COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur - Nachspiel 12. April 2009, 17.30 Uhr Freie Fahrt für Hatice - Radfahrkurse helfen Migrantinnen bei der Integration Immer mehr Frauen, vor allem in Berlin und Hamburg, besuchen Radfahrkurse für Migrantinnen. In den Großstädten werden diese Kurse u.a. von der Polizei, der Volkshochschule und Sportlehrern angeboten, zum Teil gefördert als Maßnahme für Integration. Denn Radfahren lernen heißt für die Einwanderinnen aus überwiegend muslimischen Ländern nicht nur mehr Sportlichkeit. Mit dem Sprung auf den Drahtesel verändert sich oft ihr ganzes Leben. Sie können ihren Stadtteil verlassen, ohne Geld für ein Bus- oder Straßenbahnticket ausgeben zu müssen. Sie lernen neue Frauen und Gegenden kennen, werden gesünder, selbstbewusster und mutiger. Dass diese Entwicklung nicht von allen positiv gesehen wird, ist klar. Manch arabischer oder türkischer Ehemann steht am Rand des Übungsfeldes und schaut seiner Frau bei ihrem neuen Hobby eher skeptisch zu. "Freie Fahrt für Hatice - Radfahrkurse helfen Migrantinnen bei der Integration" - ein Nachspiel von Bettina Ritter -------------------------------- Atmo 1 MD1, Gr. 7/4 Draußen, Radkurs Buchholz, Frauen reden, Fahrradgeräusche, weiter unter O-Töne O-Ton 1 Teilnehmerin, arabischer Akzent, außer Atem, MD1, Gr.7/5, 0:15 Ich kann nicht mehr, schwer, aber ich muss lernen. (lacht) Ich will Fahrradfahren! Atmo 2 Fahrradklingel Autorin 1 Sonntagvormittag, 11 Uhr, auf dem Pausenhof der Waldschule in Buchholz, 20 Minuten mit dem Zug von Hamburg entfernt. Elf Frauen zwischen Mitte 20 und Mitte 40 sitzen auf kleinen Fahrrädern, rollen wild durcheinander. Schwarze und braune Kopftücher flattern im Wind, es wird viel geredet und gelacht. Atmo 3 (lang!) MD1, Gr.11/3, ab 1:20 Nellie lacht laut: Große Mama. Brigitte ist groß und ihr Fahrrad ist klein... Autorin 2 Nellie, Maryam und Brigitte aus Togo und Nigeria, haben besonders viel Spaß. Nellie mag sich gar nicht mehr beruhigen, immer wieder rutscht sie mit dem einen Fuß vom Rahmen ab. Der soll eigentlich da oben bleiben, mit dem anderen soll sie sich vom Boden abstoßen, Schwung holen, und, im Sattel sitzend, mit ihrem Rad einfach drauflos rollen. Das ist nur eine der Übungen des zweiten Tages. Nach vier Tagen sollen die Einwanderinnen aus Marokko, Afrika, Afghanistan und der Türkei sicher im Sattel sitzen können, sagt Christian Burmeister, ihr Lehrer. O-Ton 2 Burmeister, MD1, Gr.9/7 Ganz grob ist es so, dass wir zunächst den Roller benutzen und mit dem Roller uns das einverleiben und uns erobern, was es heißt, sich von der Geschwindigkeit tragen zu lassen. Das heißt, den Lenker frei zu halten als Element der Balance letztendlich. Und das, was wir uns auf dem Roller erschlossen haben, das nehmen wir fast eins zu eins mit ins Fahrrad, indem wir auf dem Pedal zunächst mal rollern, ohne Sattel, dann kommt ne Laufradphase, in der wir die Pedalen kurz wieder abschrauben und das Rad, wie die Kinder heutzutage auch, als Laufrad benutzen, und - das fühlt sich dann für die Betroffenen an wie Magie - das fügt sich dann zum Radfahren zusammen. Autorin 3 Seit 20 Jahren bringt Christian Burmeister Erwachsenen das Radfahren bei. Sein ältester Schüler war 93, erinnert sich der große Norddeutsche mit den blonden Haaren, Jeans und knallgrüner Regenjacke. Seit vier Jahren wird der Sportwissenschaftler immer häufiger als Lehrer für Kurse für Migrantinnen engagiert. Die werden unter anderem vom Hamburger Sportbund unterstützt, der sie in seinem Projekt "Sport gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus" anbietet, als Integrationsmaßnahme. O-Ton 3 Burmeister MD1, Gr.9/14 Ich weiß von mehreren, die seit der Zeit auch regelmäßig Radfahren, und bei denen der