COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. LITERATUR REIHE: LITERATUR TITEL: "Lizenz zur Lüge" Warum Schriftsteller unter Pseudonym schreiben AUTOR/IN: Astrid Mayerle ÜBERSETZUNG der O-Töne: entfällt REDAKTION: Dorothea Westphal COPYRIGHT: BUCHTITEL: LÄNGE: 55 Min. SENDUNG: 31.07.2011 (Wdh. von 2007) 00.05-1.00h STIMMEN: Sprecherin Sprecher BEMERKUNGEN: div. O-Töne Musik von astrid mayerle Deutschlandradio Kultur Literatur Redakteurin Dorothea Westphal Lizenz zur Lüge Warum Schriftsteller unter Pseudonym schreiben Musikakzent 1 Collage aus verschiedenen Elementen lounge, flipside 6 thriller, 7 incognito, 3 (Regie: die folgenden Namen, sollen, um den Verrätselungscharakter zu unterstreichen, eng aufeinander und ineinander gesprochen werden und mit Echo/ Verzerrungen bearbeitet werden, evtl. kürzen, wenn zu lang für Intro) Sprecherin Benjamin Black Sprecher John Banville Sprecherin Amantine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil Sprecher George Sand Sprecherin Mary Westmacott Sprecher Agatha Christie Sprecherin Alberto Caeiro, Àlvaro de Campos, Ricardo Reis, Charles Search, António Mora... Sprecher Fernando Pessoa Sprecherin Artwisus von Fischmenzweiler, Huldrich Christ zu Gotstatt bey Bethaven, Babtista Guisart, M. Adamus Nachenmoser von Brendwälden aus Churland, Weinholde Seinhult von Narmur im Nebelschiff, Ulysses Odyssäus. Sprecher Johann Baptist Friedrich Fischart Musikakzent 2 alternativ Orb, b, 3 Orb, a, 1 Laclair, 7 1 Oton Jochen Hörisch, take 13 Dichter haben die Lizenz zu lügen. Sprecherin (verzerrt, mit Echo und Hall aus der Konserve) Name ist... Sprecher Schall und Rauch.... Sprecherin (und Sprecher ineinander, kurz versetzt, gleichzeitig) Name ist Schall und Rauch Sprecher Name ist Schall und Rauch.... Sprecherin umnebelnd Himmelsglut... Sprecherin ...Namen... Sprecher ...Schall und Rauch.... Musikakzent 2 weg Sprecherin "Pseudonym" kommt aus dem Griechischen: "pseudo" - "falsch" und "onoma" - der Name. Also: der falsche Name. - Deckname, Tarnung, Maske, Spiel, Laune Spleen, Eskapade. In seinem Pseudonymenlexikon hat Wilfried Eymer 27000 Pseudonyme allein deutschsprachiger Schriftsteller erfasst. Vom 16. Jahrhundert bis heute. Einige Autoren waren oder sind besonders erfindungsreich und bringen es auf ein Dutzend oder gar hundert Alternativnamen. Der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch erkennt im Pseudonym ein Charakteristikum von Literatur schlechthin: 2 Oton Jochen Hörisch, take 13 Was machen Dichter? Sie gehen mit Sprache um. Sie bilden aus Sprache, indem sie Buchstaben und Wörter neu kombinieren neue Sätze, übrigens ja Sätze, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben müssen. Soll heißen: Dichter haben die Lizenz zu lügen. Sprecherin .....und daher auch, mit ihrem Namen zu spielen. Eine Gleichung, die Fiktion und Lüge in eins setzt. Noch weiter holt der italienische Romancier Giorgio Manganelli in seinem Essay "Literatur als Lüge" aus: Der Schriftsteller sei niemandem verantwortlich, denn er schreibe an unbekannte Adressaten, sein Publikum kenne er nicht, ja, wolle er gar nicht kennen: Musikakzent 3 Anthology, 1 Leclair, 7 Sprecher (Zit: Lügenbuch, Giorgio Manganelli (Autor), Sigrid Vagt (Übersetzerin)) "Er wählt sich unterirdische, nicht asphaltierte Gänge als Aufenthalt. Ihn verlangt nach einer besonderen Freiheit, die für jeden Schriftsteller verschieden ist: keinesfalls ist es eine liberale Freiheit, der Liberale toleriert sie nicht. Sie ist blasphemisch, zerstörerisch...Von Natur aus anarchisch, hält er - der Schriftsteller - stets Kontakt zu den Gängen der Unterwelt, jenen vorhangverangenen, schlupfwinkligen Labyrinthen, in die sich der tugendsame Blick des Humanisten nicht hineinwagt." Musikakzent 3 weg Sprecherin Was in jenen literarischen Geheimgängen passiert, ist für Manganelli keineswegs moralisch verwerflich - er kokettiert nur mit dieser Einschätzung - , ganz im Gegenteil, er feiert den Triumpf der literarischen Lüge, der Fiktion als große Utopie. Literatur kann eben deshalb unmoralisch, zynisch, verdorben, heuchlerisch sein, weil sie sich im Raum des Imaginären, in einem Paralleluniversum zur Realität bewegt. Der Tyrann Macbeth ist nur die eine mögliche Formulierung des Bösen, nicht das Böse selbst. Denn, so Manganelli: Musikakzent 3 Sprecher (Zit: Lügenbuch, Giorgio Manganelli (Autor), Sigrid Vagt (Übersetzerin)) "...mit ihren Sätzen "ohne Sinn", mit ihren "nicht verifizierbaren Behauptungen", erfindet sie - die Literatur - Welten, erdichtet sie unerschöpfliche Zeremonien. Sie ist die Beherrscherin des Nichts. Sie ordnet es nach einem Katalog von Mustern, Sinnbildern, Schemata. Sie reizt uns, fordert uns heraus, bietet uns das illusionistische, heraldische Fell einer Bestie dar, einen Sprengkörper, einen Würfel, eine Reliquie, die zerstreute Ironie eines Wappens." Musikakzent 3 weg Sprecherin Eines Namens. Der gemeinen Lüge - und damit auch der literarischen - hat die Philosophie bereits früh ein passables Alibi mitgegeben: Sokrates hält einen Lügner, der weiss, dass er lügt, für klüger als einen ehrlichen Menschen, der die Möglichkeit, neben der Realität einen zweiten Ereignisraum zu eröffnen, gar nicht kennt. Sogar viele der bekanntesten Autoren haben unter Pseuodnym veröffentlicht. Probe aufs Exempel: wer in Wilfried Eymers Pseudonymenlexikon nachschlägt, findet hier auch Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger mit ihren Zweitnamen. Warum dieses Versteckspiel? Roger Willemsen, Litaraturkritiker, Autor und selbst kurzzeitig Pseudonymbesitzer muss es wohl wissen: 3 Oton Roger Willemsen, 45 Das Allerempfindlichste am Schreiben ist der Name, weil man letztlich mit dem Namen schreibt. Jeder Satz ist einem Namen zuzuordnen. Man kann den Namen beschädigen, man kann ihn zu einem Verkaufsargument machen. In dem Augenblick, in dem man den Namen an der Börse der Bücher notiert, hat er einen ökonomischen Rang aber auch einen inhaltlichen, weil jedes Buch, das man sich zuschreibt differenziert diesen Namen und gibt ihm ein anderes Schillern. Musikakzent 2 Sprecherin ...Schall Sprecher und Rauch.... Musikakzent 2 4 Oton Roger Willemsen, 45, weiter Insofern verstehe ich es gut, dass jemand seinen Namen ablegen möchte und sagt, man hat die Tafel plötzlich nochmal ganz weiß gewischt und fängt nochmal von Anfang an zu schreiben, als gäbe es kein literarisches Vorleben. Dann wäre das Pseudonym auch der Versuch, einen unbeschriebenen literarischen Raum herzustellen. 