolle. Denn Bildung hat ja nichts mit Spaß zu tun. Bildung ist eine wahnsinnig ernste Angelegenheit. Allein wie man über Bildung sprechen sollte: Das Wort Bildung darf nur in Sätzen vorkommen, die mit folgenden Phrasen angereichert werden: Sprecherin: ungeheuer wichtig Sprecher: zukunftsweisend und unerlässlich Sprecherin: eine der wenigen Ressourcen Autor: Zur aktuellen Zustandsbeschreibung sollte man noch mindestens ein Sprecherin: furchtbar Autor: einbauen. Und natürlich darf auf das eine Wort nicht verzichtet werden: Sprecher: Misere. Autor: So ist man fein raus. Man hat sich pflichtschuldig zur Bildung bekannt, über die Zeiten geklagt und muss nun nicht befürchten, dass die eigene Bildung auf den Prüfstand kommt. Denn das könnte ja schief gehen. Besonders dann, wenn man nicht zwischen A, B, C oder D wählen kann. CD: Musik aus "Wer wird Millionär" oder ähnliche Autor: In welches Jahrhundert gehört gleich noch mal dieser Mozart? Sprecherin: (leise im Hintergrund, wie eine Souffleuse) 18.Jahrhundert. Autor: Und bei der Kurvendiskussion geht es worum? Sprecher: (leise im Hintergrund, wie eine Souffleuse) Untersuchung des Graphen einer Funktion auf dessen Eigenschaften. Autor: Die Relativitätstheorie sagt etwas aus über... Sprecherin: (leise im Hintergrund, wie eine Souffleuse) Struktur von Raum und Zeit sowie das Wesen der Gravitation. Autor: Und dieses Buch von Heinrich Mann, verfilmt mit Marlene Dietrich... Sprecher: (leise im Hintergrund, wie eine Souffleuse) Der Untertan. Autor: Aber Fakten, Fakten, Fakten machen noch keine Bildung. Der Passauer Kabarettist Sigi Zimmerschied sagt: Man kann auch an Thomas Bernhard verblöden. Take 1 Das kann man, wie man an allem verblöden kann. Es gibt ja, nicht nur in Passau die Thomas Bernhard-Vereine, die nicht anders strukturiert sind wie Kegelvereine, der, der 200 Inszenierungen gesehen hat und der Schriftführer hat 150 gesehen und der Präsident hat alles gelesen und man redet wie Bernhard, man fährt wie an einen Wallfahrtsort zu seinem Wohnhaus, da setzt für mich dann schon Verblödung ein. Autor: Bildung, so könnte man sagen, ist die Beschwörung derselben. Die Beschwörung als Alibi, ein Stück so tun, als ob. Gegoogeltes und schnell wieder vergessenes Wissen. Immerhin, diese Bildung wird noch als etwas wahrgenommen, womit es sich anzugeben lohnt. Diese "Hallo-ich-weiß-was-Bildung" kommt meist völlig humorfrei daher. Nicht, weil sie sonst mit Unterhaltung verwechselt werden könnte, sondern weil Humor auch etwas mit echter Bildung zu tun hat. Aber was ist echte Bildung? Bildung ist es jedenfalls noch nicht, wenn man drei Bücher mehr gelesen hat, als der Durchschnitt: CD: leichte Gitarre o.ä. im Hintergrund Take 2 Bildung wäre, wenn man zumindest eins begriffen hätte von den Dreien. Und es soweit begriffen hat und dass man Lust dran kriegt, das, was man begriffen zu haben scheint zu verifizieren, auszuprobieren wieder in Kontrast zu setzen zu andern Bildungsinhalten, zu anderen Elementen. Bildung hat für mich was unglaublich Dynamisches. Sprecherin: Was Bildung ist: Take 3 Bildung ist die Fähigkeit, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Sie kulturell zurechtzufinden. Bildung ist etwas, was rein über den normalen Broterwerb hinausgeht. Bildung ist durchaus zweckfrei, muss auch zweckfreie Teile haben. Take 4 Man könnte direkt kalauernd antworten, das ist so ähnlich wie "Was ist Kultur?". Und da gibt es ja den wunderschönen Satz: Kultur ist, was der Metzger hätte, wäre er Chirurg geworden. So ähnlich könnte man das auch mit der Bildung sagen. Im Allgemeinen ist Bildung