Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 8. März 2010, 19.30 Uhr Politisch korrekt abgefertigt Was man in Deutschland sagen darf Eine Sendung von Katja Bigalke Spr. vom Dienst Politisch korrekt abgefertigt - Was man in Deutschland sagen darf Eine Sendung von Katja Bigalke Atmo 1 Saal Sprecherin Der Rokokosaal im Berliner Ephraim Palais ist gerappelt voll. Lea Rosh, früher bekannte Fernsehjournalistin, heute im medialen Unruhestand, hat zu ihrem allmonatlichen Salon geladen. Es ist eine Talk-Show ohne Kameras, eine Simulation dessen, was wäre, wenn Lea Rosh noch Bildschirmpräsenz besäße. Ihr Gast an diesem Abend ist Thilo Sarrazin, früher Berliner Finanzsenator, heute Bundesbankvorstand. Atmo 2 Begrüßung Rosh/Sarazzin Sprecherin Das Publikum ist gespannt auf den grauhaarigen Mann mit den verschmitzten Augen und dem markanten Schnauzbart. Sarrazin ist bekannt dafür trotz seiner hohen Ämter keine Rücksichten auf ?politische Korrektheit? zu nehmen. Sein jüngster Skandal war ein Interview mit der Kulturzeitschrift ?Lettre?, in dem er großen Teilen der türkisch- und arabischstämmigen Bevölkerung Berlins absprach, integrationsfähig und integrationswillig zu sein. Atmo 3 Tut Ihnen irgendetwas wirklich leid, wo sie sagen, das war vielleicht wirklich zu viel? Churchill sagte einmal: nie etwas erklären, nie etwas relativieren, nie etwas kommentieren, von dem, was man selber gesagt hat, das finde ich eine sehr gute Aussage.(Beifall) Sprecherin Für seine Äußerungen musste Sarrazin viel Kritik einstecken. Sie seien rassistisch und diskriminierend hieß es von muslimischer, jüdischer und linker Seite. Als besonders ärgerlich wurde der drastische Tonfall empfunden ? Formulierungen, wie ?Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.? Aber es gab auch Beifall für den Mut zum Klartext ? etwa von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, dem Philosophen Peter Sloterdijk oder der türkischen Schriftstellerin Necla Kelek. So fühlt sich Sarrazin zu keinem Einlenken bemüßigt. Stur verteidigt er seine Sicht der Dinge. Atmo 4 Wir können sehen, dass aus jedem zugezogenen Ehepartner entsteht dann eine weitere mittelgroße Familie und zwar sehr schnell, wenn wir denen Zuzug gestatten, und sich die Verhaltensweisen nicht ausreichend ändern, werden wir weiter kontinuierlich steigende Zahlen in dieser Gruppe haben. Darum sage ich, wenn jemand seine große Liebe an der türkischen Südküste entdeckt, dann kann er dort ja heiraten? Sprecherin Die Mehrheit im Saal ist auf Sarrazins Seite und rümpft pflichtschuldig die Nase, wenn er etwa von den 15 Tonnen Hammelresten türkischer Picknicke berichtet, die jedes Sommerwochenende aus dem Berliner Tiergarten entfernt werden. Am Ende der Veranstaltung wird applaudiert. Atmo 5 Applaus Sprecherin Die Sarrazin-Debatte, im vergangenen Herbst mit viel Vehemenz geführt, erscheint im Rückblick vor allem als eine Auseinandersetzung über Sprache. Hier wurde weniger über die Fakten gestritten als über den Tonfall. Denn das in der Integration von Migranten einiges schiefläuft, das hier bildungsferne Parallelwelten entstehen, darüber waren sich Kritiker wie Verteidiger gar nicht so uneinig. Nur wie man das zur Sprache bringt ? daran schieden sich die Geister. Der Publizist Jörg Lau schrieb in der ?Zeit? über Sarrazin: Sprecher Das Schnarrende, Herablassende, Höhnische ist seit jeher das Geheimnis seines Erfolgs. Sein eigener Ton, der bewusst mit dem Überschreiten ziviler Standards spielt, ist allerdings ziemlich unbürgerlich. Elite, die den Namen verdient, würde die Pöbelei gegen den hart arbeitenden Obst- und Gemüsehändler scheuen, der um drei Uhr morgens aufsteht, um seine Ware einzukaufen. Sprecherin Auch Volker Zastrow von der ?Frankfurter