KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Lebt wohl, Ihr Berge". Jeanne d'Arc im Drama Autor : Barbara Sichtermann Redakteurin : Jörg Plath Sendetermin : 03.01.2012 Besetzung : Regie : Beate Ziegs Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- O-Ton Noyer (1): Also, es gab eine Reise, die ich gemacht habe, nach Chinon. Ich bin dorthin gefahren und wollte mir unbedingt diese Burg einmal anschauen. Es ist kein Schloss, wie man sich das vorstellt, wie Versailles oder so. .... Einfach um mal dieses mittelalterliche Gefühl zu spüren. Und dann, für die Figur selber, ging es darum, Parallelen zu finden zwischen Jeanne und mir. Wir konnten ja selber auswählen, aus welchen Stücken wir Texte herausnehmen wollten, und ich habe viel von Jean Anouilh genommen, weil es da viel um Persönlichkeitsentwicklung geht, um Glauben an sich und Glauben an Gott. Und da ich selber aus einer Familie, wo es sehr viele religiöse Menschen gibt - wir haben viele Priester und Nonnen und Mönche in der Familie, und ich bin auch so aufgewachsen, dass ich jeden Sonntag in der Kirche war und auch früher als Kind wirklich das Bedürfnis hatte, Nonne zu werden -, war es mir nicht fremd, dass jemand so stark glaubt, dass ihn das beflügelt, außergewöhnliche Dinge zu tun, wobei ich nicht glaube, dass Johanna meinte, etwas Außergewöhnliches zu tun, sondern weil es halt ihrer Leidenschaft entsprach. Sprecher: So erlebte die Schauspielerin Sigrid Noyer beim Rollenstudium Jeanne d'Arc, auch Jungfrau von Orleans genannt, deren Schicksal große Dramatiker und Komponisten wie Shakespeare, Verdi, Brecht, Schiller, Shaw und Anouilh zu klassischen Bühnenwerken inspirierte. Vor sechshundert Jahren kam sie in Domrémy an der Maas als Tochter eines Bauern zur Welt. Das genaue Datum ist unbekannt, man nimmt den 6. Januar als sehr wahrscheinlich an. Mit dreizehn Jahren hörte Jeanne das erste Mal Stimmen, die ihr rieten, keusch und fromm zu bleiben und oft in die Kirche zu gehen. Es seien die Stimmen des heiligen Michael, der heiligen Katharina und der heiligen Margarete gewesen. Als sie siebzehn war, wurden die Stimmen konkreter: Ihr, Jeanne, sei es von Gott, dem Herrn, aufgetragen, das Vaterland von fremder Besatzung zu befreien. Sprecherin: In Frankreich tobte damals der später so genannte Hundertjährige Krieg. Die Engländer hatten seit Generationen ihren Festlandbesitz im Norden Frankreichs verteidigt und durch Heiratspolitik und Eroberung nach und nach vergrößert. Unter Heinrich V. setzten sie 1415 zu einer neuen Offensive an. Sie verbündeten sich mit dem Hause Burgund und unterwarfen weitere Domänen und Handelsstädte, inklusive Paris, ihrer Oberhoheit. Und sie griffen ungeniert nach der französischen Krone. Sprecher: Die hatte damals in Frankreich keinen Träger. Karl VI aus dem Hause Valois war in geistiger Umnachtung verstorben; seine Frau, die Regentin Isabeau, hielt es mit den Engländern und bestritt die Legitimität ihres eigenen Sohnes als Thronfolger. Prinz Karl saß mit seinen letzten Vasallen in der Burg von Chinon und tat - gar nichts. Um Truppen auszuheben, fehlte ihm das Geld, selbst für seine armselige Hofhaltung musste er seine Bediensteten anpumpen. Es stand miserabel um das Haus Valois und das französische Königtum. Nur noch ein Wunder konnte helfen. Sprecherin: Und das Wunder geschah. Es hieß Jeanne d'Arc, die Jungfrau, französisch: la pucelle, die ihren Stimmen folgte, nach Chinon zum Prinzen ritt, alle Widerstände überwand, die sich ihr den Weg stellten und mit Karl, dem Dauphin, in den Krieg gegen die Engländer