COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. "Ich pflege meinen Döblinismus" - Alfred Döblin, Autor der Moderne Deutschlandradio Kultur Sendetermin: 26.6.2007 Autor: Michael Opitz Redaktion: Sigried Wesener Zitator Döblin: Sprecher Zitate: Erzähler: Musik: Eventuell: Nils Petter Molvær: Solid Ether 1. O-Ton Alfred Döblin, Track 3, 0:00- Ich spreche hier [ ... ] zu Ihnen meine Damen und Herren. Vielleicht sind Sie Bücherfreunde, und in dieser Ecke des Rundfunks erwarten Sie Hinweise auf interessante Neuerscheinungen oder wenn Ihnen an der Person des Sprechers liegt: Erzähler: Wirbt Alfred Döblin! 2. O-Ton Alfred Döblin, Track 3, [ ... ]Nun, was mich anlangt, so habe ich ein besonderes Verhältnis zu Büchern. Erzähler: Sagt der promovierte Arzt! 3. O-Ton Alfred Döblin, Track 3, [ ... ] Seit über fünfzig Jahren schreibe ich und habe Bücher über Bücher verfasst. Die gedruckten, die ich besitze, nehmen in meinem Bücherschrank ein breites Fach ein. Erzähler: Berühmte wie Die Ermordung einer Butterblume oder Berlin Alexanderplatz stehen neben weniger bekannten wie Jagende Rosse oder Der schwarze Vorhang 4. O-Ton Alfred Döblin, Track 3, [ ... ] In der Beschäftigung mit der Hervorbringung dieser Bücher, so genannter Romane, habe ich den größten Teil meines bewussten Lebens zugebracht. Erzähler: Notizen wurden überall gemacht! In Cafehäusern oder Unfallstationen; Treppenabsätze und Häuserecken ersetzten den Schreibtisch. 5. O-Ton Alfred Döblin, Track 3, Da steht das also, was meine Tage ausgefüllt und aufgefressen hat. Ich kann es anfassen und stehe davor und erinnere mich dunkel Erzähler: Gedichtet mit der rechten Hand. Glossen geschrieben mit der Linken unter dem Pseudonym Linke Poot. 6. O-Ton Alfred Döblin, Track 3 [ ... ] Da stehen meine Blutsauger, meine Parasiten. Ich wollte mich immer von ihnen befreien, aber gegen ein keimendes Buch ist kein Kraut gewachsen. Erzähler: Döblin will herausfinden, wo er steht, findet aber keine Antworten. Also weiter! 7. O-Ton Alfred Döblin, Track 3 [ ... ]Was sie von mir wollten, was sie aus mir machten, habe ich nie gefragt. Erzähler Aber begreifen müssen, dass Figuren erst dann Ruhe geben, wenn sie ihren Platz in einem Buch gefunden haben. 8. und 9. O-Ton jetzt zusammen Alfred Döblin, Track 3 Die Süße der Verführung war allemal zu groß. Es war eine Sucht, ja, es war eine Manie und wenn sie einen hatte, so schluckte sie einen. [ ... ] Musik: Eventuell Nils Petter Molvær: Solid Ether (Track 8, 0:00-0:27'') Erzähler: Der Arzt Alfred Döblin ist ein guter Psychologe und weiß wovon er redet: 10. O-Ton Alfred Döblin: CD, Track 1, Der Künstler ist nicht so eine Figur, die man malen kann und die schön ist und blendet, sondern der Künstler ist ja eine Missgeburt der Natur. [ ... ] Der Künstler ist keine gelungene Menschennatur. Niemals bisher hat man gesehen einen toll gewachsenen Künstler, einen Menschen, der nicht die Pathologie und die Kriminalität beinah auf den Füßen vor sich trug. Hören Sie! Sie lachen! Lachen Sie doch nicht! Erzähler: Döblin hat Witz; mehr als das ganze Preußen Brutalität, meint Tucholsky. Humor war auch Guillaume Apollinaire nicht fremd. Doch was er Döblin 1913 mit einem gewissen Augenzwinkern aus Paris zuruft, meint er ernst: Sprecher Zitate (Guillaume Apollinaire): "Es lebe der Döblinismus." Erzähler: Das klingt nicht nur wie eine Losung, es ist auch eine. Wenn auch eine Gegenlosung. Apollinaire zitiert Döblin, der im März 1913 dem Begründer der futuristischen Bewegung, Filippo