COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Menschen und Landschaften 16.09.2007 Magnet für Landflüchtige El Alto, Trabantenstadt von La Paz in Bolivien Von Victoria Eglau Deutschlandradio Kultur 2007 MUSIK Nahual Mil Veces Pueblo, Track 3, J. Milberg, Urubamba ATMO Hupen, Verkehrslärm, Stimmengewirr, Minibus-Ansager ERZÄHLERIN La Paz, Plaza Perez Velazco. Die Einheimischen nennen den Platz einfach la Perez. Es ist der zentrale Verkehrsknotenpunkt der Stadt. ?An der Perez müssen Sie den Minibus nehmen, wenn Sie nach El Alto wollen?, hatte mir ein Straßenverkäufer gesagt. Zwei Tage lang habe ich die Fahrt vor mir her geschoben. Die Höhenkrankheit hatte mich erwischt: Bohrender Kopfschmerz, Magenkrämpfe, Schlaflosigkeit und vor allem eine ganz ungewohnte Kurzatmigkeit. So geht es fast allen Ausländern, die nach La Paz kommen. Der bolivianische Regierungssitz liegt auf 3600 Meter Höhe. Heute geht es mir besser. Ich bin bereit, weitere 500 Höhenmeter bis nach El Alto zurückzulegen. Das war einmal ein Vorort von La Paz. Heute ist es eine eigene Stadt mit knapp einer Million Einwohnern, etwa so groß wie La Paz selbst. Die Minibusse fahren vor der San Francisco-Kirche ab. Ein nicht abreißender Strom rollt im Schritttempo vorbei. Menschen springen heraus, klettern hinein, laufen Slalom zwischen den Fahrzeugen. Der Minibus ist das öffentliche Fortbewegungsmittel in La Paz. Jeder Bus hat einen Ansager. Die meisten von ihnen sind Jugendliche, manche noch Kinder. Sie lehnen sich aus dem Fenster und leiern Fahrtroute und Fahrpreis herunter, immer wieder. ATMO Einsteigen in den Minibus ERZÄHLERIN Ich finde einen Minibus, der nach El Alto fährt, und quetsche mich hinein. Nichts für Menschen mit langen Beinen, denke ich. Meine Knie stoßen schmerzhaft an den Vordersitz. Als fast alle Plätze besetzt sind, fährt der Bus los, hält dann noch einmal an, um weitere Passagiere anzulocken. ATMO Schiebetür geht auf, Busansager ruft, Tür zu, Bus fährt ERZÄHLERIN Neben mir hat eine ältere Frau Platz genommen, ihr schwarzes Haar ist zu zwei dicken, langen Zöpfen geflochten. Sie trägt die traditionelle Kleidung der Indígenas: Einen langen, weiten Rock, einen hellbraunen Umhang aus Wolle und einen dunklen Hut mit schmaler Krempe. Auf den Rücken hat sie ein Bündel aus Stoff in leuchtend bunten Farben gebunden. Vor mir sitzt eine junge Frau mit einem roten Strohhut auf den dunklen Locken. Über ihrem Kopf baumelt eine schwarz-goldene Ziergardine mit dem Bildnis der Jungfrau von Copacabana am Titicacasee, die im bolivianischen Andenhochland verehrt wird. Wir reisen also gut beschützt. Langsam verschwindet die Stadt hinter dem Busfenster, letzte Hähnchenbratereien und Tankstellen ziehen vorbei, dann sind wir auf der vierspurigen Autopista. Steil geht es aufwärts. Zehn Minuten später fahren wir durch ein Eukalyptuswäldchen. Als es sich lichtet, öffnet sich noch einmal der Blick auf das Häusermeer von La Paz, darüber erhebt sich der schneebedeckte Gipfel des Illimani. ATMO ?Pasajes por favor?, Fahrgeräusch, leises Klimpern ERZÄHLERIN ?Das Fahrgeld bitte!? Einen Boliviano kassiert der Minibus-Ansager von jedem Passagier, umgerechnet zehn Cent. Nach weiteren zehn Minuten passieren wir die Maut-Station und sind kurz darauf in El Alto. Die Straße steigt nun nicht mehr weiter an, wir haben die Hochebene erreicht, den Altiplano. Die Stadt El Alto beginnt an der Ceja. Das Wort bedeutet ?Rand?. Die Ceja ist der Rand der Hochebene und der Rand von El Alto, zugleich aber auch das Stadtzentrum. MUSIK Nahual Mil Veces Pueblo, Track 7, Pablo Estevan, Cambio ATMO Ein- und Aussteigen der Leute ERZÄHLERIN Wir haben an einer Straßenkreuzung gehalten. Die meisten Fahrgäste steigen aus, auch die Frau mit den Zöpfen. Sie wuchtet ihr Bündel aus dem Minibus. Der Fahrer wartet, bis genügend neue Passagiere zugestiegen sind, damit sich die Fahrt auch lohnt. Ich blicke aus dem Fenster, versuche, mich zu orientieren. Die Ceja ist ein Stadtviertel, dem jede Struktur zu fehlen scheint. Es besteht aus einigen chronisch verstopften Geschäftsstraßen und einem unübersichtlichen Gewirr kleinerer Straßen und Wege, gesäumt von unzähligen Verkaufsständen. ATMO Radionachrichten, Hupen, Stimmen, Verkäufer ERZÄHLERIN Im Schritttempo geht es weiter. Der Busfahrer hat die Radionachrichten eingeschaltet. Draußen versuchen Straßenverkäufer, sich gegenseitig zu übertönen. An den Ständen stapeln sich Hemden und Unterwäsche, Schuhe, Sonnenbrillen, Uhren, Elektrogeräte, Plüschtiere, CDs und Süßigkeiten. Auch die Geschäfte haben ihre Ware auf dem Bürgersteig ausgebreitet: Wolldecken, Kissen und Handtücher, Haushaltsgegenstände, Fahrräder. ATMO Stimme eines Eisverkäufers ERZÄHLERIN Ein Mann nähert sich dem Bus, er hält Wassereis in das offene Fenster. Meist verkaufen hier aber Frauen; viele von ihnen sind Cholitas, Indígenas mit Zöpfen und dem traditionellen langen Rock. Einige sitzen auf bunten Tüchern am Boden, neben Bergen von Popcorn, Erdnüssen, Mandarinen oder Ananas. ATMO Verkehrslärm, Minibus-Ansager ERZÄHLERIN Ich bin an einer Plaza ausgestiegen, etwa zwanzig Minuten von der Ceja entfernt. Auch hier Verkehrschaos und eine Karawane von Minibussen mit konkurrierenden Ansagern. Die Luft ist abgasgeschwängert. Es ist kühl auf 4100 Meter Höhe, doch die Sonne brennt mir ins Gesicht. Auf dem Platz arbeitet Luís Machicado Quispe als Schuhputzer. 