KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Nur ein Flügelschlag - Rebellierende Bettwanzen, Raupen...in der Literatur Autor : Carola Wiemers Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 01.04.2014 Besetzung : Erzählerin : Sprecher : Sprecherin/Programmsprechr'in o.Ton/ Musik Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Nur ein Flügelschlag Rebellierende Bettwanzen, schöne Raupen und andere Lästlinge in der Literatur. Autorin: Carola Wiemers Redakteurin: Sigried Wesener Sendedatum: 1. April 2014 Atmo: Rauschen Sommerwind, Fliegengeschwirr etc. Inger Christensen CD "Sommerfugledalen": Track 25: 0:06-0:21 "De stiger op, planetens sommerfugle som farvestøv fra jordens varme krop, zinnober, okker, guld og fosforgule, en sværm af kemisk grundstof løftet op." Hanna Schygulla CD "Sommerfugledalen": Track 10, 0:09-0:29 "Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten, wie Farbenstaub vom warmen Körper der Erde, Zinnober, Ocker, Gold und Phosphorgelb, ein Schwarm von chemischem Grundstoff hochgehoben." Atmo: Rauschen Sommerwind, Fliegengeschwirr etc. Inger Christensen CD "Sommerfugledalen": Track 25: 0:22-0:37 "Er dette vingeflimmer kun en stine af lyspartikler i et endbildt syn? Er det min barndoms drømte sommertime Splintret som i tidsforskudte lyn?" Hanna Schygulla CD "Sommerfugledalen": Track 10, 0:30-0:48 "Dieses Flügelflimmern - ist es nur eine Schar von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung? Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit, zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?" Musik: Robert Schumann Papillon Op. 2 Erzählerin Seit der Antike fasziniert der Schmetterling als sichtbarstes Zeichen der Verwandlung. In der wundersamen biologischen Metamorphose, bei der aus einer erdverhafteten Raupe ein schwereloser Zweiflügler entsteht, stecken Dynamik und Kraft. Seine fragile, ätherische Gestalt assoziiert aber auch Verletzlichkeit und Flüchtigkeit des Seins. Aus dem altgriechischen Wort für Schmetterling - "psyche" - entwickelte sich das Sinnbild für die menschliche Seele. Bereits 400 Jahre v. Chr. träumt der chinesische Philosoph und Dichter Dschuang Dsi einen bizarren "Schmetterlingstraum", in dem sich die Polarität von Wahrhaftigkeit und Wahn spiegelt. Sprecher "Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschaung Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge." Erzählerin Der Schmetterling symbolisiert ein Stück Weltenergie und liefert damit für die Künste und die Musik, vor allem aber für die Literatur reichlich Stoff, um den Phantasien freien Lauf zu lassen. Johann Wolfgang von Goethe fasst das Naturphänomen im Gedicht "Selige Sehnsucht" in ein poetisches Gleichnis. Mit philosophischer Eleganz werden die Glut verzehrender Liebesleidenschaft und die Versenkung des Künstlers in den schöpferischen Augenblick miteinander verknüpft. Das Bild des Schmetterlings, der in der Flamme verbrennt, ist in der persischen Liebeslyrik beheimatet. Sprecher Goethe "Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend'ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung, Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde." Mendelsohn Bartholdy: "Auf Flügeln des Gesangs" (Peter Schreyer) "Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen, trag ich dich fort, Fort nach den Fluren des Ganges, Dort weiß ich den schönsten Ort; Dort liegt ein rotblühender Garten Im stillen Mondenschein, Die Lotosblumen erwarten Ihr trautes Schwesterlein." Ab "Die Lotosblumen" leiser werden Erzählerin Im 19. Jahrhundert scheint dieser Zauber plötzlich verflogen. Das sinnliche Symbol fällt einer Banalisierung zum Opfer und wird zum romantisierenden Dekor. Jagdstimmung kommt auf. Schmetterlinge, aber auch Insekten und Käfer werden eingefangen und - auf Nadeln gespießt - zu Schauobjekten. Nicht nur Entomologen - Insektenkundler - und Lepidopterologen - Schmetterlingskundler - , auch die gemeinen Bürger staffieren sich in ihrer Freizeit mit einem zylindrischen Kupfergefäß aus, das, an einem Lederriemen geschultert, dem Sammeln von Insekten und Pflanzen, vor allem aber Schmetterlingen dient. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné erwähnt es 1751 erstmals in seiner "Philosophia botanica". Zur Grundausstattung botanischer Exkursionen gehören demnach Sprecher "Mikroskop, Botanikernadel, Botanikermesser, Schreibblei. DILLENIUSSCHE Dose [...] Hierzu die Anmerkung DILLENIUSSCHE Dose: ein halbzylindrischer, kupferner Behälter von neun Zoll Länge, mit gut schließendem Deckel, mit weiter Öffnung für die Hand und leicht konkaver, sich dem Oberschenkel anpassender Seitenwand; zur Aufbewahrung und Frischerhaltung der gesammelten, mit Wasser besprengten Pflanzen bis zum Abend." Erzählerin Linné beschreibt eine klassische Botanisierbüchse, auch Botanisiertrommel genannt - eine Erfindung, die auf den deutschen Botaniker Johann Jacob Dillen zurückgeht. Wer in solch einer Büchse landet, geht als museales Schauobjekt den Weg der systematisierenden Vernunft. Schmetterlinge, Fliegen und Käfer werden zu Chiffren, deren einstige Magie im gläsernen Schaukasten wie eingefroren wirkt. Die Botanisierbüchse wird dabei zum klassischen Requisit. Während der Maler Carl Spitzweg den Schmetterlingsfänger als kauzigen Sonderling zeigt, der zur Biedermeier-Karikatur verkommt, vertieft sich in Wilhelm Raabes "Chronik der Sperlingsgasse" von 1854 der Lehrermeister Roder mit "leuchtenden Augen in die Pflanzenschätze seiner Botanisierbüchse". In Arthur Schnitzlers "Jugend in Wien" ist es Onkel Peter, der "mit Botanisierbüchse und Schmetterlingsfänger" unterwegs ist, und einen "absonderlichen alten Onkel mit Botanisierbüchse und rotem Regenschirm" gibt es sogar in Hugo Balls Roman "Flammetti oder vom Dandysmus der Armen" von 1916. Musik: Georges Brassens "La Chasse aux Papillons" Erzählerin Auffällig ist, dass zumeist Schriftsteller und deren männliche Protagonisten auf der Pirsch nach Insekten, Faltern und Käfern sind. In den Texten von Autorinnen, wo der Schmetterling oft zur Metapher der eigenen Schreibexistenz wird, dominieren Gefühle von Hilflosigkeit und Mitleid, schimmert das Jenseits durch seine zarten Flügel. Er ist kein Objekt der Begierde, das man besitzen muß. Virginia Woolf sieht im gestundeten Tanz des Falters "die wahre Natur des Lebens". Sprecherin "Es war, als hätte jemand eine winzige Perle puren Lebens genommen, sie so leicht wie möglich mit Flaum und Federn umkleidet und sie zum Tanzen gebracht." Erzählerin Dabei war es eine Frau, Maria Sibylla Merian, die als erste Naturwissenschaftlerin erkannte, dass Pflanzen und Insekten verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen, und dass letztere seit ca. 120 Millionen Jahren in weitaus erfolgreicheren Gemeinschaftsformationen existieren als Menschen. Indem Merian 1680 in "Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung" die Metamorphose der Schmetterlinge akribisch beschreibt und in farbigen Bildern veranschaulicht, legt sie die Grundlagen für die moderne Insektenkunde. Inzwischen gelten Insekten, vor allem Falter als zu schützende Bioindikatoren, die - anders als Wirbeltiere und Vögel -, sensibel und schnell auf kleinste Klimaveränderungen reagieren. Nach einem jüngsten Bericht der World Wide Fund For Nature (WWF) hat der Einsatz von Pestiziden in Amerika das Aufkommen des prächtigen Monarchfalters innerhalb eines Jahres halbiert. Sprecher "Früher sei die Zahl der federleichten Falter so gewaltig gewesen, dass sich Äste von Kiefern, Tannen und Zypressen unter ihrem Gewicht bogen." Erzählerin Bereits 1972 provozierte der Meteorologe Edward N. Lorenz die Fachwelt mit der These: ob der "Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen" kann. Sie ist zur