etwas, was einem bildet, was einen ausbildet und was man vielleicht ein ganzes Leben lang auch ausnutzen kann. Take 5 Wenn einer Bildung hat, hat er sich über das Tier erhoben. Soviel ich von Tieren weiß. Wir wissen ja nicht, ob Tiere vielleicht auch so was wie eine Bildung haben. Aber wir sagen, die Menschen sind gebildet, die haben sich mit mehr beschäftigt als nur mit der täglichen Aufnahme von Nahrung, sondern die beschäftigen sich auch mit etwas, was wir dann gemeinhin Kultur nennen. Take 6 Bildung ist im glücklichsten Fall die Vermengung oder die Kombination von einem hohen Wissensstand mit einem engagierten Handeln, mit der Umsetzungslust, mit einer Dialektik, die da entsteht, die immer weitergeht, das wäre für mich Bildung. Take 7 Bildung ist eben nicht nur das, was uns zu erfolgreichen, möglicherweise allzu gehorsamen Arbeitnehmern macht, sondern Bildung hängt auch mit Persönlichkeitsentwicklung, Persönlichkeitsgestaltung zusammen und ist eben damit auch ein Punkt, der relativ schwer zu greifen ist, denn Bildung kann man natürlich ganz utilitaristisch verstehen: Ich brauche meine Bildung im Sinne einer Ausbildung, um einen bestimmten Beruf zu ergreifen, alles andere, was darüber hinausgeht, mag dann uninteressant sein. Take 8 Vor allen Dingen ist Bildung auch eine Fähigkeit, sich sozial sich richtig zu verhalten. Sozialkompetenz gehört absolut zur Bildung. Sprecherin: Die Bildung in den Medien Effekt: Musik Sprecher: Bildung kommt von Bildschirm. Wenn es von Buch käme, hieße es Buchung. Sprecherin: Dieter Hildebrandt. CD: treibende Musik Autor: Wie ist es um Bildung in diesem Land bestellt, wenn die Medien ein Spiegel der Gesellschaft sind - und das Fernsehen gar das Leitmedium sein soll? Halten die Medien wirklich einen Spiegel vor? Take 9 Ich bin ja ein Mann des Fernsehens, dann ist da schon etwas dran. Sprecherin: Volker Panzer, Leiter und Moderator des ZDF-Nachtstudios. Take 10 Denn alles, was wir von der Welt wissen, hat ja Niklas Luhmann gesagt, wissen wir aus den Massenmedien. Nun hat er als Massenmedien nicht nur das Fernsehen gesehen, sondern die Bücher, die Zeitungen usw. Also aus dem, was aufgeschrieben ist, was vorhanden ist. Und da muss ich sagen, ist das Fernsehen nach wie vor, bei all diesen anderen Medien, die auch mit Strom betrieben werden, doch das Medium, das tatsächlich so etwas wie ein Leitmedium ist. Wer was von der Welt wissen will, muss entweder hinfahren oder er guckt sich das im Fernsehen an. Aber ich würde das nicht so sehr unter dem Begriff Bildung einordnen. Ich würde nicht sagen, Fernsehen bildet. Sondern Fernsehen verstärkt eher etwas, was man schon hat oder kann oder es vernebelt auch etwas, was man nicht kann. CD: Zapping Autor: Eine vorübergehende Bekanntheit erlangen hierzulande so genannte Superstars, die vom Fernsehsender RTL wie am Fließband ernannt werden. Bekannt sind weiterhin Wetteransager und Prominentenfriseure, die adlige Klatschspaltenmafia und magersüchtige Frauen, die für Unterwäsche werben. Man kennt jodelnde Dirndlträger und Herz-Schmerz-Sänger, die zur besten Sendezeit Millionen zum Schunkeln und Mitklatschen auffordern, was mehr Körperverletzung ist als Unterhaltung. Der Zwang zur guten Laune schließt eines mit Sicherheit aus: Wissenszuwachs für das Publikum. Das Wort von der Volksverdummung ist unvermeidlich. Ist das Fernsehen also wirklich ein Spiegel der Gesellschaft? Das Volk liest ja auch im 21. Jahrhundert noch Groschenhefte, in denen die Dienstmagd am Ende den Grafen ehelicht, in denen Ärzte nur gut sind und Pfarrer nichts anderes tun, als Zuversicht zu