Aktionsradius im Stadtteil natürlich deutlich gewachsen ist. Man könnte das auf den Punkt formulieren, dass die Fähigkeit des Radfahrens auf einen Schlag Mobilitätsprobleme, Gesundheitsprobleme, Integrations- und Emanzipationsprobleme zu lösen vermag. Das ist fast so ne Art Biographieknick, der sich da einstellt, im positiven Sinne. Atmo 4 MD1, Gr.1/7, Teilnehmerin Nellie lacht, ruft Juhu Atmo unter O-Ton blenden mit Atmo 5 Gr. 2/1 Pausenraum, Frauen reden leise O-Ton 4 MD1, Gr.2/9, Nellie I am happy that I am learning the bicycle. Maybe when I find a job, when I can not drive with bus, I can drive with the Fahrrad to go anywhere I want to go.... Ich finde es gut, dass ich Fahrradfahren lerne. Wenn ich einen Job finde, und kein Bus dahin fährt, dann kann ich das Rad nehmen. Egal, wohin ich will, ich kann dann mit dem Rad hinfahren. Zum Einkaufen zum Beispiel, das geht dann ganz schnell. (11) In Nigeria hatten meine Eltern kein Fahrrad, das war zu teuer. Also habe ich es nicht als Kind gelernt. Ich bin froh, dass ich das jetzt nachholen kann. (10) Ich habe auch gar keine Angst, ich fühle mich gut auf dem Rad. ... I am happy about it, I feel good, when I handle the bicycle. Autorin 4 Nellie lächelt verlegen. Die kleine, stabile 29-Jährige mit dem gelben Pullover und den Haaren, die zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden sind, lebt seit viereinhalb Jahren in Deutschland, anderthalb Jahre davon im kleinen Buchholz. Sie macht einen Deutschkurs, aber so richtig Sprechen traut sie sich noch nicht. Sobald es mit der Sprache besser klappt, will sie sich eine Arbeit suchen. Das Radfahren soll ihr dabei helfen. Die 38 Jahre alte Kaukap aus der Türkei will vor allem wegen ihrer Kinder rauf aufs Rad. Die fünf Söhne können es nämlich schon, auch ihr Jüngster, der ist 9, erzählt sie während der Mittagspause. O-Ton 5 Kaukap, MD1, Gr.2 (7) Wenn er zur Schule geht, er geht dritte Klasse, dann kann ich mitfahren. Weil, er alleine, darf er nicht fahren. (3) Ich fühle mich wie ein kleines Kind. Das macht Spaß! Es ist gesünder, Sport zu machen. Auch wegen Einkaufen und so. Außerdem sind Bus teurer geworden, und Auto teuer. Ich wohne ja auch ein bisschen weit von Stadt, deswegen. O-Ton 6 Heidrun Asmus, MD1, Gr. 4/1 Wir haben ja auch sehr viel allein erziehende Frauen bei uns. Und ich habe festgestellt, dass die in ihrer Heimat, da werden die ja aufgefangen durch ihre Großfamilie, da sind die ja betreut, und das ist alles nicht so schwerwiegend wie bei uns. Wir deutschen Frauen sind es gewohnt, allein zu sein oder in einer Kleinfamilie. Autorin 5 Heidrun Asmus ist eine der vier deutschen Frauen, die heute beim Kurs dabei sind, Fotos machen und Christian Burmeister beim Erklären helfen. Sie hatte die Idee zum Kurs. O-Ton 7 Heidrun Asmus weiter Und deshalb ist es für die ganz, ganz wichtig, so ein Stück Selbständigkeit mehr zu bekommen, unterwegs sein zu können, mal Ausflüge machen zu können, sich mit anderen Frauen zusammentun zu können. Und auch, was ihr eigenes Selbstwertgefühl angeht, das steigert sich eben auch dadurch. Hej, ich kann was. So, wie die Teilnehmerin beim ersten Mal gesagt hat: Zum ersten Mal kann ich sagen, ich bin stolz auf mich. Autorin 6 Heidrun Asmus ist, wie alle anderen Frauen hier, Mitglied beim Internationalen Frauentreff, der den Radfahrkurs organisiert. Seit 13 Jahren treffen sich in Buchholz ausländische und einheimische Frauen regelmäßig. Zum Kaffeetrinken, Kochen, zu Vorträgen und Ausflügen. Eine Idee der damaligen Flüchtlingssozialberaterin, erinnert sich die jetzige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, Martha Vogelsang. Die Frauen freuen sich, aus ihrem engen Umfeld rauszukommen, sagt sie und schaut in die Runde. O-Ton 8 Vogelsang, MD1, Gr.4/10 