Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier "Nein heißt Nein!" Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht Von Beate Hinrichs Redaktion: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2017 Erstsendung: Freitag, 17.02.2017, 19.15 Uhr Sprecher: Claudia Mischke, Martin Schaller und Gerd Daaßen Technik: Gunther Rose und Hannah Steeger Regie: Birgit Morgenrath Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Claudia Roth: "Abgegebene Stimmen: 601. Mit ‚Ja' haben gestimmt: 601." [Applaus) Sprecherin: 7. Juli 2016. Der Bundestag beschließt ein neues Sexualstrafrecht. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth verkündet das historische Ergebnis: Der zentrale Paragraph 177 Strafgesetzbuch wird einstimmig angenommen. In der vorausgegangenen Debatte hatte die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Elisabeth Winkelmeier-Becker, die Reform erklärt: O-Ton Elisabeth Winkelmeier-Becker: "Allein am erkennbaren Willen des anderen entscheidet sich, ob eine sexuelle Handlung schön ist und in Ordnung ist oder eben nicht. Unabhängig davon, ob der Wille anfänglich mal da war und sich dann geändert hat; auch das ist jederzeit möglich; jeder, der einen Willen hat und zum Ausdruck bringt, ist in Zukunft durch diesen Grundsatz geschützt: Nein heißt Nein." [Applaus] Ansage "Nein heißt Nein!" Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht. Ein Dossier von Beate Hinrichs. Sprecher: Kapitel eins: Die Schutzlücken. Sprecherin: Rückblick: Wie sah das Sexualstrafrecht bisher aus? Ein Beispiel. O-Ton Martina Lörsch: "Im Rahmen eines Behandlungsverhältnisses wurde 'ne junge Frau von dem Behandler zum einen geküsst, da gab's 'ne leichte Form von Gewaltanwendung, und danach wurde sie auch noch im Intimbereich manipuliert [...]" Sprecherin: Die Bonner Rechtsanwältin Martina Lörsch vertritt Betroffene sexualisierter Gewalt vor Gericht. O-Ton Lörsch: "[...] also der Mann hatte sie da einfach -- geleckt, um's mal ganz klar zu sagen, und das war für die Mandantin der wesentlich schlimmere Übergriff als dieser Kuss, der vorher stattgefunden hat; sie war aber zu diesem Zeitpunkt total überrascht davon und das ging alles so schnell, dass sie sich da irgendwie gar nicht wehren konnte. Es war gar keine Gewaltanwendung erforderlich. Und nach dem alten Recht ist möglicherweise zwar der Kuss strafbar, aber nicht diese Manipulation im Genitalbereich." O-Ton Tatjana Hörnle: "Es war ganz eindeutig eine gesetzliche Schutzlücke. Und das Modell des Gesetzes kann man eigentlich nur verstehen, wenn man die historischen Wurzeln kennt." Sprecherin: Tatjana Hörnle, Professorin für Strafrecht an der Humboldt-Universität in Berlin, beschreibt die alte Rechtslage. O-Ton Hörnle: "Es gibt 'n Basismodell, und dieses Basismodell war Gewalt. Und diese Gewalt musste den körperlichen Widerstand des Opfers lahmlegen. Das war das Grundmodell. Das wurde nun im Laufe der Jahrhunderte etwas erweitert, irgendwann wurde mal erkannt, es muss eigentlich nicht mehr Gewalt sein, die bloße Drohung mit einer Gewalt reicht schon aus. Dann kam schließlich in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts die schutzlose Lage hinzu; auch das war 'ne Erweiterung, 'ne Ergänzung zum ursprünglichen Basismodell der Gewaltanwendung. Aber es blieb trotzdem dabei, dass die Grundlogik war: Es müssen bestimmte äußere Umstände definiert sein, die mit der Frage des ‚Nein' des Opfers, die mit der sexuellen Selbstbestimmung eigentlich nichts zu tun haben." Sprecherin: Darum gingen Täter zum Beispiel straffrei aus, wenn das Opfer so überrascht war, dass es sich nicht wehren konnte. Oder wenn das Opfer keinen Widerstand leistete, weil es den Täter bereits als gewalttätig kannte und weitere Verletzungen vermeiden wollte. Jahrzehntelang haben Frauenorganisationen darum gefordert, dass die sexuelle Selbstbestimmung ebenso geschützt wird wie etwa Eigentum. Denn wer einer Frau die Handtasche stiehlt, der macht sich strafbar - egal, ob die Bestohlene sich wehrt oder nicht. Birgit Cirullies, Leitende Oberstaatsanwältin a.D. aus Dortmund, hält dagegen: O-Ton Birgit Cirullies: "Dieses Beispiel mit dem Handtaschendiebstahl, das hab ich schon vor Jahren gehört und da muss ich sagen, diese Fälle sind diametral unterschiedlich. Bei einem Diebstahl haben wir ein Verhalten, was per se rechtswidrig ist. Sexuelle Handlungen sind das aber grundsätzlich nicht. Die gehören schließlich zu unserem Lebensinhalt dazu und sind ja immerhin auch dazu angetan, die Menschheit als solche zu erhalten." Sprecher: Exkurs: Verbrechen und Geschlecht. Sprecherin: Vergewaltigungen finden überwiegend im sozialen Nahbereich statt - in Beziehungen oder durch den Ex-Partner, im Bekannten- oder Kollegenkreis. Kurz: Dort, wo Menschen sich eigentlich sicher fühlen. Susanne Preusker wurde zum Beispiel an ihrem Arbeitsplatz Opfer. Die Psychologin arbeitete im Hochsicherheitstrakt einer bayerischen Justizvollzugsanstalt und behandelte Sexualstraftäter. Ein verurteilter Mörder nahm sie in ihrem Büro als Geisel, bedrohte ihr Leben und vergewaltigte sie über Stunden. O-Ton Susanne Preusker: "Ich habe mich geschämt, ich habe mich - opfertypisch - schuldig gefühlt, ich hatte Angst, Angst, ein ganz, ganz beherrschendes Thema über lange, lange