Allgemeinen? empfand die Wortwahl nicht gerade als tischfein, hatte allerdings Verständnis für die Methode Holzhammer: Sprecher Viel von dem, was Sarrazin gesagt hat, stimmt. Er hat es hart gesagt, grob, holzschnittartig, mitunter grausam, aber vieles davon stimmt. Man kann es auch rundweg für falsch halten. (...) Aber in Wahrheit werden die Zonen des Unsagbaren immer weiter ausgedehnt, wird die Redefreiheit von der Redeform abhängig gemacht, die Meinungsfreiheit konfektioniert. Sprecherin Ja, was nun? War Sarrazin in die ?Zonen des Unsagbaren? vorgestoßen, oder hatte er ?zivile Standards überschritten?? Hatte er mit dem Feuer des Fremdenhasses gespielt oder mutig die Fackel der Aufklärung ergriffen? Mit solchen Fragen der politischen Diskursanalyse beschäftigt sich Margarete Jäger vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Aus ihrer Sicht ist der umstrittene Bundesbankvorstand ein von Ressentiments getriebener Tabubrecher: O-Ton 3 Jäger Was mich besonders bedrückt hat an der Art und Weise, wie die Auslassungen von Sarrazin kommentiert wurden, ist, dass sein Konzept aufgegangen ist. Dass die Medien sich darauf gestürzt haben: stimmt das oder nicht. Und hinzu kommt noch, dass er im Zuge der Debatte sich auch noch als Opfer stilisieren konnte. Der also jetzt kritisiert wird und degradiert wird, es sind Bemühungen im Gange, ihn aus der Partei SPD auszuschließen. Ich sag mal so: wir haben freie Meinungsäußerung, wir können unterschiedlicher Auffassung sein, aber man muss auch damit rechnen, dass wenn man seine Auffassung äußert, dass man Kritik einstecken muss. Sprecherin Für Jäger ist es nicht erkennbar, dass es in Deutschland Sprach- und Denkverbote gibt, über die ?die politische Korrektheit? wacht. Deshalb sei das Prinzip ?Übertreibung verdeutlicht und verschafft Medienaufmerksamkeit? auch nicht notwendig um im politischen Diskurs seine Argumente vorzubringen. O-Ton 4 Jäger Man kann ja nicht die politische Blindheit und Saturiertheit der deutschen Behörden damit abstrafen, dass man jetzt ein Geschrei macht, in dem ein Teil der Bevölkerung völlig ausgegrenzt wird und abgeschrieben wird. Man gießt doch Öl in das Feuer rein, anstatt es zu löschen. Sprecherin Eine ganz andere Position vertritt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Der Professor an der Technischen Universität Berlin, der mit Büchern wie ?Lob des Konsumismus? oder ?Diskurs über die Ungleichheit? selbst Denkverboten unserer Gesellschaft offenlegt, sieht in der Sarrazin-Schelte ein Symptom für die Macht der ?political correctness?, abgekürzt PC. Jede Meinung, die den vorgeschriebenen Mainstreamdiskurs der Medien verlasse, werde von diesen umgehend geahndet. O-Ton 5 Bolz Was nun die Prägung der öffentlichen Meinung gerade in den öffentlich rechtlichen Medien betrifft, da würde ich doch gerne bei der These bleiben, dass die political correctness sogar sich zuspitzt und immer schärfer ausformuliert wird. In den unterschiedlichsten Formaten, von der Nachrichtensendung bis zur Talkshow - überall hat man es mit Propaganda des Guten zu tun. Man gibt formal durchaus die Bühne frei für abweichende Meinungen, aber die abweichenden Meinungen werden sehr scharf sanktioniert. Also wenn Sie es wagen sich mit einer abweichenden Meinung zu äußern, dann wird die womöglich gedruckt und gesendet aber Sie müssen dafür büßen. Mit Isoliertheit. Und das ist eine der härtesten Strafen: wenn sie alleine sind und sich selbst die besten Freunde abwenden, weil sie zu einem Thema, zu dem man nur eine Meinung haben darf, eine andere Meinung gehabt haben. Sprecherin Wer derart in die Ecke gedrängt wird, hat laut Bolz auch das Recht der rhetorischen Selbstverteidigung. Sprich: das Recht, nicht immer kühlen