Kardinalfrage geworden, um den Zusammenhang zwischen ökologischem Gleichgewicht und menschheitlicher Zukunft zu veranschaulichen. Für die Schriftsteller nistet in der gefährdeten Metamorphose des Schmetterlings ein Potential, das - wie bereits in Conrad Ferdinand Meyers Gedicht "Das Seelchen" von 1882 - in immer neuen Variationen thematisiert wird. Sprecher "Ich lag im Gras auf einer Alp, In sel'ge Bläuen starrt' ich auf - Mir war, als ob auf meiner Brust Mich etwas sacht betastete. Ich blickte schräg. Ein Falter saß Auf meinem grauen Winterrock. Mein Seelchen war's, das flugbereit, Die Schwingen öffnend, zitterte. Wie sind die Schwingen ihm gefärbt? Sie leuchten blank, betupft mit Blut." Erzählerin Der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky vergleicht den Flug des Schmetterlings, der leichter ist "als Staub" und durch den die Luft eine "Gestalt" erhält, mit dem Vorgang des Schreibens. Sprecher "So macht's die Feder auch, über die Seiten linierter Blätter gleitend, ahnt überhaupt nicht, was der Zeile schwant, in der sich Weisheit mit Wahn vermischt, geleitet vom Ruck der Hand, in deren Fingern stumm die Rede pocht." Musik: Georges Brassens "La Chasse aux Papillons" Erzählerin Der 1899 in St. Peterburg geborene Schriftsteller Vladimir Nabokov erzählt in seiner Autobiographie "Sprich, Erinnerung, sprich" wie er Sibylla Merians wunderschöne Tafeln surinamesischer Insekten als Achtjähriger auf dem Dachboden entdeckt und von diesem Zeitpunkt an der Leidenschaft des Sammlers verfallen gewesen ist. Sprecher "Ich habe Schmetterlinge in verschiedenen Landstrichen und Verkleidungen gejagt: als hübscher Junge in Knickerbockern und einer Matrosenmütze; als schlaksiger heimvertriebener Kosmopolit in Flanellhosen und Baskenmütze; als dicker hutloser alter Mann in kurzen Hosen. [...] An Gefühlen und Begierden, an Ehrgeiz und Erfüllung habe ich in der Tat nur wenig kennengelernt, was reicher und stärker gewesen war als die Erregung entomologischer Erkundungszüge [...] Ihre Befriedigung duldete keinen Kompromiß und keine Ausnahme." Erzählerin Kein Exilland - weder deutsch, französisch, noch amerikanisch - konnte Nabokov die Lust am Sammeln und Systematisieren nehmen. Indem er mehrfach die Länder und damit die Perspektive wechselt, wird in den Klassifikationsmethoden der Entomologie für ihn auch ein Stück Evolution sichtbar, das den fatalen Zusammenhang zwischen der eigenen Sammlertätigkeit und dem Zeitgeschehen, zwischen Natur und Kultur offenbart. Besonders in den Geheimnissen der Mimikry verschränkt sich für Nabokov die Tätigkeit des Entomologen mit der des Schriftstellers. Sprecher Wenn ein Schmetterling wie ein Blatt aussehen muß, so sind nicht nur alle Einzelheiten eines Blattes wunderschön nachgemacht, es sind großzügig auch noch Markierungen hinzugefügt, die Raupenfraß vortäuschen." Erzählerin Zwischen der Mimikry im Tierreich - wo sie Tarnung ist, um zu überleben - und der Mimesis als nachahmende Darstellung der Natur in der Kunst, ergeben sich für Nabokov weitreichende Korrespondenzen. Wenn der Dichter das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit Mögliche darstellt, bildet er ab, was geschehen könnte und nicht, was wirklich geschieht. Die Konjunktion läßt sich als Scharnier an der literarischen Botanisierbüchse denken, das den Austausch zwischen animalischer Täuschung und poetischer Fiktionalisierung reguliert. Sprecher "Ihre Erscheinungen waren von einer künstlerischen Vollkommenheit, wie man sie gewöhnlich nur mit Gebilden von Menschenhand in Zusammenhang bringt. [...] In der Natur entdeckte ich die zweckfreien Wonnen, die ich in der Kunst suchte. Beide waren eine Form der Magie, beide waren ein Spiel intrikater Bezauberung und Täuschung." Musik: Georges Brassens "La Chasse aux Papillons" Erzählerin In seinem Buch "Die Fliegenfalle" untersucht der schwedische Schriftsteller