COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 29.September 2008, 19.30 Uhr Die letzten Tage selbst bestimmen Wo bleibt das Gesetz zur Patientenverfügung? Von Dr. Horst Gross Atmo 1a und Atmo 1b kombinieren zu Atmo 1: Geräuschkulisse Intensivstation (Monitor-Piepsen - Beatmung -Umgebungsgeräusche) darüber Sprecher vom Dienst: Die letzten Tage selbst bestimmen Wo bleibt das Gesetz zur Patientenverfügung? Eine Sendung von Horst Gross Atmo 1 langer Piepser kurz stehen lassen O-Ton 1 Keine lebenserhaltenden Maßnahmen auf Biegen und Brechen. Nicht an irgendwelche Maschinen anschließen. Keine künstliche Ernährung. Sprecher: Der knapp sechzigjährige Patient hat sich seit längerem mit seiner schweren Erkrankung auseinandergesetzt. Seine Entscheidungen wirken überlegt und abgeklärt. O-Ton 2 Ich bin so oft operiert worden im letzten Jahr. Es reicht. Sprecher: Der Mann hat eine Patientenverfügung verfasst, also schriftlich niedergelegt, was zu tun ist, falls sich sein Krankheitszustand weiter verschlechtert und er das Bewusstsein verliert. O-Ton 3 Ich hab mir überlegt: Ich hab gelebt, nicht schlecht gelebt, und jetzt hat sich's halt erledigt. Atmo O-Ton 4 Ich hab 2001 meine Tochter verloren und das war so der Aufhänger mich mit diesen Dingen - Leben und Tod und Sterben - mehr zu befassen. Sprecher: Die Frau im mittleren Alter ist eigentlich kerngesund. Trotzdem hat sie sich, nach eingehender Beratung beim Humanistischen Verband Deutschlands, bei einigen möglichen Krankheitsfällen festgelegt. Es sind die Schicksalsschläge, die jeden von uns aus voller Gesundheit heraus treffen und zu einer lang anhaltenden Bewusstlosigkeit führen können. Es geht um den plötzlichen Herztod, den Schlaganfall oder die schwere Verletzung des Gehirns bei einem Unfall. Und dann stellt sich die Frage: Wann soll die Therapie beendet werden? O-Ton 5 Ich habe nach eingehender Beratung mich festgelegt, maximal sechs Monate im Koma. Und wenn dann keine Besserung oder keine gute Perspektive mehr besteht, dann eben nicht. Und da hab ich dann gedacht na ja sechs Monate, das ist vielleicht eine Zeit, wo man auch entscheiden kann, wie die Prognose aussieht. Aus diesem Grund habe ich mich für diese Zeitspanne entschieden. Sprecher: Auch sie hofft, dass im Fall der Fälle sichergestellt ist, dass man ihre Wünsche befolgt. Das Mittel dazu ist ihre Patientenverfügung. Etwa 8 Millionen Menschen in Deutschland haben bereits eine solche Verfügung verfasst. Doch nicht immer sind sie Ausdruck persönlicher Erfahrungen oder einer wohlüberlegten Entscheidung. O-Ton 6 Ich hab schon Vertrauen, aber man hört immer wieder Fälle, dass dann doch der Ehrgeiz sehr groß ist, dann weiter zumachen und zu behandeln. Es ist doch für den Einzelnen eine sehr unangenehme Situation, wenn er da lange künstlich am Leben gehalten wird. Man hört ja oft in den Medien, dass die Leute lange lange künstlich am Leben gehalten werden und sehr zu leiden haben. Die Leute im Koma liegen, ewig und drei Tage. Das ist völlig sinnlos. Man bekommt Angst, wenn man das hört. Atmo 1a/1b Sprecher: Ein schwer kranker Mensch liegt auf der Intensivstation. Er ist nicht ansprechbar und muss beatmet werden. Die Prognose ist unklar. Vielleicht bleiben schwere Folgeschäden zurück und er wird zum Pflegefall, vielleicht wird er aber auch wieder gesund. Wer bestimmt jetzt, wieweit die Therapie gehen darf? Viele Menschen haben Angst vor einer solchen Situation, in der sie hilflos den Entscheidungen