HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Zeitfragen Titel der Sendung : Literatur der Ernüchterung. Vom produktiven Scheitern der Romanhelden Autor : Michael Reitz Redakteur : Carsten Hueck Sendetermin : 05.03.2017 Besetzung : Rosario Bona, Martin Engler, Bernhard Schütz Regie : Stefanie Lazai Ton : Andreas Stoffels Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultu Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin O-Ton Kumpfmüller: Ich glaube natürlich nicht daran oder sehe mich als Schriftsteller nicht dazu berufen, Illusionen zu verbreiten. O-Ton Bossong: Ein Happy End ist ganz sicherlich etwas, was einen kurzen Moment glücklich macht, aber es ist halt wie Zucker. O-Ton Peltzer: Die Frage wäre natürlich zu präzisieren, worin genau dieses nicht gute Ausgehen besteht. O-Ton Amis: The end of the old order is to please rather to alarm us, but what is frightening us, what the vanishing world leaves behind it is not a child but a pregnant widow. Overvoice: Das Ende der alten Ordnung wird uns zwar eher erfreuen als alarmieren. Aber es bleibt die beängstigende Frage, ob dabei nicht anstelle einer Neugeburt eine schwangere Witwe zurück bleibt. O-Ton Ruge: Ich gebe zu, dass ich mir die Zukunft noch schlimmer vorstelle als wie ich sie hier geschildert habe. O-Ton Kittstein: Es wird für moderne Literatur an Desillusion wohl kein Weg mehr vorbei führen. Erzähler: 1994 prägte das französische Literaturmagazin „Figaro littéraire“ den Begriff „graue Blumen“. Etikettiert wurde damit eine Art literarischer Deprimismus – Romane, Erzählungen und Gedichte, in denen die Protagonisten so gut wie keine Chance sehen, in dieser Welt glücklich zu werden. Erfunden wurden diese seltsam lebelosen Negativhelden von Autoren wie dem US-Amerikaner Bret Easton Ellis, dem Briten Martin Amis oder dem Franzosen Michel Houellebecq. Was sie verbindet, ist die gelebte „Desillusion“. Sie ist ein Leitmotiv zeitgenössischer literarischer Produktion. Harmonische Handlungsverläufe sind heute eher selten. Das Individuum steht auf verlorenem Posten. Seine Jagd nach Glück ist zum beklagenswerten Umherirren in postmoderner Obdachlosigkeit geworden – allein der Kommerz verspricht noch, zumindest kurzfristig, Zufriedenheit. Nähe oder gar Liebe sind einer völligen Vereisung zwischenmenschlicher Beziehungen gewichen. Und der Blick auf sich selbst ist dabei teilnahmslos. So heißt es in Michel Houellebecqs 1998 publiziertem Roman „Elementarteilchen“: Zitator: Es ist durchaus überraschend mitanzusehen, mit welcher Ruhe, welcher Resignation und vielleicht sogar insgeheimer Erleichterung die Menschen ihrem eigenen Verschwinden zugestimmt haben. Erzähler: Die literarische Produktion der letzten zwanzig Jahre protokolliert eine Erosion unseres Gefühlslebens und aller sozialen Normen. Kein happy ending – muss so die Schreibanweisung für den zeitgenössischen Roman lauten? Der nüchterne und erbarmungslose Blick auf Mensch und Verhältnisse, hat Geschichte in Literatur und Geisteswissenschaft, Kunst und Kultur. Was aber unterscheidet die literarische Darstellungsform des Pessimismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der vergangener Zeiten? Zitator: Xan Meo ging nach Hollywood. Und Minuten später kam Xan Meo mit rasender Geschwindigkeit und begleitet vom jaulenden Chor elektrifizierter Verzweiflung ins Krankenhaus. Resultat männlicher Gewalt. Sein Zustand glich dem des 21. Jahrhunderts: das war etwas, aus dem man aufwachen wollte. Jetzt war es ein Traum in einem Traum. Und beide Träume waren böse Träume. Erzähler: Eine Passage aus dem 2003 erschienenen Roman „Yellow Dog", der dem Leser ganz bestimmt keine wohligen Nachmittage beschert. Geschrieben vom Briten Martin Amis. In diesem Roman werden mehrere Geschichten erzählt. Da ist zum einen der brutale Überfall auf den sensiblen Schriftsteller Xan Meo. Augenscheinlich eine Verwechslung, die jedoch fatale Folgen hat: er verliert nicht nur sein Gedächtnis, sondern auch seine moralische Urteilsfähigkeit und entwickelt sich zu einem sexbessenen Widerling. Ein weiterer Erzählstrang handelt von dem Schmierenjournalisten Clint Smoker, dem titelgebenden „Yellow Dog“ - im Englischen die Bezeichnung für einen hinterhältigen Straßenköter. Auch der britische König spielt eine Rolle in dem Roman. Ihm werden in erpresserischer Absicht Nacktaufnahmen seiner halbwüchsigen Tochter zugespielt. In einem dritten Erzählstrang schließlich schildert Amis die Biographie jenes Londoner Gangsters, der den Auftrag zum Überfall auf Xan Meo gibt. All diese auf den ersten Blick eigenständigen narrativen Stränge werden nach und nach zu einem Zopf verflochten. Dessen Spange ist die Affinität aller beteiligten Personen zur Pornographie. Martin Amis geht es darum, die Obszönisierung der Gesellschaft darzustellen, die sich für ihn am deutlichsten im Florieren der Porno-Industrie zeigt: O-Ton Amis: I mean that is very objective description of the drag the society is heading in….it seems to be tailor-made for the present. Overvoice: Das ist eine ziemliche sachliche Beschreibung der Misere, in die die Gesellschaft sich selber gebracht hat. Für den Roman habe ich im kalifornischen San-Fernando-Tal recherchiert. In dieser Gegend werden die meisten Pornofilme der Welt gedreht. Das war im Jahr 2000, bevor das Internet zu dem Medium der Pornografie wurde. Heute besteht mehr als die Hälfte des Internet-Verkehrs aus dem Konsumieren von Pornos – offenbar die zeitgenössische Form des sexuellen Miteinanders in einer globalisierten Welt. Geradezu maßgeschneidert für die Gegenwart. Erzähler: Porno - das ist Illusion und Desillusion in einem. Mit weitreichenden Folgen: soziale Formationen, so Martin Amis, die weder Geheimnisse noch Intimität herstellen wollen, verlieren den Blick für Grenzen und das rechte Maß. Die Porno-Industrie sei dafür ein Indikator. Denn sie wecke nicht Bedürfnisse, sondern artikuliere lediglich eine bereits existierende entromantisierte Sexualität ohne Zärtlichkeiten und erotische Spannung. So ist der Skandalreporter Clint von völliger Emotionslosigkeit fasziniert. Zitator: Vor kurzem hatte Clint einen Artikel gelesen, in dem das Entstehen eines neuen Menschentyps postuliert wurde: des hochintelligenten