78 sei er, vertraut er mir an. Mit einem Fuß schon auf dem Friedhof, Senorita, fügt er lächelnd hinzu. Ich begleite Luís zu einer Einrichtung, ein paar Straßen von der Plaza entfernt, wo er mittags ein preiswertes, warmes Essen bekommt. Im Hof des Hauses erzählt er mir, wie er als zehnjähriger Junge nach El Alto kam. Luís Machicado Quispe Yo he nacido en la localidad de Pongo. Provincia Murillo. En el campo. Después mi padre nos ha traido a los cuatro hermanos que somos ya acá. El motivo de que mis padres se vinieron a la ciudad ha sido por la siguiente razon. Antes todavia existian los latifundios. Entonces habría que hacer pongeaje, hay que servir en forma gratuita a los patrones. Y el delito mas grande que mi papa ha cometido es: llevarnos a la escuela a nosotros, para que aprendamos a leer y a escribir. El mayordomo de la hacienda, que es el encargado del patron, dijo que usted no tiene que mandar a sus hijos a aprender a leer y escribir. Porque sino estos un día van a ser rateros, ladrones, mentirosos, no? O en su efecto se va de esta localidad. Entonces mi padre optó justamente por venirse aquí a la ciudad. SPRECHER 1 Ich wurde im Dorf Pongo geboren, in der Provinz Murillo. Auf dem Land. Dass meine Eltern mit mir und meinen drei Brüdern nach El Alto zogen, hatte folgenden Grund: In Bolivien existierten damals noch die Latifundien, wo die Leute in Knechtschaft lebten und ohne Lohn für ihren Herrn arbeiten mussten. Und mein Vater beging das schlimmste Verbrechen, das man sich vorstellen konnte: Er schickte uns zur Schule, damit wir lesen und schreiben lernten. Der Verwalter der Hacienda sagte zu ihm: Sie dürfen ihre Kinder nicht zur Schule schicken, sonst werden eines Tages Diebe, Ganoven und Lügner aus ihnen. Er drohte meinem Vater an, dass er die Hacienda verlassen müsse. Da beschloss mein Vater, in die Stadt zu gehen. ERZÄHLERIN Die Stadt El Alto war damals, um 1940 herum, eine kleine Siedlung auf dem Altiplano, oberhalb von La Paz. Ein paar Häuser, mehr nicht, erinnert sich Luís. Aber Arbeit, Arbeit habe es gegeben. Luís Machicado Quispe Despues de la guerra, que hemos tenido una confrontación con Paraguay, los patronos por esas epocas salian a buscar justamente obreros. Porqué? Porque no había manos de obra. Pero hoy en dia no hay tal cosa, ha cambiado demasiado. Ahora para entrar en un trabajo nosotros tenemos que ahorrar unos dolares. Buenos epocas hemos vivido nosotros. Habia dinero, habia trabajo. Dinero que se ganaba se ahorraba todavia. Mi padre trabajaba en la empresa de ferrocarriles. Como peón. Nosotros nos buscamos el trabajo, continuamos en las escuelas para poder seguir estudiando. De manera que yo me he buscado un trabajo en una fabrica de sedas. De todo he trabajado. (La vida) es durisima. Durisima es. Lo que se gana, no es suficiente. SPRECHER 1 Wir hatten einen Krieg gegen Paraguay geführt, den Chaco-Krieg. Es fehlten Arbeitskräfte im Land. Heutzutage ist die Lage ganz anders. Um einen Job zu ergattern, müssen wir erst mal ein paar Dollar zusammensparen. Damals, das waren gute Zeiten. Es gab Geld, es gab Arbeit. Wir konnten sogar etwas zur Seite legen. Mein Vater arbeitete bei der Eisenbahn, als Hilfsarbeiter. Wir Kinder haben uns auch Arbeit gesucht und sind gleichzeitig weiter zur Schule gegangen. Ich fand Arbeit in einer Seidenfabrik. Ich habe alle möglichen Jobs gemacht. Heute ist das Leben hart, sehr hart. Was man verdient, reicht nicht aus. ERZÄHLERIN Luís hebt resignierend die Schultern, dann verabschiedet er sich höflich. ATMO Kinderstimmen, Begrüßung ?Hola? ... ?Mucho gusto?... ERZÄHLERIN Im kleinen Speisesaal, wo der alte Mann nun Platz nimmt, haben bereits die Kinder zu Mittag gegessen. Den Besuch aus Deutschland begrüßen sie mit aufgeregtem Geschrei. Marcelo Machicado, der Gründer und Leiter dieser Einrichtung für Bedürftige, schüttelt mir die Hand. Er ist Anfang vierzig und trägt einen schwarzen Hut. Sein langes Haar hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Marcelo Machicado Soy alteno, vivo en El Alto. Mucha gente se ha venido del campo a vivir en la ciudad del Alto. Entonces lo que se dice actualmente que la ciudad del Alto se puede considerar la capital Aymara del mundo. La migracion campo ciudad siempre ha significado la esperanza de poder sobrevivir. Y te estoy hablando de sobrevivir, ni siquiera de vivir. Entonces las primeras generaciones han venido para eso, no? Escapar de una realidad rural que francamente los condenaba a vivir como animales. Las segundas generaciones han venido con la esperanza de encontrar trabajo. Y finalmente los hijos de esas segundas generaciones, ya han conocido los beneficios del desarrollo, y por tanto han empezado a exigir. Han empezado a decir: queremos agua, queremos caminos, queremos esto SPRECHER 2 Ich bin Alteno, ich lebe hier. Viele Menschen sind vom Land nach El Alto gekommen, aus den Gebieten der Aymara-Indios. Man sagt darum auch, El Alto sei die Hauptstadt der Aymaras. Der Grund für die Landflucht war immer die Hoffnung, in der Stadt zu überleben. Ich sage nicht leben, sondern überleben! Die erste Generation kam allein deswegen. Auf dem Land hatten sie wie Tiere vegetiert. Die zweite Generation zog dann schon mit der Hoffnung auf Arbeit hierher. Die Kinder dieser Generation schließlich haben den Nutzen des Fortschritts kennengelernt und angefangen, Forderungen zu stellen: Wir wollen Wasser, Straßen und so weiter. ERZÄHLERIN Marcelo stammt aus einer Aymara-Familie. Auch Luis, der Schuhputzer, ist Aymara, ebenso wie Boliviens Präsident Evo Morales. Rund zweieinhalb Millionen Aymara leben in Bolivien, die meisten im Andenhochland. Hunderttausende sind in den zurückliegenden Jahrzehnten nach El Alto gezogen. Es ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt. Die Menschen