Dritter ausgeliefert sind. Atmo 2 kurz hochziehen und dann langsam ausblenden. O-Ton 7 Auch in der akuten Situation ist es für uns ein entscheidender Bestandteil zu sehen, was will dieser Patient wirklich, wie viel Therapie möchte er. Um dann zusammen mit der Prognose des Patienten und den Angehörigen eine Entscheidung zu treffen, die dem, was der Patient gewollt hätte, möglichst nahe kommt. Sprecher: Alexander Brack ist Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin der Charité Berlin. Er kennt solche Situationen aus eigener Erfahrung sehr gut. Ganz anders, als die Darstellung in den Medien vermuten lässt, stellt er immer wieder fest, dass der in der Verfügung fixierte Patientenwille auf Intensivstationen durchaus berücksichtigt wird. Man ist auch bereit dementsprechend Therapien zu beenden. Doch die Patientenverfügung hat hier auch ihre Grenzen. O-Ton 8 Zunächst einmal ist die Patientenverfügung, so wie sie in Deutschland im Moment gilt, nicht rechtsverbindlich. Das heißt, sie können heute nicht festlegen, dass etwas getan werden muss oder nicht getan werden kann. Die Patientenverfügung ist ein wesentlicher Baustein in der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens. Sprecher: Hier zeigt sich - neben der häufig vorhandenen Unkenntnis beim Verfassen - eine zweite entscheidende Schwachstelle der Patientenverfügung in ihrer jetzigen Form. Juristisch gesehen ist sie keine direkte Anweisung an den Arzt, die er befolgen muss. Sie ist vielmehr nur ein Indiz dafür, was der Patient vielleicht in dieser Situation will, in der er sich nicht äußern kann. Die Juristen nennen dies den "mutmaßlichen Willen". Doch den interpretiert nicht der Arzt, sondern ein von einem Vormundschaftsgericht bestimmter Betreuer. Dessen Aufgabe ist es dann, diesen Willen gegenüber dem Arzt zu vertreten. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang 2003 die schriftliche Patientenverfügung ausdrücklich als verbindliches Instrument zur Ermittlung dieses mutmaßlichen Patientenwillens anerkannt. In zahlreichen Gerichtsurteilen wurde festgelegt, wie der Betreuer damit umzugehen hat. Aber ist die jetzige Regelung wirklich praxistauglich? O-Ton 9 Ich bekomme fast jeden Tag Telefonanrufe von verunsicherten Patienten, Angehörigen, Ärzten und sogar Vormundschaftsrichtern aus dem gesamten Bundesgebiet, die mich fragen: Ja, was darf man jetzt und was darf man jetzt nicht. Sprecher: Gian Domenico Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München: O-Ton 9 weiter So, dass das alleine für mich ein wichtiges Zeichen ist, dass eine vernünftige, die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen klarstellende Gesetzgebung dringend notwendig ist. Atmo 2 kurz einblenden. Sprecher: Der Bundestag aber tut sich schwer, ein klärendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Ein halbes Dutzend Versuche sind bisher gescheitert. O-Ton 10 Aber es gibt natürlich einzelne Fragen, da gibt es fundamentale Unterschiede und das liegt daran, dass sie einem Kompromiss nicht zugänglich sind. Sprecher: Wolfgang Bosbach ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitinitiator eines Gesetzentwurfs zur Patientenverfügung. O-Ton 10 weiter Beispielsweise die Frage: Soll in einer bestimmten Situation noch ein Gericht entscheiden, ja oder nein. Da gibt es keinen Kompromiss. Da muss man sich entscheiden für eine Entscheidung des Gerichtes oder gegen eine Entscheidung. O-Ton 11 Es ist dem Zufall teilweise