Tommaso Marinetti, in einem offenen Brief eine deutliche Absage erteilt hat: Zitator Döblin: "Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus." Erzähler: Ein Jahr zuvor hörte sich das allerdings noch ganz anders an: Zitator Döblin: "Ich bin kein Freund der großen und aufgeblasenen Worte. Aber den Futurismus unterschreibe ich mit vollem Namen und gebe ihm ein deutliches Ja." Erzähler: Diesem Bekenntnis geht 1912 ein Besuch in der Sturm-Galerie voraus, wo Döblin zum ersten Mal die Bilder der italienischen Futuristen sieht. Er ist überwältigt von der Ausdruckskraft, mit der es ihnen gelingt, den Rhythmus und die Dynamik der neuen Zeit festzuhalten. So tickt nicht nur Mailand, sondern auch Berlin, die Stadt in der Döblin lebt. Dieses "märkische Ninive" ist ständig in Bewegung und hat keine Zeit, sich auszuruhen. In Berlin regiert der Verkehr - Tempo heißt die neue Religion. Man betet Automobile und Flugzeuge an - der Fortschritt hat ein stählernes Gesicht. Der moderne Großstädter liebt den Geschwindigkeitsrausch und belächelt den Flaneur, der gern langsam durch belebte Straßen geht. Zitator Döblin: "Der Futurismus ist ein großer Schritt. Er stellt einen Befreiungsakt dar. Er ist keine Richtung, sondern eine Bewegung. Besser: er ist die Bewegung des Künstlers nach vorwärts." (Kleine Schriften I, 116, 3 Zeilen) Erzähler: Als aber Marinetti im Technischen Manifest der futuristischen Literatur die Schriftsteller dazu auffordert, das Ich zu zerstören und die Syntax abzuschaffen, gehen Döblin diese Vorstellungen einer radikalen Veränderung des Erzählens zu weit: Zitator Döblin: Lieber Marinetti, ich finde es bedauerlich für Sie, dass Sie dauernd Mauern vor sich sehen müssen, dass Sie immer anrennen müssen und Ihnen nicht die Leichtigkeit des reinen untheoretischen Dichters gegeben ist, der diese Mauern überfliegt. [ ... ] Man erzielt Plastik, Konzentration und Intensität auf viele Weisen; ihre Weise ist sicher nicht die beste, kaum eine gute. [ ... ] Gehen Sie nicht weiter auf Herdenzüchtung aus; es gibt viel Lärm dabei und wenig Wolle. Bringen Sie ihr Schaf ins Trockne. Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus." (Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. Erich Kleinschmidt. Walter Verlag. Düsseldorf, S. 119) Erzähler: Diese Anklänge ans Gärtnerische wollen nicht zu einem Autor passen, der seinen erster Erzählungsband unter dem vielsagenden Titel Die Ermordung einer Butterblume veröffentlichte. Doch nun will er sich um ein literarisches Eigengewächs kümmern. Wie es aussehen könnte, entwickelt er im Berliner Programm, das 1913 unter dem Titel An Romanautoren und ihre Kritiker in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm erscheint. Er denkt an einen "steinernen Stil". Doch das Programm ist nicht ganz unproblematisch, denn Döblin will sich von Marinetti abgrenzen, aber er kann die Spuren nicht leugnen, die die Futuristen in seiner Ästhetik hinterlassen haben. Wenn er vom "Kinostil" spricht, scheint er die Bilder der Futuristen vor Augen zu haben: Zitator Döblin: "Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat 'die Fülle der Geschichte' vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt nicht, sondern baut." (Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. In: Aufsätze zur Literatur. Walter Verlag Olten/Freiburg 1963, S. 17.) Erzähler: Der Roman wird nach dem Montageprinzip aus einzelnen Teilen zusammengesetzt, aber die Teile müssen für sich existieren können. Nach Döblins Vorstellungen soll