5 Oton Jochen Hörisch, 6 Es gibt viele die sagen, ich bin mit meinem Leben nicht einverstanden, daher muss ich es in die Hände nehmen und der Biograf meines eigenen Lebnes werden. Ich schreibe mir mein Lebesskript. Der schönste, rührendste Fall ist der von Günther Anders, der berühmte Autor der "Antiquiertheit des Menschen". Er nimmt sich als Pseudonym kein anders Wort als anders. Ich will "anders" heißen als bisher. Musikakzent 1 Sprecherin Novalis Sprecher Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg Sprecherin Voltaire Sprecherin Francois-Marie Arouet Musikakzent 1 weg Sprecherin Wie viele Bücher wohl wären niemals geschrieben worden, gäbe es nicht die Möglichkeit, diesen anderen Raum, für sich zu beanspruchen, gäbe es nicht die Option einer anderen, einer zweiten oder dritten oder sogar multiplen Identität. Einige Autoren hätten vielleicht sogar aufgehört zu schreiben, andere hätten nie das Genre gewechselt und wieder andere wären permanent der Zensur unterlegen. Schriftsteller haben sich zum Glück immer wieder diesen neuen Raum geschaffen, viele sogar mit mehrern Pseudonymen: der Portugiese Fernando Pessoa ließ unter sechzehn Namen seine Texte in der Öffentlichkeit zirkulieren, der populäre Jugendkrimi- und Drehbuchautor Rolf Kalmuczak hatte an die hundert Pseudonyme und der französische Essayist und Philosoph Francois-Marie Arouet - bekannt als Voltaire - soll sich hinter etwa 160 verschiedene Decknamen verborgen haben. Musikakzent 2 kurz (( evtl kürzen Sprecherin Das Pseudonym ist ein Schutz, eine Maskerade, ein Mantel, die Larve, hinter der das wahre Gesicht steckt. So war es jedenfalls in politisch brisanten Zeiten - etwa während der Aufklärung. Voltaire, maßgeblicher Wegbereiter der Französischen Revolution und Sohn eines Rechtsanwalts kam mit 23 Jahren wegen einer Satire über Ludwig XIV. mit der Justiz in Kontakt und wenig später hinter Gitter. Er trieb sein Versteckspiel so weit, dass er sogar auf das Cover seines Romans "Candide" den Vermerk drucken ließ, es handle sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen. Sprecher "Man darf niemals etwas unter seinem eigenen Namen herausgeben." Sprecherin warnte Voltaire einmal seinen Freund und Kollegen Claude Adrien Helvétius. Gerade im Jahrhundert der Aufklärung wurden wegen der unerbittlichen Verfolgungsmaßnahmen die meisten Pseudonyme verwendet oder Texte gleich anonym veröffentlicht. Außerdem wollten die Dichter in den literarischen Zirkeln dieser Zeit unter sich bleiben und sich mit ihrem Pseudonym bewusst vom bürgerlichen Leben abschneiden. Die Schriftstellerei als Broterwerb war verpönt und nur die pure Liebhaberei in den litararsichen Kreisen und Gesellschaften angesehen. )) Musikakzent 2 Sprecherin (verzerrt, mit echo und hall) Name ist... Sprecher Schall und Rauch.... Musikakzent 2 weg 6 Oton Jochen Hörisch, 4 Philologen versuchen ja immer alle Probleme zurückzudatieren und wenn wir uns überlegen, wo haben wir denn große Namensspiele und Pseudonymwahlen in der Literatur, dann ist in der Odysse 800 vor Christus ein berühmter Fall vorhanden. Odysseus kämpft gegen den Riesen Polyphem, der ja nur ein Auge hat. Es ist eine David-Goliath Situation. Sprecherin Der schmächtige Odysseus gegen den Riesen Polyphem. Odysseus überlistet das einäugige Monster, sticht ihm ein Auge aus und Polyphem ruft in seinen Qualen: Mit wem kämpfe ich? 7 Oton Jochen Hörisch, 4, weiter Und dann spielt Odysseus mit seinem Namen und nennt sich griechisch "Outis". Das heißt nichts anderes als "Niemand". Das Personalpronomen ist von der Phonetik her verwandt mit dem Namen Odysseus. Und Polyphem, blöd wie er ist, schreit dann laut: Oh, kommt mir zu Hilfe, niemand sticht mir ein Auge aus, niemand bekämpft mich, niemand versucht mich zu töten. Die Kumpanen des Polyphem lachen sich krank und sagen: Der hat wieder zu viel gesoffen. Da haben wir eine schöne Pseudonymwahl, die Odysseus das Leben rettet. Sprecherin So der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch. Gleichzeitig dementiert der Name - "Outis" / "Niemand" - auch das Wesen des Namens an sich, eine Person zu identifizieren, Namen und Konterfei zusammenzubrigen. Insofern ist "Niemand" das Pseudoynm schlechthin. Sicher war er sich dieser Bedeutung bewusst, der Jurist und Satiriker Johann Baptist Fischart, der gegen die Jesuiten wetterte und für die Reformation warb: hatte er doch im 16. Jahrhundert unter seinen vielen Decknamen auch "Ulysses Odyssäus". Der Philosoph und Schriftsteller Salomon Friedländer knüpfte mit "Myona", einem Anagramm von "Anonym" direkt an den Tarnnamen des Odysseus an und lieferte ein ironisches Selbstbekenntnis gleich mit: Sprecherin "Stets wohnten (mindestens) zwei Brüste in meiner Seele." Sprecherin Obwohl das Phänomen des Namenswechsels bereits bei Homer auftaucht und sich vor allem mit der Erfindung des Buchdrucks immer stärker verbreitete - seitdem wuchs das Interesse an der Person des Autors beständig -, hat sich die Literaturwissenschaft kaum mit dem Thema beschäftigt. Es existiert keine umfassende Kulturgeschichte der Pseudonyme, keine soziologische oder gar psychologische Abhandlung. Dass es sich allerdings nicht um eine zu vernachlässigende Petitesse aus dem Anekdotenkästchen der Literatur handelt, sondern, dass der Leser ein berechtigtes Interesse an der wahren Autorschaft eines Buches hat, bekräftigt Gerhard Söhn in seinem Buch "Literaten hinter Masken": Sprecher "Warum wird der Autorschaft eine derartige Bedeutung beigemessen? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, gelangt man schnell zu der Erkenntnis, dass hier an das Grundproblem aller Pseudonymität und Anonymität gerührt wird. Nicht die Verkleidung an sich ist das Entscheidende - es gibt vielerlei Gründe hierfür - , sondern das unbezähmbare Verlangen, hinter jedem Werk die Person seines Schöpfers zu sehen. Es geht um das Problem des objektiven Kunstwertes und das der schöpferischen Begabung. ...deutlich zeichnet sich ab, welche Bedeutung dem Standort zukommt, von dem ein geniales Werk seinen Ausgang nimmt." Sprecherin Aber auch ein weniger geniales. Zum Namen gehört auch das geistige Umfeld eines Autors, frühere Veröffentlichungen, seine Verwurzelung im Denken einer bestimmten Epoche, seine Herkunft und Naitonalität und so fort. Dass die Literaturkritik sich bei der ganz und gar objektiven Beurteilung von Literatur ungemein täuschen kann, beweist ein Kuriosum aus dem Jahr 1968: die Satirezeitschrift "Pardon" verschickte das Manuskript eines angeblich jungen, unbekannten Autors an verschiedene renommierte Verlage, darunter auch Suhrkamp, Fischer und Rowohlt. Keiner von ihnen erkannte das eingesandte Manuskript als erotische Szene aus Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften". Rowohlt, Musils Hausverlag, schrieb sogar zurück, der Text passe nicht in ein "spezifisch literarisches Programm." Ähnlich die Geschichte des holländischen Autors Arnon Grünberg, der vor wneigen Jahren als Marek van der Jagt von denselben Kritikern heftigste Attacken einstecken musste, die ihn als Arnon Grünberg schätzten. Musikakzent 4 Lounge electrique, flipside, 3 Sprecherin Benjamin Sprecherin Black Sprecherin John Sprecherin Banville Musikakzent 4 weg Sprecherin Spöttisch-anzüglich schaut er aus den Augenwinkeln, passend