überlassen in Deutschland. Komme ich an eine Einrichtung, an einen Arzt, an ein Krankenhaus, die ganz normal akzeptieren: Jawohl, eine Patientenverfügung ist für mich selbst bestimmter Wille, der hat zu gelten. Sprecher: Joachim Stünker ist rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und hat maßgeblich den fraktionsübergreifenden Gruppenantrag entworfen, den das Parlament vor der Sommerpause debattierte. O-Ton 11 weiter Oder sie finden andere, die sagen "nein". Was der aufgeschrieben hat, da bin ich medizinisch aber ganz anderer Meinung und ich halte mich dann auch nicht daran. Also es ist nicht einheitlich! Und das kann nicht sein in einem Rechtsstaat, dass es dem Zufall überlassen bleibt, in welches Krankenhaus ich möglicherweise nach einem Notfall gelange und es unterschiedlich gehandhabt wird. In einem Rechtsstaat muss dann auch rechtsstaatliche Klarheit gelten. Sprecher: Wolfgang Bosbach und Joachim Stünker vertreten die zwei Extrempositionen in einer Debatte, die quer durch die Fraktionen geht. Ginge es nach Wolfgang Bosbach bliebe die Patientenverfügung nur auf Situationen beschränkt, in denen der Betroffene bereits an einer schweren, bald zum Tode führenden Krankheit leidet. Diese Reichweitenbegrenzung soll verhindern, dass noch Gesunde in sachlicher Unkenntnis schwerwiegende Fehlentscheidungen für den Krankheitsfall treffen. Diese müssten dann nämlich bedingungslos umgesetzt werden. Das bedeutet aber eben auch, dass die wohlüberlegte Entscheidung eines Gesunden, der zum Beispiel im Fall einer Demenz nicht mit einer PEG-Sonde ernährt werden will, nicht umgesetzt werden kann. Stünker dagegen will in seinem Entwurf eine möglichst maximale Reichweite der Patientenverfügung festlegen. Auch der Gesunde soll unbegrenzt vorbestimmen können, was später im Falle einer schweren Krankheit mit anhaltendem Bewusstseinsverlust geschehen darf oder nicht. Die Verantwortung für Fehlentscheidungen liegt bei ihm selbst, denn seine Verfügungen sind absolut verbindlich. O-Ton 12 Die Reichweitenbegrenzung sagt, dass mein Selbstbestimmungsrecht nur gelten soll, wenn ich schon im Sterben liege. Und davor gilt mein Selbstbestimmungsrecht nicht. Davor muss ich mich nach der Reichweitenbegrenzung, die vom Kollegen Bosbach vertreten wird, muss ich mich möglicherweise, wenn ich mich selber nicht mehr äußern kann, medizinisch zwangsbehandeln lassen. Das ist also der Hintergrund. Unser Gesetzentwurf fragt nicht danach, was vernünftig oder was unvernünftig ist. Entscheidend ist das Selbstbestimmungsrecht, das Selbstbestimmungsrecht aus der Verfassung. Und das Selbstbestimmungsrecht fragt nicht danach, ob es vernünftig ist oder ob es nicht vernünftig ist. Sprecher: Doch gerade diese Auffassung von Autonomie wird heftig kritisiert. O-Ton 13 Dahinter steckt natürlich unausgesprochen der Satz "Pech gehabt". Wenn jemand etwas schreibt, was er für den Fall eigentlich nicht so gemeint hat, aber es mit dem Leben bezahlen muss, dann hat er Pech gehabt. Ich halte das für eine zynische Haltung. Viele Menschen werden sagen, ich möchte keine künstliche Beatmung haben und meinen damit Fälle, wo sie unheilbar erkrankt sind oder wo sie für einen längeren Zeitraum oder vielleicht sogar auf Dauer auf künstliche Beatmung angewiesen sein werden. Was aber passiert, wenn sie einen Monat später einen Unfall haben und möglicherweise nach kurzer dreitägiger künstlicher Beatmung wieder als geheilt entlassen werden könnten. Was dann? O-Ton 