und studierte Biologe Fredrik Sjöberg die Beutesucht des Entomologen an sich selbst. Er spricht von der fragilen Seele des Sammlers und dessen Hang zur Kontemplation sowie von dem Versuch, einer durch Entzauberung bedrohten Welt die Magie zu bewahren. Sjöberg befindet sich dabei in guter Gesellschaft. Auch sein Dichterfreund, der Nobelpreisträger Tomas Tranströmer war einst ein leidenschaftlicher Entomologe, der in seinen autobiographischen Skizzen "Die Erinnerungen sehen mich" gesteht Sprecher "Ständig war ich auf Exkursionen unterwegs. [...] Ich bewegte mich in dem großen Mysterium. Ich lernte, daß der Erdboden lebt, daß es eine unendlich große kriechende und fliegende Welt gibt, die ihr eigenes reiches Leben lebt, ohne sich im geringsten um uns zu kümmern. [...] Insekten sammelte ich [...] ungefähr bis zum Ende meines fünfzehnten Lebensjahres. [...] Dann machten sich andere, konkurrierende Interessen geltend, meist künstlerische. Was für ein wehmütiges Gefühl, daß die Entomologie ihnen weichen mußte! Ich redete mir ein, das sei nur vorübergehend. In fünfzig Jahren etwa würde ich das Sammeln wieder aufnehmen." Erzählerin 2001 schreibt Fredrik Sjöberg eine Abhandlung über Tranströmers berühmte "Insektensammlung von der Insel Runmarö", die in den Jahren 1944 bis 1947 angelegt wurde. Sprecher "Schmetterlinge, Käfer, Hautflügler, Wanzen, Fliegen, Libellen, Heuschrecken - selbst Kakerlaken finden sich in dieser eigenartigen Sammlung. [...] Der wissenschaftliche Wert von derlei Lokalsammlungen besteht vor allem darin, daß sie etwas von den Veränderungen in der Verbreitung und dem Vorkommen verschiedener Art erzählen. Die Natur ist ja dynamisch. Alles verändert sich mit der Zeit, auf Grund menschlicher Eingriffe und natürlicher Ursachen, die nicht selten unauflöslich miteinander verbunden sind." Erzählerin Sjöberg lebt auf der Insel Runmarö im schwedischen Schärengebiet, die vielen Schriftstellern eine Quelle für literarische Imaginationen war und ist. August Strindberg schrieb hier seinen Roman "Am offenen Meer". Als Entomologe ist Sjöberg einem besonderen Naturphänomen verfallen: den Schwebfliegen, die weltweit in ca. 6000 Arten vorkommen. Der älteste Beleg stammt aus der Kreidezeit. Aufgrund der extrem hohen Frequenz ihres Flügelschlags - bis zu 300 Hertz - werden sie auch Steh- oder Schwirrfliegen genannt. Sprecher Sjöberg "Ich könnte zwar eine ganze Reihe sehr guter und richtig vernünftiger Gründe dafür nennen, daß man Fliegen sammeln soll. Wissenschaftliche Gründe, und naturpolitische. Vielleicht werde ich das später sogar noch tun, aber es wäre Heuchelei, woanders als beim schieren Vergnügen zu beginnen. [...] Die beste Antwort auf die Frage, warum ich Schwebfliegen sammele, lautet letztlich wohl, dass ich in der einzigen Sprache, welche die meine gewesen ist, so lange ich denken kann, auch das Kleingedruckte verstehen will." Erzählerin Sjöberg geht es um die Lesbarkeit einer Landschaft, die für ihn mit der Frage verbunden ist Sprecher "ob sich die Natur ähnlich der Literatur verstehen lassen kann, oder ob sie sich auf die gleiche Art erleben läßt wie Kunst oder Musik. [...] Die Fliegen begreife ich folglich als Vokabeln in einem Wortschatz aus lauter Tieren und Pflanzen, mit dem innerhalb des Rahmens für die grammatischen Gesetze der Evolution und der Ökologie Erzählungen aller Art vermittelt werden." Erzählerin Mit dem Kescher unterwegs, versucht er die schwedische Insellandschaft im "Präsens" zu lesen. Hinter der scheinbaren Hobbyjagd verbirgt sich das eigenbrödlerische Studium einer codierten Schrift. Sprecher "Eine Chrysotoxum vernale wiederzuerkennen, wenn man sie sieht, und zu wissen, warum sie gerade jetzt, gerade hier fliegt, erfüllt einen mit einer Befriedigung, die sich leider nicht ganz einfach erklären lässt. [...] Die Frage ist so offen wie ein halbgelesener Roman. [...] Je mehr