spenden. Bücher von Dieter Bohlen und Stefan Effenberg erreichen Rekordauflagen. Zerstreuung statt Konzentration, Ablenkung statt Bildung. Bohlen und Klum als Vorbilder in Sachen Erfolg - denn nur der scheint ja zu zählen. Sprecherin: Sigi Zimmerschied, Kabarettist: Take 11 Das geht ja in alle Bereiche, also die Münchner Boulevardzeitung die BZ hat eine Umfrage über die beliebtesten Münchner in allen Sparten macht und da gibt's bei den Schauspielerinnen 57% für Frau Neubauer und 0,7 Prozent für die Sunnyi Melles, die wieder einen grandiosen Abend hingelegt hat und sicherlich die 100fach bessere Schauspielerin ist. An den Vorbildern gemessen ist die Gesellschaft schon arm dran. Take 12 Sind das die großen Vorbilder? Man muss in so eine Medientheorie einsteigen. Da gab es ja Marshall McLuhan, der kanadische Medienwissenschaftler, der sagte, das globale Dorf. Das haben wir nun. Und da sind die Medien im Prinzip der Marktplatz. Was man vielleicht im Mittelalter hat, wenn die Gaukler kamen, dann saßen die auf ihrem Balkon oder im Fenster oder auf ihrem Misthaufen und haben dann den Gauklern zugeguckt. Und heute sind das die elektrischen Medien, d.h., wir schauen diesen Personen, wie Dieter Bohlen oder was man auch nimmt, schauen wir zu, was sie machen. Das sind aber jetzt nicht unbedingt die Vorbilder. Man kann sagen, die Casting-Shows, jeder will also diese Warholschen 5 Minuten Ruhm haben. Sprecherin: Bildung - ein Rückblick Effekt: Musik Sprecher: Wie erstaunlich ist der Wahnwitz jener Missionare, die, um "Wilden" Zivilisation und Bildung zu bringen, sie ihren Kirchenglauben lehren. Sprecherin: Leo Tolstoi CD treibende Musik Autor: Es gibt sie immer, die, die glauben zu wissen und die, die wissen, was man wissen muss und an der nachwachsenden Generation verzweifeln. Das Jammern über die Unfähigkeit der Jugend gibt es schon seit Aristoteles. Aber vielleicht gab es früher einiges, was inzwischen verloren gegangen ist. Es gab Menschen, die sich das Geld vom Mund absparten, um den Kindern eine höhere Schule zu ermöglichen. Den Kindern soll es einmal besser gehen - so lautete das gängige Schlagwort. Take 13 Wir haben seit hundert Jahren etwa Schulpflicht, na, sagen wir mal seit 150 Jahren. So. Länger nicht. Vorher hatten eben die Kinder aus bildungsfernen Familien oder Schichten überhaupt keinen Zugang zu der Schule. Jetzt haben wir eine Schule, die dann immer wieder kritisiert wird, aber es geht kaum ein Kind nicht zur Schule. Und das ist ein großer Vorteil. Und das ist, wenn man jetzt mal einen Durchschnitt nehmen würde über die Jahrzehnte, sind es immer mehr, die eine Möglichkeit haben, Bildung zu erreichen. Es gab 1964 den berühmten Georg Picht, der die große Bildungskatastrophe vorausgesagt hat. Der wichtigste Satz: Ein katholisches Mädchen aus der bayerischen Provinz hat niemals die Chance, eine Universität zu besuchen. Das hat sich alles geändert. Heute ist die bayerische Provinz eher progressiv, dass die Frauen dort eher auf die Universität gehen und die großen Städte mit dem hohen Ausländeranteil haben vielleicht eher das große Problem. Aber wenn man jetzt Bildung als Schulbildung nimmt, würde ich sagen, leben wir in derTat in der besten aller Welten. Take 14 Im 19. Jahrhundert gab es die Arbeiterbildungsvereine, gab's in der Tat die Haltung, über Bildung sozialen Aufstieg zu erreichen. Das scheint heutzutage nicht mehr ganz so zu sein. Sprecherin: Stefan Kipf, Professor für Didaktik der alten Sprachen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Bundesvorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes. Take 15 