zog. Die Truppen folgten auch ohne Sold, denn das charismatische Mädchen an Karls Seite stärkte in ihnen die Überzeugung, dass es jetzt genug sei mit der Fremdherrschaft. Karl, die Armee und Jeanne - die Pucelle immer hoch zu Ross mit Schwert und Standarte - befreiten das belagerte Orléans gemeinsam mit dem Stadthauptmann Dunois. Die Engländer flüchteten in hellen Scharen, nicht zuletzt vor der Jungfrau in der Rüstung, die eine Aura des Übernatürlichen umgab. Und dieses Mädchen geleitete alsdann auf Geheiß ihrer Stimmen den siegreichen Dauphin zur Krönungsstadt Reims, wo der Prinz zu König Karl VII gesalbt ward. Johanna stand während der Zeremonie neben dem Altar, ihr Banner in der Hand. In seinem Drama "Die heilige Johanna" beleuchtet George Bernard Shaw die Augenblicke nach der Krönung. Karl und sein Gefolge haben die Kathedrale verlassen. Johanna kniet auf den Altarstufen. Graf Dunois, Hauptmann des befreiten Orléans, beugt sich zu ihr. Akustisches Signal: Szene Sprecher (Dunois): Komm, Johanna. Genug gebetet. Du wirst dich erkälten, wenn du noch länger hier bleibst. Es ist doch alles vorbei. Die Kathedrale ist leer, die Straße voll. Man ruft nach dem Mädchen. Sie wollen dich noch ein- mal sehen. Sprecherin (Johanna): Nein, die Feier ist Sache des Königs. Sprecher: Ach, der verdirbt uns nur die Show. Er sieht so jämmerlich aus. Johanna, du hast ihn gekrönt, und du musst es jetzt durchstehen. Komm! Los! In ein paar Stunden ist alles vorbei. Besser dies als die Brücken vor Orléans, oder etwa nicht? Sprecherin: Ach, lieber Dunois, ich wollte, wir wären auf den Brücken vor Orléans. Auf diesen Brücken, da haben wir wirklich gelebt. Sprecher: Allerdings. Und einige von uns sind auch gestorben. Sprecherin: Ist das nicht seltsam? Vor jeder Schlacht habe ich furchtbare Angst. Aber nachher, wenn die Gefahr vorbei ist, ist es so schrecklich lang- weilig. Sprecher: Du musst eben lernen, im Genuss des Krieges so mäßig zu sein, wie du es beim Essen und Trinken bist, meine kleine Heilige. Sprecherin: Lieber Dunois, ich glaube, du magst mich wirklich; so wie ein Soldat seine Kameraden mag. Sprecher: Du hast es auch nötig, du armes, unschuldiges Kind. Du hast nicht viele Freunde bei Hofe. Sprecherin: Warum hassen mich eigentlich alle diese Hofleute und die Ritter und die Priester? Ich habe ihnen doch Glück und Sieg gebracht. Ich habe ihnen den rechten Weg gezeigt. Ich habe Karl gekrönt und einen richtigen König aus ihm gemacht. Und alle Ämter, die er austeilt, bekommen sie. Warum lieben sie mich denn nicht? Sprecher: Du Närrin! Erwartest du von dummen Leuten, dass sie dich lieben, nachdem du sie bloßgestellt hast? Liebt etwa ein abgetakelter ausrangierter Kriegshase den jungen Offizier, der ihn ersetzt? Ich selbst wäre eifersüchtig auf dich, wenn ich ehrgeiziger wäre. Sprecherin: Du bist der Beste von allen hier. Der einzige Freund, den ich unter all diesen großen Leuten habe. Ich wette, deine Mutter kam vom Land. Ich will zurück aufs Land, sobald ich Paris genommen habe. Sprecher: Ich bin nicht so sicher, dass man dich Paris nehmen lassen wird. Sprecherin: Was?!! Akustisches Signal Szenenende Sprecher: Dramatiker wollte die Außergewöhnliche auf der Bühne immer wieder zu neuem Leben erwecken. Es versteht sich, dass die Johanna des Theaters immer die Johanna der Stückeschreiber ist, und so gibt es in der dramatischen Literatur lauter Jungfrauen, die untereinander wenig Ähnlichkeiten aufweisen - ganz zu schweigen von Übereinstimmungen mit der historischen Jeanne, über die doch aus einer Menge alter