Deutschlandradio Kultur Länderreport COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Die Quelle des Übels? Die Suche nach dem Ursprung des EHEC-Erregers Autor Axel Schröder Redaktion Julius Stucke Länge 19'55'' Sendung 29.05.2012 - 13 Uhr 07 Anfang Juni 2011. Jene Tage werden Uta Kaltenbach und Klaus Verbeck nicht vergessen. Die Suche nach dem EHEC-Erreger hat die Sprossenherstellung auf ihrem Biohof erreicht. Nach spanischen Gurken, Tomaten und Blattsalat ist nun ihr Hof als Quelle des Übels ausgemacht. Als vermeintliche Quelle - denn bewiesen ist es bis heute nicht, dass es Sprossen vom Biohof Bienenbüttel waren, die Tausende Menschen krankmachten und an deren Infektionsfolgen zwischen Mai und Juli 2011 53 Menschen starben... M A N U S K R I P T B E I T R A G 6. Juni 2011. Für Uta Kaltenbach und Klaus Verbeck beginnt eine neue Zeitrechnung. An diesem Montag nehmen die EHEC-Fahnder ihren Bio-Hof in Beschlag. Sie parken ihre Autos vor dem Hofeingang, streifen sich weiße Schutzanzüge, Handschuhe und den Mundschutz über, legen los und nehmen die ersten Proben. Im Visier haben sie Bakterien, mit denen sich zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 1500 Menschen infiziert haben - 21 von ihnen sind an den Folgen der Infektion gestorben. Uta Kaltenbach, eine sportliche Frau mit gerade geschnittenem Pony und randloser Brille, steht in einer leeren, weiß gekachelten Halle auf dem Bio-Hof. Hier wurden damals Sprossen produziert. Wir arbeiten ja nicht nur hier, wir leben auch hier. Wir haben dann hier in unserer normalen Kleidung - also sommerlich gekleidet, mit kurzen Hosen - waren wir hier. Und haben auch unser Gemüse vom Feld geholt und gegessen. Und zwischen uns liefen dann diese Leute mit Vollschutzanzug mit Atemschutzmaske und so herum. Es war schon ein sehr merkwürdiges Gefühl. Aber wir galten ja als Seuchenherd. Und dementsprechend lief das hier auch ab. Uta Kaltenbach und Klaus Verbeck stehen vor zwei riesigen Plastiktrommeln. Seit einem Jahr stehen die Maschinen still, es riecht nach Reinigungsmittel. Das ist unser Produktionsraum. Ist schon etwas leer, weil wir einen Teil unserer Ausstattung verkauft haben. In diesen Maschinen hier wachsen die Sprossen. Wir haben das immer "Sprossentrommeln" genannt. Das heißt: man kann in ein so ein Fach fünf Kilo Saatgut hinein füllen. Und dann wird das langsam gedreht und mit kaltem Wasser besprüht, damit die Sprossen dann wachsen können. Hierher führte im Frühsommer 2011 die "heiße Spur" der EHEC-Fahnder. 1.000 Proben haben die Kontrolleure genommen: aus den Wasserleitungen, den Sprossentrommeln, aus Mülltonnen, dem Brunnen. Vom Acker, aus dem Saatgut und aus den schon fertig gepackten LKWs. Und noch bevor das Ergebnis feststeht, rücken die Journalisten an. Fernsehteams, Zeitungs- und Fotoreporter belagern den Hof, machen heimlich Fotos von den Biobauern, klettern beim Nachbarn aufs Garagendach, um besser filmen zu können. Verbeck schüttelt den Kopf: Das war schon eine heftige Belagerung! Gerade auch Fernsehsender haben da an die Scheiben geschlagen! - Am Sonntagabend haben wir den Anruf bekommen, dass wir unsere Ware zurückrufen sollen, weil wir im Verdacht stehen. Und dann haben wir versucht, unsere Ware zurückzurufen, aber es war nicht möglich! Wenn an allen Türen jemand rüttelt, an den Scheiben jemand klopft, an jeder Scheibe eine Kamera reinguckt, dann kann man nicht arbeiten im Büro. Wir haben dann die örtliche Polizei angerufen und die haben dann auch für Ordnung hier gesorgt und dann konnten wir auch mit der Rückrufaktion starten. Das heißt: Unsere Kunden benachrichtigen, dass sie die Ware aus dem Verkehr ziehen! Auf Dauer kann die Polizei den Hof vor den Medien nicht beschützen und rückt ab. Verbeck und Kaltenbach müssen einen privaten Sicherheitsdienst anheuern. 