sich die Literatur am technischen Standard der Zeit orientieren. Tut sie es nicht, droht sie in der Bedeutungslosigkeit zu versinken und ist außer Stande, die Beben zu registrieren, von denen Gesellschaften erschüttert werden. Deshalb verordnet Döblin der Literatur einen Kinobesuch, denn vom Film könne sie Schnitttechniken, Großeinstellungen und Ein- und Ausblendungen lernen. Dieses theoretische Programm, den Kinostil, wendet Döblin in seinen frühen Romanen Die drei Sprünge des Wang-lun und Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine an. Insbesondere im Wang-lun versucht er durch häufigen Perspektivwechsel sowohl dem Einzelnen als auch den großen Massenbewegungen gerecht zu werden. Wang-luns Geschichte handelt vom Untergang, sie liest sich wie der Prolog zu dem 1929 erschienenen Roman Berlin Alexanderplatz. Musik: Eventuell Nils Petter Molvær: Solid Ether (Track 6, 0:00-1:08') Erzähler: In diesem Großstadtroman spielt neben Franz Biberkopf die Stadt eine Hauptrolle. Der vorbestrafte Transportarbeiter ist kühn genug, es mit ihr aufnehmen zu wollen. Er will ihr mit Anständigkeit begegnen, ohne zu wissen, mit welcher geschickten Verführerin er es zu tun bekommt. Denn die groß und mächtig gewordene Stadt ist ein Sündenbabel. Dieser Moloch meldet Ansprüche an und begnügt sich nicht mehr mit einer Kulissenrolle. Kraftvoll tritt die Stadt aus dem Hintergrund hervor und baut sich gewaltig vor Franz Biberkopf auf, dem sie Lektionen erteilt. Ebenso wie Wang-lun geht auch der alte Franz Biberkopf unter, der kurz vor seinem Ende vom Tod aufgesucht wird. In einer Rundfunkfassung aus dem Jahr 1930 klingt das so: 11. O-Ton: CD Hörspielfassung Berlin Alexanderplatz, Historische Aufnahme von 1930, Heinrich George als Biberkopf, die für den 30.9.1930 geplante Ursendung fand nicht statt: 69:10-70:20 Franz! Wat is los? Mach die Augen auf! Wat soll ick? Es ist für dich Zeit, die Augen auf zu machen. Jetzt komm ich zu dir, der Tod und bin da. Ick warte schon. Ick habe mehr als genug. [ ... ] Warum liegst du hier, Franz Biberkopf, bist doch ein kräftiger Mann? Mir haben se furchtbar im Leben gepiesackt, mir haben se betrogen. Den Arm hab ich verloren, dann haben se mir meine Mieze umgebracht. Und du? Ick war anständig! Det heßt, zuletzt nicht mehr, da gings nicht mehr. Anständig und weiter nischt? Das war genug? [ ... ] Soll ick Dir sagen, was mit dir war? Na watt denn? Nischt war mit dir! Nischt bist du gewesen Franz Biberkopf! [ ... ] Frecher Kerl bist du gewesen, ein Dussel, ohne Kopf und ohne Augen! [ ... ] Erzähler: Die Stadt spielt Biberkopf arg mit. Er muss Schläge einstecken, aber er lernt nichts. 12. O-Ton: CD Hörspielfassung Berlin Alexanderplatz, Historische Aufnahme von 1930, die für den 30.9.1930 geplante Ursendung fand nicht statt: 71:08- 71:26 und 72:30-73:30 Wollst der Beste und Stärkste sein von allen. Und wo ist Franz Biberkopf geblieben? Watt hätt ick denn sollen? Dich besinnen, wer du bist und wer die andern sind! [ ... ] Ick weß ja nicht, watt hätt ick denn sollen? Du Hochmutstdeibel, du Mensch ohne Kopf! So stark wolltest du sein, stark wie'n Athlet, aber die Welt ist noch stärker und jetzt liegst du da und heulst. Erzähler: Biberkopf unterliegt, weil sein Vorsatz, anständig durchs Leben zu gehen, zu wenig ist. Er bildet sich viel auf seine Stärke und seinen Kopf ein, aber um sich in der Großstadt behaupten zu können, ist er zu schwach und nicht schlau genug. 