Schwachsinnigen. Informiert, emotionslos und ohne Einfühlungsvermögen waren hochintelligente Schwachsinnige supermodern auch insofern, als sie jedwede technologischen und kulturellen Veränderungen einfach so hinnahmen – unerschrocken und freudlos. Erzähler: Martin Amis‘ Bücher lesen sich wie fortlaufende Chroniken menschlicher Verrohung und Abkapselung. Nach Amis‘ Auffassung sind der Zweite Weltkrieg, die Shoah und totalitäre Diktaturen Katalysatoren der vollkommenen Zerstörung moralischer Richtlinien. In seinem 2015 auf Deutsch erschienenen Roman „Interessengebiet“ erläutert Amis diese These am Beispiel des industriell organisierten Völkermordes. Zitator: Als ich aus dem Lastwagen stieg, bemerkte ich voller Unbehagen, dass die Frühlingswiese wirklich und wahrhaftig zu hören war. Natürlich konnte man es riechen, aber eben auch hören. Blubbern, Platschen, Zischen. Ich sah ohne jede Spur falscher Sentimentalität über das riesige Gelände hin. Ich bin ein normaler Mann mit normalen Gefühlen. „Recht“ und „unrecht“, „gut“ und „böse“: Diese Begriffe hatten ihre Zeit, jetzt gelten sie nicht mehr. Unter der neuen Ordnung haben manche Taten ein positives Ergebnis zur Folge, manche ein negatives. Das ist alles. Erzähler: Die Wiese ist ein Massengrab, in dem sich verwesende Leichen hörbar regen. Denn das „Interessengebiet“, das dem Roman seinen Titel gibt, ist Auschwitz. Genauer gesagt das Arbeitslager Monowitz, in dem die Nazis synthetischen Kautschuk herstellen ließen. Der Roman spielt hauptsächlich in den Jahren 1942 und 43. Ein Interesse besonderer Art zeigt auch der SS-Offizier Golo Thomsen. An Hannah Doll, der Frau des Lagerkommandanten. Liebe ist es nicht, auch nicht Begehren. Thomsens Interesse ist rein sachlich und materiell. Zitator: Früher war ich so etwas wie ein Romantiker. Aber das habe ich abgelegt. Und als ich Hannah ihren Leib nach vorne beugen sah, ihr strammes Hinterteil und das mächtige, balancierend nach hinten gestreckte Bein, sagte ich mir: Das wäre ein großer Fick. Genau das sagte ich mir. Erzähler: In einzelnen Erzählblöcken lässt Martin Amis die Akteure selbst zu Wort kommen. Den Befehlshaber des Lagers Doll, Thomsen oder den zu einem besonders barbarischen Arbeitsdienst eingeteilte jüdische Häftling Szmul. Die Ungeheuerlichkeiten, denen die Häftlinge im Roman ausgesetzt sind lesen sich als literarisiertes Beispiel eines Massenmordes, der wie in einem vollautomatisierten Schlachthaus organisiert war: Zitator: Die Männer im Scherkommando arbeiten mit Scheren; die Männer im Zahngoldkommando arbeiten mit einem Meißel oder einem kleinen, aber schweren Hammer in einer Hand und, zum Aufsperren des Kiefers, einem Haken in der anderen. Auf einer Bank in der Ecke liegt der SS-Zahnarzt und leckt sich im Schlaf die Lippen. Erzähler: Der Mensch in diesem Interessengebiet ist nurmehr Teilchen einer gigantischen Vernutzungs- und Vernichtungsmaschinerie. Die Shoah der vorläufige Höhepunkt eines Zeitalters, das mit dem Ersten Weltkrieg beginnt und das sich in der Auslöschung jeglicher Individualität entfaltet. Zitator: Niemand kennt sich selbst. Wer bist du? Du weißt es nicht. Dann kommst du ins Interessengebiet, und das sagt dir, wer du bist. Erzähler: Zwar entwirft Martin Amis in seinem Roman die Welt nicht als Konzentrationslager. Doch die Shoah ist für ihn letzter Grund, sich keiner Illusionen mehr hingeben zu können: seit Auschwitz muss man mit allem rechnen. O-Ton Amis: Occasionally you see a face in the crowd and you think: Oooh… If you gave that person power, the effects would be terrifying. And I do think it is a story of power and power going wrong. Power corrupts It rots your brain. Overvoice: Zufällig siehst du ein Gesicht in einer Menschenmenge und denkst: Uh! Wenn man diesem Menschen Macht geben würde, das hätte erschreckende Folgen. Ich denke, das hängt mit der Macht zusammen, mit einer Macht, die schiefläuft. Macht verdirbt, sie lässt das Gehirn verfaulen. Erzähler: Emotionale Stumpfheit verschränkt mit uneingeschränkter Macht – Martin Amis hat sich das schlimmstmögliche Szenario ausgesucht, um zu beschreiben, wie Liebe und Begehren dauerhaft unmöglich gemacht werden. Hannah Doll und Golo Thomsen treffen sich am Ende des Romans in München wieder - und werden, menschlich deformiert, auch nach dem Krieg kein Paar. Erzähler: Wie gehen Schriftsteller heute damit um, dass die Moderne in den vergangenen hundert Jahren einen Menschentyp hervorgebracht hat, der nicht mehr als Individuum erkennbar ist, sondern nur als Massenphänomen vorzukommen scheint? Und der - sollte er doch aus der Menge ausbrechen wollen – kaum eine Chance hat? Die Stichworte literarischer Produktionen des 21. Jahrhunderts lauten: Vereinsamung, Entfremdung, Erstarrung der Gefühle, Zerreißen sozialer Bindungen, weitgehender Kontrollverlust in Bezug auf die eigene Lebensplanung. Dieses aktuelle Desillusions-Szenario unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von früherer pessimistischer Literatur. Beispielsweise den Werken Samuel Becketts, in denen die Vergeblichkeit menschlichen Glücksstrebens und das völlige Scheitern der Daseinsentwürfe behauptet wird. Denn in der Literatur heute finden sich neben der Bestandsaufnahme desillusionierender postmoderner Befindlichkeiten doch auch Lichtblicke: Die Revolte gegen das Ausgeliefertsein, ein Nichtverzichtenwollen auf Streben nach Glück, Anschreiben gegen das, was scheinbar übermächtig ist – wenn es auch zunächst so aussieht, als sei dies ein einziger Kampf gegen Windmühlen. Zitator: Manche Leute haben so viel mit ihrem Überleben zu tun, dass die Zeit für ausschweifende Gedanken ans Glück ziemlich knapp wird. Man muss konkret denken, wenn man zu Lösungen kommen will. – Ich bin konkret. Abstraktionsfähigkeit bedeutet für mich, im Meer der Gegenwart nicht unterzugehen. Sich nicht blöd machen zu lassen, nicht reflexhaft wie eine Laborratte auf Zumutungen zu reagieren, die jedem mit dem Ende drohen, der sie nicht pflichtschuldigst erfüllt. Sich hinten anstellen, von der Ziehung der Lottozahlen die Rettung erhoffen. Erzähler: Eine Stelle aus Ulrich Peltzers 2007 erschienenem Roman „Teil der Lösung“. Der Autor schildert neben vereinzelten Widerstandsbemühungen, wie gleichgültig die Bürger darauf reagieren, dass private