Einmal muss man nur mal durch Buchholz gehen, dann sieht man, was Sie wahrscheinlich in jeder Großstadt sehen, dass meistens die ausländischen Menschen unter sich sind. Dass das trotz unserer jahrelangen Bemühungen noch sehr wenig aufgebrochen ist. Dass ne ganze Familie sich mit deutschen Familien austauscht, dass das immer noch ne Seltenheit ist. Wir haben das Projekt ja genannt "Frauen aufs Fahrrad zur Freizeit". Es schafft den ausländischen Frauen mehr freie Zeit und Arbeitserleichterung, aber auf der anderen Seite können sie dann mit uns deutschen Frauen gemeinsam mehr unternehmen. Autorin 7 Daraus entstünden durchaus Freundschaften, sagt Vogelsang und streicht sich die langen grauen, vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht. Nicht nur die ausländischen Frauen lernten von den deutschen, sondern auch umgekehrt, betont sie. O-Ton 9 Vogelsang, O-Ton weiter ab 0:50 Wir haben zum Beispiel bei so einem Ausflug, den wir gemacht haben, von den türkischen Frauen das Sieben-Steine-Spiel gelernt. Das ist ein wunderbares Spiel, zu dem man nur Steine braucht und sonst gar nichts. Nicht nur, dass wir es nicht kannten, wir konnten es auch nicht, die sind da sehr geschickt. Also, wir erlernen was von ihnen und sie erlernen was von uns, und dadurch, dass wir gemeinsame Fahrradtouren machen, wird das öfter sein. Und wir haben einen viel größeren Radius. Das wird sehr dazu beitragen, dass sie sich hier freier bewegen und es auch leichter haben mit dem Kontakt. Autorin 8 So, wie die Frauen beim Radfahren lachen und jetzt bei türkischem Reis und Gemüse, nigerianischem Weiße-Bohnen-Gericht und marokkanischen Süßigkeiten zusammensitzen, kann man sich die einzelnen Schicksale kaum vorstellen. Hinter jeder dieser Frauen steckt eine dramatische Geschichte. O-Ton 10 Vogelsang, Gr. 4/14 Die meisten von denen, die Sie heute hier gesehen haben, sind Flüchtlinge, einige zum Beispiel Jesiden, die aufgrund ihrer Religion im Heimatland verfolgt wurden, einige Kurdinnen, die aus der Türkei geflüchtet sind, aus Afghanistan Flüchtlingsfrauen. Es sind Frauen dabei, die auch Kriegsflüchtlinge sind, und einige, die durch Krieg oder durch das, was sie da erlebt haben, schwer traumatisiert sind. Autorin 9 Viele haben außerdem Erfahrung mit häuslicher Gewalt, erzählt die Gleichstellungsbeauftragte. Wenn die Ehemänner wegen eines unsicheren Aufenthaltstatus nicht arbeiten dürfen, zuhause rumsitzen und Frust schieben, entlädt der sich zuerst gegen die Frauen. Je mehr Kontakte es außerhalb der Familie gebe, desto größer sei die Kontrolle, desto eher verlasse eine Frau so eine Situation, sagt Vogelsang. Die drei Afrikanerinnen in der Gruppe seien inzwischen alle allein erziehend. O-Ton 11 Vogelsang, MD1, Gr.4/13 Etwas, was ich ganz, ganz schön fand, war: eine von unseren Frauen hat gesagt, ich hab ein ganzes Jahr nicht mehr gelacht. Heute hab ich gelacht. Und eine hat gesagt - die ist schwer traumatisiert, auch gewalttraumatisiert - hat gesagt, ich hab mich gefühlt, wie ein kleines Kind, fröhlich und frech. Und das ist etwas, das sollte man nicht unterschätzen. Autorin 10 Während des Radfahrens vergessen die Frauen für ein paar Stunden ihre Sorgen, sei es den prügelnden Ehemann, die anstehende Zwangsheirat oder die Sprach- und Jobprobleme. Sport, körperliche Bewegung, Stolz auf das eigene Können und die eigene Leistung, das sind Erfahrungen, die die Frauen hier manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben machen. Viele durften als Mädchen keinen Sport treiben. Der Grund: Die von patriarchalischen Strukturen geprägte Tradition in den oft muslimischen Ländern. Die 35 Jahre alte Nadja aus Marokko erinnert sich. Sie ist erst seit zwei Jahren in Deutschland. O-Ton 12 Nadja, Gr. 3/8 