arbeiten viel und schwer, sagt Marcelo. Marcelo Machicado Trabajan en La Paz. Trabajan como sirvienta, trabajan como empleadas el hogar. Trabajan en todo que se pueda. Y hay familias que se han descargado de su responsabilidad de padres. Por ejemplo, yo conozco un padre que sale a trabajar y les deja a un peso a los hijos. Y con ese peso los hijos tienen que conseguir su comida, su desayuno, su té, todo. Y los chicos trabajan. Entonces trabajan como voceadores, trabajan como lustra-calzados, hacen algunas prendas y logran sobrevivir el dia. Pero si nosotros como institucion no les brindamos un camino, esos chicos van a entrar en procesos de frustracion, consumo de bebidas alcolicas, y lo mas probable es que en algun tiempo van a ser simplemente ladrones. SPRECHER 2 Sie arbeiten in La Paz, als Dienstmädchen, als Hausangestellte. Sie arbeiten in allen möglichen Jobs. Es gibt Eltern, die wegen der Arbeit ihre Kinder vernachlässigen. Ich kenne einen Vater, der morgens aus dem Haus geht und seinen Kindern einen Boliviano gibt. Davon sollen sie ihr Frühstück, ihr Mittagessen, ihren Tee bezahlen. Die Kinder arbeiten als Minibus-Ansager oder als Schuhputzer; nur so schaffen sie es, den Tag zu überstehen. Wenn unsere Einrichtung diesen Kindern nicht einen Weg weist, würden sie wahrscheinlich mit dem Trinken anfangen und früher oder später zu Gaunern werden. ATMO Versammlung von Jugendlichen ERZÄHLERIN Im Versammlungsraum der Einrichtung sitzen etwa zwanzig Jugendliche, Mädchen und Jungen, um einen langen Tisch herum. Sie diskutieren mit ernsten Gesichtern. Sie alle mussten schon als Kinder ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, oder sie mussten zum Familieneinkommen beitragen. Jetzt erlernen sie einen Beruf. David Mi nombre es David. Tengo 19 anos. Yo trabajé desde chico porque mi papa ha emigrado a Brasil y yo me quedé solo como el padre de la casa. Yo siempre queria ser alguien. Y, nunca he dejado los colegios. Tal vez no cumplia con mis tareas, porque trabajaba, pero siempre iba a asistir. Tal vez no sacaba las mejores notas, pero siempre queria sobresalir. Estudiaba por las mananas, trabajaba por las tardes. Y a veces por la noche hice mis tareas. Ahora estoy estudiando informatica industrial. Todos tenemos en comun que somos trabajadores, y que tenemos el sueno de superarnos. ERZÄHLERIN David ist 19. Er hat von klein auf gearbeitet. Der Vater ging nach Brasilien. Der Sohn musste ihn ersetzen. Aber er habe nie die Schule geschmissen. Vielleicht waren die Hausaufgaben nicht immer gemacht, weil er ja arbeiten musste, aber er sei immer hingegangen. Vielleicht bekam er nicht die besten Noten, aber er wollte immer ein guter Schüler sein. Morgens ging er zur Schule, nachmittags hat er gearbeitet. Jetzt lernt David Industrieinformatiker. In dieser Gruppe, erzählt er, arbeiten alle, und alle träumen davon, über sich selbst hinauszuwachsen. MUSIK Ozomatli, Track 3, Raul Pacheco, Cumbia de los Muertos ATMO Fahrt mit Minibus ERZÄHLERIN Ich bin mit Edwin unterwegs. Er ist Lehrer. Ich habe ihn über eine Bekannte kennengelernt, die in Bolivien als Entwicklungshelferin arbeitet. Er ist jung, schmal, trägt Jeans und Pulli. Vormittags arbeitet Edwin an einer Grundschule in La Paz. Aufgewachsen ist er in El Alto. Edwin Mi mamá se dedicaba a vender Coca primeramente. Coca para el consumo de mates, para poder masticar. Entonces yo creci al lado de mi mamá. Igual en las calles. Y el otro tiempo mi mama me obligaba a asistir a la escuela. Entonces gracias a esto yo pude salir de la escuela y estudiar una profesion. La familia gremial en Bolivia ha ido creciendo, debido a la falta de empleo, que en nuestro pais es muy dificil encontrar un empleo. Las mamas muchas veces tienen que salir a vender a la calle con sus ninos pequenos. Los ninos viven practicamente la calle, todo el dia estan expuestos a peligros como las movilidades, peligros de que puedan ser raptados. SPRECHER 2 Meine Mutter hat auf der Straße Cocablätter verkauft, zum Kauen und für die Zubereitung von Tee. Ich bin an ihrer Seite aufgewachsen, auf der Straße. Aber meine Mutter hat mich auch zur Schule geschickt. Ich konnte einen Abschluss machen und studieren. Die Zahl der Straßenverkäufer in Bolivien steigt immer weiter an, weil es sehr schwer ist, eine andere Arbeit zu finden. Viele Mütter müssen ihre Kinder mitnehmen. Die Kinder leben praktisch auf der Straße und sind dort vielen Gefahren ausgesetzt; ein Auto kann sie anfahren, oder man entführt sie. ATMO Verkehrslärm, Minibus-Ansager an der Ceja ERZÄHLERIN Zurück an der Ceja. Wir steigen in einen anderen Minibus um. Edwin zeigt auf die Stände der Straßenverkäufer, die das Bild dieser Stadt prägen. Einige Frauen tragen ihr Kind in einem bunten Tuch, dem Aguayo, auf dem Rücken. Edwin Es una vida muy dura para ellos, porque están expuestos al sol, estan expuestos al frio, no tienen un techito donde ellos puedan vender. Y el gobierno no hace mucho por ayudar a estas personas. Y la alcadia que regula el asentamiento de estos vendedores, lo que trata hacer es que se retiren de las calles para que no se vea feo. SPRECHER 2 Das Leben der Verkäufer ist schwer. Sie sind Sonne und Kälte ausgesetzt, sie haben kein Dach über dem Kopf. Die Regierung tut wenig, um diesen Leuten zu helfen. Und die Stadtverwaltung hätte es am liebsten, wenn die Verkäufer von den Straßen verschwänden. ATMO Fahrt mit Minibus ERZÄHLERIN Edwin erzählt von seiner Kindheit auf der Straße. Diese Erfahrung habe ihn dazu bewogen zu helfen. Nachmittags betreut er Kinder von Straßenverkäufern und hilft