Ordnungsdienste polizeiliche Aufgaben übernehmen, und der öffentliche Raum durch Videokameras auf Schritt und Tritt überwacht wird. Und wie schwer es ist, zivilen Ungehorsam zu organisieren, da fast jeder mit seinem Leben zufrieden ist, solange er nur konsumieren kann. Zu umfassend sind die Ersatzbefriedigungen, die mediale Dauerberieselung, zu groß das allgemeine politische Desinteresse, als dass Protest noch eine nennenswerte Durchschlagskraft hätte. Einfach nur schwarz sehen will der Autor aber nicht: O-Ton Peltzer: Natürlich gibt es auch Bücher, die vollkommen im Desaster enden. Das lasse ich mir aber nur gefallen, wenn es eine Dynamik gibt, wo bestimmte persönliche individuelle Dispositionen sich verschränken mit gesellschaftlichen Bedingungen, die keinen Ausweg lassen. Das ist nicht reduzierbar auf individuelle Dispositionen, sondern auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Es gibt so eine Elendspornografie, die mir was beweisen will. Und das ist einfach nicht genug, weil, das benimmt den Figuren auch ihre Größe und ihre Kraft. Und selbst scheiternde Figuren besitzen zugleich eine Kraft, die nicht soziologisch erfassbar ist. Erzähler: In „Teil der Lösung“ entwirft Peltzer eine hochgerüstete Waren- und Konsumwelt. Die gesellschaftliche Realität ist totalitär – nicht durch Zwangsmaßnahmen, sondern durch die systematische Erzeugung von Teilnahmslosigkeit. Und Verharmlosung eines ökonomischen Systems, das hochanfällig für Störungen ist, so dass selbst Sprache schon als solche wahrgenommen wird. Zitator: Als dürfe im Haus des Konkursverwalters auf keinen Fall das Wort Konkurs ausgesprochen werden. Tust du es trotzdem, bist du schnell Terrorist und, das ist der Effekt fürs Publikum, die unschlagbare PR-Nummer, wir kriegen dich sowieso, selbst wenn wir zwanzig Jahre dafür brauchen. Erzähler: Und doch: Ulrich Peltzers Protagonisten, die Studentin Nele und ihr wesentlich älterer Freund Christian regen sich noch auf. Vor dem Hintergrund ihrer schwierigen Liebesgeschichte entfaltet der Autor eine brillante Gesellschaftsdiagnose. Der Journalist Christian recherchiert über einen politischen Skandal, dessen Wurzeln zu den „Roten Brigaden“ der 1970er Jahre in Italien führen. Nele demoliert Videokameras auf Bahnhöfen und verteilt Handzettel, auf denen die Positionen von Überwachungskameras in den großen Berliner Shopping Malls angegeben sind. In „Teil der Lösung“ treffen zwei unterschiedliche Formen des Protests aufeinander: zum einen spontanes und theorieloses Zuschlagen, das sich die Frage nach strafrechtlichen Konsequenzen nicht stellt – in den Aktionen von Nele und ihrer Gruppe. Und zum anderen mühsame intellektuelle Arbeit, wie das journalistische Zusammentragen von Fakten mit Empörungspotential. Der nüchterne Journalist Christian lehnt die direkte Aktion ab, während seine Geliebte durch eine „Propaganda der Tat“ die Menschen aufrütteln will. An dieser Unvereinbarkeit politischen Engagements scheitert dann aber die Beziehung der beiden. Erzähler: Seit den 1980er Jahren hat sich das Leben in den westlichen Wohlstandsgesellschaften rasant verändert. Wir haben nicht nur den Siegeszug des Neoliberalismus die digitale Revolution, eine immense Beschleunigung und das Ende der großen theoretischen Entwürfe erlebt, sondern auch das der Eindeutigkeit. Begriffe wie Arbeiterklasse, Ausbeutung, soziale Gerechtigkeit oder Solidarität taugen nicht mehr zur Beschreibung der postmodernen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie ist diffus, versunken im Brei aus Konsum, oberflächlicher Kommunikation und Permanentberieselung durch die Unterhaltungsindustrie. Nachrichten müssen mehr denn je auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Ausgerechnet in einer Zeit, in der jeder Internetnutzer in Sekundenschnelle auf alle möglichen Datenbanken zugreifen kann. Wo kann sich Literatur zwischen dem Abtauchen in Krimi- und Fantasywelten, politischem Desinteresse und besinnungslosem Konsum, da positionieren? Was macht politisch nicht engagierte Literatur für breite Leserschichten so attraktiv? Nora Bossong, Schriftstellerin aus Berlin, versucht eine Antwort: O-Ton Bossong: Ich denke, es ist natürlich eine Form des Eskapismus, also sich zurückziehen in eine Lektüre-Welt, sich nicht auch da noch mit den unlösbaren gesellschaftlichen oder scheinbar unlösbaren gesellschaftlichen Konflikten auseinanderzusetzen. Eine trügerische Sicherheit, weil wir damit uns auch der Herausforderung von Komplexität entziehen und diese Komplexität aber eigentlich notwendig ist, sie immer wieder auf die Probe zu stellen und immer wieder uns damit auseinanderzusetzen und unsere intellektuellen Fähigkeiten auch zu schulen. Erzähler: Erzählend gegen diese Form des Eskapismus zu wirken, das will der Schriftsteller Michael Kumpfmüller. Er sieht in der Literatur die Möglichkeit zur Entschleierung. Oder wenigstens die einer Aufhellung des Verdunkelten: O-Ton Kumpfmüller: Die aufklärerische Idee ist ja, dass man die Leute enttäuschen muss – denn Aufklärung heißt immer Enttäuschung. Und dann werden sie sozusagen in dieser Enttäuschung aber mündig und können dann die bessere Welt bauen. So soll das ja irgendwie funktionieren. Ich habe immer das Gefühl, wenn ich jetzt sozusagen von dieser postmodernen, postpluralistischen Keine-Ahnung-was-Gesellschaft von heute, also im Westen, rede, dann würde ich sagen, wir sind doch alle völlig desillusioniert. Erzähler: Sowohl Michael Kumpfmüller oder Martin Amis als auch Nora Bossong oder Ulrich Peltzer sind politisch engagierte Autoren, die sich immer wieder in gesellschaftlichen Debatten zu Wort melden. Sie suchen die Nähe zur Politik und glauben noch an eine Wandelbarkeit der Verhältnisse. Ganz anders dagegen der Franzose Michel Houellebecq. Ursprünglich Lyriker, der seine Gedichte mit Musikuntermalung vortrug, hat er in Romanen wie „Plattform“ oder „Die Möglichkeit einer Insel“ eine Welt der enttäuschten Hoffnungen gezeichnet. Der 1958 geborene Houellebecq vermittelt seine desillusionierte Weltsicht äußerst engagiert – obwohl er der Literatur jede konkrete Wirkung abspricht: O-Ton Houellebecq: Je ne pas… Overvoice: Ich sehe kein Beispiel, wo Romane die Welt verändern. Sie sind es nicht, eher die Essays oder