zum schmallippigen, fast zu einer Linie zusammengezogenen Mund und dem breiten Kiefer. Der bekannte Autor, der in Dublin lebt, trägt Tweed und Krawatte. So kennt man ihn seit Jahren von den Umschlägen seiner Bücher und aus den Zeitungsanzeigen. Der Schriftsteller von "Sonnenfinsternis" und "Athena": John Banville. Jetzt heißt er Benjamin Black. Und macht daraus übrigens kein Geheimnis. Sein Verlag, Kiepenheuer und Witsch, wirbt mit dem alten Konterfei, dem bekannten Banville-Portrait für das (evtl rausnehmen neue) Buch "Nicht frei von Sünde" für Benjamin Black: Musikakzent 4 Sprecher "Booker-Preis-Gewinner John Banville zeigt sich von seiner kriminellen Seite. John Banville hat unter dem Pseudonym Benjamin Black seinen ersten Krimi verfasst: atmosphärisch dicht, mitreißend, sprachlich brillant." Musikakzent 4 weg Sprecherin Oliver Domzalski, Lektor bei Eichborn Frankfurt, betreut mehrere Autoren, die unter Pseudonym veröffentlichen, außerdem hat er sich für ein Spaßbuch selbst schon einmal einen Zweitnamen zugelegt. Was Banville - Black betrifft, hat er eine gute Eerkärung für die Strategie der Konkurrenz: 8 Oton Oliver Domzalski, 22 Wenn ein schon bekannter Autor sich eine zweite Autorenidentität aufbaut, um ein bestimmtes Genre zu bedienen - etwa Krimis - dann wird der Start sicher erleichtert, wenn man beim ersten Buch dazuschreiben kann: Leute, das ist John Banville. Dann geht das seinen eigenen Weg und dann beim dritten, vierten Buch wissen es die Eingeweihten. Das ist dann ein schöner Party-Talk: Du weißt doch dass Benjamin Black John Banville ist... (( Benjamin Black geht dann seinen eigenen Weg als Erfolgsautor in seinem Genre und irgendwann hat man dann eine Leserschaft, die die Vorgeschichte nicht kennt und sagt, Benjamin Black ist toll. Um ihn aber auf dem Markt zu etablieren, um ein Interesse zu wecken, gibt man Benjamin Black als Geburtshilfe noch die wahre Identität dessen mit, der dahinter steht. )) Sprecherin Ein absolut kalkuliertes Spiel: der Verlag zieht die Aufmerksamkeit der bisherigen Banville-Leser - meist keine Krimi-Fans - auf das neue Buch und gewinnt gleichzeitig neue Krimi-Fans, denen Banville unbekannt ist, dafür. Musikakzent 2 Sprecherin Paul Antschel Sprecherin Paul Celan Musikakzent 2 9 Oton Hanne Lenz, 24 Was das Pseudonym betrifft, so weiß ich noch ganz genau, dass wir einen Spaziergang in Stuttgart machten. Das muss so am zweiten oder dritten Tag seines Aufenthalts in Stuttgart gewesen sein, dass wir da spazieren gingen, am Wilhelmsbau, ein Palais, wo Lesungen stattfanden. Da hat er zu uns gesagt: Ich muss euch sagen, ich heiße gar nicht Celan, mein anderer Name gefällt mir nicht. Celan ist ein Anagramm meines richtigen Namens, nämlich Antschel und Celan heiße ich jetzt. Das war das einzige Mal, dass er mit uns darüber gesprochen hat. Sprecherin Hanne Lenz erinnert sich an einen gemeinsamen Spaziergang 1954 mit Paul Celan. Sie und ihr Mann, der Schriftsteller Hermann Lenz hatten sich unmittelbar nach einer Lesung Celans aus "Mohn und Gedächtnis" in Stuttgart befreundet und Hanne Lenz erkannte in dem kurzen Gespräch über den Namen einen Freundschafts- und Vertrauensbeweis, auch wenn Celan nicht die Motive seines Namenswechsels erklärte. Allerdings hat der Autor der "Todesfuge", dem bekanntesten Gedicht über Auschwitz und den deutschen Faschismus, auch mit seinen Freunden nie weiter über seinen Namenswechsel gesprochen. Celans Pseudonym ist sicher mehr als eine persönliche Angelegenheit, denn es ist eng verbunden mit der Frage, ob und wie Lyrik nach dem Holocaust möglich sein kann. Sprecher "Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens, wir trinken sie nachts. wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in dne Lüften da liegt man nicht eng." Sprecherin Paul Celan hat mit seinem Schreiben immer wieder eine Gegenposition zu Theodor W. Adornos Behauptung bezogen, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Denn genau das hat Celan getan: er machte sogar wie in seinem berühmten Gedicht, die "Todesfuge" Auschwitz, den Massenmord selbst immer wieder zum Thema, schöpfte dabei die deutsche Sprache wie seinen Namen neu, fügte beides neu zusammen und markierte eine sichtbare Zäsur - nicht nur eine persönliche, eine in der literarischen Welt historische. 1946 verschickte Celan erstmals ein Manuskript mit seinem Pseudonym - der Titel "Sand aus den Urnen". Im Jahr darauf erschienen die "Todesfuge" und drei weitere Gedichte unter Paul Celan. Ein einziges Mal hat er selbst seinen Zweitnamen in einem sehr kryptischen Text erwähnt, der 1947 erschien: Sprecher "Als Anhänger des erotischen Absolutismus, als sogar unter Tauchern zurückhaltender Größenwahnsinniger, als Botschafter gleichzeitig des Halos Paul Celan, rufe ich die versteinernden Erscheinungen des Luftschiffbruchs nur alle zehn (oder mehr) Jahre hervor, und ich laufe nur zu sehr später Stunde Schlittschuh, auf einem See, der vor dem riesigen Wald der hirnlosen Mitglieder der Welt-Dichter-Verschwörung bewacht wird." Sprecherin In seiner frühen rumänischen Prosa - so die These der Celan-Forscherin Barbara Wiedemann - stellt der Autor eine Verbindung zu Thomaso di Celanos "Dies Irae", dem Gesang über das Ende der Welt bzw. den jüngsten Tag her. Der Name Celan wäre demnach nicht nur ein Anagramm seines ursprünglichen Namens Antschel, sondern eine Anspielung bzw. Hommage an den Schöpfer des mittelalterlichen Hymnus vom jüngsten Gericht. Doch nachdem sich die Literaturwissenschaft vor allem mit dem Dichter der "Todesfuge", mit dem Rehabiliteur der deutschen Sprache beschäftigte, hat sie Celan als Dichter von Liebeslyrik beinah übersehen. Seine erotischen Gedichte und der Kontext, in dem er sein Pseudonym ein einziges Mal erwähnt - "als Anhänger des erotischen Absolutismus" - , geben einen Hinweis auf eine andere Erklärung, eine mögliche Anspielung auf einen Barockdichter, der bei der Veröffentlichung seiner erotischen Romane und Lyrik ein sehr ähnliches Pseudonym verwendete, das bis heute nicht gelüftet ist: Celander. Denn Celan hat Liebesgedichte voller erotischer Metaphern geschrieben: Musikakzent 5 Monolake, 5 Sprecher Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten Wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln,? wie das Meer im Blutstrahl des Mondes. Musikakzent 5 weg Sprecherin Die Kunsthistorikerin Hanne Lenz, die mit Celan befreundet war (einfügen? und 2010 verstarb), veröffentlichte übrigens selbst unter Pseudonym. Ein einziges Buch. Ihre fünf Geschichten erschien 1946 unter dem Geburtsnamen ihrer Großmutter mütterlicherseits: Cornelia Dehn. Die sparsame Nachkriegsproduktion machte das schmale Buch nicht gerade zu einer verlegerischen Meisterleistung, dem Covertitel "Nachkarussel" fehlte am Ende der letzte Buchstabe. Hanne Lenz war ziemlich empört über das fadengebundene Heft, das ihrer Meinung nach wie ein