Das ist ja offensichtlich, dass es in bestimmten Schichten das Verhalten gibt, man wird staatlich alimentiert und sieht gar nicht mehr die Notwendigkeit, durch Bildung einen sozialen Aufstieg zu vollziehen, weil man die Dinge, die für einen wichtig zu sein scheinen, dann doch hat. Meine Beobachtung ist es, weil ich relativ viel im Bereich über Schüler nichtdeutscher Herkunft arbeite, da scheint es in der Tat anders zu sein, dass also gerade im Bereich der Schüler mit Migrationshintergrund, dass dort diese Haltung eher noch verbreitet zu sein scheint, dass also dort eben Bildung als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg sehr stark noch im Fokus ist. Autor: Auf den ersten Blick scheint sich ein Wertewandel vollzogen zu haben, weg vom klassischen Bildungskanon. Take 16 Es gab früher so etwas wie einen Kanon, es gab in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen einen Konsens, was gehört zur Bildung, was ist primär wichtig, was ist eher sekundär oder zu vernachlässigen. Diesen Konsens haben wir in der Tat nicht mehr. Da hat sich ja seit dem Ende der 60er Jahre, seit den 70er Jahren durch die großen Bildungsreformen ist ja dieser Konsens, ich will nicht sagen, verloren gegangen, aber ist sehr stark differenziert worden. Wenn wir von der Literatur herkommen oder von der Literaturdidaktik, dann ist es in der Tat... heutzutage fällt es doch auf, so einen strikten Kanon, wie man ihn noch in den 50er Jahren kannte, den gibt es in der Tat nicht mehr. Das war natürlich dort auch sehr, sehr strikt und durchaus vielleicht einseitig und zu wenig ausdifferenziert. Aber das ist ein gesellschaftliches Problem. Andererseits scheint es bei den Leuten ja ein Bedürfnis zu geben nach solchen Orientierungen. Wie wäre es sonst möglich, dass solche Bücher wie von Dietrich Schwanitz "Bildung - alles, was man wissen muss" oder dass der Kanon von Reich-Ranicki, dass diese Bücher sich wie geschnitten Brot verkaufen. Und das ist ja nur die Spitze vom Eisberg. Es gibt ja unglaublich viel Literatur in diesem Bereich, dass die Leute doch nach einer Orientierung verlangen. Und diese Orientierung ist eben schwieriger als früher, weil die Welt komplizierter, vielfältiger geworden ist, weil sie sich auch schneller verändert, als es früher der Fall war. Insofern ist es schwierig, da einen passenden Konsens zu finden, der für alle gelten könnte. Sprecherin: Bildung heute Effekt: Musik Sprecher: Wir leben im Zeitalter der Überarbeiteten und Unterbildeten: dem Zeitalter, in dem die Menschen so tüchtig sind, dass sie völlig verdummen. Sprecherin: Oscar Wilde CD: treibende Musik Autor: Mit Bildung kann man nicht früh genug beginnen, sagt Heinz Dürr. Take 17 Der Mensch wird geformt, auch gebildet, ja, vielleicht eine ganz gute Kombination, vom ersten bis zum fünften Lebensjahr. Dort entscheidet sich extrem viel. Deshalb sind wir der Meinung, dass die frühkindliche Bildung, also der Kindergarten, ganz entscheidend ist. Wenn dort Fehler passieren in dieser Phase eins bis fünf, dann können sie das auch durch die besten Universitäten nicht mehr aufholen. Sprecherin: Heinz Dürr, Unternehmer und Großaktionär, ehemaliger Bahnvorstand. Gemeinsam mit seiner Frau gründete er eine Stiftung, die sich auch um frühkindliche Bildung kümmert: Take 18 In Deutschland brauchen Sie für alles eine Genehmigung oder einen Führerschein. Nur die schwierigste Aufgabe, Kinder zu erziehen, das kann jeder machen, wie er will. Und um hier einen Beitrag zu leisten, haben wir uns bei der Stiftung entschieden, das System "early excellent", das aus England kommt, zu