14.000 Euro kostet das die Bio-Bauern, zusätzlich zu den Verlusten durch die Sperrung des Betriebs. Zur gleichen Zeit herrscht im Kieler Uni-Klinikum, 180 Kilometer entfernt, der Ausnahmenzustand. 180 Patienten werden allein in dieser Klinik behandelt. 100 von ihnen sind an EHEC erkrankt, 80 kämpfen mit einem besonders schweren Verlauf und leiden am "Hämolytisch-Urämischen Syndrom", kurz HUS. Nicht nur die Nieren und der Darm sind bei ihnen entzündet, auch das Gehirn der Patienten ist betroffen, lässt sie im Stich. - Schnell nimmt die Privatdozentin Dr. Tanja Kühbacher die Stufen in den ersten Stock, zur Isolationsstation. Wir haben ja mittlerweile fünf Stationen als Isolationsstationen hergerichtet. Und das Problem ist natürlich, dass sie nicht alle in einem Gebäude sind. Das heißt, wir rennen auch täglich mehrere Kilometer. Und auch das ist natürlich sehr anstrengend zu der zusätzlichen Belastung, die man jetzt durch diese Epidemie hat. Tanja Kühbacher schiebt ihre langen rotblonden Haare beiseite, streift sich einen Mundschutz, einen grünen Einweg-Kittel und die Latexhandschuhe über. Erst dann betritt sie die Isolationsstation: 28 an EHEC erkrankte Menschen werden allein auf dieser Station versorgt. Vor jedem Krankenzimmer sind Rollwägen aufgebaut: auch hier stapeln sich die grünen Kittel und Handschuhe, auch hier steht Desinfektionslösung bereit: Man muss sich, nachdem man in einem Zimmer war, komplett immer ausziehen, dann neu anziehen, wenn man aus dem Zimmer herauskommt. Das bedeutet, dass wir die doppelte und dreifache Zeit brauchen im Gegensatz zu den Tätigkeiten, die sie sonst durchführen. Es ist alles sehr erschwert. Auf langen Tischen an der Wand stehen vollgepackte Sporttaschen und kleine Koffer, alle versehen mit Klebestreifen mit den Namen der Patienten. Darüber ein ausgedruckter Zettel: "Achtung! Immer die Telefonnummern der Angehörigen notieren!" steht darauf, in fettgedruckten großen Buchstaben. Den Zettel hat Michaela Kiemes gerade aufgehängt. Sie leitet das Pflegeteam auf der Station. Das kann man mit nichts vergleichen, was wir vorher mal irgendwann hier erlebt haben. Wir haben Mitarbeiter, die schon 30 Jahre hier am Haus sind und niemand hat so etwas in der Art erlebt bisher. Michaela Kiemes sieht müde aus, schiebt den Mundschutz ein Stück nach oben. Seit einer Woche gilt eine Urlaubssperre, einige Kollegen haben aus freien Stücken ihre Ferien abgebrochen und helfen auf den Isolationsstationen. 