KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : 5526 Titel der Sendung : Zweite Generation Heimatkunde. Die Kinder der Gastarbeiter erobern das deutsche Gegenwartstheater Autor : Anke Schaefer Redakteur : Kolja Mensing Sendetermin : 22. Januar 2012, 0.05 Besetzung : Autorin spricht selbst Regie : Beate Ziegs Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Anmoderation Vor 50 Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei ein Anwerbeabkommen geschlossen, um Arbeitskräfte ins Land zu holen. Heute leben hier zweieinhalb Millionen Menschen türkischen Ursprungs, neben vielen anderen Zuwanderern aus anderen Ländern. Längst sind sie aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken: Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland. In der Kultur, insbesondere im Theater war von dieser Wirklichkeit allerdings lange Zeit nichts zu spüren. Doch seit einiger Zeit tut sich etwas: Die Kinder der Gastarbeiter erobern die Bühnen und Hinterbühnen. Hinter dem sperrigen Begriff vom "postmigrantischen Theater" verbirgt sich eine Generation von jungen Regisseuren und Autoren, deren Eltern und Großeltern aus der Türkei und anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Jetzt bringen sie die Konflikte der Einwanderungsgesellschaft in Berlin und Köln, Düsseldorf oder Freiburg auf die Bühne - und hauchen dem gut bürgerlichen geglaubten Stadttheater neues Leben ein. "Zweite Generation Heimatkunde" - hören Sie eine Sendung von Anke Schaefer. Ausschnitt "Verrücktes Blut" "...ich, ich, aber wie kommt man zu einem Ich, das diesen Namen verdient? Durch die Kunst, sagt Schiller, durch das Spiel, durch diese Arbeit an sich selbst wird man zur inneren Freiheit geführt und dann zur äußeren Freiheit - interessiert Sie das? Verstehen Sie das? - ja, ja, doch, doch!" Das Berliner Erfolgsstück "Verrücktes Blut": Eine verzweifelte Deutschlehrerin versucht ihren Schülern, Schillers "Räuber" zu vermitteln. Die Mehrheit der Schüler stammt aus türkischen Familien, Migrantenkinder, genau wie der Stammtisch sie sich vorstellt: Die Jungs tragen Jogginghosen, fluchen, schimpfen, streiten, raufen, stören. Die Mädchen sind auch nicht viel besser. Dann fällt einem Schüler eine Pistole aus der Tasche. Die Lehrerin greift zu und richtet die Waffe mit zitternder Hand auf die Klasse. Ausschnitt "Verrücktes Blut" Keine Gnade, keine Gnade, kein Erbarmen! ... Du sollst unser Hauptmann sein ...! - ... Ihr Räuber - ich bin Euer Hauptmann ... Räuber! Sind die türkisch-deutschen Jugendlichen nicht auch manchmal Räuber, nach Anerkennung sich sehnende Bandenmitglieder? Und kann man sich eine Lehrerin tatsächlich als "Bildungsterroristin" vorstellen, die mit vorgehaltener Waffe einen Klassiker, also - die "deutsche Leitkultur" vermittelt? "Verrücktes Blut" basiert auf einem eher unbekannten französischen Film. Die Theaterfassung hat das Publikum mit Gelächter und großem Applaus gefeiert. Inszeniert hat das Stück für das Ballhaus Naunynstraße: Nurkan Erpulat. 