Monate danach, ich hatte dann - je mehr Zeit dann auch verging - so eine Unsicherheit, wie's überhaupt weitergehen sollte; also ich war vormals so die relativ erfolgreiche Psychologin, plötzlich saß ich hier in der Wohnung, konnte nicht mal mehr in den Supermarkt fahren, konnte die Wohnung nicht verlassen, von Panikattacken geschüttelt, und natürlich dann auch dieses Gefühl: Wie geht's denn jetzt weiter? Was soll denn jetzt aus Deinem Leben werden? Da war ich - wie alt war ich 'n da, 49?" Sprecherin: Jede Frau reagiert individuell auf einen sexualisierten Übergriff, auf den Kontrollverlust und die Ohnmacht, die sie während der Tat erlebt. Aber viele Verletzte erzählen auch von ähnlichen Auswirkungen, weiß Petra Klecina vom Frauennotruf Hannover. O-Ton Petra Klecina: "Was immer mit sexueller Gewalt, Gewalttaten, zusammenhängt, sind Schuldgefühle und Schamgefühle. Die sind sehr hartnäckig, und die können auch dazu führen, dass Frauen Kontakte abbrechen, dass sie sich erst mal zurückziehen, aber auch, dass das Umfeld damit nicht klarkommt und nicht weiß, wie es sich verhalten kann, dass Beziehungen auseinandergehen, dass Freundschaften auseinandergehen; das sind auch häufig Anlässe, 'ne Beratung aufzusuchen, überhaupt Vertrauen wieder aufzubauen." Sprecherin: Eine Sexualstraftat, macht Petra Klecina deutlich, ist Gewalt, keine Sexualität. O-Ton Klecina: "Sexualität ist das Mittel, um den Willen zu brechen und es geht eigentlich um Macht, um Erniedrigung, um Demütigung und es ist für uns ein Gewaltdelikt und nicht eine perverse Form von Sexualität. Wobei natürlich dann Sexualität eine Rolle spielt, aber das Gewaltmoment steht für uns im Vordergrund. Und auch für die Frauen." O-Ton Mithu Sanyal: "Für mich ist halt der Aspekt der Grenzüberschreitung wichtig, also dieses irgendwie ‚Dein Wille ist weniger wert als mein Wille.'" Sprecherin: Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat gerade ein Buch darüber geschrieben, wie die Gesellschaft Vergewaltigung versteht, also Gewalt, die fast ausnahmslos männliche Täter überwiegend Frauen antun. O-Ton Sanyal: "Die erste Information, die ich bekommen habe, war: ‚Du bist ein Mädchen - pass auf!' Es ist so, dass Angst gegendert wird. Frauen haben Angst, Männer haben Angst um eine Frau, also um ihre Schwester oder ihre Mutter oder ihre Ehefrau oder Freundin; es ist so, dass Verletzlichkeit gegendert wird." Sprecherin: Das spiegelte sich traditionell auch im Strafrecht, sagt Mithu Sanyal. Bis zur Strafrechtsreform 1997 galt als Vergewaltigung lediglich die außereheliche vaginale Penetration einer Frau - Männer und Ehefrauen konnten maximal Opfer sexueller Nötigung werden. Und die war lediglich ein Vergehen, kein Verbrechen, wurde also geringer bestraft. O-Ton Sanyal: "Weil es bei Vergewaltigung ursprünglich um den Raub der Ehre der Frau ging; also das englische Wort ‚rape' kommt ja noch von der germanischen Wurzel ‚Raub', es ging um den Ehrenraub, in Deutschland wurde bis 1973 noch Notzucht gesagt; was vor Gericht verhandelt wurde, war, ob die Frau vorher wirklich eine Ehre hatte, die ihr geraubt werden konnte; denn eine ehrlose Frau, also eine Frau, die vorher schon Sex hatte oder eine Frau, die Prostituierte war oder was auch immer, oder einfach nur eine arme Frau, die hatte ja gar keine echte Ehre, die ihr gestohlen werden konnte." Sprecherin: Mit dem Ergebnis, dass als Opfer eigentlich nur jungfräuliche, weiße Frauen aus dem Bürgertum galten. Die verloren allerdings mit der Ehre auch ihren Platz in der Gesellschaft. Sprecher: Kapitel zwei: Eine erstaunliche politische Dynamik. Sprecherin: Am 1. August 2014 tritt die sogenannte Istanbul-Konvention in Kraft, ein Übereinkommen des Europarates gegen Gewalt an Frauen. Artikel 36 verpflichtet die Vertragsstaaten, alle "nicht einverständlichen" sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen - auch Deutschland, das die Konvention unterzeichnet, allerdings nicht ratifiziert. Gleichwohl sieht Bundesjustizminister Heiko Maas 2014 "keinen Handlungsbedarf". Sprecher: Obwohl sich etliche Frauenverbände unter dem Motto: "Nein heißt Nein" dafür einsetzen, dass die Istanbul-Konvention umgesetzt wird. Sprecherin: Und obwohl zum Beispiel ein Gutachten der Strafrechtsexpertin Tatjana Hörnle für das Deutsche Institut für Menschenrechte skizziert, wie die sexuelle Selbstbestimmung gemäß der Istanbul-Konvention gesetzlich geschützt werden könnte. Sprecher: Im November 2014 räumt Justizminister Maas ein, dass es sogenannte "Schutzlücken" gebe, die geschlossen werden müssten, zum Beispiel wenn eine Frau von einem ohnehin gewalttätigen Partner vergewaltigt wird und nicht schreit, weil sie Angst vor weiteren Schlägen hat. Er verspricht einen Gesetzentwurf. Sprecherin: Drei Monate später setzt der Minister eine Expertenkommission ein. Sie soll den kompletten 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs - alle Sexualstraftaten inklusive Missbrauch von Kindern, illegaler Pornographie und Ausbeutung Prostituierter - überarbeiten und Änderungen empfehlen. Sprecher: Im Sommer 2015 ist der Referentenentwurf für die Reform des Vergewaltigungsparagraphen fertig - wird aber nicht veröffentlicht. Ein halbes Jahr später, einen Tag vor Heiligabend 2015, stellt das Justizministerium das