9 bis 10 Stunden, oft ohne Pause, arbeitet das Personal. An warmen Tagen kommen sie - in Schutzkitteln und Gummihandschuhen - schnell ins Schwitzen. Schlimmer als die körperlichen sind aber die psychischen Belastungen für die Helfer, erzählt Kiemes. Auch für sie, mit 18 Jahren Berufserfahrung: Es sind sehr viele junge Patienten. Vor allem Frauen, die sonst gesund sind. Die aus dem prallen Leben kommen. Und viele haben ja diese neurologischen Störungen, Ausfälle...Und das ist extrem belastend, das zu sehen. Die Konsequenzen, die das hat für die Patienten. Ein Jahr nach der Epidemie sitzt Eva Plattner in einem Hamburger Café. Die 32jährige gehörte zu den ersten EHEC-Patientinnen und erfuhr aus dem Autoradio, dass das Virus an ihrem heftigen, blutigen Durchfall schuld sein könnte. Ihr Freund brachte sie sofort in die Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf: Denn nahm das so seinen Verlauf. Die ersten Tage im Krankenhaus habe ich noch mitbekommen, aber durch die HUS-Anfälle ist ja auch das Gehirn beeinträchtigt gewesen und dann hatte ich auch lange Zeiten, wo ich nicht anwesend war oder Sachen sehr verzerrt wahrgenommen habe. Ich hatte viele Halluzinationen und was eigentlich passiert ist, habe ich erst im Nachhinein realisiert. Es war wirklich von einer Sekunde auf die andere, dass die Arme umher zappeln. Dass ich nicht mehr gucken kann. Das ist dann so, als wenn man Karussell fährt oder auf einem Trampolin hin und her springt. So war es bei mir. Dass die Bilder gezuckt haben. Ich konnte nicht gucken, das hat alles geflattert. Und in dem Moment konnte man dann auch nichts mehr machen, also ich nicht. Ich war dann auch kurzzeitig danach weg und weiß nicht, was dann passiert ist. Nach dreieinhalb Wochen hat sie das Schlimmste überstanden und darf nach Hause. In die gemeinsame Wohnung zu ihrem Freund. Vier Monate später, Eva Plattner hat gerade die ersten Arbeitstage nach EHEC hinter sich, kommt der nächste Schock: büschelweise fallen ihr die Haare aus - so wie vielen anderen an EHEC erkrankten Menschen. Die alten Haarwurzeln waren während der Krankheit abgestorben, neue Wurzeln mussten sich erst entwickeln. Dann wachsen die Haare der Betroffenen wieder, so wie bei der brünetten Eva Plattner. Heute, fast ein Jahr nach der Krankheit, ist sie trotzdem noch immer nicht die Alte: Es ist einfach so, im Büro: dass man sich nicht mehr so konzentrieren kann, mehrere Sachen gleichzeitig machen. Und der Grad der Erschöpfung, wenn man einen anstrengenden Tag hatte, ist einfach enorm. Man hat das Gefühl, als wenn man monatelang durchgearbeitet hat obwohl man nur eine normale Woche hinter sich hat. Ich kann mich mit vielen Dingen gar nicht so beschäftigen, weil mich das emotional so mitnimmt, dass ich das eigentlich gar nicht richtig verarbeiten kann, was da um mich rum passiert. Und das zu akzeptieren, ist auch super-schwer. Das muss man selbst erst einmal realisieren. Im Juni, freut sich Eva Plattner, darf sie zur Kur und will dort neue Kraft schöpfen. Sie ist dankbar und lebt ihr Leben heute bewusster. Denn immerhin, so Plattner optimistisch, hätte alles auch viel schlimmer ausgehen können. Das bestätigt Prof. Dr. Tobias Meyer. Der Oberarzt arbeitet als Nieren-Spezialist an der Asklepios-Klinik in Hamburg-Barmbek: Unser Krankenhaus und alle anderen auch waren ja sofort an ihren Grenzen! Sie müssen sich das ja so vorstellen: Diese Krankenhäuser waren alle voll! Wir hatten alle Betten belegt und unsere Intensivstationen waren bis zum letzten Bett voll! Und nun kamen jeden Tag zehn bis fünfzehn Patienten, die schwerstkrank waren. Mit schwersten Symptomen. Die Durchfall hatten, die teilweise ein Nierenversagen