1974 in Ankara geboren, wurde er 2003 als erster türkischer Student in Berlin an der Schauspielschule "Ernst Busch" im Fach Regie angenommen. Ein Mann, der Ärger im Bauch hat. Ich haben keine Ahnung von der Schule - aber ich habe Ahnung, wie mich herabguckt oder wie man auf mich reagiert und wie man lehrerhafte Zeigefinger hoch hebt, und ich weiß, was mit mir das macht. Es geht darum, die Dinge zu sehen und was man gesehen hat, auf die Bühne zu bringen. Nurkan Erpulat sitzt auf einem der mit blauem Samt bezogenen Stühle in der Bibliothek des alt-ehrwürdigen Deutschen Theaters in Berlin. Intendant Ulrich Khuon, den man nebenan leise telefonieren hört, hat ihn engagiert, Kafkas Roman "Das Schloß" für die Bühne zu adaptieren. Die Geschichte von "K", - dem Landvermesser also, der in ein Dorf kommt, ins Schloss möchte und doch immer fremd bleibt. Atmo Band Ton 4 Ausschnitt "Das Schloss" Auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand "K" auf der Holzbrücke, die von der Landstraße vom Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere. Dann ging er ein Nachtlager suchen. Im Wirtshaus war man noch wach. Nurkan Erpulat lässt die Schauspieler zu Anfang mit dem Roman in der Hand auf die Bühne kommen, nach einiger Zeit erst finden sie ihre Rollen, dann gewinnt der Abend an Tempo. Die Proben zu "Das Schloss" am Deutschen Theater waren nicht ganz einfach. Ich bin immer noch mit solchen Sätzen konfrontiert: Äh, aber der Satz meint so und so, hast du wahrscheinlich nicht verstanden! Du - bevor wir hier in der Probe sitzen - ich habe drei Monate dafür vorbereitet - ich weiß jeden Kommentar, natürlich habe ich verstanden! - Nein nein nein, aber es ist nicht so gemeint - ich weiß, wie das gemeint ist, aber ich will es so haben! Es ist ein Kampf - der Energie und Zeit kostet. Wenn man mit Akzent spricht, heißt das nicht, dass man mit Akzent denkt - unabhängig davon - wenn ich einen französischen Akzent hätte, wäre es anders als türkische Akzent, die ich habe. Nurkan Erpulat gehört zu den wenigen Protagonisten der deutschen Theaterszene, die für eine Kultur des "Zwischen" stehen. "Zwischen" - im Sinne von zwischen zwei Welten, in seinem Fall zwischen Türkei und Deutschland. Er ist zwar kein Gastarbeiterkind, er kam ohne familiäre Anbindung zum Studieren nach Berlin, jetzt aber vertritt er hier im Theater - mit einigen wenigen anderen - die Ausländer, die in Deutschland leben und die die deutsche Gesellschaft zu einer Einwanderungsgesellschaft machen: Ein Viertel dieses Landes hat Migrationshintergrund - lassen Sie im Theater mal gucken - wenn sie fünf Beispiele da zählen, sind sie glücklich! Und dann denkt man - das ist aber viel - das ist lächerlich! 50 lange Jahre, wettert Nurkan Erpulat, haben es die Theater versäumt, sich für die Bürger mit Migrationshintergrund zu interessieren. Weder wurden ihre Geschichten erzählt, noch wurden sie überhaupt auf die Bühne geholt: Wann haben Sie ein schwarzhaariges Gretchen gesehen? Hat man auch begründet, dass man nicht genügend türkisch, arabisch, jugoslawische Schauspieler gibt - Teil davon ist auch nicht falsch, - unabhängig davon: Man muss die ausbilden, man muss einfach auf diese Karte setzen, dann kommen auch Protagonisten, ganz einfach! Und vor der Kamera wurden die Geschichten der türkischen Einwanderer ja viel eher erzählt und auch mit viel Erfolg. Der Film "Gegen die Wand" von Fatih Akin hat längst Kultstatus. Yasemin und Nesrin Samdereli machten 2011 auf der Berlinale mit ihrer Komödie "Almanya" Furore. Warum hat das Theater da einen solchen Nachholbedarf? Das ist eine super Frage - wenn ich die Antwort wüsste, würde ich sie gerne geben. Das wundert mich auch. Wir behaupten als Theatermacher, dass wir die Gesellschaft auf der Bühne spiegeln, Shakespeare sagte so, dass Theater Spiegel der Gesellschaft ist - in der Hinsicht - was hat man in den letzten 50 Jahren auf den deutschen Bühnen gemacht? Was denn? Welche Spiegelung? Guck mal auf die Stadt! Es ist echt beschämend! Atmo Straße Raus aus dem Deutschen Theater in