Kopfes reagieren zu müssen. O-Ton 6 Bolz Dass diejenigen, die sich nicht politisch korrekt äußern, dazu neigen, schnell die Fasson verlieren, ist eine Folge der PC selber. Wenn die political correctness eine Art geistigen Druck aufbaut, dem sich kaum einer zu entziehen wagt, ist das Denken in Asyle gezwungen und dort baut sich Ressentiment auf. Für mich sind die Sarrazins keine dummen Menschen, sondern es sind Leute die mit Ressentiments auf die Tatsache reagieren, dass man schon seit Jahrzehnten keine abweichende Meinung mehr äußern darf. Sprecherin ?political correctness?, ist für Bolz auch in Deutschland längst Realität und deshalb ein Schlüsselbegriff der Diskursanalyse. Geprägt wurde der Begriff in den USA, wo er im akademischen Milieu der achtziger Jahre schnell Karriere machte. Ursprünglich bezeichnete er Sprachcodes, die auf eine Würdigung ethnischer, kultureller und sexueller Unterschiede abzielen und Diskriminierung schon im sprachlichen Vorfeld verhindern sollen. An nordamerikanischen Universitäten wurden solche speech codes quasi per Verordnung eingeführt, von dort griffen sie auf die Medien über. Die Folge war, um es an einem simplen Beispiel zu verdeutlichen, dass die Bezeichnung ?Neger?, die älteren Generationen noch ganz leicht über die Lippen ging, heute in der normalen Kommunikation praktisch ausgestorben ist. In den neunziger Jahren wurde dann der Grundgedanke der politischen Korrektheit zunehmend als sprachliche Bevormundung empfunden und zum Gegenstand vielfältiger, oft ironischer Kritik. Für die Bochumer Sprachwissenschaftlerin Margarete Jäger ist PC nichts weiter als eine Art reaktionäre Vogelscheuche: O-Ton 7Jäger Die Rede über die politische Korrektheit ist aus meiner Sicht deshalb ein diskursives Konstrukt, weil aus meiner Sicht diese Verbote nicht existieren. Wenn ich von Sprachwandel oder von Bemühungen spreche, dass man sprachlich anders mit Minderheiten umgehen sollte, nicht diskriminierend, dann spreche ich nicht von politischer Korrektheit, weil dieses Schlagwort in dem Bereich anzusiedeln ist, dass damit eine Abwehr von sprachlichen Veränderungen vorgenommen wird. Sprecherin Der Medienprofessor Norbert Bolz vertritt da die Gegenposition. Es mache durchaus Sinn, die Kategorie ?politisch korrekt? zu verwenden ? als Sammelbegriff für sprachliche Totschlagargumente: O-Ton 8 Bolz In Amerika ist es bis heute so, dass es zwei Ableitungen des Begriffs gibt: die Rechten behaupten, political correctness sei ein Sprachcode der Linken an den Universitäten Amerikas zunächst einmal gewesen, während die Linken behaupten, political correctness gäbe es überhaupt nicht ? sondern das sei eine böse Verleumdung der Rechten. Ich halte diese Kontroverse insofern für absurd, als glaube ich heute kein Mensch mehr ernsthaft bezweifelt, dass es political correctness als politisches Phänomen gibt. Und das besagt wohl dann doch, dass die rechte Interpretation richtig ist ? nämlich die Interpretation, die davon ausgeht, dass vor allem Linksintellektuelle ursprünglich nur an Universitäten, dann auch in politischen Gremien und in den Medien bestimmte Begriffe tabuisiert haben, weil sie damit assoziiert haben: Diskriminierung von Minderheiten. Sprecherin Wie immer man den Tatbestand auch bezeichnen mag ? ob nun als ?politisch korrekt? oder nicht ? Tatsache ist, dass sich in der westlichen Welt in den vergangenen Jahrzehnten der öffentliche Gebrauch von Sprache verändert hat. Die Sensibilität hat zugenommen, Sprache wird als Ausgangspunkt von Unterdrückung wahrgenommen: O-Ton 9 Bolz Der wesentliche Anstoß für die political correctness in Amerika war ja zweifellos die die Diskriminierung der Schwarzen. Das ist auch das was für alle am besten nachvollziehbar ist und