ihnen bei den Hausaufgaben. Jetzt ist er auf dem Weg zu einem Kinderhort. ATMO Edwin erzählt Kindern ein Märchen, Lachen und Jubeln ERZÄHLERIN Der Hort entpuppt sich als Wohnzimmer eines pensionierten Schuldirektors. Zwei Dutzend Kinder haben schon sehnsüchtig auf Edwin gewartet. Sie drängen sich in dem kleinen Raum zusammen und lauschen begeistert dem jungen Lehrer, der ihnen das Märchen vom ?Rotkäppchen und dem bösen Wolf? erzählt. Der ehemalige Schuldirektor, Don Guillermo, schaut mir erwartungsvoll entgegen. Besuch aus Deutschland? Das bedeutet Hoffnung auf Unterstützung aus einem reichen Land. Der alte Herr und seine Frau fassen ihre Hoffnung in Worte. Aus dem improvisierten Kinderhort im Wohnzimmer soll einmal ein eigenes Haus für die Kinder der Straßenverkäufer werden. Don Guillermo und Dona Justa (Don Guillermo) Ellos son ninos que estan en desventaja social. La situacion economica de sus hogares no es buena. Eso ocurre mucho por aca, por la ciudad del Alto. Hay mucha pobreza. (Dona Justa) La ninita, Paula, tiene cinco hermanos. Siempre hay escasez en comida, en muchas cosas los ninos sufren. Por eso aqui, cuando vienen, tratamos de que un poquito se alimenten bien, le damos una cosita, otra cosita. Yo veo que estan contentos, felices. Les damos un poquito de comodidad a los ninos, la atraccion, para que no esten siempre en la calle. SPRECHER 1 Das sind sozial benachteiligte Kinder. Die wirtschaftliche Situation ihrer Familien ist schlecht. Das kommt häufig vor in El Alto, es gibt viel Armut. SPRECHERIN 1 Das kleine Mädchen hier, Paula, hat fünf Geschwister. Zu Hause ist nie genug Essen da, die Kinder leiden. Wenn sie zu uns kommen, versuchen wir, sie ein wenig besser zu ernähren, wir stecken ihnen etwas zu. Ich spüre, dass sie hier zufrieden sind, glücklich. Wir wollen, dass sie sich wohlfühlen, damit sie wiederkommen und nicht immer auf der Straße sind. ERZÄHLERIN Die Frau des ehemaligen Schuldirektors ist ebenfalls Lehrerin. Sie trägt das dunkle Haar kurz, wirkt zupackend und mütterlich. Dona Justa kümmert sich nicht nur um die Kinder, sondern auch um die Bildung ihrer Mütter. Einigen Frauen gibt sie Spanisch-Unterricht. Dona Justa Hablan castellano. pero muy poco. Pero ahora hablan muy bien el castellano, ya se expresan de una manera muy diferente a lo que ellas se expresaban. Y ellas dicen: Senora, sabe, en mi casa tengo un cambio. Hasta mi esposo ha aceptado este cambio. (Otras) ya no vienen. Porque sus esposos dicen: Si mi esposa va a aprender a hablar correctamente, aprender a sumar y a restar, se va a buscar otro hombre. SPRECHERIN 1 Sie konnten Spanisch, aber nur schlecht. Inzwischen sprechen sie sehr gut, sie drücken sich ganz anders aus als früher. Und sie sagen zu mir: Senora, bei mir zu Hause hat sich etwas verändert. Sogar mein Mann hat das akzeptiert. Es gibt aber auch Frauen, die nicht mehr kommen, weil ihre Ehemänner gesagt haben: Wenn meine Frau lernt, korrekt zu sprechen und zu rechnen, wird sie sich einen anderen suchen! ATMO Stimmengewirr, ?Esas son las cholitas?, ?Buenas noches? ERZÄHLERIN Da sind die Cholitas, ruft Dona Justa, als zwei ihrer Schülerinnen zur Tür hereinkommen. Miliam und Maria Rosa, zwei traditionell gekleidete Aymara-Frauen mit rundlichen Figuren und langen Zöpfen. ATMO Stimmen der Cholitas ERZÄHLERIN Miliam trägt einen karierten Umhang mit Fransen und auf dem Kopf eine Wollmütze. Sie schaut mich freundlich an, fragt, wer ich bin und woher ich komme. Und sie will wissen, ob ich Probleme habe mit dem kalten Winterklima in den Anden. Nein, sage ich, nur mit der Höhe. Wir lachen. Während mir Dona Justa einen Coca-Tee gegen die Höhenkrankheit kocht, plaudere ich mit den Cholitas. Miliam La maestra me ensena a escribir. Yo bien no sabia escribir, ni leer tan bien. Me ha ensenado multiplicar, la lectura. Muy importante. Porque, yo no he ido a la escuela cuando era nina. Entonces era importante, porque yo tengo mi hija, ella esta estudiando. Y cuando me pregunta algo, yo no he podido responder nada. Entonces algo de lo que era, he mejorado. Entonces cuando mi hija me pregunta, me dice mami, cómo se hace esta tarea, o qué tengo que hacer. Entonces como la maestra me ensena algo, yo sé, entonces le digo: ésto es así, o esto es así. SPRECHERIN 2 Die Lehrerin bringt mir Schreiben bei. Das konnte ich nicht gut. Ich habe bei ihr auch Lesen gelernt und Multiplizieren. Es ist sehr wichtig für mich zu lernen, denn als Kind bin ich nicht zur Schule gegangen. Aber ich habe eine Tochter, die geht zur Schule. Früher konnte ich ihr nicht helfen, wenn sie mich etwas gefragt hat. Wenn meine Tochter jetzt fragt: Mami, wie geht das? Was muss ich machen? Dann kann ich ihr sagen, das geht so, oder das geht so. ERZÄHLERIN Miliam ist 31, wirkt aber viel älter. Sie stamme aus der Provinz Umasuyo nordöstlich des Titicacasees, erzählt sie, und sei mit acht Jahren nach El Alto gezogen. Miliam En el campo no hay como ganar la plata. Porque necesitamos ropa, algo, allá no hay como ganar. Por eso nos vinimos aquí a trabajar. Yo he trabajado con mis diez anitos, he empezado a trabajar. De empleada. He trabajado, y despues, un ano he salido tambien a vender, despues he vuelto a trabajar. Yo he sido pobre. Mi papa y mi mama han fallecido. Me he criado con mi abuelita. Vive hasta ahora, vive. Por esto mi abuelita siempre me ha ensenado: tienes que hacer algo. No hay que ser floja. SPRECHERIN 2 Auf dem Land kann man sich seinen Lebensunterhalt nicht verdienen. Es ist kein Geld da für Kleidung und so was. Deswegen sind wir hierher gezogen, zum Arbeiten. Mit zehn Jahren habe ich als Hausmädchen angefangen. Ein Jahr lang habe ich auch auf der Straße verkauft. Mein Vater und meine Mutter sind früh gestorben. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen. Sie hat immer zu mir gesagt: Du musst etwas tun. Man darf nicht faul sein. ERZÄHLERIN Miliam verkauft Obst auf verschiedenen Märkten der Stadt. Mit dem, was mein Mann als Maurer verdient, kommen wir nicht hin, sagt sie und seufzt. Bevor wir uns verabschieden, bitte ich sie noch, mir ihren Namen auf Aymara zu sagen. Miliam (zuerst Aymara, dann Spanisch) ? Ahora te estoy diciendo que me llamo Miliam Guerrero de Mamani. SPRECHERIN 2 Ich habe gesagt, dass ich Miliam Guerrero de Mamani heiße. MUSIK Nahual Mil Veces Pueblo, Track 10, Trad., Senora Chichera ERZÄHLERIN Sonntags wird in El Alto gefeiert, hatte man mir erzählt. Eine Fiesta darfst du dir nicht entgehen lassen, aber nimm einen Mann mit! Der Mann, der mich begleitet, heißt Gabino. Er ist Bolivianer, aber er geht selten zu einem Fest. ATMO Festmusik, näherkommend ERZÄHLERIN Schon im Bus haben wir die Klänge von Pauken und Trompeten gehört. Morenada, sagt Gabino. So heißt einer der populärsten Volkstänze des bolivianischen Andenhochlands. Wir biegen um eine Ecke und werden quasi aufgesogen von dem feucht-fröhlichen Volksfest, das auf einer kleinen Plaza stattfindet. Ich traue meinen Augen kaum. Auf dem Platz wogt eine ausgelassene Menschenmenge, das Bier fließt in Strömen. Sind das dieselben ernsten und in sich gekehrten Frauen und Männer, die neben mir im Minibus saßen, frage ich mich. ATMO Feiernde, singende, lachende Leute ERZÄHLERIN Gabino und ich stehen etwas verloren inmitten des kollektiven Frohsinns. Die Frauen haben die Festtagskleidung der Cholitas angelegt: lange Röcke und Umhänge aus glänzendem Stoff mit aufwändigen Stickereien, auf ihren Köpfen kleine schwarze Hüte mit schmaler Krempe. Die Männer tragen Anzüge und weiße Hemden. Auf einer Bühne spielt das Orchester mit Pauken, Trommeln, Trompeten, Schellen und der Matraca, einer Art Ratsche, zur Morenada auf. Eine Cholita kommt auf mich zu, in ihrem geöffneten Mund glänzt es golden. In die Kronen über ihren Vorderzähnen sind kleine Herzen gestanzt. Die Frau drückt mir einen Plastikbecher mit Bier in die Hand. Wir prosten uns zu. Ich trinke in kleinen Schlucken, während die Cholita weitertanzt und mich dabei erwartungsvoll anschaut. Du musst auf Ex trinken, raunt Gabino mir zu. Kaum ist der Becher leer, wird er nachgefüllt, und wir werden in den Kreis der Tänzer gezogen. ATMO Singen, Lachen, Jauchzen, Pfeifen ERZÄHLERIN Ich versuche, es den Cholitas nachzutun und wage sogar ein paar Drehungen. Gleichzeitig balanciere ich den vollen Plastikbecher und mein Mikrophon. Gar nicht so einfach, doch die Fröhlichkeit steckt an. ATMO Jauchzen, ?Qué lindo?, Singen ERZÄHLERIN Schließlich verlasse ich erschöpft den Kreis. Gabino wartet schon auf mich. Wir werden von ein paar Tänzern umringt, die sich über den Besuch freuen. Die Zungen sind schon ein wenig schwer. Ein Mann redet auf mich ein, ein anderer zupft an meinem Ärmel. Gabino schaut ein bisschen eifersüchtig zu mir herüber. Er scheint sich unbehaglich zu fühlen. Lass uns lieber gehen, sagt er. Wir verabschieden uns und bahnen uns einen Weg durch das Getümmel. MUSIK Nahual Mil Veces Pueblo, Track 10, Trad., Senora Chichera ATMO Fahrt mit Minibus ERZÄHLERIN Gabino will mich entfernten Verwandten vorstellen, die er lange nicht mehr besucht hat. Wir fahren wieder mit dem Minibus, vorbei an den für El Alto typischen unverputzten Ziegelsteinbauten. ATMO Aussteigen, Verkehrslärm, ?Calle 19 número 2? ERZÄHLERIN 19. Straße, Nummer 2 ? Gabino schaut sich suchend um. Gabino Estamos iendo a la casa de la Senora Hilaria. ? Una preguntita: cuál es la calle 19? Esa es. Muchas gracias. Es una de las personas que ha migrado del campo a la ciudad. Y aqui en la calle 19 vamos entonces a tocar la puerta. SPRECHER 2 Wir möchten zum Haus der Senora Hilaria. Wo ist die 19. Straße? Das ist sie? Vielen Dank. Also, Hilaria gehört auch zu den Leuten, die vom Land in die Stadt übergesiedelt sind. Lass uns klopfen. ATMO Lautes, blechernes Klopfen, Stimmen, Schritte auf Treppe ERZÄHLERIN Eine junge Frau mit Pferdeschwanz und Baseball-Kappe öffnet die Tür. Es ist Victoria, Hilarias künftige Schwiegertochter. In einer Woche werde sie deren Sohn Juan Carlos heiraten, berichtet sie. Victoria führt uns ins Wohnzimmer. Dort treffen wir auch Alcira, die andere Schwiegertochter. ATMO Begrüßung ?Hola cómo está senora??, Unterhaltung ERZÄHLERIN Gabino und ich nehmen auf einem großen Sofa Platz und warten auf Senora Hilaria. Sie ist einkaufen gegangen. Ich frage Victoria, wie sie sich fühlt, so kurz vor der Hochzeit. Victoria Feliz (Lachen) No tan feliz. Me hubiera sentido mas feliz si me hubiera casado en 2004 o 2005. Pero en 2005 se casó su hermano. Ahora 2006 se casó su hermana. 