13. O-Ton: CD Hörspielfassung Berlin Alexanderplatz, Historische Aufnahme von 1930, Heinrich George als Biberkopf, die für den 30.9.1930 geplante Ursendung fand nicht statt: 75:04-75:22 "Ja, ja! Viel Unglück kommt davon, wenn man allein geht und sich nicht umsieht und nicht die andern sieht. Es wird überall um mich herum eine Schlacht geschlagen." Erzähler: Es besteht die Gefahr zu verschwinden. Alfred Döblin muss ständig auf Franz Biberkopf aufpassen, den er dennoch ab und an im Stadtgewimmel aus den Augen verliert. Schuld daran ist die Großstadt. Diese eitle Diva will beachtet werden und duldet keinen Konkurrenten neben sich. Beschäftigt sich Döblin zu lange mit Biberkopf, dann drängelt sie sich eifersüchtig in den Vordergrund, unterbricht den Autor und verschafft sich Gehör. Sie schreibt an dem Roman mit und gibt vor, wie Döblin seine Geschichte zu organisieren hat. Er muss beim Bauen seines Romans immer wieder auf die Statik achten. Das Werk darf keine Schieflage bekommen und sich weder zu sehr zu Biberkopfs noch zur Seite der Stadt neigen. Auch deshalb interessiert sich Döblin für das Urbane, für die Architektur: 14. O-Ton: Alfred Döblin, CD, Track 1, 1:40 "Architektur: Das spricht zu uns. Wenn ich nach Süden gehe, die Britzer Siedlung von Taut sehe, wenn ich das Ullsteinhaus in Tempelhof sehe und andere Gebäude, spricht das zu mir. [ ... ] Wenn ich am Alexanderplatz das neue Gebäude sehe [ ... ] und die Untergrundbahn ansehe, so zittert mein Herz und ich freue mich. [ ... ] Ich selbst, von meinem Metier, dem Roman, empfinde deutlich: das Buch ist eine überalterte Angelegenheit. Das Buch, der Roman etwa, steht nicht mehr richtig in der Zeit, das stimmt nicht mehr. Die Zeitungen, die Zeitschriften haben uns den Boden abgegraben." Erzähler: Mit seinen Romanen will Döblin verloren gegangenes Terrain zurückgewinnen. Doch bevor sich der Roman in neuem Glanz zeigen kann, muss er umgebaut werden wie man Städte umbaut, wenn sie veraltet sind. Dieses Bekenntnis zur Erneuerung geht einher mit einer Bejahung der Großstadt. Zitator Döblin: "In diesem großen nüchternen strengen Berlin bin ich aufgewachsen, dies ist der Mutterboden, dieses Steinmeer [ist] der Mutterboden aller meiner Gedanken. [ ... ] Diese Mietskasernen und Fabriken sind durch Jahrzehnte mein Anschauungsmaterial gewesen, und ob ich von China, Indien und Grönland sprach, ich habe immer von Berlin gesprochen, von diesem großen starken und nüchternen Berlin." (Marbacher Katalog, Typoskript ohne Titel, S. 214) Musik Eventuell Nils Petter Molvær: Solid Ether (Track 5, 0:06-1:07')) Erzähler: Auch wenn Döblin exotische Schauplätze wählt - China in Die drei Sprünge des Wang-lun, Grönland in Berge Meere und Giganten und Indien in Manas - seine Romane handeln von Berlin. Der Autor schickt seine Leser auf Reisen, um ihren Blick zu schärfen. Er verordnet ihnen ein wenig Fremde, damit sie umso besser erkennen, was sich in Berlin ereignet, der Stadt, die zum Signum einer Epoche wird. In keiner anderen deutschen Metropole treten durch den rasanten Fortschritt Widersprüche so deutlich hervor. Als Zeuge dieser Veränderungen sieht Döblin, was auf den Einzelnen zukommt, wie er lernen muss, geschickt zu manövrieren, um nicht vom Fortschritt überrollt zu werden. Deutlich wird ihm aber auch, dass das Neue in einem alten Gewand daherkommt. Es genügt ein Abstecher in die Geschichte, eine Reise ins China des 18. Jahrhunderts, und es werden gesellschaftliche Grundkonflikte sichtbar, die aktuell geblieben sind. Um verborgene Grundstrukturen seiner Gegenwart aufzuzeigen, legt