Quellen viel bekannt ist. Dieser ,wahren' Jungfrau kommt George Bernard Shaw mit seiner ,Heiligen Johanna' noch am nächsten. Er lässt seine Heldin sagen: "Ich bin ein Soldat und sonst nichts." Und trifft damit den Kern. Denn die Pucelle war in erster Linie eine unerschütterliche Kämpferin. Kaum ist die Krönung vollzogen, fiebert sie bei Shaw der nächsten Schlacht entgegen, der Rückeroberung von Paris, das damals schon ein bedeutendes Zentrum war. Aber der junge König rüstet nicht zum Krieg, und Johanna muss fürchten, heimgeschickt zu werden. Ihr Kampfgefährte La Hire, dem sie das Fluchen abgewöhnt hat, ist einer der wenigen, der sie versteht. Akustisches Signal: Szene Sprecherin (Johanna): Meine Arbeit ist getan. Ich gehe zurück auf den Hof meines Vaters. Sprecher (La Hire): Du wirst das Kämpfen vermissen. Es ist eine schlechte Angewohnheit. Aber es macht doch Spaß. Und man gewöhnt es sich schwer wieder ab. Sprecherin: Ich weiß sehr wohl, dass es keinem hier am Hof leid tut, wenn ich gehe. Sprecher: Na, dann kann ich wenigstens wieder fluchen, wann ich will. Aber ab und zu wirst du mir fehlen. Sprecherin: La Hire, trotz all deiner Sünden und deines Fluchens werden wir einander im Himmel begegnen. Ich habe dich nämlich so lieb wie meinen alten Schäferhund Pitou. Pitou konnte einen Wolf reißen. Du wirst die englischen Wölfe reißen, bis sie wieder in ihr Land zurückkehren und gute Hunde Gottes werden, oder nicht? Sprecher: Du und ich zusammen, ja. Sprecherin: Nein, ich habe nur noch ein Jahr vor mir. Sprecher: Was?! Sprecherin: Ich spüre es. Sprecher: Unsinn. Sprecherin: La Hire - meinst du, dass du sie ganz verjagen kannst? Sprecher: Ja, das meine ich. Sprecherin: Und du wirst nicht grausam gegen sie sein? Sprecher: Mit zarter Behandlung richtet man bei den Gottverdammichen nicht viel aus. Und schließlich haben wir ja nicht angefangen. Sprecherin: La Hire, bevor ich heimgehe - lass uns Paris erobern! Akustisches Signal Szenenende Sprecher: Alle Dramatiker mussten sich bei ihren Bühnenversionen der Frage stellen, wie sie mit ihrer Jeanne-Figur Glaubwürdigkeit gewinnen könnten; denn dieses Mädchen ist jung und unerfahren, Analphabetin, sie kommt vom Dorf, versteht nichts von Kriegführung. Wie kann es sein, dass sie sich binnen weniger Monate zur Feldherrin aufschwingt? Sprecherin: Und eine Schauspielerin, die Johanna spielt, muss eine Ahnung davon gewinnen, woher dieses Mädchen seine Kraft bezogen hat. Schauspielerin Sigrid Noyer hat bei einem Jeanne-d'-Arc-Projekt mitgemacht und ist zur Vorbereitung auf die Rolle erst einmal nach Chinon gefahren. Und so hat sie über Jeanne nachgedacht: O-Ton Noyer (2,2a): Wenn ich mir das jetzt so überlege, Jeanne wächst da so in ihrem Dorf auf und geht zur Kirche, und gewinnt da so eine große Kraft aus der Kirche, dass da so eine grundsätzliche Energie da ist und eine Bestätigung, ich kann Dinge und ich werde geliebt, von Gott geliebt. ... Das mal als Basis. Und dann spüre ich, um mich herum geht es den Leuten schlecht. Ich bin aber stark. Ich sehe, der König muss gekrönt werden. Er muss gestärkt werden. Ich glaube, ich kann es. Ich habe einfach das Selbstbewusstsein, und ich habe die Kraft. Ich fühle hinter mir die Kraft Gottes. Und dann sehe ich ein klares Ziel vor mir. Dann suche ich den Weg, wie ich dahin komme. Der Motor bei Jeanne war, glaube ich, der Glaube. Sie soll den König krönen. ... Und dazu wurde sie von Gott beauftragt. Und der gibt ihr auch die Kraft dafür. Sprecher: Eine weitere Problematik für Autoren der Bühnen-Johanna bestand in der