unterstützen...Da sind zwei Dinge in diesem System wichtig: Da wird gesagt, alle Kinder sind "excellent", also "excellent" ist nicht ein Elitebegriff, sondern alle Kinder sind exzellent, aber unterschiedlich. Und die Eltern spielen eine ganz entscheidende Rolle, insbesondere die Eltern, die sich nicht mit dem Thema so beschäftigt haben. Autor: Bildung in diesen Sinne bedeutet nicht, Kinder von klein auf mit Wissen vollzustopfen. Kinder müssen nicht um jeden Preis dreisprachig aufwachsen. Auch die Globalisierung liefert dafür keinen Grund. Take 19 Dass mit dem dreisprachig und wenn die Eltern extrem viel von den Kindern verlangen - die werden dann meistens neurotisch. Die können das dann gar nicht mehr auseinander halten. Da ist dann nur noch die Leistung da und Leistungsfähigkeit ist nicht eine Frage der Bildung. Autor: Frühkindliche Bildung - Heinz Dürr hält sie für außerordentlich wichtig. Take 20 ...weil ich ja in meinem Leben auch viele Menschen kennen gelernt habe, die bildungsfern aufgewachsen sind. Nicht die Klasse, mit der ich zu tun hatte, aber die unter mir war, die für das Unternehmen gearbeitet haben, für das ich zuständig war. Und da hat sich natürlich vieles geändert. Zu meiner Zeit war es so, da hat man früher die Kinder in die Schule gesteckt, egal, wo welches Bildungsniveau war. Ich habe zu meinen Kindern gesagt, ihr geht in die Realschule, wo wir wohnen. Das sind Arbeiterkinder, da ist alles, usw. Heute, da fahren die Mütter durch die halbe Stadt, um irgendeine Schule zu finden, wo sie glauben, dass ein bissel ein besseres Niveau da ist. Das heißt, dass heute die Chancen in der Schule nicht mehr so sind wie früher, wo eigentlich alle die Chance hatten, nach oben zu kommen. Autor: Wenn sich in einer Gesellschaft alles ändert - und das ist in offenen Gesellschaften unumgänglich - dann ändert sich eben auch der Bildungsbegriff. Take 21 Bildung ist natürlich in Deutschland gerade im 19. Jahrhundert stärker geisteswissenschaftlich determiniert, also sprachlich auch determiniert. Das hat sich natürlich deutlich mittlerweile geändert, dass die Naturwissenschaften, völlig zu Recht natürlich auch, die Rolle spielen, die ihnen auch zukommt. Sprecherin: Stefan Kipf hat die Professur für Didaktik der Alten Sprache an der Humboldt-Universität zu Berlin. Take 22 Naturwissenschaftliche Bildung wird natürlich immer gleich mit der Anwendung in Verbindung gebracht. Wenn ich also sage, ich lerne Physik nicht, weil ich eine grundlegende Orientierung über mein Leben und über die Welt usw. erhalten soll, vielleicht sogar philosophische Fragestellungen dort geklärt werden können, im Sinne von Werner Heisenberg und anderen, die das ja so gemacht haben. Sondern, wenn man diese Fächer natürlich immer nur unter dem Aspekt sieht, wir müssen Chemie an der Schule machen, wir müssen Biologie an der Schule machen, wir müssen Physik an der Schule mehr machen, weil die Fächer auch zum Teil Stunden verloren haben, muss man ja auch sagen in den letzten Jahren, damit ich entsprechend Ingenieure ausbilden kann, dann sind wir aus dem klassischen Bildungsthema schon wieder raus, dann ist es schon wieder utilitaristisch ausgerichtet und das ist natürlich für so ein Fach, kann durchaus problematisch sein, denn wenn sich der Wind mal dreht und wir dann plötzlich meinen, soviel Physiker brauchen wir vielleicht doch nicht, dann schlägt das gleich wieder zurück und dann wird nicht danach gefragt, welche wichtige allgemeinbildende Funktion hat denn der Physikunterricht. Und der hat ja nun eine ganz entscheidende, wichtige Funktion. Sprecherin: Bildung, die