2007 nosotros. Por la costumbre, porque dicen que no se pueden casar dos hermanos en un ano. Porque se patean, segun las creencias. Porque yo tambien creo en esto. Porque cuando se casan dos hermanos en el mismo ano, a uno le va mal. Se separa, o alguien fallece. Eso. Si, porque mi mama por ejemplo dice que ella se ha casado en junio, y su hermano en septiembre. Y su hermano ha fallecido a los cuatro anos de casarse. Y tambien tengo una prima, tres hermanos se han casado en un solo ano. Y mi prima ya se ha separado tambien. SPRECHERIN 2 Glücklich. Na ja, eigentlich nicht so glücklich. Ich wäre glücklicher gewesen, wenn ich schon vor zwei Jahren hätte heiraten können. Aber 2005 hat der Bruder meines Bräutigams geheiratet und 2006 seine Schwester. Jetzt, 2007, sind wir dran. Das ist die Tradition, man sagt, dass nicht zwei Geschwister in einem Jahr heiraten dürfen. Ich glaube daran. Wenn zwei Geschwister im selben Jahr heiraten, wird es einem von beiden schlecht ergehen. Das Paar wird sich trennen, oder es wird jemand sterben. Meine Mutter zum Beispiel hat im Juni geheiratet, ihr Bruder im September. Und ihr Bruder ist vier Jahre später gestorben. Eine Cousine von mir hat im gleichen Jahr geheiratet wie ihre Brüder, und sie lebt schon getrennt. ATMO Unterhaltung ERZÄHLERIN Fast drei Jahre sei sie mit Juan Carlos zusammen, erzählt Victoria. Bis jetzt verstehen wir uns gut, fügt sie lächelnd hinzu. Ein kleines Mädchen mit Zöpfchen läuft auf wackligen Beinen durchs Wohnzimmer. Es ist die eineinhalbjährige Tochter der beiden. Victoria ist 22. Mit fünfzehn zog sie allein aus ihrem Dorf nach El Alto, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zur Schule gehen konnte sie nicht mehr, sie waren acht Geschwister zu Hause. Victoria verkaufte Sportkleidung an der Ceja und gewöhnte sich schnell an das Leben in der Stadt. Die traditionelle Kleidung der Cholitas trägt sie nicht. Victoria Si para bailar (Lachen) la Morenada. Para bailar morenadas. (Lachen) No, no creo que me visto asi todos los dias. Tal vez para alguna fiesta. (...) No creo que todos los dias. SPRECHERIN 2 Nur zum Tanzen. Um Morenada zu tanzen. Jeden Tag würde ich mich so nicht anziehen. Höchstens für ein Fest. Aber nicht jeden Tag. ATMO Unterhaltung, leises Geschirrgeklapper ERZÄHLERIN Senora Hilaria und Juan Carlos, der Bräutigam, sind gleichzeitig nach Hause gekommen. Senora Hilaria hat Kaffee gekocht. Wir sitzen mit der Familie um den niedrigen Sofatisch. Juan Carlos erzählt von einem Ereignis, das im Oktober 2003 Bolivien erschütterte und der Welt zeigte, dass die Einwohner von El Alto nicht nur schüchtern und verschlossen sind, sondern auch kämpfen können. Als der damalige Präsident Sanchez de Lozada den Export von Erdgas über Häfen im Nachbarland Chile ankündigte, explodierte der Volkszorn. Im ganzen Land kam es zu Protesten, in El Alto waren die Demonstranten am hartnäckigsten. Mehr als einen Monat lang blockierten sie die Hauptverkehrsadern. Der benachbarte Regierungssitz La Paz wurde dadurch vom Rest des Landes abgeschnitten. Eine der blockierten Straßen war die Allee hier ganz in der Nähe, erzählt Juan Carlos. Juan Carlos Empieza ese rencor, esa rabia, ese sentimiento adentro, de todos: Cómo un gringo nos va a hacer esto? Y no, hay que hacerle frente. Y empezó una simpre huelga, que era toda esa avenida, que no habia paso, estaba bloqueda completamente. Entonces ya lleguó el 18 de octubre de ese ano, ya empiezan los primeros enfrentamientos, ya empiezan a morir la gente. Poco a poco, mas la gente empieza a calentarse. Asi van pasando los dias, y el dia 20 de octubre, ese mismo dia, mueren aqui cercita en el puente, mueren varios. Ese enfrentamiento era terrible, como una guerra, no? Militares y civiles, enfrentandose. Por el solo derecho de bloquear y exigir derechos, nada mas. SPRECHER 2 Da war dieser Groll, diese Wut, dieses Gefühl, das wir alle hatten: Wieso kann der ?Gringo? Sanchez de Lozada, ein Bolivianer mit US-amerikanischem Pass, das mit uns machen? Da muss man Widerstand leisten. Es begann mit einem Streik und der Blockade dieser Allee. Dann kam es zu ersten Zusammenstößen, es gab die ersten Toten. Die Stimmung war aufgeheizt. Die Tage vergingen. Am 20. Oktober schließlich wurden hier ganz in der Nähe viele Leute getötet. Das waren schreckliche Auseinandersetzungen, wie im Krieg. Militärs gegen Zivilisten. Nur, weil die Leute ihre Rechte eingefordert hatten. ERZÄHLERIN Sechzig Menschen wurden während des sogenannten Gaskriegs 2003 in El Alto von den Streitkräften getötet. Präsident Sanchez de Lozada musste schließlich zurücktreten. Er floh aus dem Land. Darauf sind die Menschen in El Alto bis heute stolz. Auch Juan Carlos ist dieser Stolz anzumerken. MUSIK Nahual Mil Veces Pueblo, Track 7, Pablo Estevan, Cambio ATMO Fahrt im Jeep ERZÄHLERIN Am nächsten Tag begleitet mich der Historiker Carlos Mamani. Er ist ebenfalls in El Alto aufgewachsen. In seinem alten Jeep rumpeln wir über holprige Schotterpisten. Viele der Straßen sind nicht asphaltiert. Carlos, ein kleiner, untersetzter Mann, will mir sein altes Stadtviertel Alto Lima zeigen, genauer gesagt, einen Ort, der für ihn in seiner Kindheit eine besondere Bedeutung hatte. Carlos Mamani Este era el cementerio... (O-Ton unter Erzählerin weiter) ERZÄHLERIN Hier war der Friedhof, sagt Carlos und zeigt aus dem Fenster. Ich sehe eine Kirche mit hohem, schlankem Turm, aber keinen Friedhof. Das strahlendweiße Gotteshaus wirkt wie ein Fremdkörper auf dem staubigen Platz. Carlos parkt den Jeep. Wir steigen aus. Carlos Mamani (Geräusch Aussteigen, zwei Wagentüren schlagen zu) Yo pasé aquí los Todos los Santos mas felices de mi vida. Y era una fiesta pero impresionante, porque habia gente de todo lado, con todo tipo de musica, sus costumbres. Entonces aqui, desde las ocho de la manana hasta mediodia la gente se venia, ponia panes en la tumba, comia, y despues de la tumba, del cementerio, salian, todo esto era terreno baldio, y se armó una gran fiesta. Era muy hermoso. Todo es aymara, entonces poner pan, beber el licor con los muertos, compartir. Llorar a los muertos. SPRECHER 1 Hier habe ich die glücklichsten Allerheiligen-Feste meines Lebens verbracht. Das war immer sehr eindrucksvoll. Die Leute kamen von überall her und