Weiblichkeit ihrer Heldin und in der Männlichkeit ihrer Mission. Sie trug Hosen, sie ritt und focht, sie war eine gefürchtete Draufgängerin. Wie passt das zu den Weiblichkeitsvorstellungen des ausgehenden Mittelalters, zu den Geboten, die einer Frau ihren Platz in der Familie anwiesen, zu Bescheidenheit und Zucht? O-Ton Noyer (3): Also ich hab einfach für mich die Erfahrung gemacht, wenn man so stark an einem Projekt arbeitet, und ständig am Abchecken ist, wie kriege ich jetzt alles, was ich brauche, zusammen, also im Fall von Johanna die Truppen, die Klamotten, das Geleit, dass mich da jemand hinbringt, dieses extreme Aktive so wenig Raum lässt, für das, was ich jetzt als weiblich empfinden würde, nämlich nachspüren, mich einlassen auf andere Menschen, Gefühl zulassen. Da bleibt irgendwie keine Zeit, das muss jetzt alles schnell gehen. ... Sie denkt einfach praktisch, wie kriegt sie das jetzt hin. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie das jetzt aktiv verdrängt hat, ihre Weiblichkeit, sondern dass jetzt gerade nicht der Zeitpunkt dafür war. Sprecherin: Sigrid Noyer trifft jenen Punkt, der einem Leser, einer Theatergängerin, die sich von der Geschichte der Jungfrau faszinieren lassen, ins Auge springt und der scheinbar trivial ist: Johannas Ungeduld. Die Sache brannte ihr unter den Nägeln, die Rettung Frankreichs vertrug keinen Aufschub. Jeanne hatte einfach keine Muße für die Auseinandersetzung mit ihrer Weiblichkeit. Sie hatte zu viel Wichtigeres zu tun. Sprecher: Auch Shaw sieht in seiner Heiligen Johanna einen Menschen, der eine bestimmte Aufgabe erfüllen muss und aus ganz pragmatischen Gründen zu Männerkleidung und männlichem Gehabe findet - wohl wissend, dass es zu Beginn des 15. Jahrhunderts geistliche und weltliche Würdenträger gab, die in dieser Vernachlässigung von Kleider- und Benimmordnung einen schwer hinnehmbaren Verstoß gegen die guten Sitten und den christlichen Moralkodex sahen. Shaw hat sein Stück mit einer Vorrede versehen. Darin heißt es: Sprecherin: Johanna war die Pionierin einer vernünftigen Frauenkleidung. Genau wie zwei Jahrhunderte später die Königin Christine von Schweden, ganz zu schweigen von zahllosen obskuren Heldinnen, die sich als Männer vermummten, um als Landsknechte und Seeleute zu dienen, wollte Johanna nichts davon wissen, das ,wahre Los des Weibes' auf sich zu nehmen. Sie kleidete sich, focht und lebte als Mann. O-Ton Noyer (4): Aber auch das ist etwas, was ich nicht schwer nachzuempfinden finde, diese Zeiten im Leben, wo ich das Gefühl hatte, ich kann an mir gar nichts Weibliches mehr finden. Ich kuck in den Spiegel und denke, das ist ein Mann. Also Zeiten im Leben, wo man einem Projekt nachgeht, wo sehr viel Action erforderlich ist. Ich schreibe ja auch kleine Theaterstücke und so, da muss man sich ja wirklich um alles kümmern, und kann nicht einfach so die Bühnendarstellerin sein, man ist so der Macher, man verwandelt sich innerlich, so in der Psyche, dass man diesen weiblichen Aspekt einfach ausschalten kann. Das habe ich selber auch schon einmal erlebt, und ich denke, andere Frauen auch. Sprecher: Zu einer solchen Unbekümmertheit in Sachen Geschlechterordnung kann sich Friedrich Schiller in seiner "Jungfrau von Orléans" noch nicht durchringen, ja, er hat sich schwer damit getan, Johannas Geschlecht mit ihrer Mission, die ja eine militärische war, in Einklang zu bringen. Schiller ging so weit, der Jungfrau eine Liebesgeschichte anzudichten. Zwar lässt er sie wacker das Schwert führen, im entscheidenden Augenblick jedoch verschont seine