Kochbuch aussah. Die Geschichten entwerfen surrealistische Bilder des Krieges und der Nachkriegszeit. Die Titelgeschichte erzählt von Erinnerungsfetzen, die in den Köpfen kreisen: Menschen - der Führer, Soldaten, Paare und ein Heringshändler - , die immer wieder auftauchen und vorbeiziehen wie die Figuren eines Karussells. Das Pseudonym der Autorin entstand aus einer sehr privaten Überlegung: 10 Oton Hanne Lenz, 17 Ich hab das nur gewählt meines Mannes wegen. Ich wollte nicht auch als Lenz veröffentlichen. Er war Hermann Lenz, da wollte ich nicht als Hanne Lenz auftreten, das wäre für ihn nicht so angenehm gewesen und dann hab ich nach einem Pseudonym gesucht und den Namen meiner Großmutter genommen. Sprecher Erzählt die selbstbewusste, kurzhaarige Frau im maßgeschneiderten Hosenanzug. Entgegen aller Vernunft der Emanzipation hat sie ihrem Mann den Vortritt gelassen: 11 Oton Hanne Lenz, 19 Mein Mann war so erfüllt von seinem Schreiben und es nahm so eine zentrale Stelle ein, dass ich dachte, so kann ich's nie und es hat gar keinen Zweck, dass ich auch anfange zu schreiben. Ich hab was vor mich hingekritzelt, ohne an eine Veröffentlichung zu denken. Musikakzent 6 Lounge electrique, flipside 3 Sprecherin (und Sprecher ineinander, übereinander) Romain Gary Sprecher Roman Kacew Sprecherin Èmile Ajar Sprecher Roman Kacew Musikakzent 6 Sprecherin Der im litauischen Vilnius geborene Roman Kacew - später Romain Gary - zog als Vierzehnjähriger mit seiner Mutter an die Cote d`Azur. Er wurde Diplomat, Flieger und Schriftsteller. Romain Gary erzählt als einer der ganz wenigen Autoren über das Suchen und Finden eines neuen Namens. In seinem autobiografischen Roman "Erste Liebe - letzte Liebe" schreibt er 1960: Sprecher (Zit: Erste Liebe - letzte Liebe, Autor Romain Gary, Übersetzung Lilly von Sauter) "Ein Gedanke schien meine Mutter sehr zu beschäftigen. "Man muss ein Pseudonym finden", sagte sie mit großer Festigkeit. "Ein bedeutender französischer Schriftsteller kann keinen russischen Namen tragen. Wärst du ein Violinvirtuose, so ginge das sehr gut, aber bei einem Titanen der französischen Literatur geht das nicht." Sprecherin Nachdem er nicht in seiner Mutterprache - vermutlich einer Mischung aus Russisch, Polnisch und Jiddisch -, sondern auf Französisch und Englisch veröffentlichte und nur französisch klingende Namen wählte, ging es Kacew vor allem darum, eine andere Herkunft und Nationalität vorzutäuschen, eine, die mit der literarischen Welt vereinbar und mit gehobeneren französichen Gesellschaftskreisen kompatibel war. Allerdings: zu vornehm, durfte der Name auch nicht geraten: Sprecher (Zit: Erste Liebe - letzte Liebe, Autor Romain Gary, Übersetzung Lilly von Sauter) "Roland de Chantecler, Romain de Mysore..." "Es wäre vielleicht besser, einen Namen ohne Adelsprädikat zu wählen, für den Fall, dass noch eine Revolution kommt", sagte meine Mutter. Sprecherin Romain Gary ist der einzige Schriftsteller, der zwei Mal den Prix Goncourt, einen der begehrtesten Literaturpreise Frankreichs bekam - und zwar nur deshalb, weil er unter verschiedenen Namen veröffentlichte. 1956 wurde er als Romain Gary für "Les racines du ciel" ausgezeichnet" und 1975 als Èmile Ajar für "La vie devant soi". Zur zweiten Preisverleihung soll er einfach seinen Neffen geschickt haben. Sprecher (Zit: Erste Liebe - letzte Liebe, Autor Romain Gary, Übersetzung Lilly von Sauter) "Seit sechs Monaten brachte ich täglich ganze Stunden damit zu, Pseudonyme zu "probieren". Ich kalligraphierte sie mit roter Tinte in ein besonderes Heft. Gerade an diesem Morgen war meine Wahl auf "Hubert de la Vallée" gefallen, aber eine halbe Stunde später erlag ich dem sehnsüchtig-reizvollen "Romain de Roncevaux. Mein wirklicher Vorname, Romain, erschien mir recht geeignet. Leider gab es schon Romain Rolland, und ich war nicht geneigt, meinen Ruhm mit irgendjemandem zu teilen. All das war recht kompliziert. Das Lästige an einem Pseudonym ist, dass es niemals alles ausdrücken kann, was man in sich fühlt." Sprecherin Also braucht man mehrere Pseudonyme. Romain Gary, der mit der Schauspielerin Jean Seaberg vereheiratet war, dachte sich immer wieder neue Namen aus: Emile Ajar, Shatan Bogat, Lucien Brulard, René Deville, Fosco Sinbaldi. Lucien Brulard ist ein Zwitter zwei Pseudonymen Stendhals - ein Vorbild Garys. Lucien Brulard setzte er zusammen aus Lucien Leuwen und Henri Brulard. Erst nach seinem Selbstmord 1980 kam heraus, dass Gary und Ajar identisch sind. In seinem Nachlass fand sich ein Text mit dem Titel "Vie et mort d´Èmile Ajar" - "Leben und Tod des Èmile Ajar". Entstanden war er kurz zuvor. Die Geschichte Garys steht für einen absoluten Neuanfang im Leben, für einen zielstrebig geplanten Persönlichkeitswandel. Dass ein Namenswechsel tatsächlich die Persönlichkeit stark beeinflussen kann, haben Namensforschung und Psychologie bewiesen, denn ein Namenswechsel wird nach einem traumatischen Ereignis oder bei einer zerrütteten Familiengeschichte sogar als therapeutisches Element vorgeschlagen. Sprecher, Gary, Erste Liebe, 19 "Alexandres Natal. Armand de La Torre. Terral. Vasco de La Fernaye" Sprecherin Der Fall Gary - Ajar legt nahe, Pseudonyme mit Kalkül als einen literarischen Joker einzusetzen, wenn etwa ein Preis in Aussicht steht. Der holländische Autor Arnon Grünberg, der mit seinem Roman "Blauer Montag" 1994 international bekannt wurde und eine zeitlang auch als Marek van der Jagt veröffentlichte, sollte zwei mal mit dem niederländischen "Anton Wachter Preis" für literarische Debuts ausgezeichnet werden. Erstmals 1994 als Arnon Grünberg für "Blauer Montag" und 2000 als Marek van der Jagt für "Amour Fou". Grünberg hatte seine zweite Identität sorgfältig geplant und organisiert: es gab eine Emailadresse für sein Pseudonym, sogar die Faxe an seinen Verleger unterschrieb er mit Marek van der Jagt. Ein Bekannter lieh den Büchern sein Konterfei. Marek van der Jagt wurde zur Preisverleihung eingeladen und sollte in jedem Fall persönlich erscheinen. Ein Dilemma: 12 Oton Arnon Grünberg, 7 Dann hat der Preisverleiher gesagt: Wir vergeben den Preis nur an Marek van der Jagt, wenn er persönlich kommt. Dann sagte ich mir: Da kann ich ja etwas mitspielen, denn auf dem Buch gab es ein Foto, ein Herr den ich getroffen hatte. Aber dann sagten die Preisverleiher, wenn er kommt, muss er seinen Ausweis mitnehmen. Dann war die Preisverleihung und der Preis wurde nicht vergeben. Einige Leute haben mir das sehr übel genommen und gesagt, das hat der Grünberg nur gemacht, um zwei mal diesen Preis zu bekommen. Sprecherin - wie Romain Gary. Grünberg hatte drei gute Gründe für ein Pseudonym. Der erste, ein relativ pragmatischer. Er war verlegerisch in guten Händen, kam allerdings mit der Konkurrenz seines Verlags in Kontakt, die ihn für ein neues Buch gewinnen wollte. 