Dokument online. Sprecherin: Allerdings wird die Debatte um das Sexualstrafrecht bis dahin fast ausschließlich in Fachkreisen geführt. In den Medien ist sie kaum Thema. Sprecher: Das ändert sich schlagartig nach der Kölner Silvesternacht mit Hunderten sexualisierten Übergriffen auf Frauen am Hauptbahnhof. O-Ton Katja Grieger: "Die Ereignisse in der Silvesternacht haben dazu beigetragen, dass plötzlich in 'ner sehr breiten Öffentlichkeit über sexuelle Übergriffe gesprochen wurde. Dass diese Dinge auch plötzlich aussprechbar waren. Und ich hatte Kontakt mit sehr vielen Journalistinnen und Journalisten und habe von sehr vielen ganz erstaunt die Frage immer wieder gehört: Gibt es denn wirklich so viel sexualisierte Gewalt in Deutschland? Wir dachten eigentlich, wir leben im Jahr 2016, ist das nicht tatsächlich 'n importiertes Problem? Machen so was auch deutsche Männer?" Sprecherin: Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, bff, einer Dachorganisation, die 170 Beratungsstellen in der ganzen Bundesrepublik versammelt. Alle Medien stürzen sich auf das Thema, zumal viele mutmaßliche Täter aus nordafrikanischen Ländern kommen sollen. Schnell wird klar: Die Übergriffe wären nach geltendem Recht nicht strafbar. Vor diesem Hintergrund hysterischer Skandalisierung verabschiedet das Kabinett am 16. März 2016 den von Heiko Maas vorgelegten Gesetzentwurf. Der Justizminister: O-Ton Heiko Maas: "Wir schließen die Schutzlücken, die wir im Moment im Strafgesetzbuch haben, und das ist auch bitter nötig." Sprecherin: Den erhofften Paradigmenwechsel enthält der Entwurf nicht, kritisieren Frauenverbände. Stattdessen erweitere Maas lediglich den Katalog der Situationen, in denen erzwungener Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung gilt. Strafbar macht sich danach auch, wer sein Opfer überrumpelt, seine Arglosigkeit ausnutzt oder es erhebliche Nachteile befürchten lässt, wie etwa die Kündigung des Arbeitsplatzes. Am 28. April debattiert der Bundestag den Gesetzentwurf. Heiko Maas wirbt erneut: O-Ton Maas: "Wir wollen dieses Gesetz so schnell wie möglich beschließen; es ist längst überfällig, Frauen in Deutschland besser vor sexueller Gewalt zu schützen." Sprecherin: Doch die Abgeordneten rebellieren. Fraktionsübergreifend fordern die Frauen das konsequente "Nein heißt Nein". Die Koalition einigt sich schließlich und gibt nach: So wird der "erkennbare Wille" des Opfers nun das Kriterium für die Strafbarkeit und auch die sexuelle Belästigung wird Straftatbestand. Sprecher: Am 7. Juli 2016 verabschiedet der Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Gesetz. Am 10. November tritt es in Kraft - beschlossen nach einem höchst ungewöhnlichen parlamentarischen Parforceritt. Sprecherin: Das Votum der Expertenkommission hat die Politik nicht abgewartet. Juraprofessorin Tatjana Hörnle ist Mitglied der Kommission: O-Ton Tatjana Hörnle: "Es war tatsächlich von außen betrachtet 'ne interessante Entwicklung, erst ganz vorsichtige Zurückhaltung beim Bundesjustizministerium, und dann plötzlich das Umkippen zur Bereitschaft zu einer grundlegenden Reform, die aber ja ganz wesentlich aus dem Bundestag kam." Sprecherin: Die Kommission will im Laufe des Jahres 2017 ihre Empfehlungen vorlegen - inwieweit die Politiker sie dann noch berücksichtigen, ist unklar. O-Ton Hörnle: "Wenn dieses Gesetzesvorhaben mit mehr Zeit betrieben worden wäre, wenn es mehr Zeit gegeben hätte, hätte man sicher eine in vielen Einzelpunkten juristisch sauberere Lösung hinbekommen." Sprecher: Kapitel drei: Das neue Recht. O-Ton Grieger: "Ich bin glücklich damit, dass es uns gelungen ist, diesen Paradigmenwechsel durchzusetzen; Paradigmenwechsel deswegen, weil das Sexualstrafrecht jetzt nach der Reform tatsächlich komplett anders aufgebaut ist als vorher, denn es kommt überhaupt nicht mehr darauf an, ob Betroffene sich gewehrt haben oder warum es ihnen nicht gelungen ist, sich zu wehren. Und das ist so eine grundlegende Veränderung auch im Denken, im Grundgedanken dieses Rechtes, dass ich darüber sehr glücklich bin." Sprecherin: Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. Im geänderten Paragraphen 177 Strafgesetzbuch heißt es nun: Sprecher: "Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt [...]" Sprecherin: ... und dann folgen über ein Dutzend detaillierter Qualifizierungen des Tatbestands, wie etwa Ausnutzung, zum Beispiel wenn das Opfer körperlich oder psychisch eingeschränkt ist, Überrumpelung, Drohung mit Gewalt, tatsächliche Anwendung von Gewalt und Waffengebrauch. Sie können mit Strafen von sechs Monaten bis maximal zehn Jahren Haft geahndet werden. O-Ton Hörnle: "Paragraph 177 verlangt, dass es objektiv erkennbar ist, dass der Wille dem Sexualakt nicht entsprach. Das bedeutet, es muss in der Situation so gewesen sein, dass es für einen außenstehenden Beobachter erkennbar ist, dass die Frau nicht einverstanden ist." Sprecherin: Strafrechtsexpertin Tatjana Hörnle hatte selber vorgeschlagen, statt des "erkennbaren Willens" den deutlicheren Ausdruck "erklärter Wille" ins Gesetz zu schreiben. O-Ton Hörnle: "Ich würde nach wie vor denken, dass es die bessere Alternative gewesen wäre, da damit schon nach dem Gesetzestext klar wird, es kommt auf die Kommunikation der Person an, die später