Berlin-Mitte - rüber nach Kreuzberg. Hier versteckt sich - nicht weit entfernt vom Kottbusser Tor, hinter einer unscheinbaren Hausfassade das Ballhaus Naunynstraße. Hier hat der Trend zum sogenannten "postmigrantischen" Theater seinen Ursprung genommen. Doch auf dem Weg dorthin - zuvor noch ein Treffen mit Wolfgang Schneider, dem Direktor des Instituts für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim. Er ist zu Besuch in Berlin, sitzt vor einem der Wohnsilos mit den unzähligen Satellitenschüsseln direkt am Kottbusser Tor, auf der Terrasse des "Café Kotti": Atmo Löffel rührt im Teeglas / Atmo - legt Löffel neben Glas Wolfgang Schneider hat sich eingehend mit dem Thema "Theater und Migration" beschäftigt. Rührt im türkischen Tee und runzelt die Stirn, wenn er darüber nachdenkt, warum es das Theater in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren nicht geschafft hat, Migration zum Thema zu machen: Das ist merkwürdig, dass es die offizielle Politik so lange versäumt hat, Deutschland als Einwanderungsland zu deklarieren und dass sich alle gewissermaßen nachgeordneten Behörden, auch das Deutsche Theater - sich zwar mit dem Thema Fremdsein immer beschäftigt hat und auch das Thema Gastarbeiter thematisiert hat - aber nicht recht wusste, ob das irgendwo ein struktureller Bestandteil sein kann. Atmo Straße (bleibt immer unter den Zwischentexten) Immerhin gibt es seit den 80er-Jahren in Westdeutschland und Westberlin Beispiele für ein Theater "mit Migrationshintergrund", etwa in Köln das türkische Arkadas Theater, in Berlin das Tiyatrom, und an der Berliner Schaubühne gründete Peter Stein 1979 ein türkisches Ensemble, das fünf Jahre lang bestand. In die anderen etablierten Theater wurden Türken, Italiener, Griechen oder Portugiesen nicht eingeladen. - Jetzt aber ändert sich was - oder? Naja, das ist immer relativ, es ist richtig, dass wir seit etwa drei Jahren das Ballhaus Naunynstraße haben als das Modell eines postmigrantischen Theaters, wir haben in Köln eine Schauspielintendantin, die damit angetreten ist, eine multikulturelles Ensemble zu etablieren, und wir haben an verschiedenen Stellen in deutschen Städten so etwas wie eine Theaterarbeit mit Jugendlichen, die Migrationshintergrund haben. Aber was Publikum, was Personal und was Produktion betrifft, steht das in keinem Verhältnis zur Repräsentation der Kulturen in unserer Gesellschaft und immerhin sind ja rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund und sowohl die, die einen deutschen Pass haben, als auch die, die bei uns noch unter Ausländer fungieren. Wenn die Gesellschaft bunter wird, meint Wolfgang Schneider und rührt mit Verve im Tee, dann muss auch das Theater bunter werden - zumal es subventioniert wird. Steuergelder sollen schließlich zu Gunsten der gesamten Bevölkerung verwendet werden. Andererseits bin ich auch wieder skeptisch und sage mir - brauchen wir denn so einen "Migrantenstadl"? Ist das nicht ein bisschen viel Stereotypisierung, ist das nicht ein bisschen viel Klischee, wird da nicht auch was bedient, was wir von Herrn Zaimoglu als Kanak Sprak kennengelernt haben. (..) Die Frage ist: Wo ist das kritische Element? Wo wird der Stachel gelöckt, wo wird hier auch in die kommunale Politik gepiekst, und zwar so, dass man es spürt? Und da denke ich, ist schon die Frage, wir brauchen nicht nur solche wunderbaren Biotope, sondern wir brauchen - um mal diese Anleihe zu machen - eine Ökologie des Theaters, die durchaus an die Strukturen geht, wo sich was verändern