ihr Döblin ein exotisches Gewand an. Die Verhüllungstechnik, die er anwendet, um Wirklichkeit zu beschreiben, nennt Brecht Verfremdung. Sprecher Zitate (Bertolt Brecht): "Seine Epik und sogar seine Theorie über Epik hat meine Dramatik stark beeinflußt" (Schriften 3, Werke XXIII, 23 3 Zeilen) Erzähler: Bertolt Brecht liest im Herbst und Winter 1920/21 Döblin, und ist von seiner Prosa angetan. Sprecher Zitate (Bertolt Brecht): "Ich habe zwei Sachen von Döblin gelesen: erst 'Wadzeks Kampf' und jetzt 'Wang-lun'. Es ist eine große Kraft drinnen, alle Dinge sind in Bewegung gebracht, die Verhältnisse der Menschen zueinander in unterhörter Schärfe herausgedreht, die gesamte Gestik und Mimik virtuos in die Psychologie hineingezogen und alles Wissenschaftliche daraus entfernt." (Tagebücher, S. 62, 7 Zeilen) Erzähler: Den Roman Die drei Sprünge des Wang-lun beginnt Döblin im Juli 1912: Zitator Döblin: "Es war fast ein Dammbruch, der [ ... ] fast zweibändige 'Wang-lun' wurde samt Vorarbeiten in acht Monaten geschrieben, überall geschrieben, geströmt, auf der Hochbahn, in der Unfallstation bei Nachtwachen, zwischen zwei Konsultationen, auf der Treppe beim Krankenbesuch, fertig Mai 1913." Erzähler: Mit dem Wang-lun etabliert sich Alfred Döblin endgültig in der literarischen Szene. Bis zum Erscheinen von Berlin Alexanderplatz ist er für die Öffentlichkeit der Autor dieses im Reich der Mitte angesiedelten Romans. Obwohl das Manuskript bereits im Mai 1913 fertig vorliegt, dauert es noch fast drei Jahre, bis das Buch im März 1916 endlich erscheinen kann. Es verkauft sich gut. In kurzer Zeit ist die 1. Auflage vergriffen, bis Mitte der 20iger Jahre folgen zwölf weitere. Dass es darüber hinaus ein lebhaftes Presseecho gibt, hängt damit zusammen, dass Döblin neue erzählerische Wege geht. Das hat auch Wolfgang Koeppen beeindruckt: Sprecher Zitate (Wolfgang Koeppen): "'Die drei Sprünge des Wang-lun' [ ... ist] ein erstaunliches Buch, ein Wunder, und eine Überraschung [...] Döblin [ ... ] hatte einen umfangreichen Roman in der Tradition der großen Romane der Weltliteratur verfasst und doch die Romanform erneuert, sie vorangetrieben ins Kommende, ins Mutig-Ungewisse. (Wolfgang Koeppen: Alfred Döblin oder die lange Flucht. In: W. K. Gesammelte Werke, Band 6, S. 236f.) Erzähler: Dem Wang-lun-Roman vorausgegangen war Döblins Begegnung mit den Bildern der Futuristen. Sie haben ihn angeregt, etwas Neues zu wagen. Anders als Thomas Mann, dessen "Bügelfaltenprosa" er nichts abgewinnen kann, will Döblin in Sprache übertragen, was er auf den Bildern der Futuristen entdeckt hat. Er richtet zunächst das Hauptaugenmerk auf Wang-lun, einen schlauen und außergewöhnlich starken Mann, der zur Gewalt neigt. Dieser Kleinkriminelle weist Ähnlichkeiten zu Franz Biberkopf auf. Beide wollen anständig durchs Leben kommen. Deshalb entschließt sich Wang-lun, ebenso wie Biberkopf, der Gewalt zu entsagen. Doch anders als Biberkopf, der allein bleibt, geht von Wang-luns Lehre eine ungeheure Wirkung aus. Massenhaft suchen Gleichgesinnte seine Nähe. Für Döblin wird es zu einer erzählerischen Herausforderung, die Bewegung dieser Menschenmassen im Roman zu gestalten. Hier erprobt er zum ersten Mal, was im Alexanderplatz-Roman so überzeugend umgesetzt wird. Er konfrontiert den Einzelnen mit Verhältnissen, die sich verselbständigt haben, die er nicht mehr beherrscht und denen er schutzlos ausgeliefert ist. Der Fortschritt entwickelt eine Eigendynamik. Döblin setzt Biberkopf und Wang-lun wie in