als Opfer bezeichnet wird." Sprecherin: Trotz dieser Einschränkung befürwortet Tatjana Hörnle die "Nein-heißt-Nein"-Lösung. Der Leitenden Oberstaatsanwältin a.D. Birgit Cirullies geht das deutlich zu weit. O-Ton Birgit Cirullies: "Wir müssen bedenken, das Strafrecht soll nur die schlimmsten Fälle abdecken. Wir dürfen nicht übersehen, dass diese sexuellen Handlungen ja nun zum Leben dazugehören. Und dass sich auch Dinge entwickeln, die vielleicht so laufen, dass zunächst ‚Nein' gesagt wird, dann bemüht sich der andere aber weiter, es kommt schließlich zu sexuellen Handlungen, das Opfer sagt nichts mehr, und da hätte man in früheren Zeiten gesagt: ‚Na ja, das war dann eben einvernehmlich, wenn's nicht einverstanden gewesen wäre, hätte es sich ja dagegen zur Wehr setzen können.'" Sprecherin: Geradezu alarmiert reagieren manche Strafverteidiger. Auf ihren Homepages erwecken sie den Eindruck, als machten sich Männer fast per se beim Sex strafbar. Auch die Berliner Rechtsanwältin Ada Häfemeier verteidigt Angeklagte von Sexualdelikten. Sie bleibt entspannt. O-Ton Ada Häfemeier: "Wenn es denn zur Eröffnung des Verfahrens und zum Hauptverfahren kommt, denke ich, Verteidigung kann durchaus mit diesem neuen Gesetz leben. Das Urteil fällen ja die Richter. Das kann man nicht beeinflussen und Richter sind Menschen; was tatsächlich die Konkretisierung dieses Gesetzes ergeben wird, wird auch mit den Richtern zusammenhängen." Sprecherin: Nicht juristische, sondern politische Kritik kommt von vielen Befürworterinnen der neuen Regelung. Sie empören sich, dass die Reform erst durchgesetzt wurde, nachdem mutmaßlich Migranten am Kölner Hauptbahnhof überwiegend deutsche Frauen belästigt hatten. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal über den selektiven Blick: O-Ton Mithu Sanyal: "Dass halt nicht gesagt wurde: Das sind die einzelnen Täter, sondern dass eine komplette Gruppe wie ein Monolith wahrgenommen wurde: ‚Das ist halt deren Kultur, zu vergewaltigen.' Wenn wir uns wirklich die statistischen Zahlen anschauen, dann ist es eben nicht so, dass Migranten statistisch mehr sexuelle Übergriffe begehen." Sprecherin: Nebenklagevertreterin Martina Lörsch hatte sich in der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes für den Paradigmenwechsel stark gemacht. O-Ton Lörsch: "Rassistischer Geburtsmakel, das trifft, glaub ich, den Nagel ganz gut auf den Kopf. Ohne eine rassistische Grundhaltung in dieser Gesellschaft wäre sicher dieses Gesetz, wofür viele Frauen seit vielen, vielen, vielen Jahren kämpfen, nicht durchgegangen. Und das ist 'ne bittere Pille, die man auch dabei schlucken muss." Sprecherin: Neben dem zentralen Paragraphen 177 Strafgesetzbuch umfasst die Reform weitere Änderungen. So ist der bisherige Paragraph 179 aufgehoben worden. Er ahndete sexuellen Missbrauch "widerstandsunfähiger Personen", also von Menschen mit geistiger oder seelischer Erkrankung oder Behinderung. Studien belegen, dass sie besonders oft Übergriffe erleben. Die sexualisierte Gewalt gegen sie ist in den Paragraphen 177 integriert und der Tatbestand ausgedehnt worden. Katja Grieger: O-Ton Grieger: "Was mich besonders freut, ist, dass für eine ganz besonders vulnerable Gruppe, nämlich Personen, die eingeschränkt nur in der Lage sind, ihren Willen auszudrücken, sei es zum Beispiel, weil sie betrunken sind oder weil sie eine andere Beeinträchtigung haben, dass für diese Personen jetzt im neuen Gesetz tatsächlich die ‚Ja-heißt-Ja'-Lösung drin ist. Das heißt, ich bin, wenn ich sexuelle Handlungen mit einer Person ausführen möchte, wo ich mir nicht sicher bin, ob diese Person im Moment in der Lage ist, wirklich einen Willen zu bilden, dann bin ich verpflichtet zu fragen, und wenn diese Person ‚Ja' sagt, ist alles gut. Dann kann man jeden Spaß haben, den man haben will, und wenn nicht, mach ich mich strafbar." Sprecherin: Neu ist der Tatbestand "Sexuelle Belästigung". Nach Paragraph 184i Strafgesetzbuch macht sich jetzt strafbar... Sprecher: "Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt [...]" Sprecherin: Diese Ausweitung findet weithin Zustimmung - auch von einer Skeptikerin wie der Leitenden Oberstaatsanwältin Birgit Cirullies. O-Ton Cirullies: "Wenn zum Beispiel in der Straßenbahn ein Täter einer Frau einfach so zwischen die Beine greift, über der Kleidung, dann wurde das vielfach als nicht strafbar angesehen. Es sind keine allzu gravierenden Straftaten, aber da ist es meines Erachtens unumgänglich, dass auch da eine Strafbarkeit geschaffen wird." Sprecherin: Strafverteidigerin Ada Häfemeier gibt allerdings zu bedenken, dass es schwer sein wird, die Täter dingfest zu machen. O-Ton Häfemeier: "Die typische Situation ist doch, Sie gehen die Rolltreppe 'runter und es fasst Ihnen von hinten einer an die Brust. Wie schnell reagieren Sie dann, um festzustellen, wer das war? Der ist verschwunden!" Sprecherin: Noch weitaus schwieriger wird es beim umstrittenen neuen Paragraphen 184j Strafgesetzbuch, "Straftaten aus Gruppen". Der ahndet, wenn jemand sich Sprecher: "an einer Personengruppe beteiligt", Sprecherin: aus deren Mitte ein Sexualdelikt begangen wird. Das sei eine "Lex Colonia", sagen Kritiker, eine direkte Reaktion auf die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof. Martina