muss, in der ganzen Stadt und im ganzen Land. Vielleicht aber haben sich die Theater bisher schwer getan, die Einwanderer und die Kinder der Einwanderer auf die Bühne, hinter die Bühne und in die Verwaltung zu holen - weil sie nicht akzentfrei Deutsch sprechen? Das hat wieder etwas mit der Tradition des Literaturtheaters in Deutschland zu tun, dass in erster Linie der Text es ist, der gefragt ist bei der Schauspielerei, und dass darauf Wert gelegt wird, dass man eben Deutsch spricht, dass ist ja nun die ganze Integrationsdebatte - dreht sich ja immer um das - Deutschlernen und - sprechen und - schreiben. Auch da ist es eine gesellschaftliche Verengung. Wir könnten doch froh und glücklich sein, so viel Menschen bei uns zu haben, die andere Sprachen sprechen, und könnten das viel stärker zu unserer Sache machen (...) Das ist ja ein gesellschaftliches Phänomen, und das trifft auch auf das Theater zu. Natürlich muss man Theater verstehen, aber warum soll nicht auch auf einem deutschen Theater auch Türkisch gesprochen werden. Wir haben ja auch italienische Opern, die mit Übertiteln übersetzt werden. Wir haben auch die Erfahrung, dass über Sprache sich viel Kultur erschließen lässt. Atmo Straße - Kreuzberg Jetzt - vom Kottbusser Tor - durch die Kreuzberger Straßen rüber ins Ballhaus Naunynstraße. Shermin Langhoff ist die Intendantin dieses inzwischen vielleicht berühmtesten Off-Theaters Berlins. Sie sitzt an einem langen Tisch in ihrem Büro im ersten Stock, lächelt und strahlt eine fast greifbare Energie aus. Das Theater hier im Kreuzberger Hinterhof, in dem ehemaligen Ballsaal, hat 99 Plätze und wurde 2008 eigens für Shermin Langhoff und ihre Projekte gegründet. Sie ist selbst ein Gastarbeiterkind. Kam, noch keine neun Jahre alt, mit Tante und Onkel in einem grünen VW-Bus in Nürnberg an: Meine Mutter ist eingewandert 1971 - und ich bin nachgewandert 1978. Das ist unsere konkrete Migrationsgeschichte. Später hat sie in die Theaterfamilie Langhoff eingeheiratet. Die Frage, warum das Theater es 50 Jahre lang versäumt hat, die Geschichten der Migranten in Deutschland zu erzählen ist ihr schon oft gestellt worden: Ach, das ist natürlich eine Komplexität. Zum einen ist Theater - und da braucht man sich nichts vormachen, wenn man auf die Publika schaut, sicher eine elitärere Kunst als das Kino und vor allem Fernsehen. Wir haben in der deutschen Bevölkerung - ich weiß nicht, sind es zwei Prozent? - Theatergänger, also es sind per se jetzt nicht die volksnaheste Kunstform. Das ist sicher ein Grund, ein anderer ist, dass die Disziplinen Film und Literatur sehr viel früher angefangen haben, sich dafür zu interessieren und zu fördern, beim ZDF war es das Kleine Fernsehspiel, das wahnsinnig viele junge Regisseure gefördert hat, ihre ersten Filme zu machen, wenn auch mit kleinen Budgets. Bei der Literatur gab es sehr früh schon Chamissopreis und ähnliche Förderinstrumente, beim Theater war das nicht so. Seit gut zehn Jahren bemüht sich Shermin Langhoff, das zu ändern. Sie hat erst an der Berliner Volksbühne, dann am Theater "Hebbel am Ufer" Projekte und Festivals kuratiert, um die Geschichten der Gastarbeiter und deren Kinder auf die Bühne zu bringen. Jenseits von Ehrenmord und Zwangsheirat. Dann wurde das Ballhaus Naunynstraße gegründet. Als Labor für "post-migrantisches Theater": Postmigrantisch definiert erstmal eine Kritik an der bisherigen Perspektive und Produktion und Rezeption. Das heißt, postmigrantisch ist die Kritik an dem, was bisher an Erzählung da war oder