brachten ihre unterschiedlichen Bräuche und ihre Musik mit. Ab dem frühen Morgen strömten die Menschen auf den Friedhof, legten Brot auf die Gräber, aßen, und anschließend wurde draußen eine große Fiesta gefeiert. Es war sehr schön. Es ist Tradition bei den Aymaras, mit den Toten Likör zu trinken, mit ihnen zu essen. Und dabei um sie zu weinen. ERZÄHLERIN Ich frage Carlos, was aus dem Friedhof geworden ist. Er erzählt von Pater Obermaier, einem katholischen Priester aus Oberbayern, der seit fast dreißig Jahren in El Alto Kirchen baut. Carlos Mamani Hace como diez anos atras, no sé qué tramites hizo el padre Obermaier que se apropió de nuestro cementerio, y nuestro cementerio fue arrasado con bulldozers, con tractores. Y no queda ahora nada. Yo tengo aqui enterrado un hermano mio, sobrinos, y despues todo el vecindario del barrio esta enterrado aqui. Pero no dejaron de sacar nada. Entonces aqui fue simplemente destruido el cementerio y construido la iglesia. Eso son las obras del padre Obermaier, el dinero aleman que se invierte aqui. Podria haberse conservado como cementerio, pero arrasaron con el cementerio. No no, ningun respeto. SPRECHER 1 Vor etwa zehn Jahren hat sich Pater Obermaier unseren Friedhof angeeignet. Ich weiß nicht, wie er das angestellt hat. Der Friedhof wurde mit Bulldozern und Traktoren zerstört. Es ist nichts mehr davon übrig. Hier ist ein Bruder von mir begraben, Neffen, und die Verstorbenen aus der Nachbarschaft. Aber die Toten wurden nicht umgebettet. Der Friedhof wurde einfach eingeebnet, und an seiner Stelle die Kirche errichtet. Das ist das Werk des Paters Obermaier, der hier deutsches Geld investiert. Man hätte den Friedhof erhalten können, aber man hat ihn zerstört. Ohne jeden Respekt. ATMO Rumpelnde Fahrt im Jeep ERZÄHLERIN Wir fahren zu einem Aussichtspunkt am Stadtrand. Von dort aus habe man einen guten Blick auf El Alto und das Werk von Pater Obermaier, kündigt Carlos an. Am Horizont tauchen schneebedeckte Andengipfel auf. Der Chacaltaya und der Huayna Potosí, erfahre ich. Nach etwa zwanzig Minuten Schotterfahrt halten wir an ? oberhalb eines ziemlich braunen Bächleins. ATMO Aussteigen, Autotüren fallen zu, Wassergeräusch Carlos Mamani Es agua limpia, es agua de la Cordillera. Es la piedra laja y el color de la tierra que lo tine así. Es agua purisima, porque viene directamente de los deshielos del nevado. Aqui tienes El Alto. Esta dividido por el aeropuerto. El Alto no tiene un centro. Su pequeno centro es la Ceja, no. Casi al margen. Allí tienes las iglesias de tu paysano Obermaier. Todas estas iglesias son construidas por el senor Obermaier. SPRECHER 1 Das ist sauberes Wasser, es kommt von der Andenkordillere. Der Schiefer und die Erde färben es braun. Aber das Wasser ist rein, es ist geschmolzener Schnee aus den Bergen. Und das ist El Alto von oben. Die Stadt wird durch den Flughafen in zwei Hälften geteilt. Ein richtiges Zentrum gibt es nicht. Die Ceja ist quasi das Zentrum. Und nun siehst du auch die vielen Kirchen deines Landsmanns Obermaier. MUSIK Nahual Mil Veces Pueblo, Track 3, J. Milberg, Urubamba ERZÄHLERIN Ich folge Carlos Blick. Aus dem rot-braunen Häusermeer ragen Dutzende leuchtendweißer Kirchtürme auf, viele mit bayerisch anmutenden Zwiebeldächern. Manche Kirchen stehen merkwürdig eng beieinander. Andere befinden sich an den Rändern El Altos, die noch kaum besiedelt sind. Wie viele Kirchen sind es, frage ich Carlos. Er zuckt mit den Schultern. Das weiß keiner so genau, sagt er, selbst der Pater behauptet, er wisse es nicht. MUSIK Matucana, Track 2, Sergio Teran, Renegueando ATMO Schritte, Stimmen, Hupen auf der Straße ERZÄHLERIN Am nächsten Tag möchte ich Roberto de la Cruz, den Vize-Präsidenten des Stadtrates von El Alto besuchen. Er ist Gewerkschafter und war 2003 einer der Anführer der Proteste gegen den Gasexport. An der Ceja habe ich mich durchgefragt bis zum sogenannten Verbrannten Rathaus. Im Oktober 2003 steckten wütende Demonstranten das Gebäude in Brand. Die Spuren des Feuers sind noch zu sehen. Jetzt hat Roberto de la Cruz hier sein Büro. ATMO Von der Straße ins Gebäude, Klaviermusik, lauter werdend ERZÄHLERIN Als ich das Rathaus betrete, stelle ich verwundert fest, dass in einem Raum im Erdgeschoss Ballettunterricht stattfindet. Durch die halbgeöffnete Tür sehe ich, wie kleine Mädchen vor einem Spiegel Tanzschritte üben. ATMO Klopfen an der Tür, Türquietschen, Stimmen ERZÄHLERIN Im Vorzimmer von Roberto de la Cruz bittet mich die Sekretärin, Platz zu nehmen. Ich setze mich neben eine ältere Frau mit Zöpfen, die den Hut, den Umhang und den weiten Rock der Cholitas trägt. Wir lächeln uns an, und ich fasse mir ein Herz und frage sie nach ihrer Kleidung. Cholita Aqui las mujeres, antes se usaba abarca, sombrero hecho netamente de lana de oveja. La pollera tambien. O sea, toda la vistamenta se usaba así, lana de oveja, Ahora un poco se ha modernizado. Ya llevan telas que traen de otro pais, no. Cada ano cambia la novedad de las mujeres. Esto en su momento tambien cuesta, estar de moda. Ahora está sobre mil bolivianos la pollera y manta. El sombrero está, así como esto, está a 380 bolivianos. Henaga cuesta 450, 500 bolivianos, henaga que usamos. Son cuatro henagas delgaditas. SPRECHERIN 1 Früher trugen die Frauen hier Hüte aus reiner Schafwolle. Auch der Rock, alle Kleider waren aus Schafwolle. Inzwischen ist die Kleidung moderner geworden. Es werden importierte Stoffe verwendet. Jedes Jahr ändert sich die Mode. Das ist nicht billig. Allein der Rock und der Umhang kosten tausend Bolivianos. Der Hut kostet 380, und