Lörsch vom Deutschen Juristinnenbund zu der neuen Norm: O-Ton Lörsch: "Ich halte sie tatsächlich für verfassungsrechtlich bedenklich, weil ja hier jemand bestraft werden soll für eine Tat eines anderen aufgrund dessen, dass er sich mit dieser Person gemeinsam in einer Gruppe befunden hat. Auch hier haben wir natürlich 'n Riesen-Beweislast-Problem; ich kann es mir nicht wirklich vorstellen, dass sie praktikabel ist. Ich denke, es ist 'ne rein populistische Norm." Sprecherin: Bei den "Straftaten aus Gruppen" hörte im Bundestag die Einigkeit auf: Die Koalition aus CDU/CSU und SPD stimmte dafür, die oppositionellen Grünen und Linken dagegen. Ebenso wie bei einer gravierenden Folgeänderung, die ausschließlich Migranten betrifft. Sie können jetzt leichter als bisher abgeschoben werden, wenn sie ein Sexualdelikt begehen - auch ein relativ leichtes. In der abschließenden Bundestagsdebatte empörte sich die linke Abgeordnete Halina Wawzyniak: O-Ton Halina Wawzyniak: "Mit der Änderung ist es möglich, dass ein aufgedrängter Zungenkuss ein Grund sein kann, die Flüchtlingseigenschaft zu verlieren und ausgewiesen zu werden." Sprecherin: Auch Rechtsanwältin Martina Lörsch, unter anderem spezialisiert auf Ausländerrecht, ist entsetzt: O-Ton Lörsch: "Auch das aus meiner Sicht 'ne populistische Maßnahme, die so 'n bisschen suggeriert, als würden Migranten vermehrt Straftaten begehen oder in größerer Anzahl als Nicht-Migranten; [...] Da wird in der Tat jetzt dieses Rechtsgut quasi mehr geschützt als andere Rechtsgüter. Eben nur bezogen auf Personen, die auch ausgewiesen werden können. Also keine Deutschen sind." Sprecher: Kapitel vier: "Nein heißt Nein" - Die Einwände. Sprecherin: Auch gegen den Kern des neuen Strafrechts, gegen die Regelung "Nein heißt Nein", laufen viele Kritiker Sturm, mit einer ganzen Reihe von Einwänden. Sprecher: Erstens: Das Beweisproblem. Wenn eine Vergewaltigung auch ohne körperliche Gewalt strafbar ist, wie soll sie dann bewiesen werden? Sprecherin: Das Problem sei nicht neu, argumentiert eine, die selber 13 Jahre lang ermittelt hat, die jetzige Opferschutzbeauftragte der Kölner Polizei Anja Kleck. O-Ton Anja Kleck: "Die Polizei muss genau erfragen, was passiert ist, und da spielt es jetzt auch nicht so eine große Rolle, ob jetzt unbedingt Gewalt im Spiel war oder nicht; die Polizei fragt nach wie vor den genauen Tatablauf und fragt da auch detailliert nach. Schon vorher hatten wir Taten, die angezeigt wurden und die länger zurücklagen und wo man gar nicht unbedingt die Beweise noch hatte, dass man noch frische Verletzungen sehen konnte, dokumentieren konnte, oder Spuren, DNA-Spuren vorfinden konnte, weil viele Frauen erst auch nach längerer Zeit in der Lage sind oder sich erst dazu entscheiden, bei der Polizei 'ne Anzeige zu erstatten, und es liegen dann keine Spuren und Beweise vor, hatten wir auch vorher schon ganz oft den Fall, dass quasi Aussage gegen Aussage vorlag." Sprecherin: Andere Praktikerinnen stimmen zu - auch die frühere Leitende Oberstaatsanwältin Birgit Cirullies, die das neue Gesetz kritisch sieht. Ebenso wie die Nebenklagevertreterin Martina Lörsch und die Verteidigerin Ada Häfemeier. O-Ton Cirullies: "Es ist auch früher schon so gewesen, dass eben Strafanzeigen erstattet wurden und im Endeffekt konnte man den Tatbestand Vergewaltigung eben nicht feststellen und nicht beweisen, und dann wurde das Verfahren eingestellt." O-Ton Lörsch: "Mehr als die Hälfte der Vergewaltigungsfälle, die ich vertrete, sind so gelagert gewesen, dass die Gewaltanwendung zumindest nicht so schwerwiegend war, dass da ernsthafte Verletzungen stattgefunden haben." O-Ton Häfemeier: "In diesem Bereich haben wir ja sowieso das Problem, dass immer Aussage gegen Aussage steht. Immer nicht, aber sagen wir in 90 Prozent der Fälle, das heißt, es ist immer schwer aufzuklären." Sprecher: Einwand Nummer zwei: Es wird eine Flut von Anzeigen auf die Ermittlungsbehörden zukommen. Sprecherin: Hier kann nur spekuliert werden, und die Prognosen liegen weit auseinander. Die Forschung sagt, dass nur zwischen fünf und 15 Prozent der Übergriffe überhaupt angezeigt werden. Das heißt umgekehrt: 85 bis 95 Prozent werden nie aktenkundig. Diese Zahlen haben sich seit Jahrzehnten kaum verändert und weisen auf die Tatsache hin, dass für die meisten Opfer der Weg zur Polizei sehr schwer ist. Rechtsanwältin Martina Lörsch: O-Ton Lörsch: "Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht mal unbedingt mehr Anzeigen gibt, aber dass mehr Anzeigen ernsthaft verfolgt werden und auch zum Gerichtsverfahren führen werden. Weil es ja eben nicht mehr nur darauf ankommt, ob Gewalt angewandt wurde oder gedroht wurde." Sprecherin: Anja Kleck, Opferschutzbeauftragte der Kölner Polizei, wünscht sich ausdrücklich mehr Anzeigen. O-Ton Kleck: "Meine generelle Meinung dazu ist, dass ich auf jeden Fall raten würde, eine Anzeige zu erstatten, weil das oberste Ziel eigentlich sein sollte, dass der Täter ermittelt wird, falls es ein unbekannter Täter war, oder es ist ein bekannter Täter, und dass dem auch eine Strafe für sein Handeln zugeführt werden soll. Viele Frauen entscheiden sich auch zur Anzeigenerstattung, um auch mit dem Thema abschließen zu können." Sprecher: Einwand Nummer drei: Es werden