13 Oton Arnon Grünberg, 5 Ich wollte meinen Verleger nicht eifersüchtig machen und habe dann nein gesag. Und dann hatte ich die Idee, wenn ich das unter einem anderen Namen mache, weiß niemand, dass ich es bin. Der zweite Grund war, ich wollte sehen, wie die Leute reagieren, ohne zu wissen, dass ich es bin. Und der dritte Grund war, ich dachte, wenn ich ein Pseudonym nehme, dann brauche ich keine Lesereise machen, ich kann ja keine Perücke aufsetzen. Sprecherin Das zweite Motiv ist das Interessanteste. Es hat für einigen Wirbel gesorgt, denn unter den Kritikern, die sich noch vor kurzem für Arnon Grünberg ereifert hatten, war auch einer, der Marek van der Jagt öffentlich für einen ganz und gar untalentierten Autor erklärte. 14 Oton Arnon Grünberg, 11, ab 0:55 Für mich ist diese ganze Identitätsfrage interessant. Ich wollte auch beweisen mit Marek van der Jagt, dass wenn man ein Buch schreibt, in dem die Hauptfigur Marek van der Jagt heißt, alle Leute sagen, ach das ist autobiografisch, so wie mit meinem ersten Buch, als alle sagten, Grünberg hat das Buch geschrieben, Grünberg ist die Hauptperson, das ist autobiografisch. Und es gab dieselbe Reaktion. Musikakzent 7 Kriminal musik, 19 Sprecherin (Stimmen wieder ineinander) Kaspar Hauser Sprecher Kurt Sprecherin Peter Panter Sprecher Tucholsky Sprecherin Theobald Tiger Sprecher Kurt Tucholsky Sprecherin Ignatz Wrobel Sprecher Tucholsky Musikakzent 7 blenden in Musikakzent 8 Anthology, I, 6 Sprecherin Name ist Sprecher Schall und Rauch Musikakzent 8 Sprecherin "Schall und Rauch" hat Tucholsky in Anspielung auf das berühmte Zitat aus Goethes Faust I ein Gedicht genannt: Sprecher Der Name ists, der Menschen zieret, weil er das Erdenpack sortieret bist du auch dämlich, schief und krumm du bist ein Individuum. Musikakzent 8 weg Sprecherin Schreibt Theobald Tiger 1913 in der "Schaubühne", jener Wochenzeitschrift, die später in "Weltbühne" umbenannt wurde. Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignatz Wrobel sind die häufigsten Pseudonyme des bekannten Journalisten und Publizisten der Weimarer Republik, denn er hatte noch einige mehr: Musikakzent 7 Sprecherin "Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden - das war damals, als meine ersten Arbeiten in der "Weltbühne" entstanden." Musikakzent 7 weg Sprecherin Schrieb Tucholsky 1927. Er verfolgte vordergründig eine ganz pragmatische Absicht: Sprecher "Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Namen in einer Nummer haben, und so entstanden, zum Spaß, diese Homunculi." Sprecherin Jedes seiner Pseudonyme verköperte ähnlich wie bei seinem portugieseschen Kollegen Fernando Pessoa einen anderen Charakter, eine andere literarische Stimme: Peter Panter schrieb Feuilletons, er kannte sich aus mit Büchern und Bühne und publizierte daher in der Wochenzeitschrift "Weltbühne", die aktuelle Ereignisse aus Politik und Kultur kommentierte. Als einen kugelrunden, kleinen Mann stellt sich Tucholsky Peter Panter vor. Ignaz Wrobel, ein Unsympathling mit Buckel und rotem Haar trat als bissiger Kritiker der Staatsraison der Weimarer Republik auf, sogar in einigen politischen Organisationen war Tucholsky als Ignaz Wrobel eingetragen. Sprecher "Wrobel - so hieß unser Rechnenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders hässlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens." Sprecherin Theobald Tiger soll "der Muse unter die Röcke" gegriffen haben - so sein Schöpfer. Wenn Tiger nicht erbeitete, schlief er. Er schrieb Chansons und Possen fürs Kabarett und hatte eine Vorliebe für Erotisches und Komödiantisches. Kaspar Hauser verdoppelt einige Eigenschaften Tucholskys, so soll er nach dem Krieg die Welt nicht mehr verstanden haben. Er schrieb Satiren und Glossen und entwarf den Prototyp des Spiesbürgers "Wendriner". Sprecher "Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen - ein Name lebt." Sprecherin Was als litararisches Spiel begann, fand eine Fortsetzung in seinem Privatleben, denn irgendwann signierte Tucholsky sogar die Briefe an seine Freunde mit verschiedenen Namen: Arnold, Edgar, Hasenfritzli oder sogar "Martha Kanautschke, bessere Tage gesehen habende Zimmerwirtin". Sicher war Tucholsky mit allen seinen Pseudonymen verwandt oder verschwistert. 15 Oton Jochen Hörisch, take 10 Tucholsky hat eigentlich kein großes Rätsel daraus gemacht. Wer wissen wollte, wer hinter Panter, Tiger oder Kaspar Hauser steckt, der konnte das wissen in der Szene um die "Weltbühne". Musikakzent 9 Anthology, II, 9 Monolake, I, 1 Sprecherin Umnebelnd Himmelsglut Sprecher Himmelsglut (Regie: Namen wieder ineinander/ übereinander sprechen: diesmal besonders verrückt, visionär, schizophren, bsonders verzerrt, viel Hall) Sprecherin Alberto Caeiro Sprecher Fernando Sprecherin Àlvaro de Campos Sprecher Pessoa Sprecher Himmelsglut Sprecherin Bernardo Soares Sprecherin Fernando Sprecherin Ricardo Reis Sprecher Fernando Pessoa Sprecherin António Mora Sprecher Pessoa Sprecher Schall und Rauch Sprecherin Himmelsglut Musikakzent 9 hoch Sprecher (Lettre Tabucchi) "Der Poet vertellt sich, täuscht so vollkommen, so gewagt, dass er selbst den Schmerz vortäuscht, der ihn wirklich plagt." Musikakzent 9 weg Sprecherin Im Alter von nur sechs Jahren erfand der portugiesische Autor Fernando Pessoa sein erstes Pseudonym: Chevalier de Pas. In seinem Namen schrieb er sich als Kind selbst Briefe - übrigens ähnlich wie Tucholsky, der sich einen Sohn ausdachte und ihn Kinderbriefe in Kritzelschrift verfassen ließ. Pessoa imaginierte sich Freunde, die nie existierten. Später entwarf er sogar - wie Tucholsky, aber noch viel ausgefeilter, besessener - zu seinen verschiedenen Namen auch Charaktere, mehr noch: er fingierte ganze Biografien. Heteronyme entstanden, das heißt, nicht nur weitere Namen, sondern weitere Existenzen, die sogar untereinander bekannt waren, sich Briefe schrieben und diskutierten. Ricardo Reis verfasste das Vorwort zu einem Gedichtband von Alberto Caeiro, den er seinen "Meister" nannte: Sprecher (Zit Poesia, Autor Fernando Pessoa, Übersetzung Ines Koebel) "In Caeiros Werk erfährt das Heidentum eine vollständige Erneuerung, zu der weder Griechen noch Römer, die das Heidentum lebten und folglich nicht darüber nachdachten, fähig waren.....Unkundig des Lebens und fast unkundig der Literatur hat Caeiro sein Werk geschaffen, ein stilles und tiefgreifendes Werk des Fortschritts, gleich jenem, der mittels des unbewussten Bewusstseins der Menschen die logische Entwicklung der Zivilisation steuert." Sprecherin Auf diese Weise korresponierte Pessoa mit sich selbst. Wie ein auf mehre Stimmen aufgeteilter Monolog wirken die Briefe und Texte, die er zwischen den Heteronymen zirkulieren ließ. Pessoa war der Überzeugung, dass der Wechsel seiner Identitäten tief in seiner eigenen Persönlichkeit verwurzelt war - und nannte es "Hysterie". Er hatte die Veranlagung zu einer schizophrenen/ pathologischen (?) Persönlichkeit. Der