Marokko auch, hat Muslim. Richtig Muslim. Sie sagt, darf nicht Frauen fahren, darf nicht machen das. Alles nur Jungen machen. Deine Traum geht nicht machen. Aber alles falsch, alles nicht richtig. O-Ton 13 Heidrun Asmus, Gr. 4/4 Bei den moslemischen Frauen ist es ja so, dass das nicht erlaubt ist. Ich habe von einer Iranerin gehört, die wurden dann sonntags von ihren Vätern in einen abgeschlossen Park gefahren, wo sie dann aufs Fahrrad durften, weil man ja ein Stück vom Bein sieht. Und das ist dann schon etwas schwierig. Und so haben sie in ihrer Kindheit nicht richtig Fahrradfahren gelernt, und wo sollen sie es lernen. O-Ton 14 Rotraut Wiedemann, MD2, Gr. 6/6 Das versuchen sie zu erklären, indem sie sagen, dass sie ihre Jungfräulichkeit dadurch verlieren können, durch das Radfahren. Das wollen sie verhindern. Also, das ist so ein Mythos, der da vorherrscht. ((7) Dass das unschicklich ist für Mädchen, sich nicht schickt, traditionell nicht in Rollenverständnis passt.) rausgenommen, hat sich nicht angehört Autorin 11 Rotraut Wiedemann schaut ratlos. Die Polizeioberkommissarin in grünem Pulli mit Polizei-Abzeichen, olivfarberner Hose und robusten schwarzen Schuhen sitzt auf einem schlichten Holzstuhl mit integrierter Schreibfläche. Er steht in einer Verkehrsschule in Berlin-Kreuzberg. Hier bringt die Verkehrssicherheitsberaterin Migrantinnen das Fahrradfahren bei. Seit 30 Jahren ist sie Polizistin in Berlin Kreuzberg, einem Stadtteil mit besonders hohem Ausländeranteil. Hier leben zum Teil noch Türken der ersten Einwanderer-Generation. Jahrzehnte sind sie in Deutschland, aber an ihren Traditionen halten sie fest, vor allem, wenn es um die Geschlechterrollen geht. Schwimmunterricht oder Fahrradfahren sind für viele Frauen, aber auch für deren Töchter, noch immer Tabu. O-Ton 15 Wiedemann, Gr. 6/5 Diese Tradition wollen wir durchbrechen, indem wir sagen, Kinder sollen Freude, Spaß am Radfahren haben, und das haben sie auch, und wir stellen fest, wenn wir dann mit den Eltern sprechen, dass es immer durchweg positiv war, also, dass weder die türkischen, noch arabischen, kroatischen Familien nie gesagt haben, nein, unser Kind soll das nicht, aber dass sie eben voreingenommen sind und dass sie ihre Tradition einfach pflegen, besonders die erste Generation. Aber, wenn sie aufgeklärt werden... Und das können die Stadtteilmütter machen. Atmo 6 MD2, Gr.1/1, Stadtteilmütter in Verkehrsschule, reden durcheinander Autorin 12 Die Stadtteilmütter von Berlin-Kreuzberg. Sie besuchen regelmäßig Einwanderer-Familien und helfen ihnen, sich im Alltag zurecht zu finden. Wo kann ich einen Deutschkurs machen, welches Amt ist für welches Problem zuständig - das sind Fragen, die die Stadtteilmütter beantworten können. Sie sind selbst aus der Türkei oder arabischen Ländern und sprechen beide Sprachen. Anders, als die Familien, die zum Teil schon lang hier leben. Heute sind sieben Stadtteilmütter in der Verkehrsschule am Wassertorplatz. Bevor sie bei anderen Müttern Werbung für die Radkurse machen, wollen sie es selbst lernen. Die meisten tragen Hosen und ihre langen, schwarzen Haare offen. Nur eine hat ein buntes Kopftuch und einen langen Rock an. Atmo 7 Gr. 4/2 Wiedemann: Vorderradbremse hatten wir letztes Mal. Auf Arabisch? Vorderradbremse? Frau: Auf Arabisch? Ähhh, Brek! Das ist ein Brek. Breklamam. Und chalf das hinten. Wiedemann: Auf Türkisch? Frau: Arka vitess. Wiedemann: Arka? Frem? Frau: Arka frem. Ja. Atmo weiter unter Autorin Autorin 13 Heute ist Theorie angesagt. Jede Frau hält ein Blatt in der Hand. Darauf abgebildet: ein Fahrrad mit allen Details, die es verkehrssicher machen. O-Ton 16 (bei Atmo) Atmo ranhängen! Faten Abbas, Gr. 3 (17) Das ist Leuchte mit Ruck... Rückstrahler mit