die Unterröcke kosten 500 Bolivianos. Vier Unterröcke tragen wir unter dem Rock. ATMO Gedämpfte Stimmen, Computertippen ERZÄHLERIN Ich staune über die hohen Preise: Hundert Euro für Rock und Umhang, fast vierzig Euro der Hut. Unsere traditionelle Kleidung kostet mehr als die modernen Sachen, sagt die Senora. Mir wird klar, dass es etwas mit Stolz und Prestige zu tun hat, die Kleidung der Cholitas zu tragen. Aber wir werden wegen unseres Aussehens diskriminiert, fährt die Frau fort. Cholita Nos criticaban antes la gente un poco de media, de alta sociedad, o sea, nos insultaban: estas cholas, estas campesinas. ... A veces venian de los pueblos y no tenian ducha, todo eso, no se podian cambiar todos los dias. Entonces ellos nos insultaban en la calle, en los buses. Ahora ya ha cambiado. ... Mujeres de pollera nunca han trabajado. No han sido ni concejales. Ahora tambien hay mujeres de pollera que son autoridades, no, concejales, en diferentes municipios. Hay diputadas, tambien en muchos ministerios ahora estan trabajando mujeres de pollera. SPRECHERIN 1 Früher nannten uns die Leute aus der Mittel- und der Oberschicht Cholas, Bäuerinnen. Das war kränkend. Nicht alle Frauen vom Land hatten eine Dusche und konnten jeden Tag ihre Kleider wechseln. Auf der Straße und in den Bussen wurden sie beleidigt. Das hat sich zum Teil geändert. Wir Frauen mit langem Rock bekamen früher auch keine Arbeit, wir konnten nicht in die Politik. Heute gibt es Frauen, die öffentliche Ämter bekleiden, die in den Stadträten vertreten sind, als Abgeordnete im Parlament sitzen oder in den Ministerien arbeiten. ATMO Begrüßung, Stimmen ERZÄHLERIN Roberto de la Cruz bittet mich in sein Büro. Er ist in Eile, die nächsten Besucher warten schon. Doch für ein paar Worte über die Einwandererstadt El Alto und ihr explosionsartiges Wachstum reicht die Zeit. Roberto de la Cruz El Alto nació con rango de ciudad con una ley en 1985. Con cerca de medio millar de habitantes. Con un crecimiento poblacional de casi diez por ciento anual, se podría decir casi se ha duplicado a partir del 1985. Actualmente en poblacion es la segunda ciudad mas importante de Bolivia. Y estoy seguro que de aquí a en un par de anos, será en poblacion la primera ciudad mas importante de Bolivia. Aproximadamente un 40 por ciento de la poblacion no tiene agua, luz tampoco, sobre todo en las periferias. Y la mitad no tiene alcanterilado en la ciudad del Alto, a domicilio. Esta falta de necesidades basicas hace de que la poblacion en su conjunto vive en condiciones muy precarias. SPRECHER 2 El Alto bekam den Status einer Stadt 1985. Damals lebten hier etwa eine halbe Million Menschen. Bei einem Bevölkerungswachstum von fast zehn Prozent jährlich kann man sagen, dass sich die Einwohnerzahl seitdem verdoppelt hat. El Alto ist heute die zweitgrößte Stadt Boliviens. Und ich bin sicher, dass es in einigen Jahren die Stadt mit den meisten Einwohnern sein wird. Aber etwa vierzig Prozent der Menschen, vor allem in den neubesiedelten Gebieten am Stadtrand, haben kein fließendes Wasser und keinen Strom. Und die Hälfte ist nicht an die Kanalisation angeschlossen. Die fehlende Grundversorgung hat zur Folge, dass die Bevölkerung unter sehr schwierigen Bedingungen lebt. ATMO Stimmen, Schritte, Zählen ERZÄHLERIN Nach der kurzen Begegnung mit dem Politiker stehe ich wieder neugierig vor dem Probenraum im Erdgeschoss. Jetzt bewegen sich junge Männer und Mädchen mit roten Röcken und schwarzen T-Shirts anmutig über den Holzboden. O-TON-MUSIK ERZÄHLERIN Die Gruppe studiert einen Volkstanz ein. Ein zierlicher, älterer Mann in Trainingskleidung nimmt mich mit in den Raum. Das ist das Folklore-Ballett von El Alto, sagt er. Eugenio Murillo war selbst einmal Tänzer. Er hat für das Kulturministerium in La Paz gearbeitet, erfahre ich. Und jetzt unterrichtet er hier in El Alto. Eugenio Murillo Es gratuito las clases. En la ciudad hay plata, aquí no. Cuando me jubilé, yo dije: donde voy? Entonces dije: al Alto. Es una ciudad joven, con gente joven, es una ciudad nueva, no. Yo empecé de cero. Daba clases en las plazas. Con los jovenes que estaban tomando, que estaban con droga. Los he convencido a que bailen conmigo. Después iba sumando, sumando, sumando. Esto, de la quemada, me ha favorecido porque ya me dieron todas las aulas para mí. Ellos necesitan centros de recreatividad, donde recrearse cuando tienen sus tiempos libres. Aquí a un paso vas vos, está lleno de cantinas, prostibulos, aquí se echan a perder. Puras discotecas tschung tschung tschung. Es una ciudad nueva que hay que trabajar para el futuro. Esto de acá a unos diez anos, quizás menos, va a ser una urbe, El Alto! SPRECHER 1 Der Unterricht ist kostenlos. In La Paz haben die Leute Geld, hier nicht. Nach meiner Pensionierung habe ich mich gefragt: Was mache ich jetzt? Und ich habe beschlossen, ich gehe nach El Alto. Das ist eine junge Stadt, mit jungen Menschen. Ich habe bei Null angefangen. Ich habe draußen auf den Plätzen unterrichtet. Jugendliche, die alkohol- oder drogenabhängig waren, habe ich überredet, mit mir zu tanzen. Dann wurden es mehr, immer mehr. Der Brand hier im Rathaus war gut für mich, denn die Politiker ziehen jetzt um, und ich bekomme sämtliche Räume für meine Arbeit. Die Jugendlichen brauchen Orte, an denen sie sich in ihrer Freizeit treffen und entspannen können. Ein paar Schritte von hier entfernt gibt es nur Bars und Bordelle. Eine Diskothek neben der anderen! El Alto ist eine neue Stadt, man muss hier für die Zukunft arbeiten! In zehn Jahren wird El Alto eine Metropole sein! O-TON-MUSIK 1