Johanna einen englischen Soldaten, in dessen Schönheit sie sich verliebt hat. Sie kann es selbst kaum glauben. Und sagt zu sich: "Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild in meinem reinen Busen tragen? Weh mir." Sprecherin: Mit dieser frei erfundenen Episode rührt Schiller an den Kern des Jeanne-Mythos und verletzt ihn. Denn die ,Reinheit' der Pucelle, ihre Unberührtheit, ihre Distanz zum Reich des Erotischen wurde neben ihrem tiefen Glauben als wichtigste Quelle ihrer Kraft angesehen - von den Zeitgenossen und auch von ihr selbst. Schiller gesteht das zu, wenn er die Verliebte seufzen lässt: ,Weh mir'. O-Ton Noyer (5): Ich glaube aber auch, dass Schiller eben in einer anderen Zeit geschrieben hat. Da waren vor allem die Männer anders drauf als heute. Die Männer haben vielleicht auch anderes erwartet von den Frauen. Und dadurch war auch gar nichts anderes möglich, als sich so dem Mann und vielleicht der Familie und dem damaligen Weiblichkeitsbild hinzuwenden. Die Tatsache, dass sie ja so oft auch untersucht wurde auf ihre Jungfräulichkeit, weist für mich daraufhin, dass, wenn sie nicht jungfräulich gewesen wäre, niemand das akzeptiert hätte. Also das ging gerade so, weil das ... man konnte glauben, dass sie tatsächlich eine Heilige ist, auch das Volk hat das geglaubt. Wenn sie jetzt schon mal jemanden gehabt hätte, schon mal die Liebe erfahren hätte oder Sexualität erfahren hätte, dann wäre sie, glaube ich, sehr viel weniger glaubwürdig gewesen. Sprecher: Schillers Jungfrau bleibt zwar im physischen Sinne unberührt. Im Herzen aber hat sie ihr Gelübde schon durch ihre Sehnsucht nach dem englischen Soldaten gebrochen. So holt Schiller sie zurück in das Leben, das den Frauen, wie er es meinte, bestimmt ist. Er bestreitet ihr das Außergewöhnliche. Als Liebende büßt Johanna die Kraft der ,Soldatin' ein, und das Kriegsglück verlässt sie. Sprecherin: Damit stellt Schiller die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf. Zwar unterlag auch die historische Jeanne am Ende im Kampf, aber nicht, weil sie verliebt gewesen wäre, sondern weil sie kein Ende finden konnte mit dem Kämpfen. Weil sie eben nicht nach Hause in die Welt der Frauen ging, nachdem sie ihren Auftrag erfüllt hatte. Sprecherin: Die Johanna des ersten Aktes jedoch, die junge Hirtin, die aufbricht, um zu tun, was Gott und seine Heiligen von ihr verlangen, ist bei Schiller wunderbar portraitiert. Die Unbeirrtheit, die sie stets ausgezeichnet hat, ist das Leitmotiv, mit dem sich die Jungfrau von ihrer lothringischen Heimat verabschiedet. O-Ton Noyer (6): Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften, Ihr traulich stillen Täler, lebet wohl! Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln, Johanna sagt euch ewig Lebewohl. Ihr Wiesen, die ich wässerte, ihr Bäume, Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort! Lebt wohl ihr Grotten und ihr kühlen Brunnen! Du Echo, holde Stimme dieses Tals, Die oft mir Antwort gab auf meine Lieder, Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder! Musik (etwas länger, nun folgt Teil 2, Der Niedergang) O-Ton Noyer (7): Das war ja die Abschlussveranstaltung von unserer Schauspielschule, und es stand ja für uns an, jetzt auch einzusteigen in das Arbeitsleben, und sich zu fragen, ob sich das, was man sich so ausgedacht hat - ich war ja 22 Jahre alt, als ich da raus kam aus der Schule und war überzeugt, dass ich das machen möchte in meinem Leben - ob das jetzt wirklich bestehen wird, wenn man dann rausgeht und Arbeit sucht. Und ich kann mich erinnern, dass