integ... integrierter Standlichtfunktionen. Ach so. Das ist das. Und das? Betätigung der Direkt... Was ist das? Tret...? Tretkurbel? Ach so. (lachen) Das ist ein bisschen schwierig. (17) Das muss ich auch lernen, ich muss die Teile alle kennen lernen. Ich hoffe, dass ich lerne schnell. Autorin 14 Rückstrahler mit integrierter Standlichtfunktion, Großflächenrückstrahler, geschlossener Kettenschutz - die komplizierten Bezeichnungen gehen Faten Abbas noch nicht so flott über die Lippen. Wen wundert's. Seit sieben Jahren ist die studierte Mathematikerin aus dem Irak in Deutschland. Da sie hier nicht als Lehrerein arbeiten kann, engagiert sie sich als Stadtteilmutter. O-Ton 17 (bei Atmo ranhängen) Fatin Abbas, Gr. 3/20 (ab 0:40) Und das macht Spaß, Fahrrad fahren, und bei unserer Arbeit ist das wichtig, wir gehen hin und her zu Fuß und das finde ich... ich habe heute keine Zeit gehabt. Wenn ich Fahrrad fahre, brauch ich nicht halbe Stunde zu laufen, nein, zehn Minuten. Das wird für unsere Arbeit eine Erleichterung. Autorin 15 Faten Abbas schaut wieder auf ihren Zettel. Sie selbst kann schon Fahrrad fahren, hat es im Irak gelernt. Nur in Berlin traut sie sich noch nicht. So viele Autos, sagt sie, da hat sie Angst. Außerdem gibt es andere Regeln und Verkehrszeichen. Die muss sie erst lernen. Atmo 8 Gr. 3/5 Wiedemann: Rote Tomate mit Gürtel. Wat heißt det? Frauen: Stop oder so. Wiedemann: Ne. Frauen: Einbahnstraße oder so. Wiedemann: Durchfahrt verboten! Ich darf hier überhaupt nicht reinfahren. Aber? Frauen: Für Radfahrer erlaubt. Wiedemann: Genau. Motorradfahrer, Autofahrer nicht, aber Radfahrer dürfen. Atmo 9 Gr. 3/4 Frauen reden im Hintergrund Autorin 16 Rotraut Wiedemann steht an der Tafel, hält ein Plastik-Verkehrsschild nach dem anderen in die Höhe. Ein roter Kreis mit weißem Strich: Einfahrt verboten. Ein weißes Dreieck auf dem Kopf mit rotem Rand: Vorfahrt gewähren. Ein blaues Rund mit weißem Pfeil nach rechts: nur rechts abbiegen. Die Frauen raten kräftig mit, was die Zeichen bedeuten. In der nächsten Stunde geht es dann los mit dem Roller. Dann kommt das Laufrad und erst dann das richtige Fahrradfahren. Serap Gündal freut sich schon. Sie will Radfahren lernen, um ihrem eigenen kleinen Sohn als Vorbild zu dienen. Und sie will die türkischen Mütter, die sie regelmäßig besucht, animieren, es ihr nachzutun. O-Ton 18 Serap Gündal, Gr. 5/9 Das dient auch dazu, selbständiger zu werden, selbstbewusst zu sein. Das stärkt ja auch einen. (10) Da kommt man auch mit anderen, deutschen Frauen in Verbindung. Im Verkehr, auf der Straße, da hat man einen Ansatz, sie anzusprechen. Auch mit den Kindern. Wenn man mit den Kindern Fahrrad fährt, dass man dann mit den anderen Mamis eher ins Gespräch kommt als wenn man sie als Spaziergänger anredet. Autorin 17 Seit einem Jahr gibt es das Projekt "Mütter lernen Fahrradfahren", das die Volkshochschule Friedrichshain-Kreuzberg zusammen mit der Polizei anbietet. Zehn Wochen lang pauken die Frauen vormittags Deutsch. Dreimal in der Woche geht es am Nachmittag aufs Rad. Hier wird die neu gelernte Sprache gleich angewendet, erzählt Rotraut Wiedemann. Am Anfang des Kurses hätten sich die Mütter kaum artikuliert, seien zu aufgeregt gewesen und gespannt, was auf sie zukommt, sagt die Polizistin mit den kurzen blonden Haaren und dem freundlichen Gesicht. O-Ton 19 Wiedemann, Gr. 6/14 (0:30) Im Laufe der Wochen, man konnte richtig zuschauen, wie sie lockerer, gelöster dann wurden und dann zum Schluss beim Abschlusspicknick mit ihrer Urkunde total selbstbewusst aufgetreten sind. (1:35) Und auch die deutsche Sprache ganz anders gesprochen haben wie zu Anfang. Fortschritte gemacht haben in der deutschen Sprache. Sie wollten sich mit mir unterhalten und auch ihre Eindrücke wiedergeben. Zu Anfang war's ganz schwer, und zum Schluss haben wir uns so toll unterhalten. Autorin 18 Beim ersten Kurs vor einem Jahr hatten sich gleich 64 Müttern angemeldet. 