meinetwegen politische Manifeste, die die Welt und den Lauf der Geschichte umformen. Aber Romane werden niemals zur Praxis und greifen auch nicht in sie ein. Erzähler: Für Michael Kumpfmüller ist Desillusion trotzdem produktiv. Konfrontiert sie doch den Leser mit sich selbst und den Verhältnissen. In seinem Roman „Nachricht an alle“, der 2008 für Furore sorgte, siedelt Michael Kumpfmüller seinen Protagonisten im Zentrum der Macht an. Erzählt wird die Geschichte des Innenministers eines mitteleuropäischen Landes. Zu Beginn des Romans erhält er eine SMS seiner Tochter. Sie sitzt in einem abstürzenden Flugzeug und wird sterben. Zitator: Hallo Paps, fing sie immer an, aber diesmal begann sie anders: Oh, mein Gott, begann sie. Es hat eine Explosion gegeben, es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe euch. Das war alles. Nur ein paar Sätze. Er nahm sie zur Kenntnis, hatte aber nicht den Eindruck, dass er etwas begriff. Erzähler: Diese letzte Nachricht lässt sich als Leitmetapher des Romans lesen: denn nach Kumpfmüller befindet sich auch die Gesellschaft im Absturz. Eines der Indizien dafür sieht er im wachsenden Kontrollbedürfnis des Staates. Erstaunlich ist dabei Kumpfmüllers Zugang zum Thema Überwachungsstaat. In seinem Roman wissen die Behörden sehr viel über die Bürger – es nützt ihnen aber nichts. Die Politiker sind in diesem Szenario nur noch Müllmänner. Ihre Aufgabe: den Schrott des kollabierenden Systems wegräumen – wobei sie genau wissen, dass dies überhaupt keinen Sinn mehr hat. Selbst das vermutete Allheilmittel, die umfassende Kontrolle, hat versagt. Der Innenminister, der im Roman nur einen Nachnamen trägt, ist ein deprimierter Technokrat, ein Manager des Untergangs. Zitator: Ein Drecksjob, das ist Politik. Sozialisten, Nationalisten, Demokraten, das ist schon längst nicht mehr die Frage. Die Frage ist: Wer tut sich das noch an. Wer sagt den Leuten die Wahrheit. Es finden Veränderungen statt, na gut, manches geschieht rasend schnell, anderes im Schneckentempo, obwohl sich das die Mehrheit schon lange nicht mehr leisten kann. Man stellt sich vor sie hin und sagt: Okay, alle, die heute vierzig sind, brauchen sich nichts mehr zu erhoffen. Wir haben euch abgeschrieben. Man zeigt in eine x-beliebige Richtung, nur damit die Leute nicht durchdrehen, wobei ja alle wissen, dass da nichts ist, nur Nebel, leere Versprechungen, eigentlich ein Nichts. Erzähler: Der Roman „Nachricht an alle“ beschreibt, wie der desillusionierte Staat noch seine autoritären Möglichkeiten ausnutzt. Voraussetzung für die Wirkung dieser rabiaten und hilflosen Politik ist eine Gesellschaft, die sich nicht mehr genügend wehrt, sondern sich von den Herrschenden einreden lässt, die Notwendigkeit des Widerstands existiere nur im Denken politischer Wirrköpfe. Erzähler: Trotz manch deprimierenden Befundes lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Literatur Ulrich Peltzers, Nora Bossongs oder Michael Kumpfmüllers. Denn diese Autoren stehen nicht für die Mentalität eines „es hat alles keinen Sinn mehr.“ Oder gar für das pure Ausgeliefertsein oder die metaphysische Heimatlosigkeit des Menschen wie bei Kafka. Die wird eher schon in den Romanen Michel Houellebecqs konstatiert. Sein Roman „Elementarteilchen“ berichtet mit der Sachlichkeit eines medizinischen Bulletins vom glücklosen Leben des Molekularbiologen Michel Djerzinski und seines Halbbruders Bruno. Zu Beginn spricht der Autor nur von einer Hauptperson. Zitator: Dieses Buch ist in erster Linie die Geschichte eines Mannes, der während der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt und den größten Teil seines Lebens in Westeuropa verbracht hat – im allgemeinen allein, wenn auch ab und zu im Kontakt mit anderen Menschen. Die Menschen seiner Generation waren häufig vom Elend bedroht und verbrachten darüber hinaus ihr Leben einsam und verbittert. Gefühle wie Liebe, Zärtlichkeit und Brüderlichkeit waren weitgehend verschwunden; in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen erwiesen sich seine Zeitgenossen sehr häufig als gleichgültig oder sogar grausam. Erzähler: Michael Kumpfmüller meint, dass die Beschreibung eines solchen Zustands unbedingt notwendig ist: O-Ton Kumpfmüller: Ich glaube natürlich nicht daran oder sehe mich als Schriftsteller nicht dazu berufen, Illusionen zu verbreiten. Aber ich verstehe Literatur als marginales Mediensystem dahingehend und den Auftrag von Literatur schon darin, dass die Leser, die das System noch hat, dass die so eine Art Trainingsprogramm durchlaufen. Und das kann nicht nur darin bestehen, dass sie ihre Illusionen verlieren, sondern das kann nur darin bestehen sie doch irgendwie fitter zu machen und ihnen sozusagen so Lektionen darin zu geben, dass sie sich orientieren können in dem Chaos. Erzähler: Lässt sich Literatur letztlich doch als Mittel zur Belebung erschlaffter Lebensgeister einsetzen, als Amphetamin? Bedingung dafür wäre ein unverstellter Blick auf die Verhältnisse. Einen solchen gestattet Michael Kumpfmüller in seinem 2016 erschienenen Roman „Die Erziehung des Mannes“ dem Komponisten und Musikwissenschaftler Georg. Die Gesellschaft spiegelt sich hier im Einzelnen. Kumpfmüllers jüngster Roman unterscheidet sich von „Nachricht an alle“ insofern, als es vordergründig nicht um größere politische Zusammenhänge geht, sondern der Fokus des 1961 geborenen Autors auf dem Selbstfindungsprozess seines Protagonisten liegt. Wie viele Geschlechtsgenossen seiner Generation muss dieser mit der Auflösung des klassischen Männerbildes klar kommen. Er arbeitet sich an der Frage nach eigenem Selbstverständnis und authentischem Leben ab, und ist konfrontiert mit einer souveränen Frauenwelt, die längst klassische Rollenerwartungen hinter sich gelassen hat. Im Ehe- und Familienleben nicht mehr festgenagelt auf nur eine Rolle, ergeben sich für den Mann Georg nahezu grenzenlose Möglichkeiten des Scheiterns. Mit großer Sympathie und Humor schildert Michael Kumpfmüller, wie sein Held diese Möglichkeiten auch tatsächlich nutzt. Die Ehe ist ruiniert, der Protagonist gefangen im Kreisen um sich selbst. Sein Fazit am Schluss des Romans: Zitator: Ich fürchte, meine Generation wird keine großen Spuren hinterlassen. Wir waren die, von denen es immer zu