hatten, die alle isoliert werden mussten! Rund zwei Wochen lang, erinnert sich Tobias Meyer, war auch den Ärzten nicht klar, ob sie die Krise in den Griff bekommen würden. Denn der EHEC-Typ "O 104:H4" war bis dahin völlig unbekannt. Er traf vor allem junge Frauen, war dabei besonders resistent und wie lange er im Darm der Patienten wüten würde, wusste niemand: Das war natürlich eine Lektion in Sachen Demut der besonderen Sorte. Mit einem sehr jungen Kollektiv umzugehen. Mit einer Erkrankung, die wir so nicht kannten, mit einem Erreger, den wir gar nicht kannten! Begeistert erzählt Meyer von der perfekten Vernetzung der deutschen und internationalen Nephroplogen-Szene während der Krise: im Internet diskutieren die Nierenspezialisten mögliche Therapien - und Nebenwirkungen. Die EHEC-Quelle war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefunden. Und ob sich das Virus nur über verseuchte Nahrung oder auch von Mensch zu Mensch verbreiten könnte, war genauso unklar wie die Dauer der Krise und ihre räumliche Ausdehnung. Meyers Kollege, Prof Dr. Stahl hat die Krise am Uni-Klinikum in Hamburg-Eppendorf erlebt. Wir hatten jetzt nicht das Gefühl, dass wir alles im Griff hatten. Aber in einer solchen Situation muss man strategisch vorgehen. Und zwar von Tag zu Tag sich die Situation anschauen. Wir hatten jeden Tag planerisch für den nächsten Tag Ressourcenkapazität vorbereitet: Personal, Betten, Medikamente, et cetera. Es war die Sorge da: Wie lange geht das? Wie viel kommt noch? Und das sind schon Themen gewesen, die uns täglich beschäftigt haben. Während die Ärzte und das Pflegepersonal in den norddeutschen Kliniken im Mai 2011 um das Leben der mit EHEC infizierten Menschen kämpfen, läuft die Suche nach dem Erreger auf Hochtouren: das Robert-Koch-Institut schickt Dutzende Experten nach Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein, warnt zunächst vor dem Verzehr von Gurken, Tomaten und Salat. Den Bienenbütteler Bio-Hof und die Sprossen hat zu diesem Zeitpunkt noch niemand in Verdacht. Auf der Suche sind auch das Niedersächsische Amt für Verbraucherschutz und das Hamburger Hygiene-Institut. Am 26. Mai werden erste Erfolge gemeldet: (Tagesschau) Lebensmittelkontrolleuren in Hamburg ist es gelungen, einen Übertragungsweg für die Welle von Darmerkrankungen auszumachen. Der EHEC-Erreger, der die schweren Erkrankungen auslöst, wurde auf Salatgurken aus Spanien entdeckt. Fünf Tage lang gelten die spanischen Gurken als EHEC-Quelle. Dann rudert die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks zurück und verkündet: genaue Analysen widersprechen der These von der Spur nach Spanien: Nach wie vor ist die Quelle nicht identifiziert. Und die Warnung davor, Gurken, Blattsalate und Tomaten zu verzehren in rohem Zustand, bleibt aufrechterhalten! ... so die Senatorin am 31. Mai. - Parallel zum Robert-Koch-Institut, zu ihren Hamburger und schleswig-holsteinischen Kollegen, suchen die niedersächsischen Experten vom Landesinstitut für Verbraucherschutz, kurz: LAVES, nach der Infektionsquelle. Und nachdem auch die 350. Probe von Kopfsalat, Tomaten und Gurken negativ ausfällt, weiten die Niedersachsen eigenständig die Suche aus - nehmen auch Sprossen unter die Lupe. Gleichzeitig analysieren die LAVES-Mitarbeiter das Umfeld aller in Niedersachsen erkrankten