nicht mehr Angeklagte verurteilt als vor der Reform. O-Ton Cirullies: "Dass sich eine Verbesserung dergestalt ergibt, dass wir jetzt mehr Verurteilungen haben werden, das glaub' ich nicht." Sprecherin: Die Skepsis von Staatsanwältin Birgit Cirullies teilen Juraprofessorin Tatjana Hörnle und Verteidigerin Ada Häfemeier. O-Ton Häfemeier: "Ich denke, es wird in diesem Fall öfter zu Einstellungen kommen. Oder Freisprüchen sogar. Für meine Position geh ich davon aus, dass man relativ gut verteidigen kann." O-Ton Hörnle: "Das ist allerdings tatsächlich eine Entwicklung, die wahrscheinlich erscheint. Denn Sie werden mehr Anzeigen bekommen, Sie werden gleichzeitig aber in Relation dazu auch mehr Fälle haben, in denen die Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaften, tatsächlich diese Beweisführung, ‚In dubio pro reo', werten müssen, mit dem Ergebnis, dass es dann tatsächlich zu mehr Einstellungen kommt." Sprecherin: Vor ein paar Jahren konstatierte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, dass die Rate der Verurteilungen von Vergewaltigungen dramatisch gesunken sei, von 21 auf rund acht Prozent. Diese Zahlen provozierten einen öffentlichen Aufschrei. Kritiker der Studie behaupten dagegen, die Quote sei tatsächlich höher. Die Verurteilungsrate sei gar nicht das wichtigste Ziel der Strafrechtsreform, sagt Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe: O-Ton Grieger: "Wir haben mit vielen Frauen gesprochen, die sagen: ‚Mir war schon klar, dass wahrscheinlich nicht verurteilt wird, aber mir war's wichtig, dass es veröffentlicht wird dadurch.' Also, 'n Strafverfahren ist ja für Betroffene auch 'ne Möglichkeit, dass sie ihre Perspektive auf das, was ihnen zugestoßen ist, öffentlich machen. Und aussprechen. Und dass sich das derjenige, den sie beschuldigen, auch mal anhören muss." Sprecher: Einwand Nummer vier: Falschbeschuldigungen werden zunehmen. Sprecherin: Noch ein Zahlenstreit - schon lange vor der Reform. Unterschiedliche Studien belegen, dass in rund drei bis sieben Prozent der Fälle angebliche Täter zu Unrecht beschuldigt werden. Manche Medien schätzen den Anteil dagegen - bisher ohne Beleg - auf bis zu 50 Prozent und prognostizieren jetzt einen weiteren Anstieg. In der Wochenzeitung Die Zeit schreibt zum Beispiel Sabine Rückert unter der Überschrift: Sprecher: "Das Schlafzimmer als gefährlicher Ort: Was leidenschaftliche Liebesnacht und was Vergewaltigung war, definiert die Frau künftig am Tag danach." Sprecherin: Die Ermittlerinnen haben aus der täglichen Arbeit einen anderen Eindruck. Die Polizistin Anja Kleck hat in ihrer 13-jährigen Praxis nur Einzelfälle registriert. Staatsanwältin Birgit Cirullies ebenso: O-Ton Cirullies: "Ja, es kommt vor. Aber es kommt nicht allzu oft vor. Ich glaube nicht, dass jetzt mehr Falschbeschuldigungen kommen; es könnte vielleicht sein - die Idee kommt mir gerade - es könnte sein, dass die Opfer jetzt etwas selbstsicherer werden und halt ohne große Bedenken Strafanzeige erstatten. Das könnte vielleicht sein. Aber das müssen nicht Falschbeschuldigungen sein! Das würde ich eigentlich nicht sagen." O-Ton Lörsch: "Diese Bedenken wurden ja auch geäußert, als die Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde, da wurde gesagt, jetzt muss der Staatsanwalt ins Schlafzimmer und jetzt werden alle frustrierten Ehefrauen, die irgendwie an ihrem Mann Rache nehmen wollen, Anzeigen machen - es hat sich nicht bewahrheitet und genauso wenig wird auch durch die Neuregelung es zu einem Anstieg von Falschbeschuldigungen kommen. Dafür sind diese Verfahren viel zu anstrengend." Sprecherin: Überdies habe selbst bei einer Falschbeschuldigung der Richter das letzte Wort, sagt Tatjana Hörnle. Das spreche nicht für mehr Fehlurteile. O-Ton Hörnle: "Der entscheidende Prozessrechtsgrundsatz, nämlich ‚In dubio pro reo' - ‚Im Zweifel für den Angeklagten', gilt ja nach wir vor." Sprecher: Exkurs: Frauenbild und Vergewaltigungsmythen. O-Ton Grieger: "Ich finde es tatsächlich interessant, dass ausgerechnet bei diesem Rechtsgebiet immer auf die Falschanzeigen verwiesen wird; es gibt bei jedem Straftatbestand, den es im gesamten Strafgesetzbuch gibt, falsche Beschuldigungen", Sprecherin: ... gibt Katja Grieger vom Verband der Frauenberatungsstellen zu bedenken. O-Ton Grieger: "Das Sexualstrafrecht ist da überhaupt nicht statistisch höher, was die Falschbeschuldigungen angeht, aber es wird bei keinem anderen Delikt so darüber gesprochen. Und ich glaube, dass das auch was mit 'nem sehr tradierten Frauenbild zu tun hat, nämlich so 'ne Angst vor der rachsüchtigen, intriganten Frau, die sozusagen zwar vermeintlich weniger Macht und weniger Mittel hat, aber dann hinterrücks sozusagen intrigiert und ihn ins Gefängnis bringt." Sprecherin: Sexualdelikte sorgen schnell für Aufregung, weil es um Sexualität und Gewalt geht - aber eben auch elementar um das Verhältnis von Frauen und Männern in der Gesellschaft. Die Debatte des Jahres 2016 zeigt sehr deutlich, wie zementiert bestimmte Bilder sind. So überlegte Sabine Rückert in der Zeit... Sprecher: "[...] was strafrechtlich auf eine zärtlichkeitsbedürftige Frau zukommen könnte, die ihren Mann durch sexuelle Avancen etwa beharrlich beim Fußballgucken stört. Fasse sie ihm dabei zum Beispiel gegen