viele gab, wir haben nicht richtig an uns geglaubt, nur hin und wieder so getan, was an unserer tief verwurzelten Skepsis nichts änderte. War nicht alles längst gesagt und getan, so dass wir uns bestenfalls wiederholen konnten? Wir wiederholten uns, aber wir rafften uns zu keiner Tat auf, vielmehr bestanden unsere Taten darin, dass wir zähneknirschend akzeptierten, dass uns keine einfielen. Von der immer möglichen Katastrophe abgesehen, erwarte ich keine exorbitanten Ausschläge mehr. Vor zehn Jahren hätte ich das als Bankrotterklärung empfunden; inzwischen erkenne ich die Freiheit darin. Ich lasse mich von Dingen nicht mehr so bedrängen, fühle mich nicht immer gleich aufgefordert, zu reagieren. O-Ton Kumpfmüller: Die Ertüchtigung, die ich meine, bestünde darin, zu akzeptieren – das ist gewissermaßen auch ein Einspruch gegen sozusagen eine weit verbreitete narzisstische Grundhaltung – dass die Welt gar nicht daran denkt und auch nicht dazu da ist, sozusagen, unsere höchstpersönlichen Wünsche zu erfüllen. Das wünschen wir und dürfen wir auch wünschen, aber man muss davon reden, dass sie so nicht eingerichtet ist. Und dass man das annehmen muss. Man muss in den Kampfmodus gehen. Das ist auch wunderbar. Und ab und zu ist es dann ganz nett. Erzähler: Mithilfe der Kunst, in diesem Fall der Literatur, sich für den Kampf gegen die Welt zu wappnen, ist letztlich ein romantisches Unterfangen. War doch die Romantik der intensive Versuch, Welt mittels Kunst wieder zu verzaubern, nachdem sie von den Naturwissenschaften und dem Rationalismus Ende des 18. Jahrhunderts entschleiert worden war. Dem Schriftsteller kam dabei eine klare Rolle zu, so der Mannheimer Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein: O-Ton Kittstein: Man hat in der Tat in der Romantik, vor allem in der Frühromantik, noch ein enormes Vertrauen in die Wirkungsmöglichkeiten von Kunst gesetzt und ihr zugetraut, die ganzen Widersprüche der beginnenden Moderne, der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft gewissermaßen aufheben und in eine neue Harmonie überführen zu können. Erzähler: Doch schon damals war dieser Versuch in sich widersprüchlich. Bald, so Ulrich Kittstein, überwogen heftige Zweifel, ob man sich ein neues dasein erschreiben könne. Vor allem Eduard Mörike thematisierte diese Skepsis in seinem Künstlerroman „Maler Nolten“ aus dem Jahr 1832. Er gilt als einer der illusionslosesten Romane der Spätromantik. O-Ton Kittstein: Mörike hat im Maler Nolten ein Faible für die Technik, zunächst einmal idyllische Situationen und Konstellationen aufzubauen, also buchstäblich zu zitieren, und sie dann mit umso größerer Konsequenz wieder zu zertrümmern. Das ist ein generelles Charakteristikum seines Werkes, was man also jedem Klischee von Harmlosigkeit und Naivität bei ihm entgegensetzen muss. Die Idylle ist immer eine brüchige, immer eine fragwürdige, und sie ist immer von Unterströmungen bedroht, die in ganz düstere Konsequenzen münden können. Erzähler: Die Figur Theobald Nolten ist in erster Linie Eduard Mörike selbst, der Zeit seines Lebens eine Gratwanderung zwischen seiner künstlerischen Existenz und seinem Brotberuf als Landpfarrer vollführte. Doch „Maler Nolten“ ist mehr als ein Roman über die Widersprüche zwischen Kunst und Gesellschaft. Beschrieben wird die Komplettdemontage des aufgeklärten Menschenbildes. Unter der Oberfläche der Figuren lauern triebhafte verdrängte Regungen, Begierden und verbotene Wünsche. Sie führen dazu, dass sämtliche Protagonisten des Romans kläglich zugrunde gehen. Konfrontiert mit der harten wirtschaftlichen Realität muss der Künstler auf der Strecke bleiben. In die harmoniebesessene Epoche des Biedermeier platziert Mörike einen krassen Verlierer und Außenseiter. So sagt einer der Verächter des Malers: Zitator: Ich sage Ihnen vielmehr geradezu, dieser Nolten ist der verdorbenste und gefährlichste Ketzer unter den Malern, einer von den halsbrecherischen Seiltänzern, welche die Kunst auf den Kopf stellen, weil das ordinäre Gehen auf zwei Beinen anfängt langweilig zu werden; der widerwärtigste Phantasie-Renommiste! Was malt er denn? eine trübe Welt voll Gespenstern, Zauberern, Elfen und dergleichen Fratzen, das ist's, was er kultiviert! Er ist recht verliebt in das Abgeschmackte, in Dinge, bei denen keinem Menschen wohl wird. Die gesunde, lautere Milch des Einfach-Schönen verschmäht er und braut einen Schwindeltrank auf Kreuzwegen und unterm Galgen. Erzähler: Eduard Mörike zertrümmerte nicht nur das bürgerliche Erfolgsversprechen seines Zeitalters, sondern zugleich das Modell des idealtypischen Bildungsromans, beziehungsweise seiner Wirkungsmöglichkeiten. Sein „Maler Nolten“ demaskiert eine Gesellschaft, die sich mittels ihrer rigiden Moral darüber hinweg täuscht, dass Konkurrenz, Neid und Habgier längst zu ihrem Grundpfeilern gehören. Für genau diese Gesellschaft aber schrieb Mörike. Dieser Widerspruch, so Michael Kumpfmüller, bewegt Schriftsteller auch heute noch: O-Ton Kumpfmüller: Wenn man sich nicht sozusagen für den Ist-Zustand interessiert, und der Ist-Zustand ist immer mindestens defizitär, wenn nicht katastrophal oder wie auch immer, ja, dann braucht man damit natürlich nicht anfangen. Wenn es so ist, und es ist ohne Zweifel so, dass das postmoderne Subjekt in tiefster Einsamkeit sich befindet und geworfen ist in diesen komischen planetarischen Raum und in die gesellschaftlichen Räume, dann muss man davon reden. Aber dann gibt es nur eine Rettung. Und das trifft sozusagen auf alle Lebenskatastrophen empirisch zu: In dem Moment, wo ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der verloren ist, bin ich schon nicht mehr verloren. Erzähler: Einen Resonanzraum, die Verständigung über den Mangel, auf die Michael Kumpfmüller hofft, findet Mörikes Theobald Nolten nicht. In seinen Bildern malt er die Welt realistisch, nicht wie sie sein soll. Das nehmen ihm seine Mitmenschen übel. Zurück bleibt eine vergiftete feindselige Atmosphäre, die den Künstler in den Abgrund reißt, so der Mörike-Biograph Ulrich Kittstein: O-Ton Kittstein: Literatur lebt ja gewissermaßen davon, dass sie sich mit Problemen, mit Konflikten auseinandersetzt. Gäbe es die nicht, würden wir in einer gänzlich harmonischen Welt leben – wäre auch