Vokabeln man beherrscht, desto reicher wird das Erlebnis. Wie beim Lesen eines Buches." Erzählerin Für Sjöberg sind Schwebfliegen Meister der Mimikry. Versucht eine Schwebfliege wie ein Glasflügler auszusehen, dient dieser Akt der Täuschung. Zwischen Täuschung und Bezauberung verläuft eine magische Grenze, die im Schreiben auf phantastische Weise überwunden werden kann. Musik: Georges Brassens "La Chasse aux Papillons" Erzählerin Während der Schmetterling als schönste Variante des Falters die Phantasie des Künstlers immer wieder beflügelt, sind die oft mit Abscheu wahrgenommenen Fliegen, Käfer und Raupen Anlass für Schmähschriften, in denen den störenden Lästlingen der Prozess gemacht wird. Exemplarisch dafür steht Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", in der der Handlungsreisende Gregor Samsa aus unruhigen Träumen erwacht und sich in ein "ungeheueres Ungeziefer" verwandelt sieht. Hundert Jahre nach Kafkas schauriger Version einer Metamorphose mit letalem Ausgang versucht der schwedische Schriftsteller und promovierte Philosoph Lars Gustafsson die gemeine Stubenfliege im Gedicht "Fichte an der Petroleumlampe" in ironischen Versen zu adeln. Sprecher "die Petroleumlampe wurde angezündet. Sie sah aus wie ein kleiner Leuchtturm [...] Und um diese Lampe flog ein wütendes kleines metallblaues Insekt." Erzählerin Über die Werke Johann Gottlieb Fichtes gebeugt, glaubt er in der Gestalt des Insekts dem Geist des Philosophen zu begegnen. Tier und Mensch fühlen sich gleichermaßen von der Lichtquelle angezogen. Für den einen ist sie der Ursprung des Lebens, für den anderen Beginn der Erkenntnis. In beiden Fällen symbolisiert die Flamme Anfang und Ende des Seins. Sprecher "Der Philosoph Fichte war irgendwie dem dicken braunen Buch auf dem Tisch entschlüpft, in dem er allem Anschein nach wohnte. Kreiste, bis ihn die Flamme verschlang. Aber da war der Abend zu Ende." Musik: Robert Schumann Papillon Op. 2 Inger Christensen CD "Sommerfugledalen": Track 25: 0:22-0:36 "Er dette vingeflimmer kun en stine af lyspartikler i et endbildt syn? Er det min barndoms drømte sommertime Splintret som i tidsforskudte lyn?" Hanna Schygulla CD "Sommerfugledalen": Track 10, 0:30-0:48 "Dieses Flügelflimmern - ist es nur eine Schar von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung? Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit, zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?" Erzählerin Lautlos wie "Farbstaub vom warmen Körper der Erde" steigen die Schmetterlinge im "Schmetterlingstal" der dänischen Dichterin Inger Christensen auf. Eine diffuse Ansammlung von Lichtteilchen holt die Kindheitserinnerungen aus der Dunkelheit des Vergessens zurück. Christensen bezeichnet ihren Sonettenkranz als Requiem. Denn es geht um Abschiede - jeder für sich sorgsam verwahrt wie Schmetterlinge in einem Schaukasten. Der Kohlweißling erinnert an eine Wiese im dänischen Vejle und an die "mittagsheiße Luft" im Brajcinotal, wo die Erinnerungen "zerbröseln". Hanna Schygulla CD "Sommerfugledalen": Track 11, 0:33-1:01 "Hier sitzt der Admiral in seinem Gespinst, während er sich aus einer frühjahrsgrünen gefräßigen Raupe in das verwandelt, was wir Gemüt nennen, so daß er wie die Schmetterlinge anderer Sommer die dichte Purpurfarbe des Lebens aus der unterirdisch bitteren Höhle heraufholen kann." Erzählerin Wie Vladimir Nabokov und Fredrik Sjöberg geht es auch Christensen um die Lesbarkeit einer Landschaft, deren enormes Schriftpotential einer Entzifferung bedarf. So ruft der "Geißkleebläuling" einen Sommertag auf Skagen ins Gedächtnis und Großmutter und Vater Hanna Schygulla CD "Sommerfugledalen": Track 20, 0:28-0:40 "gehen mit mir in das Schmetterlingstal, wo alles nur auf dieser Seite da ist, wo selbst die Toten die Nachtigall hören können," Inger Christensen CD "Sommerfugledalen": Track 35, 0:30-0:42 "går med mig