seinen erkennbaren Willen - und sein ‚Nein' überhörend - in den Schritt, könnte dies künftig zu einer empfindlichen Strafe führen, nach Paragraf 177 Abs. 1: Sexueller Übergriff." Sprecherin: Das Szenario einer klaren sexuellen Grenzverletzung also, das der Verfasserin offenbar wegen des Rollentauschs absurd erscheint. O-Ton Sanyal: "Der Gedanke ist, Männer würden ja sowieso immer alles vögeln, was nicht bei drei auf dem Baum ist, Frauen dagegen sind ja diejenigen, die man immer mit Schokolade und Sekt überreden muss, und dann machen sie's irgendwann ihm zuliebe. Das Problem ist, wir reden ja immer von sexualisierter Gewalt, aber ein großer Teil der Diskurse um Vergewaltigung sind ja auch Sexualitätsdiskurse, die wir halt auch führen müssen, die wir uns auch angucken müssen." Sprecherin: Sagt Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal. Und Katja Grieger weiß aus der Analyse von Prozessakten, dass auch in den Köpfen mancher Richter noch traditionelle Vergewaltigungsmythen spuken. O-Ton Grieger: "Zum Beispiel: ‚Ihre Tochter hat sich benommen wie ein ganz normales Mädchen, das sich zunächst ziert und dann doch gerne überzeugen lässt.' Also, solche Bilder über Sexualität und warum und wann Mädchen und Frauen den Widerstand aufgeben und sich auf irgendwas einlassen, und was da normal ist, die haben ja auch Menschen in der Staatsanwaltschaft und bei Gericht im Kopf. Und ich glaube, wenn wir das nicht schaffen, das langfristig zu verändern, dann werden die Verfahren auch für die Betroffenen so belastend bleiben, weil sie natürlich bei jeder Frage, mit der sie konfrontiert werden, auch mit den Bildern derjenigen konfrontiert sind, die die Fragen stellen." Sprecher: Kapitel fünf: Betroffene vor Gericht. Sprecherin: Opfer und Verletzte werden sich - unabhängig von der Novellierung des Strafgesetzbuches - auch weiterhin genau überlegen, ob sie sich auf die belastende Prozedur eines Strafverfahrens einlassen wollen. O-Ton Kleck: "Man muss den Frauen vorher, das ist die Aufgabe der vernehmenden Beamten, immer erklären, warum jetzt so eine ausführliche Befragung, Vernehmung erfolgt; wir müssen ganz genau erfragen, was passiert ist, um die Tatbestände herauszuarbeiten, damit es dann wirklich auch zu der späteren Bestrafung des Täters kommen kann." Sprecherin: Anja Kleck, die Opferschutzbeauftragte der Kölner Polizei, weiß, dass klare Regeln die stundenlange Befragung erleichtern können. O-Ton Kleck: "Es muss Ihnen angeboten werden, dass die Möglichkeit besteht, dass Sie von einer Beamtin vernommen werden können, da können Sie drauf bestehen und das muss auch möglich gemacht werden. Dann haben Sie die Möglichkeit, sich von einer Vertrauensperson begleiten zu lassen, und Sie haben auch das Recht, schon mit Anwalt zur Vernehmung zu erscheinen und in Begleitung Ihres Anwaltes oder Ihrer Anwältin die Vernehmung durchzuführen." Sprecherin: Und Petra Klecina vom Frauennotruf Hannover ergänzt: O-Ton Klecina: "Man muss sich ja auch klarmachen, wenn eine Frau eine Strafanzeige macht und wenn es zu einer Hauptverhandlung kommt, macht sie sich öffentlich. Sie macht sich nicht nur für das Gerichtsverfahren öffentlich, sie macht sich in ihrem Freundeskreis öffentlich, im Arbeitsumfeld, in ihrer Familie, und was sehr häufig passiert, wenn das öffentlich wird: Es wird sich positioniert. ‚Wärst du nicht mitgegangen, hättest du nicht so viel getrunken', oder: ‚Du weißt doch, wie er ist', oder: ‚Naja, das musst du ihm aber auch verzeihen'. Eine Frau macht sich damit öffentlich, mit allen Konsequenzen." Sprecherin: Das gilt allerdings auch für den Angeklagten. Wer wegen eines Sexualdeliktes vor Gericht steht, wird oft gesellschaftlich stigmatisiert - selbst wenn die Richter ihn freisprechen. Schwierig ist für die Betroffenen auch die häufig lange Verfahrensdauer. O-Ton Klecina: "Wir erleben das immer wieder, dass es ein Jahr mindestens dauert, bis ein Prozess eröffnet wird, oder sagen wir mal ein Dreivierteljahr bis ein Jahr, oft darüber hinaus; dann gibt es Unterbrechungen, Gutachten, es kann also auch länger sein, das längste, was ich mal erlebt habe, war eine Frau, die ich unterstützt habe, das war über vier Jahre; das sind ja alles Belastungen für Frauen, die sie neben dem, was sie erlebt haben, auch noch mal bewältigen müssen." Sprecherin: Die lange Verfahrensdauer kennen alle Beteiligten - bundesweit. Das belastet nicht nur die Verletzten. Das erschwert nach dieser langen Zeit auch alle Zeugenaussagen. Sprecher: Kapitel sechs: Belastungen reduzieren. Sprecherin: Gleichzeitig sind bereits viele Erleichterungen für Betroffene im Strafverfahren eingeführt worden. Das beginnt mit der Anzeigeerstattung. Viele Frauen überlegen sich lange, ob sie anzeigen sollen oder nicht. Denn wenn sie es tun, haben sie keine Kontrolle mehr über das Verfahren - Vergewaltigung ist ein sogenanntes Offizialdelikt, das heißt, die Behörden müssen ermitteln. Wird eine Vergewaltigung aber Wochen oder Monate später angezeigt, können körperliche Spuren in der Regel nicht mehr nachgewiesen werden. Anja Kleck von der Kölner Polizei: O-Ton Kleck: "Das ist ganz, ganz wichtig, dass man sich dann wirklich für eine Anonyme Spurensicherung entscheidet, die in fünf Krankenhäusern hier in Köln durchgeführt wird; dort