Esoteriker Pessoa entwarf Horoskope zu den verschiedenen Heteronymen und fühlte sich bis in die kleinsten psychologischen Verästelungen ihres Wesens und dabei in sich selbst hinein. Musikakzent 9 Sprecher (Zit Poesia, Autor Fernando Pessoa, Übersetzung Ines Koebel) "Ich vervielfache mich, um mich zu fühlen, ich muss alles fühlen, um mich zu fühlen, ich trat aus den Ufern und strömte über, entkleidete mich und gab mich hin, und in jedem Winkel meiner Seele raucht ein Altar für einen anderen Gott" Musikakzent 9 weg Sprecher Fernando Pessoa publizierte unter seinem eigentlichen Namen zu Lebzeiten kaum etwas, einen Gedichtband mit dem Titel: "Botschaft". Wesentlich erfolgreicher waren seine Heteronyme: Bernardo Soares schrieb das berühmte autobiografische "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares". In Pessoas Nachlass bafand sich eine Kiste mit unüberschaubar vielen handgeschriebenen und getippten Manuskripten und Fragmenten - dazu neue Heteronyme, unter denen er zu Lebzeiten nie veröffentlicht hatte. Der Pessoa- Chronist Antonio Tabucchi schreibt in seinem Buch "Wer war Ferndano Pessoa?": Sprecher (Wer war Fernando Pessoa?, Autor: Fernando Pessoa, Übersetzung Karin Fleioschanderl) "Denn die unveröffentlichten Manuskripte bestätigten nicht nur die Existenz der drei Hauptheteronyme sowie die Tatsache, dass sie - gemeinsam mit dem Orthonym - vier eigenständige Werke (Caeiro, Campos, Reis und Pessoa selbst) hinterlassen hatten, sie ließen nicht nur den Heteronymen Prosaschriftsteller Bernardo Soares in einem deutlicheren Licht erscheinen, sie offenbarten darüber hinaus auch noch die Existenz zweier in sich geschlossener philosophischer Werke, als deren Urheber Raphael Baldaya und Antonio Mora zeichneten." Sprecherin In einem Brief an den Kritiker Adolfo Casais Monteiro erklärte Pessoa die Entstehung seiner Heteronyme und die Verbindung zu seinem Werk: Musikakzent 9 Sprecher (Wer war Fernando Pessoa?, Autor: Fernando Pessoa, Übersetzung Karin Fleioschanderl) "...der geistige Ursprung meiner Heteronyme beruht auf meiner angeborenen, beständigen Neigung zur Entpersönlichung und Verstellung. Diese Phänomene haben sich - zu meinem und meiner Mitmenschen Glück - in mir vergeistigt; das heißt, in meinem praktischen äußeren Leben im Umgang mit anderen treten sie nicht in Erscheinung; sie explodieren nach innen und ich trage sie mit mir allein aus." Musikakzent 9 weg Sprecherin Im selben Brief skizzierte Pessoa auch die Lebensläufe und Charaktere seiner Heteronyme: Àlvaro de Campos wurde am 15. Oktober 1890 im südportugiesischenen, an der Algarve gelegenen Tavira geboren. Als Schiffsingeneur reiste er um die Welt, in den Orient - schrieb daraufhin das Gedicht "Die Opiumhöle". Campos - so stellte es sich Pessoa vor - war nach seiner Veröffentlichung der "Ode triunfal", zu deutsch "Triumpfode" eine der Leitfiguren der portugiesischen Intellektuellen seiner Zeit. Groß gewachsen, schwarzhaarig, ein Dandy, ein Galant, ein Libertin. Er starb am selben Tag und im selben Jahr wie Pessoa: am 30 November 1935. Überhaupt, so die These des Pessoa-Chronisten Antonio Tabucchi, war Àlvaro de Campos von allen Heteronymen, die Pessoa entwarf, seinem Schöpfer am nächsten. Die Biografien der beiden überkreuzen sich und so schrieb Alvaro de Campos sogar der - vermutlich einzigen - Geliebten Pessoas, Opheilia Queiroz, in dessen Auftrag folgenden Brief: Zitator (Wer war Fernando Pessoa?, Autor: Fernando Pessoa, Übersetzung Karin Fleioschanderl) Sehr geehrte Frau Ophélia Queiroz: Ein verwerfliches, elendes Individuum namens Fernando Pessoa, mein besonders lieber Freund, hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen - in Anbetracht der Tatsache, dass ihn sein geistiger Zustand hindert, irgend etwas mitzuteilen, und wäre es einer trockenen Erbse (einem Beispiel für Gehorsam und Disziplin) - , dass es Ihnen verboten ist: 1) weniger Gramm zu wiegen 2) weniger zu essen 3) überhaupt nicht zu schlafen 4) Fieber zu haben 5) An das fragliche Individuum zu denken Ich meinerseits rate Ihnen als intimer und aufrichtiger Freund des Taugenichts, dessen Mitteilung ich (widerstrebend) weiterleite, das geistige Bild, das Sie sich vielleicht von dem Individuum gebildet haben, dessen Namensnennung dieses halbwegs weiße Papier beschmutzt, zu packen und in den Abfluß zu werfen, da es materiell unmöglich ist, dieses gerechte Schicksal der vorgetäuschten menschlichen Institution zuteil werden lassen, der es zukommen würde, wenn es auf der Welt Gerechtigkeit gäbe. 25. 8. 1929 Alvaro de Campos, Schiffsingenieur Sprecherin Für Pessoa offenbarten sich seine Heteronyme als Geburtshelfer seines Schreibens. Ohne sie wäre ein großer Teil seiner Gedichte und Prosatexte nicht möglich gewesen. Sprecher (Pessoa, Buch der Unruhe, 478) "Ich bin eine Gestalt aus meinen eigenen Dramen." Sprecherin Bekannte Pessoa als Bernardo Soares im "Buch der Unruhe". Es waren keine Masken vor der Figur Pessoa, sondern Stimmen, die ihn bewohnten und die er zum Sprechen brachte. Dies belegt sein Brief an den befreundeten Kritiker Adolfo Casais Monteiro. Hier geht Pessoa sogar so weit, zu differenzieren, unter welchen Umständen und in welchen Gefühlslagen er welches Heteronym sprechen lässt oder welche Stimme von ihm wann Besitz ergreift: Sprecher (Buch der Unruhe, Autor: Fernando Pessoa, Übersetzung Ines Koebel) "Als Caerio schreibe ich in reiner, unerwarteter Inspiration, ohne zu wissen oder zu berechnen, dass ich schreiben werde. Als Ricardo Reis schreibe ich nach einer abstrakten Überlegung, die sich plötzlich in einer Ode konkretisiert. Als Campos schreibe ich, wenn ich einen plötzlichen Drang zum Schreiben verspüre und nicht weiß, was ich schreiben soll. Mein Halbheteronym Bernardo Soares, das im übrigen in vielen Dingen Àlvaro de Campos ähnelt, tritt immer auf, wenn ich ermüdet oder schläfrig bin, so dass meine Fähigkeiten zu klaren Vernunftüberlegungen und meine Hemmungen ein wenig aufgehoben sind; diese Prosa ist ein ständiger Wahnwitz." Musikakzent 10 Anthology, 3 Sprecherin Josephie Mutzenbacher Sprecher Felix Salten Sprecherin Saturnino Balcone Sprecher Roger Willemsen Sprecherin Anonymus Sprecher Donatien Alphonses Francois de Sade - Marquis de Sade Musikakzent 10 Sprecherin (Zit: Justine, Autor de Sade, Übersetzung Katharina Hock) "Steck ihn mir hinein." Sprecher (Zit: Justine, Autor de Sade, Übersetzung Katharina Hock) Er berührte mit der Spitze seiner ungeheuren Maschine das rosige Grübchen, wagte aber nicht weiter zu gehen. Célestine trieb ihn jedoch weiter an, und unter Flüchen, Lästerungen und barbarischen Hieben öffnete er schließlich diesen Wohnsitz der Grazien und der Wollust. Musikakzent 10 weg Sprecherin Undenkbar im 18. Jahrhundert, dass "Justine oder die Leiden der Tugend" nicht anonym erschien. Mit Marquis de Sade, dem französischen Adeligen, Richter und Autor vieler pornographischer Romane und Schriften verbindet sich eine bizarre Biografie: bereits mit 15 Jahren war er Unterleutnant im Regiment des Königs, die Heirat mit einer Hochadeligen, die seine sexuellen Phantasien teilte, ermöglichte ihm seinen skandalträchitgen Lebenswandel: er machte mit ohne ohne seine Frau Hausangestellte und Prostiuierte gefügig oder erpressste sie sogar zu bestimmten Liebesdiensten. Mehrfach wurde de Sade angeklagt - wegen Giftmord, sexueller Exzesse, Sodomie. 