14 Wir mit unserem Entwurf schreiben ja niemanden etwas vor, was er tun soll. Sondern wir sagen: Nur wenn du es denn tust und wenn du es möchtest, dann musst du es so und so machen. Es geht nicht darum, dass wir mit dem Gesetz die Menschen dazu bringen wollen eine Patientenverfügung zu machen. Es gebt nur darum, dass die, die eine machen auch die Sicherheit haben müssen, dass ihr Selbstbestimmungsrecht gewahrt wird. Sprecher: Bisher waren sich Bosbach und Stünker einig, generell auf eine Beratungspflicht, als Bedingung einer Verfügung, zu verzichten. Doch gerade bei diesem Punkt ist Bewegung in die Debatte gekommen. Abgeordnete von CDU, SPD, FDP und den Grünen, darunter Wolfgang Bosbach, diskutieren derzeit einen neuen Vorschlag. Dabei greift man Ideen auf, die auch der Münchener Palliativmediziner Borasio für praktikabel hält. O-Ton 15 Auf der anderen Seite denke ich, ist es sinnvoll die Menschen zu motivieren, dass sie sich ärztlich beraten lassen, bevor sie eine solche Patientenverfügung erstellen. Und das könnte man machen, in dem man sagt: alle Patientenverfügungen sind wirksam, aber hundertprozentig verbindlich sollten nur diejenigen Patientenverfügungen sein, die tatsächlich schriftlich formuliert sind, hinreichend präzisiert sind und nach einer dokumentierten, qualifizierten ärztlichen Beratung erstellt worden sind. Sprecher: Der neue Vorschlag aus den Reihen der Abgeordneten, denen der sogenannte "Stünker-Entwurf" zu liberal ist, will die Verfügung differenzieren. Menschen, die sich in der terminalen Phase einer schweren Krankheit befinden, sollen demnach auch ohne Beratung und ohne Notar eine Verfügung aufsetzen können. Diese ist dann absolut verbindlich. Aber Gesunde, die eine Verfügung für mögliche zukünftige Krankheitsfälle aufsetzen, sollen verpflichtet werden sich umfassend beraten zu lassen. Ihre Verfügung muss notariell beglaubigt werden. Doch, ob der Stünkerentwurf, oder der derzeit diskutierte Vorschlag der Arbeitsgruppe um Wolfgang Bosbach eine parlamentarische Mehrheit finden wird, bleibt offen. Denkbar ist auch, dass in absehbarer Zeit kein Gesetz zustande kommt. Das bedeutet nicht, dass Patientenverfügungen wertlos sind. Atmo 2 Mittlerweile hat die Rechtsprechung in zahlreichen Gerichtsurteilen die Patientenverfügung zum Faktum gemacht. Präzise abgefasste und konkrete, auf die Krankheitssituation bezogene Verfügungen sind schon jetzt quasi rechtsverbindlich. Sie müssen nur ausreichend differenziert formuliert sein. Doch genau hier liegt auch das Problem: Die meisten Patientenverfügungen sind viel zu pauschal und in der Regel ohne ausreichende medizinische Beratung verfasst worden. In Ernstfall sind sie deshalb meist wertlos. O-Ton 16 Weil ja viele, und das ist schon ein fürchterliches Problem, viele Leute, viele Leute legen uns ihre Verfügung vor und haben überhaupt keine Ahnung, was da drin steht. Das ist wirklich dramatisch. Sprecher: Gita Neumann vom Humanistischen Verband Deutschlands berät seit Jahren Menschen, die eine Patientenverfügung abfassen. Sie erlebt immer wieder, dass sich Betroffene der Einfachheit halber ein Formular aus dem Internet laden und dann versuchen es laienhaft mit eigenen medizinischen Vorgaben zu ergänzen. O-Ton 17 Wir empfehlen, das nicht zu tun. Wenn ich das individuell geregelt haben will, würden wir sagen nicht ohne Beratung. Sprecher: Wer auf eine Standardverfügung zurückgreift, etwa die des Bundesministeriums der Justiz, geht kaum ein Risiko