nicht da war - zu unserer heutigen diversen Stadtgesellschaft - so. Grundsätzlich ist es erst einmal die Kritik an einer fehlenden Narrativen - und an einer fehlenden Kulturpraxis. Am Anfang war es gar nicht einfach, die Lücke zu schließen. An den deutschen Theatern arbeiteten keine Türken oder Araber, weder als Autoren, noch als Regisseure, noch als Schauspieler. Als Shermin Langhoff begann "postmigrantisch" zu denken, da war Regisseur Nurkan Erpulat z.B. noch im Studium. Ebenso der Regisseur Nuran David Calis, der am Schauspiel Hannover mit seiner Interpretation von Wedekinds "Frühlings Erwachen" Furore machte. Man konnte so an einer Hand abzählen, wer so an akademischen Zugängen im Theater da ist - vielleicht waren es auch zwei Hände und die weit über die Republik verstreut. Sicher auch ein paar, die ich nicht kenne, und es war klar, das, was wir machen, ist ein Stück weit auch eine Pionierarbeit, eine Förderarbeit. Und um Pioniere zu finden, hat sich Shermin Langhoff auch außerhalb des Theaters auf die Suche nach - Mitstreitern gemacht. Indem sie sich sagte: Okay, wir haben sehr spannende Leute, die sind meist in anderen Disziplinen, das heißt, die sind die ältesten und weisesten in ihren Gewerken, aber mit Theater hatten sie bisher vielleicht außer als Zuschauer nichts zu tun und die lade ich ein, Theater zu machen. Vor allem Filmemacherinnen und Filmemacher. Da komm ich her, ich war lange Zeit unter anderem Fatih Akins Regieassistentin und Producerin und komme aus der Filmszene. Es ist im Übrigen falsch zu sagen, das Theater in Deutschland habe noch nie Geschichten über Migranten erzählt: Es war ein Mann aus der Filmszene, der seine Filme allerdings oft zuerst als Theaterstücke geschrieben hat, auf den sich Shermin Langhoff als Vorbild beruft: Rainer Werner Fassbinder. Wir stehen in einer Tradition von Fassbinder insofern, als dass sein Blick auf Deutschland auch ein anderer war und er sich aus einer kritischen, politischen Perspektive mit Deutschland beschäftigt hat. Insofern ist das eines unserer Vorbilder und nicht per se jemand türkischer Herkunft oder anderer..... Fassbinder hat sich zum Beispiel in "Angst essen Seele auf" oder "Katzelmacher" mit der ersten Generation der Gastarbeiter in der Bundesrepublik beschäftigt.. Uns interessiert die Auseinandersetzung mit der Realität dieser Gesellschaft - und das ist das Besondere an Städten wie Berlin, dass man die unglaubliche Chance hat, Protagonisten, die mit diesen Konfliktzonen subjektiv biografisch, künstlerisch verbunden sind, an einen Tisch, an ein Theater, auf eine Bühne zu bekommen. Das ist ein Reichtum, den hat man nicht überall auf der Welt, den hat man in Berlin. Shermin Langhoff und das Team des Ballhaus Naunynstraße haben die Schauspieler, die in Nurkan Erpulats Inzenierung von "Verrücktes Blut" glänzen, dann auch teilweise direkt aus Kreuzberg auf die Bühne geholt. Ausschnitt "Verrücktes Blut" "... dafür kommst du in den Knast, du Schlampe ... nee, nicht so! ich bin keine Schlampe! So, jetzt will ich von Euch wissen, wer immer diese primitiven Schimpfwörter auf die Innentafel schreibt ... wer war das? Wer? Wer einen Rock trägt ist also ein Schlampe? Ja? Mit der Geschichte von der Lehrerin, die ihre Schüler mit der Pistole in der Hand zur Schiller-Lektüre zwingt, hat das Ballhaus Naunynstraße bundesweit von sich reden gemacht. "Verrücktes Blut" wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen und zu den Mühlheimer Theatertagen, wo es den Publikumspreis gewann. Überhaupt strahlt