nie aufhört. Effekt: Musik Sprecher: So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen. Sprecherin: Heinrich Heine Autor: Bildung ist nie abgeschlossen. Das mag schon daran liegen, dass sich die Bildungsinhalte beständig ändern - und damit auch der Begriff der Bildung. Diejenigen, die sich in Bibliotheken auskennen, sind nicht unbedingt gebildeter als diejenigen, für die der Computer ein ganz normales Arbeitsmittel ist und nicht mehr ein unbeherrschbarer Wunderkasten. So schlecht kann es also bei den nachkommenden Generationen nicht um die Bildung bestellt sein. Take 23 Wenn Sie fragen, wie sieht es in der Gesellschaft aus, da bin ich ja als wirklich missionarischer Optimist nicht so, dass ich da so große Sorge hätte. Ich denke, dass wir - in Europa wohlgemerkt, hier in Westeuropa wohlgemerkt - immer noch auf einen sehr hohen Bildungsniveau sind, selbst wenn man in den Zeitungen überall liest, das die Bildung zurück geht, dass gerade aus dem Umfeld des Migranten herum immer weniger Bildung da ist. Das ist schon richtig, das liest man auch, aber die Massenmedien müssen das ja auch eben das Negative oder den Fall an sich. Aber wenn man das insgesamt sieht, haben wir jetzt am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Gesellschaft, in der wesentlich mehr Leute gebildet sind, als es noch vor hundert Jahren waren. Das hängt auch damit zusammen, dass wir in einer wesentlich für Bildung notwendigeren Gesellschaft leben. Effekt: Musik Sprecher: Sie haben etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten. Sprecherin: Friedrich Nietzsche Autor: Bildung umfasst mehr als Algebra und großes Latinum. Und Bildung ist mehr, als das so genannte "anwendungsbereite Wissen": Take 24 Das sehen wir auch in der Wirtschaft. Die Rahmenbedingungen ändern sich sehr, sehr schnell. Was heute noch aktuell ist, ist morgen schon wieder veraltet. Da hat die Schule gar keine Chance, hinterherzukommen. Wenn ich jetzt an das Gymnasium denke - am Ende des Gymnasiums erhält man mit dem Abitur eine allgemeine Hochschulreife. Da geht es, wenn wir mal von Humboldt ausgehen, der ja immer noch für uns eigentlich eine Richtgröße sein sollte, auch was die Gestaltung der Schulen angeht. Und wenn Sie sich zum Beispiel die bayerischen Lehrpläne ansehen, die berufen sich immer noch auf Humboldt, das ist ziemlich einzigartig mittlerweile. Da geht es um die allgemeine Menschenbildung und die allgemeine Menschenbildung ist eine vielfältige, ist eine historische, ist eine mathematische, ist eine naturwissenschaftlich-künstlerische. Da muss man das auch entsprechend ernst nehmen und es geht nicht darum zu sagen, im Unterricht eine hoch spezialisierte Vorbereitung auf einen bestimmten Beruf zu bieten, sondern es geht wirklich um eine fundierte Allgemeinbildung, um Kulturtechniken, die natürlich durchaus schwer vermittelt werden. Autor: Aber Bildung jenseits vordergründiger Nützlichkeit - das scheint nichts zu sein, womit man im small talk punkten kann. Da heißt es schnell: Sprecher: weltfremd Sprecherin: nicht vermittelbar. Autor: Und vor allem: Sprecher: nicht finanzierbar. Autor: Doch jenseits der schnellen Nützlichkeit hört Bildung nicht auf. Bildung heißt ja auch: Man soll sich überraschen lassen. Und da sollte es doch eine gesellschaftliche Aufgabe sein, die Bildung jenseits der Sonntagsreden ernst zu nehmen. Sprecherin: Prof. Stefan Kipf von der Humboldt-Universität zu Berlin: Take 25 Ein wichtiger Punkt wäre, dass wir den Institutionen insgesamt, die Bildung tragen, mehr Aufmerksamkeit schenken. Konkret, dass also der Lehrerberuf stärker positiv