1772 verurteilte man ihn erstmals zum Tode. Während seines Gefängnisaufenjalts in der Bastille begann er 1783 heimlich und in winzig kleiner Schrift "Die 120 Tage von Sodom". Die abgründige Geschichte über die Verbindung von Macht und sexueller Gewalt hat der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini 1975 in die faschistische Republik Salo verlegt - der Film wurde in der Schweiz kurzzeitig der Öffentlichkeit vorenthalten. De Sade kam immer wieder in Konflikt mit der Zensur, er brachte seine Bücher anonym heraus, dennoch stand er unter Verdacht und leugnete 1799 die Autorschaft von "Justine oder die Leiden der Tugend". 1963 hat sogar die deutsche Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften "Die Philosophie im Boudoir" indiziert. Roger Willemsen: 16 Oton Roger Willemsen, 37, weiter Nehmen wir berühmte Fälle wie Alfred du Musset, der der Verfasser der "Gamiani" ist, ein pornographisches Werk. Oder ein offenbar von Oskar Wilde geschriebenes pornographisches Buch: da war es so, dass man davon ausgehen musste, dass die Sphären der Hochliteratur und der so genannten pornographischen Literatur kategoriell voneinander geschieden wurden. Heute vermischen sich beide. Man kann eine ehemals pornographisch genannte Szene auch in einem Bildungsroman drucken - seit dem 20. Jahrhundert. Aber bis zum 19. Jahrhundert leben die Orgie und der Bildungsroman in zwei getrennten Häusern ohne Verbindung. Und wollte man das andere Haus betreten, dann schrieb man in der Regel nur Orgien und dann tat man das unter einem anderen Namen. Die Surrealisten sind die ersten gewesen, die das unterbrochen haben. Sprecherin So der Autor und Herausgeber der Erotik-Anthologie "Das Tier mit den zwei Rücken." Roger Willemsen hat selbst allerdings auch einmal ein anders Haus unter anderem Namen betreten... 17 Oton Roger Willemsen, 31 ....aus gutem Grund. Dieses Pseudonym war Saturnino Balcone. Ich nannte mich so, weil ich von einem Periodicum aufgefordert wurde, einen Text zu schreiben, der so pornographisch sein sollte, dasss die Zensurbehörde darauf aufmerksam würde und ihn indizieren könnte. Das heißt, es wurden in diesem Perodicum drei Texte gedruckt, einer war bereits verboten worden, einer war nicht verboten worden und sie wollten einen dritten haben, der die Aufmerksamkeit der Behörde auf sich ziehen würde und den schrieb ich und versuchte etwas zu schreiben, was mir so schweinisch wie möglich vorkam und es wurde unter Saturnino Balcone veröffentlicht. Sprecherin Ausflüge in das Genre der Pornografie oder Erotika sind neben dem Genrewechsel zum Krimi immer noch ein sehr beliebtes Motiv für ein Pseudonym. Musikakzent 1 Sprecher "Ahmed öffnete das Mäppchen, neugierig wie ein Kind. Die darin enthaltenen Fotos zeigten die Gräfin Schönfels in delikaten Situationen, bis auf die Schnürstiefel nackt zwischen anderen entblößten Stützen der Gesellschaft. Prominente Nasen gab es zu sehen, die weißes Pulver von gräflichen Genitalien schnupften." Musikakzent 1 Sprecherin Mit dieser Episode schließt der unlängst erschienene Krimi "Aussortiert". Das Pseudonym: Titus Keller. "Aussortiert" soll laut Klappentext das Werk "eines bekannten deutschen Schriftstellers" sein. Tatsächlich gibt es einen Schrifststeller, dessen Markenzeichen es ist, kriminalistische und erotische Elemente in seinen Büchern zu mischen, der gerne zwielichtige Mileus ausleuchtet und im Slang schreibt, Dialoge als Schlagabtausch. Bestes Beispiel: Kraussers Roman "Eros". Rainer Schmitz, Literaturredakteur bei "Focus", hat das Pseudonym Titus Keller geknackt: 18 Oton Rainer Schmitz, 10 Was mich überzeugt hat, dass es Helmut Krausser geschrieben haben muss, liegt daran: der Autor kennt sich sehr gut in Berlin aus oder muss sehr gut vor Ort recherchiert haben und dann hab ich mich gefragt, erstens, welche Autoren leben in Berlin, die das könnten und Helmut Krausser lebt seit zwei, drei Jahren in Berlin und dann hab ich mir angeschaut in welchem Verlag das erschienen ist - nämlich bei Eichborn Berlin und im Frühjahr ist von Krausser eine Herausgabe der erotischen Tagebücher von Pepys dort erschienen und eine solche Kombination kann nur Krausser sein. Es ist bestätigt worden auf unterschiedlichen Wegen, aber öffentlich ist es nicht geworden außer meiner Meldung, die gemacht habe. Musikakzent 11 Leclair, 7 Sprecherin George Eliot Sprecher Mary Ann Evans Sprecher E. Marlitt Sprecherin Friederike Henriette Christiane Eugenie John Sprecherin Mara Volkers Sprecher Iny Klocke und Elmar Wohlrath Sprecher George Sand Sprecher Amantine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil Musikakzent 11 19 Oton Roger Willemsen, take 53 George Eliot war eine wenig gut aussehende Autorin aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England. Eine der besten realistischen Autorinnen, die es überhaupt in der Literaturgeschichte gibt. Sie hat den Männernamen angenommen, erstens weil sie sich schützen wollte, zweitens, weil sie glaubte, dass ihr Schreiben unter weiblichem Namen nicht das Publikum erreichen würde und sie sich in ihrer Denkform als männliche Autorin erkannte. Das Erstauliche ist, dass gleichzeitig Dickens einen Roman schreibt - Bleak House - in dem der Held eine Frau ist. Umgekehrt gibt es mit "Middelmarch" von Eliot ein so großartiges Buch, das von einer Frau stammt, wo die Geschlechterdifferenz selbst im Blick und auch in der Schreibform weitgehend verwischt wird, dass man sagen kann, sie erlischt. Sprecherin George Eliot ist ein typischer Fall des 19. Jahrhunderts. Viele europäische Autorinnen suchten sich einen männlichen Namen, auch Amantine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil, die als George Sand Romane und sozialkritische Texte schrieb. Ihr Pseudonym entlieh sie dem Namen ihres ersten Geliebten, Jules Sandeau. Bettina von Arnim mischte sich als St. Albin in das politische Tagesgeschäft ein. Beide - George Sand und Bettina von Arnim - waren sich bewusst, dass gesellschaftliche und politsche Themen noch immer zu den großen Tabus für Schriftstellerinnen gehörten. Das Publikum erwartete von Frauen Lyrik, märchenhafte Erzählungen und vor allem Liebesromane. Sich in die Debatten der Zeit einzumischen, war Männern vorbehalten - daher der Griff zu einem männlichen Pseudonym. Wenn Autorinnen heute, in postemanzipatorischen Zeiten unter Pseuonym schreiben, dann aus denselben Gründen wie ihre männlichen Kollegen: sie testen ein anderes Genre oder lassen sich wie Iny Klocke zusammen mit ihrem Mann Elmar Wolrath auf die verkaufsstrategischen Argumente ihrer Verlage ein. Vom Schreiben selbst ist ihr gemeinsames Bipseudonym völlig abgekoppelt. Iny Klocke: 20 Oton Iny Klocke, 80, ab 0:27 Es wurde vom Verlag aus experimentiert, erst mit unseren echten Namen beide auf dem Cover, aber das findet kein Computer, das können sich die Leser nicht merken. Ein kurzer, prägnanter Name gibt einem Buch etwas mehr Schub. Dann haben wir natürlich überlegt, Iny und Elmar Lorentz, seines Vaters Namen und unser beider Vornamen. Aber die meisten Suchmaschinen haben da Schwierigkeiten. Dann ist das Buch nur unter Elmar oder Iny Lorentz zu finden. Dann sagte der Verlag, Schluss, machen wir nur noch Iny Lorentz. Musikakzent 2 nur sehr kurz Sprecher ...Schall und Rauch... Musikakzent 2 Sprecher Doch es soll auch vorkommen, dass sich Männer ein weibliches Pseudonym überlegen. Roger Willemsen hat schon mal mit dem Gedanken gespielt: 21 Oton Roger Willemsen, take 52 Ich gestehe Ihnen ehrlich, als ich an das Thema Liebe gegangen bin - aus der Perspektive einer Frau - und einen Monolog geschrieben habe, ich mir ernsthaft überlegt habe, ob ich nicht ein Pseudonym annehmen soll, denn die Überblendung zwischen von Fernsehperson mit einer Person, die sich auf diesem sentimentalen Feld verliert, ist schwierig. So dass ich gedacht habe, damit werde ich die Rezeption überfordern und das stimmt zum Teil. Ich hab es sehr viel leichter - das Buch wird jetzt auf Englisch verfilmt, im Ausland - als nicht identifizierbarer Autor. Sprecherin Unter verschiedenen weiblichen Pseudonymen - als Miss Satin oder Margerite de Ponty - hat übrigens Mallarmé für Modemagazine geschrieben und selbst eine solche gegründet - "La Derniére Mode". Wieviel der französische Vorzeigeintellektuelle von dieser angewandten Kunst verstandt, zeigt seine Beurteilung der Frühjahrskollektion 1875: Sprecher "Wenn ich meinen Leserinnen jetzt schon genaueres sagen kann, dann, wie ich zugeben muss, dank einer großen Indiskretion. Die größte Sorgfalt ist bei der Damengarderobe auf die Stiefelette und die Handschuhe zu verwenden, dann kommt der Hut, der einfach nur bezaubern soll....." Musikakzent 2 Sprecherin Name ist Schall Sprecher und Rauch Musikakzent 2 Sprecherin Viele Autoren tragen ihr Pseudonym bereits mit der Absicht, die vorübergehende Maske, den Schleier, irgendwann einmal zu lüften. Die Aufdeckung ist bereits einkalkuliert oder gar vollzogen, wenn der Verlag mit dem Pseudonym wirbt. Tucholsky trieb ein offenes Spiel, bei Benjamin Black liefert der Verlag den Autorennamen gleich mit - John Banville. Bei Arnon Grünberg und Helmut Krausser war es nur eine Frage der Zeit, bis Kritiker und Leser ihre Eskapaden durchschauten. Allerdings ist die Aufdeckung des Pseudonyms von Arnon Grünberg - nicht wie bei Helmut Krausser - der detektivischen Kombinatinationsgabe eines Literaturexperten als vielmehr der Finesse eines Computerprogramms geschuldet: einem Mathematiker in Rom, der ein spezielles Programm zum Abgleich verschiedener Texte entwickelt hatte, gelang der hundertprozentige Nachweis, dass Arnon Grünberg und Marek van der Jagt dieselbe schriftstellerische Signatur tragen: 22 Oton Arnon Grünberg, 25 Der Professor damals hat bewiesen, dass es eine DNA von meinem Stil gibt. Ich würde sagen, durch Marek van der Jagt habe ich mich befreit und mit verschiedenen Sachen experimentiert. Ohne ihn hätte ich das auch gemacht, aber villeicht später. Für mich sind es verschiedene Bücher. Aber ich kann jetzt sehen, wo man sich selbst nicht ganz loswerden kann. Musikakzent 1 (Fragmente aus Anfang) Sprecherin (verzerrt, mit Echo und Hall aus der Konserve) Name ist... Sprecher Schall und Rauch.... Sprecherin (und Sprecher ineinander, kurz versetzt, gleichzeitig) Name ist Schall und Rauch Sprecher Name ist Schall und Rauch.... Sprecherin umnebelnd Himmelsglut... Sprecherin ...Namen... Sprecher ...Schall und Rauch.... Musikakzent 2 weg 23 Oton Jochen Hörisch, 13 ab 0:20 Die Dichter haben die Lizenz zu lügen. Wir würden nicht sagen, lieber Buchhändler du musst das Buch zurücknehmen, denn was hier drin steht, ist falsch. (..) Sprecherin So Jochen Hörisch. Arnon Grünberg verteidigt zusammen mit vielen seiner Kollegen vehement die literarische Tradition des Pseudonyms und damit das Privileg seines Berufs: under cover zu arbeiten, verdeckt wie es nur Detektive, Agenten, Informanten und Diplomaten tun. Eigentlich will man mit solchen Menschen - wenn sie nicht gerade Bond heißen und einen unterhaltsamen Kinoabend bescheren - möglichst wenig zu tun haben. Bei Schriftsteller amüsieren uns die verdeckten Ermittlungen und ihre Under-cover-Existenz. Nachdem bereits ihr Name ist Teil des Mediums ist, in dem sie arbeiten - die Sprache - können sie etwa im Gegensatz zum bildenden Künstler den Namen wechseln, ohne die Geschäftsgrundlage zu betrügen. Außerdem ist beim bildenden Künslter der Name unmittelbar an ein - oft hochpreisiges - Objekt gebunden. Soll heißen: der Schriftsteller darf im Gegensatz zum bildenden Künstler falsche Tatsachen vortäuschen, ohne dass es ihm jemand übel nähme. Musikakzent 1 und 2 Sprecherin Abecedarius Sprecher Andreas Bodenstein Sprecherin Marie Annunziata Sprecher Irma von Wittek Sprecherin Der Allerliebste Sprecher Friedrich Herzog zu Sachsen-Gotha Musikakzent 1 und 2 Doch stellen wir uns zuletzt folgendes Gedankenspiel vor: Ab sofort würden sämtliche Romane, Erzählungen, Krimis, Gedichte, Theaterstücke nurmehr unter Pseuodnym veröffentlicht. Was für ein Kassensturz der literarischen Welt! Wie fänden wir uns in den Buchläden zurecht? Wir müssten allein nach Cover, Titel und Klappentext entscheiden. Welche präzisen Operationsinstrumente und Bewertungskriterien müssten Literaturkritiker ab sofort entwickeln, um herauszufinden, wer da schreibt und was seine Worte und Geschichten wert sind? Autoren würden zu ihren Lesungen überhaupt nicht mehr erscheinen, sondern einfach einen Podcast zum Abspielen liefern. Wie viele der angesehensten Schrifsteller wären kaum mehr präsent, weil sich herausstellte, man hat ihre Bücher vor allem wegen ihrer medienwirksamen Fernsehauftritte, ihrer privaten Skandälchen oder des spektakulären Frühwerks gelesen? Andere, bislang unbekannte Autoren dagegen würden schnell zu Geheimtipps. Das Pseudonym entpuppt sich daher als weit mehr als ein amüsantes Sprach- und Versteckspiel. Mehr als ein Anekdotengenerator. Für den Buchmarkt und die gesamte litararische Welt beinhaltet es ein enormes subversives Potenzial. Sprecherin Jean Amery Sprecher Hans Maier Sprecherin Ivan Goll Sprecher Isaak Lang Sprecherin Heinrich Heine Sprecher Heinrich Christian Engelhard Sprecherin Michel Thomas Sprecher Michel Houellebeque Sprecherin Von Utis (von Niemand) Sprecher Friedrich Maximilian Rieger Musikakzent 1 und 2 weg 1 1