der "postmigrantische" Trend von Berlin aus, auf die gesamte Republik, in Städte wie München, Stuttgart und Köln, Osnabrück, Braunschweig, Hannover oder...... Düsseldorf. In Düsseldorf hebt sich das Theater auf dem Gustaf Gründgens Platz sphärisch, fast wie eine Fatamorgana vor dem schimmernden Abendhimmel ab. Ein weißgraues Gebäude, erbaut Ende der 60er Jahre vom Architekten Bernhard Pfau. Ein Haus - ganz aus geschwungenen Linien. Als Gastspiel war dort im Herbst 2011 "Clash" zu sehen, das Nurkan Erpulat gemeinsam mit Dorle Trachternach für das "Junge DT", also das Junge Deutsche Theater in Berlin inszeniert hatte: Ausschnitt "Clash" Erst waren nur die Menschen da, dann kamen die Affen, plötzlich waren sie da, keiner hat es gemerkt.... Du erzählst wieder Geschichten! Hinter einem Gitter stehen auf der dunklen Bühne sieben junge Schauspieler, die erzählen, wie das war, als die "Affen" kamen - die Einwanderer. Sie wohnten erst in ihrem eigenen Viertel und machten die Drecksarbeit, dann aber gingen sie in die Schulen, lernten die Sprache - und dann begannen sie, Zitat: "zu schimpfen, wenn man von ihnen Gehorsam verlangte". Sie haben unglaublich viele Kinder bekommen. Sie haben uns irgendwann überholt ... und ich habe das erst gar nicht gemerkt ... dass einer jetzt Bundeskanzler ist! Ich wusste aber gar nicht, wer es vorher war, also egal, dachte ich.... Nurkan Erpulat und Dorle Trachternach spielen mit allen nur erdenklichen Klischees, mit dem eingeengten deutschen Blick auf die türkischen Fremden. Sie führen sie einerseits als Kiffer und Kleinkriminelle vor, andererseits als HipHop-Stars mit "street credibility" - und lassen durchklingen, dass beide Bilder schief sind. Und sie zeigen, wie tief diese Vorurteile und Stereotypen auch bei denen sitzen, die sich liberal geben. Türken sind wirklich meine Lieblingsausländer. Für mich spielt keine Rolle, woher einer kommt, sondern wohin einer will. - Haben Sie wirklich noch nie schlechte Erfahrungen gemacht? - Nein... Noch nie? Naja, (...) also, das will ich jetzt gar nicht so groß machen, ist ja auch nichts passiert ... da habe ich an der U- Bahnstation gewartet und da kamen so ein paar Türken ... Türken? Naja, die hatten schwarze Haare. - Ach so, na dann ... Wir können auch sagen: Menschen mit Migrationshintergrund ... - Das hört sich an wie eine Beleidigung! - Es waren jedenfalls keine Deutschen. - Woher wollen Sie wissen, dass es keine Deutschen waren? - Gut, auf jeden Fall kommen diese Menschen ... Aber was ist denn jetzt eigentlich das politisch korrekte Wort für Türke? Wenn diese türkisch aussehenden Menschen dann auch noch Ali heißen, soll man das aussprechen oder bestätigt man damit nur ein Klischee? Intendant ist in Düsseldorf seit 2011 der Schwede Staffan Valdemar Holm. Er residiert in seinem großen, leeren Intendantenzimmer. Auch innen hat der Bau etwas schwungvolles. Holms Zimmer liegt sozusagen in der Kurve. Licht fällt durch elf aneinandergereihte Fenster. Irgendwo ganz hinten steht ein klitzekleiner Schreibtisch mit Computer, doch der Intendant sitzt jetzt gleich neben der Tür an einem großen Konferenztisch. Warum hat er Nurkan Erpulat nach Düsseldorf geholt - explizit als Protagonisten einer "postmigrantischen" Tradition? Holm ist ein Mann mit feinem Humor, immer bereit, ein kleines Lächeln in den Augen glitzern zu lassen. Er macht gute Vorstellungen, er ist gut. Er ist hier als guter Regisseur engagiert, natürlich hat er Vorstellungen gemacht, wie "Verrücktes Blut", die handelt ja auch um