in den Fokus rückt, dass der Lehrerberuf stärker gefördert wird, dass wir wirklich wieder die besten eines Jahrgangs bekommen, die Lehrer werden wollen, dass wir die auch besser ausbilden können, als wir es bisher machen. Dass wir eben auch wirklich mal so ehrlich sind und sagen, wir können Schule und Universität nicht führen wie ein Wirtschaftsunternehmen. Da sind auch noch andere Kriterien wichtig. Und wir müssen dann auch so ehrlich sein und sagen: Es darf dann auch was kosten. Es geht nicht darum, mit der Gießkanne herumzugehen und einfach da den Wohltäter zu spielen, sondern sich darüber klar zu werden, wenn man in der Bildung was erreichen will, muss man auch ein bisschen Geld in die Hand nehmen. Das ist nicht für Null ouvert zu haben. Sprecherin: Volker Panzer, Leiter und Moderator des ZDF-Nachtstudios: Take 26 Wir haben nur über Kopfbildung gesprochen. Es gehört bestimmt zur Bildung auch hinzu, etwas mit den Händen machen zu können, so eine Art Zugang zur Welt mit den Händen, ob das nun Kunst ist oder Kunsthandwerk oder ob man bestimmte Techniken noch kann. Der Richard Sennet hat da ein sehr interessantes Buch über das Handwerk geschrieben. Diese Weitergabe über die Weitergabe an bestimmten Bildungsgütern, die man mit Händen macht und mit dem Körper überhaupt, sage ich mal, das geht immer mehr verloren. Wir werden immer mehr kopfiger. Musik: kurz frei, dann unterlegen Autor: Vielleicht ist alles ja ganz einfach: Bildung könnte die Kunst sein, mit dem Leben und der weiten Welt zurechtzukommen. Aber - ist das wirklich einfach? Vielleicht ist es Bildung, wenn man mit einem weiten Blick durchs Leben geht, neugierig und interessiert. Und immer dann protestiert, wenn die üblichen Verhinderungssätze fallen wie "Das machen wir hier nicht", "Das ist hier nicht üblich". "Das geht nicht". Sich nicht abfinden - vielleicht ist es das, was letztlich Bildung ausmacht, immer dann, wenn es anstrengend wird. Aber: Sp. v. Dienst: Wer will schon noch klug sein? Effekt: Musik Sprecher: Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger. Sprecherin: Kurt Tucholsky Autor: "Die Doofen", das RTL-Gesangsduo, haben es doch noch ganz gut angestellt. Sie haben sich getrennt. Olli Dittrich arbeitet inzwischen für den WDR. Und Wigald Boning für das ZDF. Musik, darauf: Sprecher und Sprecherin (im Wechsel): Johann Wolfgang von Goethe. Karl Marx. Johann Sebastian Bach. Wilhelm Ostwald. Martin Luther. Jakob Grimm. Johannes Gutenberg. Max Planck. Otto Hahn. Mathilde Wagner. Friedrich Schiller. Ludwig van Beethoven. Johannes Stark. Bertolt Brecht. Wilhelm von Humboldt. Karoline von Günderrode. Leopold von Ranke. Thomas Mann. Wilhelm Grimm. Heinrich Mann. Ruth Berghaus. Joseph Beuys. Hope Bridges Adams- Lehmann. Friedrich Nietzsche. Adam Ries. Otto Dix. Johannes Gutenberg. Manfred von Ardenne. Friederike Caroline Neuber. Theodor Fontane. Carl-Maria von Weber. Christiane Erxleben. Wernher von Braun. Stefan Heym. Wilhelm Conrad Röntgen. Gerhard Hauptmann. Hanns Eisler. Max von Laue. Robert Koch. Emil von Behring. Günter Grass. Franz Schubert. Carl Bosch. Anna Seghers. Willi Steul. Otto Stern. Ferdinand von Freiligrath. Hans Fischer. Erich Kästner. Caspar David Friedrich. Victor Klemperer. Alexander von Humboldt. Christa Wolf. Gustav Hertz. Loriot. Ernst Otto Fischer. Martin Walser. Klaus von Klitzing. Christiane Nüsslein-Volhard. Sprecher vom Dienst: Ein Streifzug durch die "Bildungsrepublik" Von Thomas Klug Es sprachen: Ulrike Pollay, Tim Lang und der Autor Ton: Bernd Friebel Regie: Rita Höhne Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1