am wenigsten kontrovers ist. In Deutschland fehlte logischerweise dieser Ansatzpunkt. Und deshalb lief erst die zweite Welle der political correctness auch in Deutschland fast schon zeitgleich an. Und das lief über die Schiene des Feminismus. Sprecherin Schon Anfang der 80er Jahre formulierten feministische Autorinnen ?Richtlinien für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch?. In denen wurde etwa empfohlen konsequent die feminine Endung für Personenbezeichnungen einzuführen ? also etwa das ?in? bei Professorin. Aufgrund dieser Richtlinien, die sich zunächst im akademischen Bereich, dann in den Medien und der Politik durchsetzten, sind weibliche Berufsbezeichnungen mittlerweile normal geworden. Margarete Jäger ist überzeugt davon, dass in dieser Form des Sprachgebrauchs eine ungeheure politische Kraft steckt. O-Ton 11 Jäger Ich glaube, dass die Art und Weise wie heute über Frauen gesprochen wird, mit dazu beigetragen hat, dass in der Gesellschaft ein Bewusstsein darüber entstanden ist, dass Frauen ein gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft sein sollten. Das heißt nicht, dass es eine Gleichberechtigung gibt, sondern dass es dazu beiträgt, dass sich das Gleichheitsprinzip mehr und mehr durchsetzen kann. Sprecherin Fortschritte im verantwortungsvollen Umgang mit der Sprache erkennt die Diskursanalytikerin Jäger auch beim Reden über Ausländer. Während der Asylbewerberdebatte Anfang der neunziger Jahre ? so stellte sie bei ihren Presseauswertungen fest ? gehörten Formulierungen wie ?Das Boot ist voll? oder ?Einwanderung ist eine Zeitbombe? noch zum medialen Alltag. Heute ist der eingewanderte Ausländer zum Migranten geworden, Deutschland hat im Jahr 2000 sein Staatsbürgerschaftsrecht reformiert und ist de facto ein Zuwanderungsland. O-Ton 12 Jäger In den Medien ist, glaube ich, ich geh jetzt mal auf die Migrantenfrage ein, seit den 90er Jahren, vor allem nachdem es so pogromartige Zustände in Deutschland gegeben hat, eine Sensibilität entstanden und der Versuch, dass man mit den Sätzen die man formuliert nicht Brandsätze formulieren sollte. Sprecherin Die Veränderung der Sprache hierzulande findet ihren Niederschlag auch in einer rechtlichen Weiterentwicklung des allgemeinen Diskriminierungsverbots. Zwar stand das schon seit 1949 im Grundgesetz, seit 2006 ist es aber auch zivil- und arbeitsrechtlich einklagbar. Was von den einen als Etappensieg der Gleichberechtigung gefeiert wird, ist für andere so etwas wie die Etablierung einer Sprachpolizei ? ein weiteres Indiz für den Vormarsch der ?Politischen Korrektheit?, der dazu führt, dass Minderheiten immer stärker geschützt und traditionelle Lebens- und Sprachformen, die sich nicht schnell genug anpassen, zunehmend an den Pranger gestellt werden. Atmo 6 Einbürgerungsfeier Sprecherin Der Festsaal des Rathauses Berlin-Neukölln. Etwa hundert Männer, Frauen, Kinder haben sich eingefunden. Sie kommen aus der Türkei, dem Libanon, aus Nigeria, Polen, Sri Lanka oder der Russischen Föderation und erhalten heute ihre deutsche Einbürgerungsurkunde. Ein Musikertrio spielt Auszüge aus den Nationalhymnen ihrer Herkunftsländer, dann hält der Bürgermeister, der zur Feier des Tages seine goldene Amtskette über dem Anzug trägt, eine kleine Rede. Er spricht über den besonderen Schutz, den die deutsche Staatbürgerschaft für den einzelnen bedeutet, er erwähnt die damit verbundenen Rechte, aber auch Pflichten. Manche folgen seinen Worten still und aufmerksam, andere grimassieren oder spielen gelangweilt mit ihren Handys herum. Atmo 7 Rede ? zum Thema Wechsel der Nationalität. Sprecherin Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister, nimmt sich Zeit für diese Feiern: zweimal im Monat jeweils eine Stunde. Von