diese Szene im Gefängnis, wo sie noch mal den heiligen Michael und die heilige Katharina fragt, warum sprecht ihr nicht mehr zu mir? Dass das auch unheimlich schön war diese Situation auf der Bühne zu leben, die man im eigenen Leben auch gerade empfinden könnte, halt mit anderen Worten, anderer Kontext, aber ich konnte es irgendwie ganz gut benutzen. Für diese Energie, die man bekommt, in dem Augenblick, wo man auf der Bühne steht und alle einem zuhören, da ist man noch mal konzentrierter, man beschäftigt sich viel intensiver mit dieser ganz speziellen Lebenssituation. Sprecher: Nachdem Karl VII. zum König gekrönt worden war, verständigte er sich mit den Burgundern. Die Engländer hatten damit keine Verbündeten mehr auf dem Festland und wurden nach und nach fast vollständig auf ihre Insel zurückgedrängt. Der Hundertjährige Krieg fand ein Ende. Es war Jeanne d'Arc, die die Bedingungen dafür geschaffen hatte. Aber sie selbst kam nicht mehr in den Genuss des Erfolgs. Sprecherin: Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, Paris zu entsetzen, wurde die Pucelle bei Compiègne gefangen genommen und gegen ein hohes Lösegeld an die Engländer überstellt. Während der nächsten Monate wanderte sie durch verschiedene Gefängnisse, zum Schluss saß sie angekettet in einem finsteren Turm zu Rouen. Die weltlichen und kirchlichen Autoritäten hatten immer Schwierigkeiten mit Jeannes Stimmen: Kamen sie wirklich von den Heiligen und von Gott, oder steckte womöglich der altböse Feind dahinter? Bevor sich Jeanne in Chinon mit dem Dauphin auf den Krieg hatte vorbereiten dürfen, war sie von einer Kommission hochrangiger Theologen geprüft worden. Erst als diese befand: Ja, die Pucelle ist fest im Glauben, erst als ferner erkannt worden war: sie ist eine unberührte Jungfrau und damit des Umgangs mit dem Teufel unverdächtig, erst dann durfte sie die Soldaten führen. Sprecher: Kein Wunder, dass die Engländer dagegen fest daran glaubten, Johanna sei vom Satan gesandt worden, waren dann doch Flucht und Niederlage verzeihlich. Wer hätte schon gegen eine Hexe, die mit Höllenzauber vorging, gewinnen können? Und nun, wo die Engländer sie in ihrer Gewalt hatten, wollten sie nachweisen, dass Jeanne eine Ketzerin und Gesandte des Teufels war. Der Inquisitionsprozess, der gegen sie angestrengt wurde, hatte mit einer Verurteilung zu enden! Theologen und Juristen der proenglischen Pariser Universität, sechzig an der Zahl, bildeten die Riege der Ankläger, Beisitzer und Richter, denen Jeanne - sie wollte keinen Anwalt - ganz allein gegenüberstand. Jean Anouilh hat in seinem Stück "Jeanne oder die Lerche" diesem Teil der Geschichte breiten Raum gegeben. Akustisches Signal: Szene Sprecherin (Jeanne): Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ihr werdet sehen, La Hire kommt mit ein paar hundert tapferen Soldaten und befreit mich. Sprecher (Ankläger): Sie waren schon da, Jeanne. Sie kamen bis vor die Tore und spähten, wie viele Engländer in der Stadt sind. Dann zogen sie wieder ab. Sprecherin: Sie zogen wieder ab? Ohne zu kämpfen? (Pause) Sie holen gewiss Verstärkung. Ich hatte ihnen ja oft gesagt, dass sie nicht einfach blindlings angreifen dürfen. Sprecher: Sie sind weit nach Süden über die Loire gezogen. Der kriegsmüde Karl löst seine Armee auf und handelt einen Vertrag aus. Sie kommen nie wieder, Jeanne. Sprecherin: Das ist nicht wahr, La Hire kommt wieder, selbst wenn alles aussichtslos erscheint. Der gute La Hire! Er war der Dümmste und Tapferste. Sprecher: La Hire ist nichts weiter als ein Bandenführer. Als er