ein, in sachlicher Unkenntnis für ihn ungewollt vielleicht sogar gefährliche Entscheidungen zu treffen. Etwa indem er versehentlich die künstliche Beatmung in Situationen untersagt, in denen er durchaus einen Nutzen davon hätte. Zwar lassen auch diese Patientenverfügungen gewisse Auswahlmöglichkeiten zu, doch die sind so vorformuliert, dass sie sich nur auf unproblematische Situationen anwenden lassen. Zum Beispiel, in dem man in der nahen oder eingetretenen Sterbesituation Maßnahmen wie Beatmung oder Ernährung untersagt. Schlecht und unpräzise formulierte Patientenverfügungen landen aber oft vor Gericht. Statt zur gewünschten Therapiereduktion kommt es dann zu einem langwierigen juristischen Hin und Her. O-Ton 19 Je klarer eine Patientenverfügung formuliert ist, je mehr sie Ausdruck einer reflektierten und aufgeklärten Entscheidung ist, umso weniger Konfliktfälle wird es geben. Sprecher: Wolfram Höfling, Vorstandsmitglied der Deutschen Hospiz Stiftung. O-Ton 19 weiter Je schlechter die Patientenverfügungen sind, und je weniger klar die Rechtslage, umso häufiger werden wir die Vormundschaftsrichter haben. Weil das oftmals auf das berechtigte Unverständnis von Ärzten und Pflegenden stößt, solche Patientenverfügungen umzusetzen, von denen sie ganz große berechtigte Zweifel haben, dass sie dem Willen des Betreffenden entsprechen. Und schon haben wir dann den Konflikt möglicherweise der Angehörigen, die das durchsetzen wollen und schon sind sie beim Vormundschaftsrichter. Sprecher: Solche Zweifel kann man nur dadurch ausräumen, dass die Verfügung auch die Motivation der Betroffenen klar nachvollziehbar macht. Dazu ist aber eine sehr individuelle Beratung notwendig. Bei der "Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige" in Basel hat man eine beispielhafte Beratungstechnik entwickelt, die sich an dem Wertesystem des Einzelnen orientiert und dem Arzt dann eine für ihn nachvollziehbare Verfügung an die Hand gibt. O-Ton 20 Die wertorientierte Beratung, die konzentriert sich ganz stark auf biografische Elemente und vor allem auf die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit, die der Patient in der Biografie erkennt. Sprecher: Settimio Monteverde, Ethiker, Theologe und Krankenpfleger, hat einige Jahre diese Baseler Beratungsstelle zur Patientenverfügung geleitet. O-Ton 20 weiter Es geht nicht darum additiv aufzuzählen, was hab ich alles erlebt und durchstanden sondern, wie habe ich die Erfahrung von Gesundheit, Krankheit, von Erwachsenwerden, vom Sterben meiner Eltern, in der Verwandtschaft, wie habe ich das verarbeitet. Was gibt es für Bilder in mir, die den Umgang mit Gesundheit und Krankheit eigentlich prägen. Sprecher: Eine solche Beratung ist naturgemäß sehr zeitaufwendig und setzt die aktive Mitarbeit der Ratsuchenden voraus. O-Ton 21 Also sie bekommen im Voraus einen Katalog an Fragen zugeschickt, an sehr offenen Fragen. Das sind so Fenster, die aufgemacht werden und wo dann der Berater schaut, was bringt der Patient ein, was hat er an Erfahrungen. Was ist der Stellenwert der Autonomie, also was bedeutet diesem Menschen die Tatsache, frei darüber entscheiden zu können, wie er seinen Alltag bestimmt? Was ist die spirituelle Dimension, die den jetzigen Alltag als gesunden Menschen begleitet und was gibt es für Visionen von Älterwerden, von Krankheit und Abhängigkeit, die auch ein Ausdruck von Erfahrungen sind. Der Berater stellt daraus einen Text zusammen und gleicht ihn so