kein Bedarf an Literatur mehr. Das Werk von Autoren seit Kleist über Kafka bis Brecht und den moderneren, deutschsprachigen und anderen lebt davon, dass es sich immer wieder mit lebensweltlichen Konflikten und Auseinandersetzungen, mit Aporien, mit unlösbaren Widersprüchen auseinandersetzt. Erzähler: Eduard Mörike, heute weitgehend als harmloser Lyriker abgespeichert, sah sich einer gesellschaftlichen Realität gegenüber, die sich trotz ihrer Widersprüche als konfliktfrei darstellte. Er war Pfarrer einer Religion, die Barmherzigkeit und Nächstenliebe vertritt. Ihm fiel die Verlogenheit seiner kleinbürgerlichen Umgebung besonders auf, die das rücksichtslose Geldmachen für sich entdeckt hatte. Und sich in der Sonntagsmesse die Geschichte des Reichen anhört, der niemals ins Himmelreich komme. Ein „Individuum“ galt alsbald nur noch als solches, wenn es auch „erfolgreich“ war. Mörikes Schreiben war ein Akt des Widerstands gegen solche gesellschaftlichen Zustände – eine Haltung, die auch Nora Bossong für sich in Anspruch nimmt: O-Ton Bossong: In dem Moment, in dem ich schreibe und in dem ich mich der Wirklichkeit schreibend annehme, kapituliere ich ja gerade nicht, sondern stelle mich ihr entgegen. Kapitulieren würde bedeuten, dass ich eskapistisch mich in eine Scheinliteratur, in eine Wohlfühlliteratur zurückziehe. Würde vielleicht auch bedeuten, dass ich mich gar nicht mehr zu der Wirklichkeit äußere oder sie nicht mehr reflektiere, sie nicht mehr behandele oder zu beschauen versuche, sondern mich ja in Ablenkung zurückziehe. Zitator: Über Nacht war Kurt Tietjen verschollen, irgendwo zwischen Düsseldorf und New York. Die Anrufe auf seine Mobilnummer wurden von einer automatischen Ansage beantwortet: Die gewünschte Person sei vorübergehend nicht erreichbar. Die Fluggesellschaft bestätigte zwar, dass Luises Vater das Flugzeug bestiegen hatte und mit den übrigen Fluggästen um 10.35 Uhr in Newark gelandet war, aber danach verlor sich jede Spur von ihm. In dem Hotel, wo ein Zimmer für ihn reserviert war, kam er niemals an. Erzähler: Nora Bossong veröffentlichte 2012 ihren Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Es ist die Geschichte eines Familienunternehmens, genauer gesagt, von dessen Scheitern. Denn der Unternehmensleiter Kurt Tietjen schmeißt die Brocken hin, taucht in einem New Yorker Elendsviertel unter und überlässt das Unternehmen seiner zunächst völlig überforderten Tochter Luise. Zitator: Die Affäre, die das Haus Tietjen Ende der achtziger Jahre aus den Fugen gebracht hatte, war kein gewöhnlicher Skandal gewesen. Mit dem Gewöhnlichen hatte man sich im Hause Tietjen nie zufrieden gegeben. Es war der Firmenerbe Kurt Tietjen selbst, der gegen seinen eigenen Vater vor Gericht zog. Erzähler: Alles andere als eine Durchschnittsfamilie also, um die es hier geht. Nora Bossong folgt einem Konstruktionsmuster, dass schon Thomas Mann in seinem Roman „Buddenbrooks“ benutzte: die erste Generation erwirtschaftet das Vermögen, die zweite vermehrt es und die dritte schließlich bringt es durch. Kurt Tietjen geht in die Pleite und entzieht sich der Verantwortung. Diese Familie ist für Nora Bossong ein Spiegel der Gesellschaft: O-Ton Bossong: Das, was im Roman ja passiert, ist häufig, dass die Figuren, die Familienmitglieder, sehr oft für etwas haften müssen, was sie selbst nicht verursacht haben. Aber genau das, was sie selbst verursacht haben, vor dieser Haftung laufen sie davon. Und diese Haftung übernehmen sie eben nicht. Also eine ganz seltsame Verschiebung von dem, was man selbst verursacht und dem, was man wieder ausbaden muss. Zitator: Man macht Fehler, natürlich, aber dein Vater ist dabei überaus konsequent, auf einen Fehler lässt er einen noch größeren folgen, sagte ihre Mutter, erhob sich, schritt durch das Zimmer. Eine Frau, die etwas auf sich hielt, verlor nicht die Fassung, auch nicht, wenn sie am Ende war. Carola Tietjen war das, was man eine hauptberufliche Ehefrau nennen konnte, sie hatte ihre ganze Kraft in ihre gerade Haltung, ihren perfekten Auftritt gesteckt, in das Herumkommandieren der Angestellten, sie besaß die richtigen Freundinnen, die richtigen Ohrringe, und einen Fehltritt erlaubte sie sich nie. O-Ton Bossong: Ich habe mich mit der Frage beschäftigt, was mit Menschen passiert, die in einen bestimmten Lebenslauf hineingedrängt werden. Und da lag das Familienunternehmen nahe, weil das eine Unternehmensstruktur ist, die ganz stark auch in die Familienstruktur übergreift und die Trennung zwischen Familie und Unternehmen da manchmal nicht mehr so scharf zu ziehen ist, und eine familiäre Verantwortung gleichzeitig eine unternehmerische Verantwortung ist und umgekehrt. Erzähler: Mit dem Verweigerer Kurt Tietjen hat Nora Bossong auch eine Figur geschaffen, die - trotz finanziellen Vermögens - nicht damit zurecht kommt, dass sie nichts Besonderes ist. O-Ton Bossong: Dieser Fluchtimpuls, den ich dort schildere, ist natürlich ein Fluchtimpuls aus erstarrten Kategorien, aus erstarrten Bahnen, der aber gleichzeitig sich nicht eins zu eins in sofortiges und vor allem haltbares Glück ummünzen lässt. Überhaupt diese Vorstellung von haltbarem Glück ist wahrscheinlich etwas, was auch wieder eine Illusion wäre. Man muss wissen, dass man sich meistens nur von einem Unglück ins nächste Unglück rettet mit den kleinen euphorischen Momenten, die es zwischendurch hat. Erzähler: Jeder versuche sich aus der Masse herauszuheben, wesentlich zu werden und heute zumindest in den sozialen Medien etwas darzustellen, was ihn als Original und nicht als Kopie ausweist. Es sei der beständige Versuch, sich selbst in einer Welt zu behaupten, die sich immer stärker per Smartphone und Internet konfiguriert. Tatsächlich aber wenig greifbar ist. Daher rühre das Bedürfnis, sich zentraler und eigentümlicher präsentieren zu wollen. Mit Konsequenzen für die Literatur: O-Ton Bossong: Vielleicht geht es heute im Roman auch darum, diese Bedeutungslosigkeit aufzuzeigen, die eigentlich uns allen eigen ist. Denn wir sind alle einigermaßen bedeutungslos, und die Figuren sind es in gewisser Weise auch, und sie dann in einem Scheitern zu zeigen, der eigene Versuch, etwas zu bedeuten, der eigene Versuch, etwas zu verändern, der eigene Versuch, zu wirken, der