jedem, der sich in seinem Bezirk einbürgert, lässt er sich einen kleinen Text vorlesen ? den Schwur auf das Grundgesetz, eingeschweißt in Plastikfolie. Es gibt Neubürger, die darauf bestehen, ihn auswendig vorzutragen, andere rattern ihn unbeteiligt herunter oder kommen nur sehr holprig vorwärts. Erst danach bekommt jeder die Einbürgerungsurkunde und ein Foto zur Erinnerung. Zum Abschluss wird die Nationalhymne gespielt. Atmo 8 Nationalhymne (drunterlegen) Sprecherin Mit solchen Aktionen, die in einer sich rasant wandelnden Umgebung das Traditionelle hochhalten, sowie mit seinen offenen Worten zur Migrationsproblematik ist der SPD-Lokalpolitiker Buschkowsky bundesweit bekannt geworden. Als Mann, der aus Amtsräson die Grenzen der Politischen Korrektheit ständig austestet. O-Ton 13 Buschkowsky Wir sind hier der Auffassung, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft etwas ist, was sehr tief in die Lebensumstände von Menschen und Familien eingreift und ich denke da sollte eine Gesellschaft, wenn sie diesen Akt so hoch hält ? also die Staatsbürgerschaft ist der vollkommene Abschluss der Integration - wenn es wirklich so ist, dann muss man das auch in der Gestaltung deutlich machen. Die ganze Zeremonie dauert eine Stunde, das überfordert auch niemanden. Sprecherin In Buschkowskys Bezirk haben fast vierzig Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. Die Arbeitslosenquote liegt bei über zwanzig Prozent, überdurchschnittlich viele Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss. Der Bürgermeister will diese Zustände nicht kampflos hinnehmen. Er lässt Wachdienste an Schulen einsetzen, beschäftigt mit Bezirksgeldern türkische ?Stadtteilmütter?, fordert die Jugendrichter zu zeitnaheren Verhandlungen auf und will Eltern, deren Kinder nicht regelmäßig die Schule besuchen, das Kindergeld streichen. Buschkowsy ist kein Ideologe, sondern ein Pragmatiker. Vom Schönreden der Probleme hält er nichts, lieber legt er sich mit den Sprachwächtern seines linken Lagers an. Schon 2004 erklärte er Multikulti in seinem Bezirk für gescheitert. Auch deshalb, weil immer mehr bildungsorientierte Migranten Neukölln verlassen, sobald sie es sich leisten können. Der Grund: O-Ton 14 Buschkowsky Weil sie es zum Kotzen finden, in diesen sozialen Verhältnissen zu leben, weil sie es zum Kotzen finden, wenn ihre Kinder auf dem Schulweg erpresst werden und weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder in eine Klasse gehen, wo in der vierten Klasse mit einem Lehrbuch der zweiten Klasse gearbeitet wird ? weil es anders nicht geht. Und deswegen, damit diese Segregation aufhört, damit wir wieder durchblutete, bunte Stadtteile haben und nicht nur Blöcke der Bildungsferne, einen Einheitsbrei an Hartz IV, das ist doch nicht das Zukunftsbild einer Gesellschaft, dass in einer Schule 90 Prozent aller Eltern nicht in einem regelmäßigem Erwerbsleben stehen, das kann man doch nicht als Normalität sehen. Ich sage, das Maß der Dinge ist die Normalität und nicht die Subkultur. Sprecherin Der Bürgermeister würde aus seinen Beobachtungen niemals ein Ranking der ethnischen Gruppen ableiten, wie es Thilo Sarrazin in seinem Lettre-Interview getan hat. Nach dem Motto: diese Gruppe ist intelligenter und deswegen leichter zu integrieren. Trotzdem eckt er immer wieder an. Letztes Jahr erhielt er eine Anzeige wegen Volksverhetzung, weil er zum Thema Betreuungsgeld gesagt hatte: Sprecher In der deutschen Unterschicht wird es versoffen und in der migrantischen Unterschicht kommt die Oma aus der Heimat zum Erziehen, wenn überhaupt. Sprecherin Die Anzeige wurde zwar niedergeschlagen, aber für Buschkowsky war sie ein erneuter Beweis für das ?Systemmanagement by Champignons?, wie er es nennt: Derjenige, der seinen Kopf raushält und es wagt eine abweichende Meinung zu vertreten, bekommt ihn abgeschlagen: O-Ton 15 Buschkowsky Schönreden ist nach wie vor Paragraph eins. Multiethnizität, Multikulturalität ist nach wie vor ein Wert an sich. Es ist bunt, es ist schön und die Gruppe, die sie gerade wieder an sich selbst berauscht - da ist niemand unter einem akademischen Grad, meist zwei. Und so feiern wir uns gegenseitig und lassen vor der Tür, dass die Mehrheit sich ganz anders darstellt. Wir sind nach wie vor in der Situation dass die, die Realitäten beschreiben, Schmuddelkinder sind. Sprecherin Aber macht der Tonfall nicht die Musik? Muss man alles möglichst drastisch und polemisch formulieren? Buschkowsky meint ja, sonst würde man nicht mehr gehört. O-Ton 16 Buschkowsky Sie müssen provokant auftreten. So ist es in einer reizüberfluteten Gesellschaft. Glauben Sie, es hätte sich irgendjemand um mein Interview zum Betreuungsgeld gekümmert, wenn da nicht der Satz gestanden hätte, in der deutschen Unterschicht wird das Geld versoffen? Auch dieser Satz ist mir nicht passiert, er war schon ganz bewusst da hineingesetzt. Glauben Sie wirklich, es hätte diese bundesdeutsche Debatte um das Betreuungsgeld ohne diesen Satz gegeben? Never. Atmo 9 Küche Rollbergkiez Sprecherin Das Gemeinschaftshaus Morus 14 im Neuköllner Rollbergviertel, laut Berliner Sozialatlas eine der ärmsten Gegenden der Stadt. Einmal die Woche kochen hier Anwohner für ihre Nachbarn zu Mittag. Heute ist die Grünen-Abgeordnete Anja Kofbinger an der Reihe. Sie hat sich für Grünkohl mit Pinkel ? also Schweinefleisch ? entschieden, weswegen an diesem Tag kaum Muslime da sind. Ist das provokant gemeint, ein Versuch gelebter Toleranz? Nein, nein, wiegelt Kofbinger ab. Das sei lediglich eine Regel: O-Ton 17 a Kofbinger Jeder erste Mittwoch im Monat ist Schweinefleischtag, das wird ganz normal angenommen, manche kommen dann auch nicht, da gibt?s auch keinen Ärger. Es gibt nicht immer Schweinefleisch, das wäre exkludierend. Da würde ich Leute ausschließen. Deshalb ist es aber kein Problem zu sagen, wir machen unsere Regeln und wenn damit mehr oder weniger alle einverstanden sind, dann sind das eben unsere Regeln. Sprecherin Kofbinger wirkt überhaupt nicht wie eine klischeehafte Multikulti-Grüne. Die resolute Frau mit dem Pferdeschwanz hat einen ziemlich derben Wortschatz, wenn es drauf ankommt und gibt ohne weiteres zu, dass es in ihrem Bezirk Integrationsprobleme gibt. Sie sagt das nur etwas anders als ihr Bürgermeister: O-Ton 17 b Kofbinger Das ist sicherlich ein Armutsproblem. Das ist ganz klar, weil ich sehe das immer in Verbindung auch mit den anderen Menschen, den Deutschen, den Deutschstämmigen, die da wohnen, die ja die gleichen Probleme haben interessanterweise. Es ist ein soziales Problem, es ist auch die Armut der Bildung und des Lebensstils und das schafft die Probleme und das alles muss man angehen. Sprecherin Kofbinger möchte dringend vermeiden, eine irgendwie geartete Islamophobie zu schüren. Aber sie hat auch ein Interesse daran, die Situation in Neukölln zu verbessern. Darin sind sich eigentlich alle politischen Akteure vor Ort einig. Nur wie die Botschaft vermittelt werden soll, darüber gibt es Differenzen. O-Ton 18 Kofbinger Populismus ist schädlich, da wo es zum Beispiel um eine absolut einseitige Sichtweise geht, die man vertreten will, ohne viele andere Facetten eines Problems in Betracht zu ziehen. Das finde ich bei Herrn Buschkowsky immer grenzwertig. Teilweise ist es gut, dass er gehört wird ? als letzte Möglichkeit ? wenn alle anderen Mittel versagt haben, dann muss auch laut rumgepöbelt und geschrien werden, dann geht es eben nicht mehr anders. Sprecherin Die Berliner Abgeordnete, die