lange mit dem Patienten, mit dem Menschen ab, der in die Beratung kommt, bis es seine eigenen Worte sind. Sprecher: Dabei gilt es auch Fehleinschätzungen der Menschen, die eine Patientenverfügung abfassen, zu relativieren. O-Ton 22 Aber es ist auf jeden Fall nicht so, dass der Eindruck erweckt werden soll, der Patient ist in einem Supermarkt und jetzt stellt er sich einen Wagen zusammen mit den Produkten, die er gerne hat oder die er nicht will. Dem ist auch in der Realität nicht so, weil auch rechtlich ganz klar ist, dass der Arzt verpflichtet ist, die Übersetzung zu schaffen zwischen dem, was er in der Patientenverfügung als Text vorliegen hat und der aktuellen Situation des Patienten. Sprecher: Bei einer solchen Beratung werden die Betroffenen mit sehr persönlichen Fragen konfrontiert. Eine konstruktive Verunsicherung ist dabei durchaus gewollt. O-Ton 23 Was ist, wenn sie in der Demenz glücklich erscheinen? Den ganzen Tag in einem Park sind, die Kinder beobachten wie sie spielen und dann haben sie eine Lungenentzündung. Wollen Sie dann nicht mehr leben? Stimmt das für sie oder wie soll das therapeutische Team Zeichen von Lebensfreude, die sie haben, wie wollen sie, dass die interpretiert werden. O-Ton 24 Die Beratung hat etwa 2 1/2 Stunden gedauert und es war sehr anstrengend. Weil man mit Dingen konfrontiert wurde, mit denen man überhaupt nichts zu tun hatte. Weit weg geschoben hat. Und durch die individuelle und gute und fachliche Beratung hatte ich auch ein sehr gutes Gefühl. Ich wurde auf Sachen hingewiesen, auf die wäre ich überhaupt nicht gekommen alleine. Und das sind so die individuellen Punkte, die dann da so zum Tragen kamen. Ich war richtig erschöpft hinterher. Aber nachher auch wieder glücklich, das gemacht zu haben. Ich könnte das nur jedem Menschen empfehlen, solche individuelle Beratung für sich selbst zu machen. Atmo 2 kurz hochziehen Sprecher: Im Grunde bräuchten alle, die eine Patientenverfügung verfassen eine so ausführliche Beratung wie man sie etwa in Basel anbietet. Aber die Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur wird in keinem der deutschen Gesetzentwürfe thematisiert. Gut nachvollziehbar, denn es würden Kosten entstehen. Ist aber ein Gesetz zur Patientenverfügung, das so einen wichtigen Aspekt einfach ausspart, nicht fahrlässig? Wolfram Höfling von der Deutschen Hospiz Stiftung: O-Ton 25 Fachkundige Beratung ist natürlich zunächst auch eine medizinische und medizinethische Beratung. Der Hausarzt wäre, wenn es ihn denn noch in der klassischen Form gibt, sicherlich eine ganz wichtige Anlaufstelle. Aber auch da glaube ich, dass die meisten Hausärzte ohne entsprechende Weiterbildung auch überfordert wären. So dass wir auch da in die Ausbildung investieren müssten, als Voraussetzung für eine angemessene Beratung. Ansonsten gibt es Stellen, die glaube ich ganz gute Beratung machen. Sprecher: Diese wenigen Beratungsstellen, wie sie etwa der Humanistische Verband Deutschlands oder die Hospiz Stiftung betreiben, reichen jedoch bei weiten nicht aus. Aber auch der Weg zum Anwalt oder Notar ist keine echte Alternative. Hier fehlt in der Regel die medizinische Kompetenz, die in eine Verfügung einfließen muss, um sie praxistauglich zu machen. O-Ton 26 Und in einem kleinen Absatz kam dann die Patientenverfügung zur Sprache. Die also erstmal sehr ungenau formuliert war. Überhaupt nicht ausreichend. Und da hab ich dann zu dem Notar gesagt, dass das also überhaupt nicht