Menschen, sie fragen nach ihren Essgewohnheiten, rekonstruieren Lieferketten und stoßen dabei auf den Bienenbütteler Gärtnerhof. Niedersachsens Landwirtschaftsminister Gert Lindemann erinnert sich an den 5. Juni 2011: Ich hatte die Meldung darüber, dass das der Betrieb in Bienenbüttel wohl sei, am Sonntagmorgen in meinem Ferienhaus in der Lüneburger Heide bekommen und wir hatten uns dann - ich war dann nach Hannover gefahren - wir hatten uns dann hier zusammengesetzt und ich hatte gesagt: "Wir müssen jetzt alle Wege noch einmal rekapitulieren! Ich möchte, dass das absolut stimmig und schlüssig ist, was wir da machen, bevor wir öffentlich reagieren, weil wir uns ja immerhin von den Vorgaben der Bundesinstitute deutlich entfernt haben!" Und als wir uns dann Sonntagmittag sicher waren, da haben wir uns dann entschlossen, eine Presskonferenz einzuberufen... (Tagesschau) Wie Verbraucherschutzminister Lindemann in Hannover mitteilte, wurden verschiedene Sorten dieser Sprossen überall dorthin geliefert, wo die Infektion ausgebrochen ist. Der Minister sprach von einer eindeutigen Indizienlage, auch wenn ein definitiver Labornachweis für den Erreger noch aussteht. Lindemann empfahl, auf den Verzehr von Sprossen zu verzichten. Nach seiner Pressekonferenz wird der Minister scharf kritisiert. Erstens sind er und seine Mitarbeiter von der offiziellen Suchstrategie abgewichen, haben - anders als das Robert- Koch-Institut - Sprossen als mögliche EHEC-Quelle ausgemacht. Zweitens kann Lindemann nicht eine einzige positive EHEC-Probe als Beweis für seine Behauptung liefern. Für Bienenbüttel sprechen zum Zeitpunkt der Pressekonferenz nur Indizien: in einer Mülltonne in Nordrhein-Westfalen entdecken die Wissenschaftler auf einer alten Packung Gärtnerhof-Sprossen den aggressiven EHEC-Stamm. Und mindestens eine Mitarbeiterin des Hofs erkrankt selbst an EHEC. - Gert Lindemann verteidigt seine Entscheidung: schließlich mussten jene Verbraucher gewarnt werden, die noch Bienenbütteler Sprossen im Kühlschrank hatten, so der Minister. Außerdem wollte er auch all die Bauern aus der Schusslinie holen, deren Gemüse zu Unrecht unter EHEC- Verdacht stand: Sie müssen sich die Situation damals vor Augen führen: es waren bereits vierzehn Tage lang sämtliche Kopfsalat-, Tomaten- und Gurkenlieferungen aus Niedersachsen blockiert und zwar weltweit! Wir hatten inzwischen Schäden in der Gemüse-Wirtschaft in Niedersachsen, die in die 50, 60 Millionen Euro reingingen. Und jetzt einfach zu sagen: "Wir wissen zwar, dass es die Sprossen sind, aber wir lassen das so weiterlaufen!", mit der Folge, dass immer höhere Schäden in Bereichen entstehen, die da eigentlich nichts mit zu tun haben, wäre auch keine akzeptable Alternative gewesen. Noch während der Krise reist Lindemanns Staatssekretär Friedrich Otto Ripke nach Bienenbüttel, verspricht Uta Kaltenbach und Klaus Verbeck finanzielle Hilfe. Immerhin dürfen die beiden nach der Sperrung ihres Betriebs wochenlang weder Sprossen noch Gemüse verkaufen, erleiden Verluste im sechsstelligen Bereich. Den angebotenen zinsgünstigen Kredit lehnen Uta Kaltenbach und Klaus Verbeck aber ab. Setzen ihre Ersparnisse ein, um weiterzumachen. Heute erwirtschaftet ihr Hof rund ein Fünftel der vor-EHEC-Zeit. Niedersachsens Landwirtschaftsminister Lindemann zieht eine Bilanz, nimmt