47 haben durchgehalten und am Ende ihre Urkunde über die bestandene Radfahrprüfung in Empfang genommen. O-Ton 20 Wiedemann, Gr. 6/21 Das einprägsamste Bild ist eigentlich der Stolz und die selbstbewussten Frauen, die Gesichter, in die man schaut, dass sie etwas geschafft haben, was andere vielleicht nicht können, oder was sie sich nie in ihrem Leben sich getraut haben und die Freude, die sie da auch verbreiten für ihre Umwelt, für die Familien. Autorin 19 Dabei war der Anfang gar nicht so einfach, erinnert sich die 50 Jahre alte Verkehrssicherheitsberaterin. Zur ersten Stunde kamen viele Frauen noch in langen Kleidern und Schlappen. Beim zweiten Mal sah das schon anders aus: feste Schuhe und Hosen, für manche Frauen war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie eine Hose anhatten, sagt Wiedemann. Die Ehemänner waren erst einmal skeptisch, erinnert sie sich. O-Ton 21 Wiedemann, Gr. 6/8 Wir hatten das hier in der Verkehrsschule, Mütter, die von ihren Ehemännern kurz begleitet wurden, und die dann hier am Zaun standen und zugeschaut haben, was machen die denn hier? Ist das wirklich Radfahren, und wie schicklich läuft das ab. Oder ihre Auftragsrolle als Begleiter, als Ordnungshüter, einfach gerecht werden wollen. Da sind wir dann positiv auf die Männer drauf zugegangen und haben gesagt, sie können ruhig reinkommen, brauchen nicht draußen am Zaun stehen, einfach mal gucken. Und da hatten wir auch ganz tolle Männer, die sehr positiv überrascht waren, wie mutig die Frauen hier Fahrradfahren gelernt haben, und wir hatten Männer, die gesagt haben, sie wollen ihrer Frau ein Fahrrad kaufen, welche Größe und welches Modell ich empfehlen würde, und haben das auch gemacht. Autorin 20 Überhaupt lassen sich die Skeptiker schnell überzeugen, wenn man auf sie zugeht und mit ihnen spricht, sagt Wiedemann. Allerdings gibt es auch harte Fälle. Eine ältere türkische Frau habe nur heimlich kommen können, sei durch ein Fenster ausgebrochen, weil der Ehemann sie regelmäßig eingeschlossen habe. Während des Radfahrunterrichts hört Wiedemann viele dieser Geschichten. Oft erzählen die Frauen von einer Freundin, deren Ehemann sie verprügelt hat, einem Ex-Partner, der sie nach der Trennung verfolgt oder einem Kind, das in der Schule gemobbt wird. Dann kommt heraus, es sind ihre eigenen Geschichten. Meist sind die Mütter überrascht, dass sie nicht allein dastehen mit ihren Problemen, und dass die Polizistin ihnen ganz konkret helfen kann. O-Ton 22 Wiedemann, Gr. 6/41 Wir haben Wegweisungen gemacht des Täters aus der Wohnung bis zu 14 Tagen, wir haben nach dem Gewal tschutzgesetz die Frauen zum Amtsgericht begleitet.(1:14) Wenn ich jetzt nen Zettel draußen rangemacht hätte, hier an der Verkehrsschule, heute Vortrag häusliche Gewalt, dann wär wahrscheinlich niemand gekommen von den Frauen, wahrscheinlich gar keiner, da will sich niemand outen. Aber über diese Schiene kann man eine Menge erreichen. Autorin 21 Das Projekt "Mütter lernen Fahrradfahren" ist erfolgreich. So erfolgreich, dass es jetzt sogar ausgezeichnet wurde. Vor wenigen Wochen bekamen die Verkehrssicherheitsberatung der Polizeidirektion 5 und die Volkshochschule Friedrichshain-Kreuzberg eine Urkunde aus den Händen der Berliner Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge- Reyer, überreicht. Zwar kein Geld, aber viel Ehre, und eine tolle Anerkennung der geleisteten Arbeit, meint Wiedemann. Atmo 10 MD2, Gr. 7/6 Poschadel schleift Rad raus, sagt: Matthias, holst du mal bitte das blaue raus dahinten? Na dann, kommt mal beide her. Atmo 11 MD3, Gr. 2/2 