ausreichend ist. Da war ich eigentlich doch sehr entsetzt, dass eine Patientenverfügung, die ja etwas ganz Individuelles für meinen gesundheitlichen Bereich und auch für eventuell einen Heimaufenthalt ausreichend sein soll, in drei vier Sätzen abgehandelt wird. Atmo 2 kurz hochziehen Sprecher: Wie kann man sich aber erklären, dass das Thema Patientenverfügung so brisant geworden und der Wunsch sich mit einer Verfügung abzusichern, weit verbreitet ist? O-Ton 27 Man muss den Boom der Patientenverfügungen letztlich auch als Ausdruck eines verloren gegangenen Vertrauens in die moderne Medizin deuten. Sprecher: Giovanni Maio ist Lehrstuhlinhaber für Bioethik an der Universität Freiburg. O-Ton 27 weiter Es ist der Eindruck entstanden, als müssten die Menschen sich heute, wenn sie in die Klinik kommen vorher wappnen mit Schutzschildern, die sie Verfügungen nennen, damit sie nicht von den Ärzten um jeden Preis am Leben erhalten werden. Und deswegen muss man diesen Trend zur Patientenverfügung innerhalb der Medizin sehr ernst nehmen, als Ausdruck eines mitunter aufgekündigten Vertrauens. Sprecher: Besser einen frühen Tod verfügen, als hilflos der Medizin und den Pflegeeinrichtungen ausgeliefert zu sein. Die Angst davor, als Kranker seine Autonomie zu verlieren ist gerade bei jüngeren Menschen eines der Hauptmotive dafür, dass sie eine Patientenverfügung verfassen. O-Ton 28 Ich denke das der Boom der Patientenverfügungen momentan Ausdruck einer bestimmten Denkströmung ist, die kritisch hinterfragt werden muss. Und implizit zwar nicht bei allen Verfügungen, aber implizit ist doch mit der Vorstellung man könne oder man müsse sogar das Sterben abkürzen, bestimmte Lebensphasen abschneiden der Grundgedanke hinter diesem Wunsch ist aus meiner Sicht ein defizitärer Gedanke, weil der moderne Mensch oft von dem Wahn befallen ist, alles kontrollieren zu müssen und das das nicht mehr kontrollierbar ist abzulehnen. Und von dem Wahn besessen ist bis hinzu seinen letzten Tagen alles im Griff haben zu wollen, und wenn ihm das nicht mehr gelingt, alles im Griff zu haben, dann lehnt er das Weiterleben ab. Sprecher: Erstaunlich an der jetzigen Diskussion über die Patientenverfügung ist zudem, dass die Motive der Verfügenden, ihre Ängste und Befürchtungen, kaum Gegenstand der reflektierenden Diskussion sind. O-Ton 29 Die Studien zum Beispiel zur aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden belegen eindeutig, dass der Wunsch nach der aktiven Sterbehilfe doch getragen ist von der Angst, anderen zur Last zu fallen. Er ist getragen von der Angst, dass niemand sich für einen selbst interessieren wird, wenn man denn schwer krank sein wird. Und da frage ich mich, in welcher Kultur des Lebens und Sterbens leben wir, wenn Menschen meinen, dass ab dem Moment, da sie bestimmte Behinderungen haben, doch lieber nicht mehr sein wollen, als weiterzuleben. Sprecher: Deshalb ist für Maio der Begriff Autonomie in diesem Zusammenhang problematisch. Eine Patientenverfügung kann nur dann Ausdruck von selbstbestimmtem, autonomem Handeln sein, wenn in unseren Krankenhäusern und Heimen auch für Schwerkranke und Sterbende akzeptable Verhältnisse herrschen. Wenn man weiß, in dieser Situation dort gut betreut zu werden. Wer sich dann trotzdem für eine Verkürzung der Behandlung entscheidet, der handelt autonom. Doch wer aus Angst vor einem seelenlosen Medizinbetrieb lieber schneller sterben möchte, der handelt nicht autonom, sondern unter