die beiden Biobauern in Schutz. Aber man muss auch deutlich sagen, ob es da ein menschliches Verschulden gegeben hat oder nicht. Und Anhaltspunkte dafür, dass die das vorwerfbar herbeigeführt haben, haben wir nicht. Und deshalb haben wir eben auch immer gesagt: wir machen den Menschen auf dem Betrieb keinen Vorwurf! Heute steht auch das amtliche Ergebnis der Kontrollen fest: Auf keiner einzigen der 1.000 Proben vom Bio-Hof wurde der EHEC-Erreger gefunden. Einen Beweis dafür, dass die Krise von hier ausging, gibt es bis heute nicht. Dafür aber überzeugende Indizien. Die Bäuerin Uta Kaltenbach ficht das nicht an: Hier war definitiv nichts. Aber trotzdem hält es ja die Behörden nicht davon ab, zu sagen, dass hier die Quelle der Seuche war. Diese Erfahrung mussten wir einfach machen: negative Analysenergebnisse schützen nicht davor, trotzdem verantwortlich gemacht zu werden. Geblieben ist den Biobauern der Gemüseanbau, auf fünf Hektar Ackerland, in zwei Gewächshäusern. Im so genannten Erdkeller findet der Ab-Hof-Verkauf statt, eine erste Kundin wartet schon. Die ältere Dame, einen Stoffbeutel in der Hand, ist Stammkundin beim Gärtnerhof: Es ist sehr schade, dass dieser Betrieb in der Presse immer so negativ dargestellt wurde. Ich habe hier früher auch immer Sprossen gekauft und es war nie etwas passiert. Und es hat sich ja im Nachhinein auch herausgestellt, dass es nicht an diesem Betrieb gelegen hat. Und jetzt finde ich es wichtig, diesen Betrieb auch dadurch zu unterstützen, dass ich mein Gemüse hier kaufe! Ute Kaltenbach wiegt Feldsalat ab, Äpfel und Orangen, zwei Kilo Kartoffeln, verpackt alles in Tüten und verabschiedet die Kundin. Hinter ihr hängt ein großes selbstgemachtes grünes Plakat an der Wand. Kurz nach der Sperrung des Betriebs haben alle Hof- Nachbarn darauf unterschrieben, oben steht in dicken Buchstaben: "Je dunkler der Himmel, desto heller leuchten die Sterne!". Liebe Gärtnerhöfler! In dieser schwierigen Zeit ist es uns wichtig, sie wissen zu lassen, dass wir in Gedanken bei Ihnen sind. Wir wünschen ihnen viel Kraft, Mut und Zuversicht für die kommende Zeit. Ihre Steddorfer Nachbarn. Das war toll! Solche Dinge helfen einem unglaublich viel! Die beiden Biobauern überqueren den Hof, öffnen die Tür zum Büro. "EHEC" steht auf fünf schweren Aktenordnern ganz oben im Regal. Das sind Aktenkopien von den Ermittlungsakten des Landkreises. Verbeck blättert durch den Ordner, zeigt Fotos vom beschlagnahmten Saatgut, Laborberichte, die Korrespondenz mit ihrem Anwalt. Der sollte untersuchen, warum die zuständigen Behörden so schnell so sicher waren, dass die Keime vom Gärtnerhof stammen. Mittlerweile haben sie ihre Klage fallen lassen, sich außergerichtlich geeinigt und über den Ausgang des Streits Stillschweigen vereinbart. Durch die EHEC-Krise haben Ute Kaltenbach und Klaus Verbeck weit über 100.000 Euro verloren. Alle Rücklagen sind aufgebracht, viele Maschinen und einen LKW mussten sie verkaufen. Die beiden schauen sich an. Verbeck klappt den Ordner zu, stellt ihn zurück. Die Wut ist den beiden nicht mehr anzusehen. Und erst auf Nachfrage geben sie es zu: eine Riesenwut hatten sie. Auf die Behörden, auf die Medien, die Vorverurteilung, ihre Sündenbockrolle. Und eines ist für Ute Kaltenbach klar: Nie wieder will sie Sprossen züchten. -E N D E- 2