vielleicht nicht im Nichts verhallt, aber doch immer eigentlich zumindest Gefahr läuft zu scheitern. Erzähler: Die gegenwärtige Literatur zeigt Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Menschen auf, die Sehnsucht, etwas zu sein, bei gleichzeitiger Aufgabe menschlicher Substanz - so könnte ein vorläufiger Befund lauten. Michel Houellebecq ist der Meister einer solchen Beschreibung. In seinen Romanen hat das erotische Begehren der Menschen den Stellenwert einer ebenso verzweifelten wie rücksichtslos-egoistischen Suche nach Lebenssinn. Wie in den meisten seiner literarischen Arbeiten zeichnet Houellebecq auch in seinem Roman „Elementarteilchen“ die Sexualität als Kampf Aller gegen Alle. Die Lockerung strenger Moralvorstellungen durch die 1968er Revolte, die Auflösung starrer Beziehungsmuster zwischen Mann und Frau, die Duldung der Homosexualität – für Michel Houellebecq ist das nichts anderes als eine Scheinbefreiung, die den rücksichtslosen Egoismus des modernen Menschen orchestriert. Zitator: Es ist nicht uninteressant, dass diese sexuelle Befreiung manchmal als Traumvorstellung von einer Gemeinschaft dargestellt wurde, während des sich in Wirklichkeit nur um eine weitere Etappe auf dem unaufhaltsamen Siegeszug des Individualismus handelte. Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung dieser letzten Gemeinschaftsformen zur Folge. Erzähler: In der Zweierbeziehung erleben die Helden Michel Houellebecqs keine Ergänzung oder Bereicherung mehr. Der Andere ist nurmehr eine Krücke, mit deren Hilfe man durch eine Welt ohne Mitgefühl und Solidarität kommen will. Zitator: Als sie wieder in Paris waren, erlebten sie ein paar frohe Momente, wie man sie aus der Parfümwerbung kennt. Sie waren manchmal traurig, aber vor allem waren sie ernst. Sie achteten sich gegenseitig sehr und empfanden tiefes Mitleid mit dem anderen. Meistens spürten sie einen grauen Schatten, der sich über sie und die Erde breitete, die sie trug, und in allem sahen sie das Ende nahen. Erzähler: Trotzdem verfügen diese Helden doch über die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Und sie fühlen – wenn auch nur die eigene Einsamkeit und die ihres Gegenübers. Da der graue Schatten jedoch nicht verschwindet, ist keine Paarbeziehung auf tiefe Zuneigung angelegt. Die Konsequenz: In Houellebecqs Erzählungen sind die Körper Funktionsorgane einer pornographischen Maschinerie geworden, die unaufhörlich gefüttert werden muss. Nicht das Begehren, sondern das technische Denken, die Kosten-Nutzen-Kalkulation haben die Herrschaft über die Erotik errungen. Hier trifft sich Michel Houellebecq mit Martin Amis. Houellebecq, der abwechselnd in Irland und Spanien lebt, ist alles andere als ein religiöser Mensch. Trotzdem sieht er Isolation und Einsamkeit in der heutigen Welt als Resultat eines Versagens spiritueller und metaphysischer Konzepte: Rationalität, so Michel Houellebecq, mündet in Technik und damit in Seelenlosigkeit. Und diese Technisierung hat selbst das Intimste des Menschen erfasst, seine Sexualität. Das erotische Ideal ist nicht mehr die langsame Verführung, sondern serieller, unverbindlicher Sex. Menschen, so der Ich-Erzähler in dem Roman 2001 erschienenen Roman „Plattform“… Zitator: …können ihren Körper nicht mehr einem anderen Menschen als schönes Geschenk darbieten und ihm ganz einfach Lust verschaffen, ohne etwas dafür zu erwarten. Sie können sich noch so anstrengen, es gelingt ihnen nicht mehr, Sex als etwas Natürliches zu empfinden. Wir sind gefühlskalt und rational geworden, legen höchsten Wert auf unsere individuelle Existenz und unsere Anrechte; außerdem sind wir von Gesundheit und Hygiene besessen. Das sind nicht gerade Idealbedingungen für das Liebesspiel. Erzähler: Vier Jahre nach „Plattform“ hat Michel Houellebecq mit „Die Möglichkeit einer Insel“ seine dystopische Fantasie weiter entfaltet: es geht um die Klonung des Homo sapiens. Wie jede gute Negativ-Utopie fußt auch diese auf Möglichkeiten, die bereits heute vorhanden sind und die der Autor weiter denkt. Der Stand der heutigen technischen Möglichkeiten wird auch von dem Romancier Eugen Ruge weitergedacht. In seinem 2016 erschienenen Roman „Follower – Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel“ beschreibt er, wie unsere smarte Welt in nicht mehr allzu ferner Zukunft aussehen könnte. Tenor seines Buches: Wir sollten uns von der Illusion befreien, dass es in Zukunft noch demokratische Systeme geben wird. Vorausgesetzt, wir unternehmen nicht schnell etwas dagegen, dass internationale Konzerne uns nur noch als Konsumenten und nicht als mündige Bürger brauchen. O-Ton Ruge: Eigentlich ist es nur eine ganz leichte Überhöhung und Zuspitzung der Gegenwart. Oft ist mir sogar passiert, dass ich Dinge glaubte erfunden zu haben und dann feststellen musste, nein, das gibt es im Grunde doch schon. Ja. Es ist glaube ich nicht sehr fantastisch. Das ist natürlich eine Fiktion in dem Sinne, dass es eine ausgedachte Geschichte ist. Aber ehrlich gesagt, besonders fantastisch ist die Geschichte nicht. Erzähler: Im Jahr 2055 tragen bei Ruge die Menschen eine „Glass“ genannte Datenbrille, über die sie permanent mit Informationen versorgt werden: Welche Mails sind reingekommen, wie ist der Blutzuckerspiegel, wo ist das nächste Restaurant? Zitator: Das Navi warnt vor Ausflügen in die Randbezirke, Schulz folgt der Straße, seine Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt drei Komma acht Kilometer pro Stunde, seine Körpertemperatur ist normal, sein Blutdruck stabilisiert sich allmählich wieder, dringend Flüssigkeit zuführen, sagt die Gesundheits-App. O-Ton Ruge: Der Witz an der Figur ist eigentlich, dass sie tatsächlich nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist. Und zwar auch in ganz vieler Hinsicht. Also ein Aspekt ist eben, dass sie sich in gewisser Weise im Datenstrom auflöst. Das ist so mächtig, was dem Mann da entgegenkommt, und der ist ja eigentlich direkt verkabelt, mit seinem Gehirn, mit der Realität oder bzw. mit der Virtualität, nicht, dass alles direkt durch ihn durch geht und eigentlich so gar kein Platz mehr ist für eine Art von Ich. Also, mit einem Wort, der Mann verschwimmt vollständig. Erzähler: Sämtliche Bewegungsdaten werden von einem Zentralcomputer