erfahren hatte, dass dein Prinz Frieden schließen will, verkaufte er sich mit seiner Horde an einen anderen Fürsten. Er marschiert jetzt nach Deutschland und wird eben dort weiterplündern. Sprecherin: Das ist nicht wahr! Sprecher: Habe ich dich jemals angelogen, Jeanne? Es ist wahr. Warum willst Du dich für die Menschen opfern, die dich alle längst verlassen haben? Die einzigen Menschen, die deine Rettung noch versuchen - so paradox es scheinen mag -, sind wir. Wir, deine früheren Feinde und Richter. Schwöre ab, Jeanne, du kämpfst nur noch für die, die dich verraten haben. Kehre in den Schoß der heiligen Kirche zurück. Wirf dich in den Staub, dann reicht sie dir die Hand und richtet dich auf. Denn im Grunde deines Herzens bist du ihr stets eine treue Tochter geblieben. Sprecherin: Ja, ich bin eine Tochter der heiligen Kirche. Sprecher: Vertraue deiner Mutter, Jeanne, ohne Vorbehalt. Sie wird die Schwere deines Irrtums gerecht abwägen und dich von der Angst befreien, dass du sie selbst ermessen musst. Dann brauchst du nichts mehr zu denken, du nimmst die Strafe auf dich - sei sie leicht oder schwer - und gehst hin in Frieden. Denn vor allem Frieden wirst du bitter nötig haben. Sprecherin: In allen Glaubenssachen unterwerfe ich mich der Kirche. Doch von meinen Handlungen und Taten werde ich mich niemals lossagen. Akustisches Signal Szenenende Sprecher: Die Protokolle dieses so genannten Verdammungsprozesses sind erhalten, und sie sind eine wahrhaft bewegende Lektüre. Da streitet ein ungebildetes Mädchen, das aber Erfahrungen hat, sowohl mit dem Krieg als auch mit der Religion, gegen eine Heerschar von versierten Gelehrten, die es zur Strecke bringen müssen, wobei sich einige der Eminenzen durchaus um Fairness bemüht haben. Im Kern ging es darum, dass Jeanne sich nicht anmaßen dürfte, ihre Stimmen und alles, was daraus folgte, selbst zu interpretieren und zu bewerten. Dies müsste der Kirche überlassen bleiben. Das ist gemeint mit Unterwerfung: Wenn die Kirche sagt, die Stimmen sind böse, sind nicht von Gott, und die Feldzüge der Jungfrau waren sündhaft, dann muss Jeanne das akzeptieren und ihre Strafe, ein Leben im Kerker oder im Kloster, demütig auf sich nehmen. Aber Jeanne war nicht bereit, die Deutungshoheit über ihre Stimmen abzugeben. Damit besiegelte sie ihr Schicksal. Das Urteil lautete: Tod auf dem Scheiterhaufen. Sprecherin: In der Nacht vor ihrer Hinrichtung packt Jeanne die nackte Angst, und sie schickt nach dem Ankläger, um die Unterwerfung zu vollziehen. Ein entsprechendes Schriftstück ist vorbereitet. Jeanne unterzeichnet - ihren Namen zu schreiben hat sie gelernt - und bricht in der Zelle zusammen. Sie weiß: sie hat einen schweren Fehler gemacht. Sie lauscht nach ihren Stimmen, die schon so lange schweigen. Und sie widerruft ihren Widerruf. O-Ton Noyer (8): Heiliger Herr Michael! Heilige Margarete! Heilige Katharina! Wenn ihr jetzt auch schweigt, ich lebe erst seit jenem Tag, da ihr zu mir gesprochen habt. Ich lebe, seit ich tat, was ihr befohlen hattet: Aufs Pferd zu steigen und das Schwert zu nehmen. Das ist Jeanne, nur das. Aber nicht die andere, die in ihrem Kloster alt und zahnlos wird. Nicht die andere, die sich mit ihrem Leben abfindet. Ach, wie dumm, wie dumm, wie dumm war ich. Du schweigst, mein Gott, während diese Priester sprachen und mit gelehrten Worten alles zerredeten. Doch wenn du schweigst, ist dein Vertrauen in mich am stärksten. Das hat mir der heilige Herr Michael gesagt. Dann muss ich alles allein auf mich nehmen und ertragen. Ich nehme es auf mich, Gott, ich