Draußen-Atmo: Vögel, leise Autos, Bäume rauschen Autorin 22 Ein Schulhof in Berlin-Neukölln. Burkhard Poschadel und sein Kollege Matthias holen zwei kleine Kinderfahrräder aus einem Schuppen. Zwei Frauen stehen daneben, Hatice und Rahime, beide Mitte 30, beide in Jeans und kurzen Jacken. Etwas skeptisch schauen sie den Polizisten an. Bei der Arbeit hat Hatice von den Radfahrstunden gehört, zu denen man zweimal in der Woche kommen kann, ohne Anmeldung und ohne Geld zu bezahlen. Ihre Freundin Rahime begleitet sie. Polizist Poschadel, Verkehrssicherheitsberater vom Abschnitt 55 in Neukölln, ist bei Wind und Wetter da, und hilft den Erwachsenen aufs Rad. O-Ton 23 Poschadel, MD2, Gr. 7/7 Es gibt hier keine falschen Fragen, schlechten Fragen, was auch immer, kannst alles fragen, was du willst. Und du musst notgedrungen übersetzen, wenn du mich jetzt nicht verstehst. (0:45) Auch wenn's jetzt langsam geht und du das Gefühl hast, am liebsten würd ich mich draufsetzen und losfahren - das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Es kann ne Stunde dauern, es kann zwei Stunden dauern, es kann auch drei Tage dauern. Du musst da also ganz ruhig rangehen, gar nicht ans Fahrradfahren großartig denken, einfach nur zuhören und alles über dich ergehen lassen. Autorin 23 Die Frauen lächeln verunsichert. Poschadel verliert keine Zeit: Er gibt jeder ein Fahrrad in die Hand und erteilt die erste Lektion: Immer von rechts aufsteigen und den Ständer nie mit der Hand einklappen, denn ein zur Fahrbahn runtergebeugter Kopf ist schneller vom Auto erfasst als gedacht. Das leuchtet den Frauen ein. Die zweite Lektion: Nie nach unten gucken, sondern immer nach vorne, weil man sonst anfängt, zu wackeln. O-Ton 24 MD2, Gr. 7/9 (0:50) Poschadel: Soweit verstanden? Frauen: Ja! Poschadel: So, wenn wir das soweit haben, kommen wir jetzt zum Eigentlichen. Frau: Anfangen! Poschadel: Jetzt können wir langsam anfangen. Wir machen also folgendes: Wir schubsen mit beiden Füßen das Fahrrad nach vorne. (11) Na dann, geht's los. Und, die Augen nach vorne! O-Ton als Atmo weiter Autorin 24 Hatice schaut konzentriert. Mit beiden Beinen stößt sie sich vom Boden ab, der Blick geht immer wieder hinunter auf den roten Kies vom Sportplatz. Poschadel geht neben ihr her, korrigiert sie. Seit zwei Jahren betreut der Polizist das Projekt "Velomenal" in Neukölln. Zweimal pro Woche gibt er Unterricht für Erwachsene, die Migrantinnen kommen aus eigenem Antrieb. Haben sie einmal Radfahren gelernt, bleiben sie auch dabei, sagt Poschadel. O-Ton 25 Poschadel, MD3, Gr. 3/6 Unser Projekt ist ja nicht nur das Fahrradfahren beibringen, sondern dass man ein Fahrrad auch aufbaut von Anfang bis Ende. Das heißt also, diese Fahrräder, die wir zur Verfügung haben, die werden also irgendwo weggeschmissen, und die werden dann durch uns aufgebaut, und die werden dann den Frauen zur Verfügung gestellt, dass sie damit fahren können. Autorin 25 Im Kiez will Poschadel zusammen mit anderen Organisationen Verleihstationen aufbauen. O-Ton 26 Poschadel, Gr. 3/7 Das ist eine leihweise Aktion, und zwar der Hintergrund ist, dass die Frauen dieses Fahrrad wirklich nutzen können, und nicht der Mann auf die Idee kommt, oder jemand anders auf die Idee kommt, dieses Fahrrad zu verkaufen. (8) Ich will da niemandem etwas unterstellen, aber das wurde mir von einigen Frauen so mitgeteilt, hab ich mir gedacht, okay, verleih ich die Fahrräder halt bloß. Atmo 12 MD2, Gr. 7/17, Denise (ab 0:54) Frau: Tütüt (klingelt mit Fahrradklingel, lacht). Ich kann sogar klingeln, siehst du? Wenn meine Tochter mich so sieht, ne? Nicht schön. Die können gut fahren. Sogar sehr schön, sehr gut. Besser als Mama. Das ist so peinlich! Autorin 26 Hatice stößt sich mit beiden Füßen, rollt