Zwang. Hierzu trägt auch die zunehmende Kommerzialisierung der Medizin bei. Auch sie stört das Klima zwischen Arzt und Patient. Die Angst, dass in den letzten Stunden auch noch an einem verdient wird und man deshalb an unsinnige Geräte angeschlossen wird sitzt bereits tief. O-Ton 30 Und heutzutage, wenn ich das höre, dass ein Krankenhaus wirtschaftlich arbeiten muss. Da habe ich nicht mehr so sehr viel Vertrauen zum Arzt. Denn der erste Gedanke bei mir ist, der muss ja daran denken wirtschaftlich zu handeln und nicht nur nach seinem Hippokratischen Eid. Und das ist bei mir der Punkt, wo ich sage, ich brauche eine Patientenverfügung. Ich vertraue dem Arzt, dass er mir auf alle Fälle helfen möchte, helfen will. Aber ich vertraue dem Arzt nicht dahingehend, dass er auch Hilfe beenden wird, wenn es notwendig ist, damit der Mensch sterben kann. Sprecher: Denn das Beenden der Therapie wäre, so vermutet diese Verfasserin einer Verfügung für das Krankenhaus mit Einnahmeverlusten verbunden. Und ihre Vermutung hat einen realen Hintergrund: Die Krankenkassen zahlen umso mehr, je intensiver therapiert wird. Das ist die Logik des neu eingeführten Abrechnungssystems der diagnosebezogenen Fallgruppen, kurz DRG. Seitdem können und müssen Deutschlands Krankenhäuser Gewinne machen. Atmo 2 kurz hochziehen Sprecher: Ist also die Patientenverfügung in vielen Fällen nur der verzweifelte Versuch sich gegen Missstände in der modernen Medizin zu wehren? Brauchen wir neben einem Gesetz zur Patientenverfügung vielleicht noch etwas ganz anderes? Der Münchner Palliativmediziner Borasio: O-Ton 32 Das beste Gesetz zur Patientenverfügung wäre ein Gesetz, was die Palliativmedizin zum Pflichtfach an allen medizinischen Hochschulen macht. Denn durch dieses Gesetz könnte man nachweislich die meisten Probleme lösen, deretwegen heutzutage Patientenverfügungen überhaupt verfasst werden. Das wäre gar keine so teure Maßnahme, würde aber eine enorme Verbesserung des Wissensstandes der Ärzte mit sich bringen, denn Palliativmedizin ist Aufgabe aller Ärzte. Sprecher: Sinn der Patientenverfügung ist heute immer noch die Abwehr von medizinischer Übertherapie. Das könnte sich aber schon in naher Zukunft ändern. Die Kosten für Pflegefälle werden in Deutschland in den nächsten Jahren massiv zunehmen. Eine Kostenexplosion, die zu massiven Einsparungen in der Patientenversorgung führen könnte. Vielleicht entdecken dann viele Menschen, dass eine Patientenverfügung auch einen ganz anderen Sinn haben kann. Unter dem O-Ton langsam Atmo 2 hochziehen, so dass am Ende das Monitor- Piepsen gut zu hören ist und etwas überhängt. O-Ton 33 Und in Zukunft könnte ich mir durchaus vorstellen im Rahmen dieses ganzen Managed-Care-Denkens in der Medizin, dass Patienten in der Verfügung auch eine minimale Versorgung sich sichern wollen. Und dass es hier auch kippt. Und man sagt die Patientenverfügung ist weniger ein Instrument, mit dem ich Abwehrrechte formuliere, sondern Teilhaberechte. Also ich will mir eine gute Versorgung sichern im Zeichen von DRG. Die Zukunft wird es zeigen. Sprecher vom Dienst: Die letzten Tage selbst bestimmen Wo bleibt das Gesetz zur Patientenverfügung? Eine Sendung von Horst Gross. Es sprach: Markus Hoffmann Ton: Martin Eichberg Regie: Beate Ziegs Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 Am kommenden Montag hören Sie: Zurück in die Zukunft?! Die Mitbestimmung auf dem Prüfstand Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 6 1