geb' dir deine Jeanne zurück, so, wie sie immer bleiben wird. Ruf die Soldaten, Warwick, ruf die Soldaten, schnell. Ich verzichte auf meinen Widerruf, ich verzichte auf die Frauenkleider. Ihr könnt damit meinen Scheiterhaufen anzünden. Ihr sollt es haben, euer Fest. Sprecher: Am 30.Mai 1431 wurde Jeanne d'Arc auf dem Marktplatz von Rouen verbrannt. Ihre Asche wurde in den Fluss gestreut, um Verehrern keine Chance zu geben, sich an ihrem Grab zu versammeln. Sprecherin: Für die Engländer war es gut ausgegangen. Aber die Franzosen konnten sich nicht abfinden. Karl VII., der ihr seine Krone verdankte und nichts für ihre Freilassung getan hatte, wollte später, nach Ende des Krieges, den Makel loswerden, der auf seinem Königtum haftete: Zum Thron habe ihm eine Hexe verholfen. Und er strebte einen Revisionsprozess an. 25 Jahre nach ihrer Verurteilung wurde Jeanne d'Arc rehabilitiert und zur Märtyrerin erklärt. Es dauerte dann noch einmal fast fünf Jahrhunderte bis zu ihrer Heiligsprechung im Jahre 1920. Sprecher: Es war George Bernard Shaw, der sich für den politischen Charakter der Verfahren um Johanna interessierte und den Revisionsprozess 25 Jahre nach ihrem Tod als eine Art Geisterbeschwörung an das Ende seines Dramas setzte. Es lässt Graf Warwick auftreten, ehemals englischer Heerführer in Frankreich und der Mann, der die gefangene Jeanne von den Burgundern abgekauft hatte. Akustisches Signal: Szene Sprecher (Warwick): Verehrtes Fräulein, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Ehrenrettung. Ich fürchte, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sprecherin (Jeanne): Bitte. Nicht der Rede wert. Sprecher: Die Verbrennung war nichts als ein Akt der Politik. Es war keine persönliche Animosität im Spiel, das versichere ich Ihnen. Sprecherin: Ich nehme es Ihnen auch nicht übel, Mylord. Sprecher: Sehr liebenswürdig. Ich begrüße Ihr Entgegenkommen. Dennoch: Ich muss meinerseits auf einer angemessenen Entschuldigung bestehen. Leider stellt sich nämlich politische Notwendigkeit manchmal als politischer Irrtum heraus. Und in Ihrem Fall war es ja geradezu eine furchtbare Blamage. Ihr Geist hat uns besiegt, mein Fräulein, über den Scheiterhaufen hinweg. Und nun wird die Geschichte sich meiner nur um Ihretwillen erinnern. Allerdings waren die Umstände unserer Beziehung vielleicht ein wenig unglücklich. Sprecherin: Ja, vielleicht ein ganz klein wenig, Sie Witzbold. Sprecher: Immerhin, wenn man Sie zu einer Heiligen macht, so werden Sie Ihren Heiligenschein mir zu verdanken haben. Wie ja auch dieser glückliche Monarch seine Krone Ihnen verdankt. Sprecherin: Ich habe keinem Menschen etwas zu verdanken. Ich verdanke alles dem Geist Gottes, der in mir war. Aber ich als Heilige - das ist unvorstellbar. Was würden die heilige Katharina und die heilige Margarete sagen, wenn plötzlich ein Bauernmädchen neben ihnen auftaucht? Akustisches Signal Szenenende Die Szenen aus den Dramen sollten durch eine kurze musikalische Sequenz oder durch ein akustisches Signal eingeleitet und beendet werden. Sie können von demselben Sprecher bzw. derselben Sprecherin gestaltet werden, die auch die Textpassagen lesen. Aber man kann sie natürlich auch mit neuen Stimmen besetzen. Auszüge aus: Bernard Shaw, Die heilige Johanna Bibliothek Suhrkamp Nr. 295, 1971 Deutsch von Wolfgang Hildesheimer Jean Anouilh, Jeanne oder die Lerche Dramen 3. Band im Verlag Langen/Müller München o.J. Deutsch von Franz Geiger Friedrich Schiller, die Jungfrau von Orléans Schillers Ausgewählte Werke, 5. Band, Stuttgart, Cotta, 1867 1