ind i sommerfugledalen, hvor alting kun ertil på denne side, hvor selv de døde hører nattergalen," Musik: Robert Schumann Papillon Op. 2 Sprecher "Gelegentlicher Sommerreisen unbeschadet, bezogen wir, ehe ich zur Schule ging, alljährlich Sommerwohnungen in der Umgebung. An sie erinnerte noch lange an der Wand meines Knabenzimmers der geräumige Kasten mit den Anfängen einer Schmetterlingssammlung, deren älteste Exemplare in dem Garten am Brauhausberge erbeutet waren." Erzählerin Um die verborgenen Reiche der Kindheit zu erkunden, begibt sich der Philosoph Walter Benjamin in die Rolle des einstmals begeisterten Schmetterlingssammlers. 1892 in Berlin geboren, mußte der jüdische Intellektuelle nach der Machtübernahme der Nazis Deutschland 1933 verlassen. In seiner autobiographischen Prosa "Berliner Kindheit um neunzehnhundert", in der Benjamin eine besondere Mnemotechnik anwendet, entwickeln sich rückwärtsgewandt aus der zaghaft skizzierten "Schmetterlingsjagd" die scharfen Konturen eines schmerzhaften biographischen Bruchs. Sprecher "Gräser waren geknickt, Blumen zertreten worden; der Jagende selber hatte als Dreingabe den eignen Körper seinem Kescher nachgeworfen; und über soviel Zerstörung, Plumpheit und Gewalt hielt zitternd und dennoch voller Anmut sich in einer Falte des Netzes der erschrockene Schmetterling. Auf diesem mühevollen Wege ging der Geist des Todgeweihten in den Jäger ein." Erzählerin Im Vorgang des reflektierenden Erinnerns vollzieht sich etwas, das der Metamorphose des Schmetterlings gleicht. Die mit Äther, Nadeln und Pinzette ausgestatte Botanisiertrommel navigiert Benjamin sicher zu jenem Kindheitsort, wo in der "schmetterlingserfüllten Luft" das Wort "Brauhausberg" als Inbegriff von Heimat aufscheint. Es wird zum Sehnsuchtsbild für denjenigen, der im Exil selbst nicht mehr "zum Wohnen kommt". Sprecher "Und darum liegt das Potsdam meiner Kindheit in so blauer Luft, als wären seine Trauermäntel oder Admirale, Tagpfauenaugen und Aurorafalter über eine der schimmernden Emaillen von Limoges verstreut, auf denen die Zinnen und Mauern Jerusalems vom dunkelblauen Grunde sich abheben." Musik: Robert Schumann Papillon Op. 2 Erzählerin In der Dichtung von Nelly Sachs ist der Schmetterling eine zentrale Metapher: ein "Königszeichen", auf dessen Flügeln die "Gewichte von Leben und Tod" ruhen. 1891 in Berlin geboren, ereilte sie ein ähnliches Schicksal wie Walter Benjamin: die aus jüdischer Familie Stammende emigrierte 1940 nach Schweden. Während die Bevollmächtigten der Zeit massiv in die Gesetze der Natur eingreifen und die Metamorphose entzaubern, steht der kranke Schmetterling bei Sachs für die Totalität einer umfassenden Störung. Nelly Sachs CD Track 2, 3:20-4:07 "In der Flucht welch großer Empfang unterwegs - Eingehüllt in der Winde Tuch Füße im Gebet des Sandes der niemals Amen sagen kann denn er muß von der Flosse in den Flügel und weiter - Der kranke Schmetterling weiß bald wieder vom Meer - Dieser Stein mit der Inschrift der Fliege hat sich mir in die Hand gegeben - An Stelle der Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt -" Musik: Robert Schumann Papillon Op. 2 Sprecherin "Such nicht den Schmetterling zu fesseln Übersteig nie die Schranken der Ekstase -" Erzählerin Warnt die amerikanische Dichterin Emily Dickinson in "Go not too near a House of Rose". Niemals wird es gelingen, die Schönheit des Schmetterlings in der Zeit zu bannen. Seine Energie lässt sich nicht konservieren. Alles Vergängliche ist eben nur ein Gleichnis. Oder wie es Joseph Brodsky ein Jahrhundert nach Dickinson meisterlich formuliert Sprecher "Bist besser als das Nichts. Genauer: näher und sichtbarer. Doch ähnelst Du innerlich ihm ganz und gar. Es hat in deinem Schweben Fleisch angenommen; eben genau deshalb ziehst du im Tageslicht den Blick auf dich, fragile Trennwand zwischen mir und dem Nichts." 2 1