registriert. Jeder Bürger bewegt sich in sogenannten „kommerziellen Sektoren“ und trägt, wie auch der Protagonist Nio Schulz, einen auf ihn zugeschnittenen Chip im Gehirn: O-Ton Ruge: Alles ist marktförmig geworden. Auch die Figuren selbst haben einen bestimmten Marktwert. Sind auch durch diese totale Durchschaubarkeit, die möglich ist, durch Genanalysen und so weiter, sind die Menschen inzwischen auch in ihrem Marktwert ziemlich genau bestimmbar. Erzähler: Auch Protagonist Nio Schulz. Keine Regung, keine noch so geheime Neigung oder gesundheitliche Anfälligkeit kann seinem Arbeitgeber, der ihn rund um den Erdball schickt, verborgen bleiben. Aber ab und zu muss er per Livestream-Konferenz wieder eingeordnet werden. Denn er funktioniert nicht richtig. Vor allem deshalb nicht, weil er sich unter dem Produkt, dass er verkaufen soll, überhaupt nichts vorstellen kann. Kein Wunder, denn genaugenommen existiert der Artikel überhaupt nicht. O-Ton Ruge: Im Grunde genommen ist es ein Buch über Kapitalismus, aber eben über eine bestimmte Form des Kapitalismus. Ein Buch über sozusagen diesen neuen, schicken, digitalen, globalen Kapitalismus, der sich ja ganz anders gibt. Zitator: Oberstes WTO-Schiedsgericht bestätigt das Recht auf wirtschaftliche Verwertung des eigenen Todes, las Schulz, aber bevor er sich fragen konnte, was mit dem Recht auf wirtschaftliche Verwertung des eigenen Todes gemeint sein könnte, verblasste die Meldung schon wieder und vor dem grauen Himmel erschien in gelber Schrift ein neuer Tweet von @Luzia, die der Welt mitteilte, ihr Kokos-Bounty-Kuchen sei angebrannt. O-Ton Ruge: Es ist ja was ganz anderes als dieser frühere protestantische Kapitalismus, der also bestimmte Rollenbilder, bestimmte Identitäten vorschreibt. Das ist ja alles vorbei. Das ist schon wahr. Nur wird diese Form des Kapitalismus eben sehr leicht mit Freiheit verwechselt. Das ist das Problem. Zitator: Wir verkaufen kein Wissen und erst recht keine Blutdruck- oder Herzfrequenzmessgeräte, sondern – Schulz hätte laut mitsprechen können – kollektive Identitäten, sagte seine Chefin, demzufolge seien die True-Barefoot-Running Fußbänder weder Mode noch Technik, besäßen weder eine sportliche noch eine medizinische Funktion, seien weder Kunst noch Gebrauchsgegenstände, sondern Zeichen der Zugehörigkeit, und deshalb, mein lieber Schulz, ergibt sich ihr Preis nicht aus ihrem Wert, sondern umgekehrt: ihr Wert ergibt sich aus ihrem Preis, je teurer, desto exklusiver, und übrigens steht das alles in dem Compact über Die Bedeutung der Marke im postpostmateriellen Zeitalter, das ich euch letzte Woche gepostet habe, sagte seine Chefin. O-Ton Ruge: Also, der weiß ganz genau, was für Defekte er hat beispielsweise, die er mitbringt in die Beziehung, die er mitbringen würde in eine mögliche Fortpflanzungsabsicht. Die Menschen werden immer mehr ja zu kleinen Unternehmen. Zu kleinen Ich-AGs, um Gerhard Schröder zu zitieren, die miteinander irgendwie in Beziehung treten – ziemlich geschäftliche Beziehungen. Zitator: Immer hat er das Gefühl, er spiele den Menschen bloß etwas vor, und jetzt fällt ihm das unangenehme kleine Erlebnis am Morgen wieder ein, als der Fingerprintsensor versagte, die nicht personalisierbare, kalte Stimme der Glass, die ihm nicht glauben wollte, dass er er sei, als wäre die Glass imstande, über die haarfeinen Implantate in seinem Gehirn seine Echtheit zu prüfen, aber warum, fragt sich Schulz, warum muss er eigentlich er sein, warum muss er jemand sein, der er vielleicht gar nicht ist oder nicht sein will, warum nicht ein paar von diesen Second-Life-Sachen abonnieren. Erzähler: In Eugen Ruges Roman kann sich niemand dieser smarten Welt entziehen. Wer es doch tut – und das geschieht im Lauf der Erzählung – gilt zwangsläufig als Terrorist, ähnlich wie in Ulörich Peltzers „Teil der Lösung“. Zitator: Am 1.9. hätte die Person planmäßig abreisen müssen (Flugbuchung). Als die Person bis 16 Uhr nicht ausgecheckt hatte, wurde von der Hotelleitung die Polizei verständigt. Die Person wurde nicht aufgefunden. Daraus ergab sich ein Anfangsverdacht im Sinne des europäischen Gesetzes zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. O-Ton Ruge: Ich gebe zu, dass ich mir die Zukunft noch schlimmer vorstelle als wie ich sie hier geschildert habe. Ich sehe keine gesellschaftliche Kraft und ich sehe eigentlich gar nichts im Augenblick, was die Entwicklung, in der wir uns befinden und die ich insgesamt für ungut halten, was die aufhalten könnte. Also, das ist nicht besonders optimistisch. Das ist wohl wahr. Erzähler: Desillusionierung – das heißt für die Autoren zu Beginn des 21. Jahrhunderts: deutlich machen, was sie sehen. In Vergangenheit und Gegenwart. Es gilt, die Verhältnisse nüchtern zu analysieren und angesichts von Turbokapitalismus, Überwachungsstaat und fortschreitender Entsolidarisierung nicht zu kapitulieren und nicht nur eine düstere Zukunft zu imaginieren. Nora Bossong: O-Ton Bossong: Der Moment des utopischen Denkens ist uns ziemlich abhanden gekommen. Also ich erlebe es, dass wir sehr genau in die Vergangenheit schauen, also was wichtig und richtig ist und jeder, der das gut und genau tut, dem bin ich dankbar. Aber dass wir eigentlich die Gegenwart nur noch mit der Vergangenheit erklären, aber nicht mehr mit einem Zukunftsbezug. Dass das eigentlich immer weniger ist. Jede Form von Idealisierung und Überhöhung hat auch einen Moment von utopischem Denken. Und das wäre etwas, was durchaus wieder mehr vorkommen dürfte aus meiner Sicht. Nicht ein blindes Vertrauen, nicht in Naivität erstarren, aber sich eigentlich wieder zu einem besseren Modell bekennen, zu der Überlegung, was sein könnte, wenn es anders wäre. Erzähler: In der Illusionslosigkeit, der unsentimentalen Inventur dessen, was die Moderne auch an Glücksversprechen angeboten hat, liegen nach wie vor die Ressourcen der Literatur. Schon in den1970er Jahren prägte Herbert Achternbusch den Satz: Du hast keine Chance, aber nutze sie. Nora Bossong versteht das so: O-Ton Bossong: Ich würde es mal so übersetzen: Du sprichst ohnehin ins Leere, aber sprich trotzdem. Und ich glaube, das stimmt schon. Also, nicht zu sprechen wäre die Alternative. Aber ob sie besser ist, wage ich zu bezweifeln. 1