auf dem Rad langsam vorwärts. Das sieht mühsam aus, und ist es auch. Anstrengend, sagt sie, zwei ganze Runden muss sie das durchhalten. Eine ungewohnte Bewegung. Sie ist froh, dass keiner da ist, der sie kennt. O-Ton 27 Poschadel, MD3, Gr. 3/ 15 Deswegen haben wir uns auch diese Stellen hier ausgesucht, Wörnitzweg und Karlsgartenstraße, dass wir das nicht genau unter der Wohnungstür machen, sondern, dass wir ein Stück weiter rausgehen. Ziel ist eigentlich, dass die Nachbarn nicht darüber reden, wenn man sich dahinstellt und sich das erste Mal aufs Fahrrad setzt und losfährt, sondern, dass man dann wirklich an einem angelegenen Ort das Fahrradfahren lernt, und wenn man es dann kann, dann sind die Frauen natürlich auch glücklich, und dann zeigen sie es. Atmo 13 MD2, Gr. 8/2 Poschadel: Dreimal so mit dem Fuß abschubsen, und beim dritten Mal versuchen, den Fuß raufzumachen. Frau: Und wenn ich runterfalle? Poschadel: Ich halte doch fest! Und wenn, fallen wir zusammen. Autorin 27 Nach einer knappen halben Stunde kommt für Hatice schon der nächste Schritt. Dreimal soll sie sich abstoßen, dann mit beiden Füßen treten. Poschadel geht neben dem Rad, eine Hand am Lenker, die andere an Hatices Arm. Zwar geht ihr Blick immer wieder nach unten auf den Boden, trotzdem: Nach zehn Minuten klappt es schon ziemlich gut. Atmo 14 Gr. 8/11 Poschadel: Super! Frau: Ich fahre Fahrrad. Ferrari! (13) Poschadel: Diese zwei Finger halten dich eigentlich fest. Das ist nicht viel. Theoretisch kann ich dich so gar nicht halten, du machst das schon ganz allein. Du bist einfach gut. Frau: Ja? Ehrlich? Poschadel: Ja! Du musst einfach ruhiger bleiben. O-Ton 28 Poschadel, MD3, Gr. 3/21 Die schnellste Frau, die ich jemals hatte, das hat 20 Minuten gedauert, die noch nie in ihrem Leben auf dem Fahrrad gesessen hat, und es gibt aber auch welche, die brauchen acht bis zehn Doppelstunden. Es kommt wirklich darauf an, ob man ein bisschen sportlich ist, wie groß die Angst ist, so ne Sachen muss man natürlich bedenken. Atmo 15 Gr. 8/24 Poschadel: Und weiter geht's. Frau: Am Anfang haben Sie doch gesagt, wenn wir sagen, nach Hause gehen, können wir nach Hause gehen. Und jetzt muss ich immer weiterfahren! Das ist aber Ungerechtigkeit! Poschadel: Nein, das ist einfach zu gut, wenn ich so einen Fortschritt sehe, dann hab ich gar keine Lust, aufzuhören. Autorin 28 Eine Stunde sitzt Hatice jetzt auf den Rad. Ihre Finger sind rot vor Kälte, die ganze Zeit über hat es geregnet, der Wind bläst eisig. Obwohl sie schnell Fortschritte macht, nimmt langsam die Lust ab, sie fängt an zu meckern. Endlich gibt Polizist Poschadel nach. Für heute soll Schluss sein. Atmo 16 MD3, Gr. 2/1 Poschadel: Und, hat's wenigsten Spaß gemacht? Frauen: Ja. Poschadel: Ich denke, nächstes Mal, übernächstes Mal fahren wir dann raus. Wir müssen dann noch an kleinen Hütchen, da müssen wir Slalom fahren und Bremsproben machen, damit wir dann zum Stehen kommen. Also, Montag, 15:30 Uhr? Schönes Wetter mitbringen? Frauen Ja. Poschadel: Na denn, tschüß. Frauen: Tschüß. (gehen weg) Autorin 29 Hatice geht nach Hause, die Kinder kommen jetzt aus der Schule. Poschadel ist zufrieden. Er ist zuversichtlich, dass sie und ihre Freundin auch nächstes Mal dabei sind. Mehr als 100 Frauen hat er bislang das Radfahren beigebracht, vielen begegnet er immer wieder in seinem Neuköllner Kiez, auf dem Fahrrad natürlich. Manche von ihnen haben jetzt sogar einen Schwimmkurs belegt, bisher auch ungewöhnlich für Migrantinnen. In kleinen Schritten zur Selbständigkeit und Integration, das ist sein Motto. Und das gilt auch für seine neue Schülerin. Wenn sie dabei bleibt und weiter übt, heißt es auch für sie bald: Freie Fahrt für Hatice. Schlussmusik Was Türkisches oder Arabisches 1 1 1