einem Labor Kräften aus und beobachtet, wie sie reagieren. Zitator Döblin: "Eine gelles Rufen aus den Fenstern und von den Dächern schaukelte über das Feld und kam im Echo von dem Wald zurück; Schirme, Mützen, Gürtel, Schärpen wurden geschwenkt; man hörte den entsetzten Aufschrei von Männern, die in ihrer Erregung fehltraten und Treppen herunterstürzten. Frauen kreischten, verlangten nach den Feinden. Das Lärmen der Masse verdichtete sich zu einem Gebrüll, das wie ein betäubender Nebel in das Feld herunterwallte." (Wang-lun, S.235) Erzähler: Döblin konzentriert sich nicht nur auf Wang-lun, sondern setzt auch die Masse Mensch ins Bild und zeigt, wie die Gewaltlosen für die Mächtigen zu einer Gefahr werden. Die Anhänger Wang-luns werden gefoltert und tötet - dennoch bleibt ihr Anführer verschwunden. Sein Nichthandeln wird zu einer Herausforderung, denn es stellt sich die Frage, ob er nicht eingreifen müsste. Mit dramaturgischem Geschick steigert Döblin so die Spannung. Indem er Wang-lun aus dem Handlungsgeschehen ausblendet, schafft er die entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass sein Eingreifen schließlich erwartet wird. 15. 0-Ton Döblin: Track 2, 2:53-4:55 Ich habe ja früher in den ersten Büchern [ ... ] allehand Exotisches [ ... ], große soziale Gebilde geschildert. Also, zum Beispiel China in dem ersten Roman [ ... ]. Hier waren in der Tat [ ... ] Kollektive hingestellt. Ich habe etwas gegen Individuen - gehabt, zumindest. Das heißt, in meiner Art zu malen, ist das große Tableau, das große Gemälde, das Erste. Die Figur, die darin auftritt, ist nicht das Erste, sondern sie erscheint darin und bedeutet etwas darin. Und in meiner ersten Zeit des Schreibens habe ich mich völlig von dem Individuellen abgewandt. Ja, ich erinnere mich, ich habe Aufsätze geschrieben, wo ich gegen den Individualismus geschrieben habe, gegen das Private, gegen die Betonung des Psychologischen. [ ... ] Aber richtig bleibt, dass ich im Laufe der Jahrzehnte, also von 1912, wo ich anfing, bis jetzt, bis 1948, immer mehr eine Neigung habe [ ... ] zum Ich zur Bedeutung des Ichs über das Kollektive hinweg, zu dringen. Musik: Eventuell Nils Petter Molvær: Solid Ether (Track 7, 0:00-0:50'') Erzähler: Der eigentlichen Geschichte von Wang-lun hat Döblin eine "Zueignung" vorangestellt. Sie erzählt von einem Mann, der sich ermahnt, "nicht zu vergessen". Anders als Wang-lun ist dieser Namenlose ein Zeitgenosse des Autors, sein Alter Ego, der den Roman am Schluss als ein "ohnmächtiges Buch" bezeichnet. Zitator Döblin: Ein sanfter Pfiff von der Straße herauf. Metallisches Anlaufen, Schnurren, Knistern. Ein Schlag gegen meinen knöchernen Federhalter. Das ich nicht vergesse -. Was denn? Ich will das Fenster schließen. [Die Straßen haben sonderbare Stimmen in den letzten Jahren bekommen. Ein Rost ist unter die Steine gespannt; an jeder Stange baumeln meterdicke Glasscherben, grollende Eisenplatten, echokäuende Mannesmannröhren. Ein Bummern, Durcheinanderpoltern aus Holz, Mammutschlünden, gepresster Luft, Geröll. Ein elektrisches Flöten schienenentlang. Motorkeuchende Wagen segeln auf die Seite gelegt über das Asphalt; meine Türen schüttern. [ ... ] Ich tadle das verwirrende Vibrieren nicht. Nur finde ich mich nicht zurecht."] (Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun, Walter Verlag, Düsseldorf 2007, S. 7.) Erzähler: Geschickt hat sich die Stadt bis ins Zimmer des Autors vorgearbeitet und ist im Begriff, sich darin auszubreiten. So aufdringlich hat auch