kann man halt anonymisiert untersucht werden, das heißt, die Spuren werden dann anonymisiert aufbewahrt, da werden auch die Verletzungen dokumentiert, und wenn man sich dann erst später, auch viel später, dazu entscheidet, polizeilich Anzeige zu erstatten, dann werden diese Spuren und Dokumentationen von den Ärzten halt zu dem Verfahren hinzugenommen und das dient natürlich der Beweisführung." Sprecherin: Das Angebot gibt es zwar nicht bundesweit, aber in vielen Städten. In Hannover beispielsweise heißt es "Verfahrensunabhängige Beweissicherung", sagt Petra Klecina vom Frauennotruf. Sprecher: Eine Studie der Universität Heidelberg hat jüngst herausgearbeitet, was Personen nach einem sexualisierten Übergriff zur Anzeige veranlasst. Dazu zählt - wenig überraschend -, wenn der Täter ein Fremder ist und wenn die Betroffenen in ihrem Umfeld oder in einer Beratungsstelle unterstützt werden. Hinzu kommt eine neue Erkenntnis der Forscher: Ausschlaggebend ist auch, ob die Verletzten Vertrauen in ein rechtsstaatliches Verfahren haben - also etwa in den Verlauf der Vernehmung, eine gründliche Aufklärung und einen fairen Prozess. Sprecherin: Dazu gehört eine vom Staat bezahlte Nebenklagevertretung, also eine Rechtsanwältin oder ein Anwalt. O-Ton Klecina: "Wir raten Frauen immer, die 'ne Strafanzeige machen, dass sie Nebenklage machen, dass sie also nicht nur die Zeugin sind, da haben sie wenig Rechte; mit 'ner Nebenklage haben sie halt wesentlich mehr Rechte und werden sozusagen aktiv an der Hauptverhandlung beteiligt oder am Strafprozess; und allein das lässt sie noch mal aus dieser Opferrolle heraustreten." Sprecherin: Petra Klecina vom Frauennotruf Hannover arbeitet selbst als Psychosoziale Prozessbegleiterin. Seit dem 1. Januar 2017 haben Verletzte ein Recht auf diese qualifizierte Unterstützung. Sind sie besonders schutzbedürftig, übernimmt der Staat die Kosten. O-Ton Klecina: "Wir können uns zum Beispiel auch mal einen Gerichtssaal angucken, um zu sehen, um einfach mal so zu sehen, wie sieht so 'n Saal aus, und daran kann ich dann auch erklären, was sind die Aufgaben des Richters, der Staatsanwaltschaft, der Schöffen, viele wissen gar nicht, dass es Schöffen gibt und was die eigentlich machen, dass es eben die Nebenklagevertretung gibt, was auch die Rechte der Strafverteidigung sind, und diese ganzen Informationen. Das ist ja mal so das große Schwarze, was da auf mich zukommt, das auch 'n bisschen kleiner zu machen." Sprecherin: Die Psychosoziale Prozessbegleiterin hat eine "Lotsenfunktion", sagt Petra Klecina - immer mit dem Ziel, das Strafverfahren für die Verletzten weniger belastend zu gestalten. O-Ton Klecina: "Ein Strafverfahren, wenn es gut läuft, wenn sich eine Opferzeugin gut ‚behandelt', in Anführungszeichen, fühlt, von allen Beteiligten, dann kann das ein ganz wesentlicher Punkt in ihrer Verarbeitung sein. So, dass sie diesen Schritt gemacht hat, dass sie das durchgestanden hat und dass ihr vielleicht auch das Gericht sagt: ‚Wir glauben dir.' Das ist ja das, was Frauen oder was Betroffene eigentlich brauchen." Sprecher: Letztes Kapitel: Was kann das Strafrecht leisten? Sprecherin: Egal, welche Paragraphen im Strafrecht geändert werden, ob es um Sexualdelikte oder Mord geht - das Verständnis von im weitesten Sinne Gut und Böse hat Bedeutung weit über die Gerichtssäle hinaus. O-Ton Hörnle: "Es geht nicht nur darum, wie viele Verurteilungen von Strafgerichten jährlich ausgesprochen werden; das ist ein Element dessen, was Strafrecht ausmacht. Die Grenze zwischen Recht und Unrecht ist auch als symbolische Bedeutung von großer Wichtigkeit. Das ist tatsächlich ja eine für das Verhalten von Bürgern wichtige Grenzziehung: Was ist Unrecht?" O-Ton Grieger: "Weil das z.B. ja auch dann in der Pädagogik, in der Prävention, im Umgang mit den Heranwachsenden, das gesellschaftliche Lernen und das Lernen von Regeln, orientiert sich ja schon, zumindest in Teilen auch am Strafrecht. Und wenn man jetzt eben ganz klar sagen kann: ‚Nein heißt Nein', und das Gesetz sieht das auch so und das ist auch selbstverständlich so, dann wachsen einfach die zukünftigen Generationen in Deutschland damit auf, dass das Unrecht ist, eine Grenze in der Art zu überschreiten." Sprecherin: Die Grenzen des Strafrechtes liegen in den gesellschaftlichen Verhältnissen. O-Ton Klecina: "Man muss ja auch sehen: Was sind die Hintergründe von sexueller Gewalt? Und Strafrecht verhindert weder sexuelle Gewalt, noch ist es ein Schutz vor sexueller Gewalt. Dieses Gesetz ändert ja nicht unsere Gesellschaft. Die Geschlechtsrollenstereotype bleiben." O-Ton Sanyal: "Vergewaltigung ist nicht unabhängig von dem gesellschaftlichen Ort. Je autoritärer ein System ist, je autoritärer eine Gesellschaft ist, je weniger egalitär sie ist, desto mehr sexuelle und sexualisierte Übergriffe gibt es auch, desto mehr Grenzüberschreitungen gibt es insgesamt auch und entsprechend auch sexuelle Grenzüberschreitungen." Absage: "Nein heißt Nein!" Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht. Ein Dossier von Beate Hinrichs. Es sprachen: Claudia Mischke, Martin Schaller und Gerd Daßen Ton und Technik: Gunther Rose und Hannah Steger Regie und Redaktion: Birgit Morgenrath Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017. 26