zugleich frauen- und lesbenpolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist, sieht in der Integration der Migranten eine viel größere gesellschaftliche Herausforderung als in der Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen. Man müsse viel stärker an seinen eigenen Ressentiments arbeiten, sich kulturell öffnen, glaubt Kofbinger. O-Ton 19 Kofbinger Frauen und Homosexuelle, mittleren Alters aus der Mittelschicht, weiß, sind ein ganz normaler Bestandteil dieser Gesellschaft. Sie wurden nur schlechter behandelt. Die zu integrieren, ich glaube, das war der kleinere Weg. Aber wenn sie Migrantinnen nehmen, die anders aussehen, anders sprechen, die einen anderen kulturellen Background haben, dann kommen sie vom Großen ins Kleine und all diese Unterschiede mit einer Gelassenheit hinzunehmen, das ist glaube ich viel viel schwieriger. Sprecherin In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit scheint diese Gelassenheit zusätzlich abzunehmen. Wilhelm Heitmeyer, der an der Universität Bielefeld seit 2001 den Zusammenhang zwischen der sozialen und ökonomischen Situation in Deutschland und Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit untersucht, kommt in der neuen Ausgabe des Suhrkamp-Sammelbandes ?Deutsche Zustände? zu einem ernüchternden Ergebnis: Als Folge der Finanzkrise stellt er eindeutige ?Desintegrations- und Abwertungsprozesse? fest. Der Anteil der Deutschen, die glauben, im Vergleich zu anderen benachteiligt zu sein, hat sich deutlich vergrößert. Und da Menschen zunehmend das Gefühl haben, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, suchen sie verstärkt nach Sündenböcken. Ein Drittel der Befragten war nicht der Ansicht, das in Krisenzeiten die gleichen Rechte für alle Bürger gelten könnten, gut 20 Prozent waren der Meinung, Minderheiten dürften keinen besonderen Schutz mehr erwarten. Außerdem vertraten 60 Prozent die Auffassung, es müssten in dieser angespannten Lage bereits zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden. Was heißt also in einer solchen Situation verantwortungsvoller Gebrauch der Sprache? Wer darf was sagen, wer wen zensieren? O-Ton 20 Bolz Elisabeth Noelle-Neumann hat vor Jahrzehnten schon einmal das Phänomen der Schweigespirale untersucht: kurz gesagt, dass eine sehr gut artikulierte Minderheit der Gesellschaft Thesen so formulieren kann, dass es für die Mehrheit der Gesellschaft so aussieht, als sei das allgemeiner Konsens, und jeder der in sich einen Widerstand spürt gegen diese Thesen, wagt es nicht den Widerstand zu artikulieren, weil er glaubt sich zu isolieren. So kann es zu dem faszinierendem Phänomen kommen, dass sich die Mehrheit über die Meinung der Mehrheit täuscht ? das heißt, sie haben auf der einen Seite eine schweigende Mehrheit und auf der anderen Seite gut artikulierte Minderheiten, die die öffentliche Meinung dominieren. O-Ton 21 Jäger Ich kann ihnen in Bezug auf die Frage, was darf man sagen und was darf man nicht sagen, keine klare Antwort geben. Ich finde es wichtig, dass man sich den Kontext, in den man spricht und formuliert in all seinen Schattierungen vor Augen führt. Und das man sich bewusst ist, dass mit einer dramatisierenden Wortwahl auch Emotionen beim Rezipienten ausgelöst werden die man möglicherweise nicht will. Das ist ein Feld - da kann man nicht sagen: das ist richtig und das ist falsch. Der Diskurs ist ein Gewimmel, man kann das nur bis zu einem gewissen Grad überhaupt kontrollieren, was aus den Äußerungen gemacht wird. Spr. vom Dienst Politisch korrekt abgefertigt - Was man in Deutschland sagen darf Eine Sendung von Katja Bigalke Es sprachen: Viola Sauer und Helmut Gauss Ton: Borris Manych Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 16