der futuristische Maler Umberto Buccioni in seinem 1911 entstandenen Bild Die Straße dringt ins Haus die Stadt dargestellt. Auf seinem Bild sind die Konturen einer Frau kaum zu erkennen, die sich über das Geländer ihres Balkons beugt. Zwischen ihr und dem öffentlichen Raum existieren keine Grenzen mehr. Schief stehende Häuser scheinen zu kippen und auf sie einzustürzen. Sie ist in Gefahr, vom steinernen Meer überspült zu werden. Der Balkon stellt längst keine schützende Insel mehr dar. Aussperren kann der Autor die Stadt nicht, die wie ein gefräßiges Tier hinter verschlossenen Fenstern lauert. Sie diktiert ihm in den Füllfederhalter, was er zu schreiben hat. Zitator Döblin: "Die Menschen auf dem Trottoir kenne ich doch. Ihre Telefunken sind neu. Die Grimassen der Habgier, die feindliche Sattheit des bläulich rasierten Kinns, die dünne Schnüffelnase der Geilheit, die Rohheit, an deren Geleeblut das Herz sich klein puppert, der wässerige Hundeblick der Ehrsucht, ihre Kehlen haben die Jahrhunderte durchkläfft und sie angefüllt mit - Fortschritt." (Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun, Walter Verlag, Düsseldorf 2007, S. 7.) Erzähler: So lärmt die Stadt, so rückt der Fortschritt vor, dem Döblin sich nicht verweigern, aber auch nicht willenlos ausliefern will. Er hält dagegen und bringt das Gedächtnis in Stellung Zitator Döblin: "Dass ich nicht vergesse -." Erzähler: Döblin leistet Erinnerungsarbeit, indem er den Fortschrittsgedanken daraufhin befragt, was sich seit dem Untergang von Wang-lun wirklich verändert hat. Dieser chinesische Fischer hat nichts anderes versucht, als sich aus dem Lauf der Welt herauszuhalten. Doch obwohl er nicht handelt, wird er dennoch zu einer Gefahr. Das Fatale an seiner Situation ist die Ausweglosigkeit - es gibt keine Alternative zu seinem Untergang. Wofür er sich auch entscheidet, ob er eingreift oder sich aus der Geschichte heraushält, er ist zum Tode verurteilt. Die Geschichte wird über ihn hinweggehen. Von Wang-lun hätte Franz Biberkopf lernen können, dass es zu wenig ist, nur anständig bleiben zu wollen. Doch Biberkopf lernt nichts aus Wang-luns Niederlage und er lernt auch nichts aus der Geschichte. Zitator Döblin: "Das Eigentümliche, Bittere, Fatale ist dann: Jedes Buch endet (für mich) mit einem Fragezeichen. Jedes Buch wirft am Ende dem nächsten Buch einen Ball zu." (Epilog,) Erzähler: (immer leiser werden, schließlich ausblenden) Dieser Ball fliegt zunächst von China nach Berlin. Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine heißt der Roman, den Döblin 1918 nach dem Wang- lun veröffentlicht. Aus dem Berlin der Gründerzeit wird der Ball dann in die Vergangenheit geworfen, wo er mitten im Dreißigjährigen Krieg bei Wallenstein landet, um den es in dem 1920 erschienenen gleichnamigen Roman geht. Schließlich muss er sehr stark beschleunigt werden, um es von Böhmen nach Grönland, zum Roman Berge Meere, Giganten zu schaffen. Dann gelingt Döblin mit Berlin Alexanderplatz 1929 ein einmaliger Wurf. Angespornt durch den Erfolg wirft er den Ball weiter zur Babylonischen Wanderung und lässt ihn danach zur Amazonas Trilogie fliegen. 1939 landet er wieder in Berlin, bei dem mehrbändigen Romanprojekt November 1918 und bleibt 1956 endgültig neben Hamlet oder Die lange Nacht nimmt kein Ende liegen. Anschläge: 23.975 Abmoderation: Alfred Döblins Werke werden vom Walter Verlag herausgegeben. Als Einzelband erschien 2007 in einer kommentierten Neuedition der Roman Die drei Sprünge des Wang-lun. 14