Integrationsfragen, kann man sagen - aber er will nicht nur da bleiben. Also in dieser Branche bleiben, er will sich als Regisseur auch mit anderen Fragen gestalten. Staffan Valdemar Holm will Nurkan Erpulat nicht auf die Rolle des türkisch-deutschen Regisseurs festlegen. Vielleicht weil es auch in seinem eigenen Leben keine festen Zuschreibungen gibt. Er ist in Südschweden aufgewachsen, hat in Dänemark, in Kopenhagen gelebt, spricht Dänisch, dazu Englisch und Deutsch. Er ist selbst ein Migrant. Auch wenn er anders gesehen wird: Ich bin ja hier in Deutschland ein Premiumklasse Einwanderer - so ist es. Daran muss man sich erinnern.... Auch als Migrant "erster Klasse" liegt Holm daran, den Düsseldorfern zu zeigen, dass sie in einer Stadt voller Einwanderer leben. Daher hat er für jeden Monat eine Gesprächsrunde mit dem Titel "Gebrochen Deutsch" auf den Spielplan gesetzt. O-Ton Band Ton 20 C 1 4:00 Ich hoffe, dass es unterhaltend und sinnvoll wird. Und vielleicht ist es auch so, dass das Publikum etwas über sich selbst wird verstehen können oder entdecken können. Das erste Gespräch findet an diesem Abend statt. Nebst dem Intendanten kommen lauter Düsseldorfer auf die Bühne: Ein kanadischer Eishockey-Trainer, ein italienischer Tänzer, eine bosnische Taxifahrerin, eine Kostümassistentin aus Georgien. (letzte Klänge eines Düsseldorf-Lieds...)... "sorry, aber das musste jetzt sein..." Holm: Herzlichen Guten Abend zu gebrochen Deutsch.... ..was folgt, ist ein sehr persönliches Gespräch über die Erfahrungen der Podiumsteilnehmer, die alle eines Tages in Düsseldorf ankamen, hier eine neue Heimat zu suchen. Wie der Tänzer Morgan Nardi, der seit 16 Jahren in Deutschland lebt. Er hat Italien verlassen, als Berlusconi an die Macht kam und auch jetzt, nach dem Machtwechsel in Italien, möchte er nicht zurück: Also ich habe angefangen mich wohlzufühlen als Künstler und als Bürger gleichzeitig. Und ich konnte das alles vergleichen, was in Italien geht. Und deshalb habe ich angefangen zu sagen - hier ist gut - das und da ist nicht gut - das. Und ich habe mich immer mehr distanziert von meinem Land. Im Zuschauerraum des gut besetzten Kleinen Hauses des Düsseldorfer Schauspielhauses: Genau die Gesichter, die man hier erwarten würde. Theaterpublikum aus dem Bildungsbürgertum - viele sind vor allem gekommen, um den neuen schwedischen Intendanten zu erleben - und bekommen statt dessen eine Lektion in Sachen Heimat: Ich fand es sehr interessant, ich bin Alt-Düsseldorferin, ich fand es interessant, die Zugezogenen zu erleben, welchen Blick die auf die Stadt haben. Das Überraschendste war, dass man seine Heimat, mit der man verwurzelt ist, auch komplett hinter sich lassen kann - und auch eine neue Heimat dann anzunehmen - dass Heimat nichts Feststehendes ist, sondern was sich anpassen kann. Musik - aus türkischem Konzert in Freiburg - eine Weile stehen lassen, dann drunter lassen Solche Klänge einer türkischen Band entzückten unlängst das Theaterpublikum in Freiburg. In einer höchst-bürgerlichen Metropole mit einer schmucken historischen Altstadt, in die amerikanische oder japanische Touristen kommen, um Weißburgunder zu trinken und badische Ochsenbrust zu essen. Freiburg wirkt auf den ersten Blick äußerst homogen, reich - und sehr deutsch. Doch auch hier sind fast 30 Prozent der Bürger Menschen mit Migrationshintergrund. Und dank Intendantin Barbara Mundel öffnet sich auch hier das Theater dem gesellschaftlichen Umbruch - selbst wenn es im Ensemble kaum einen Schauspieler mit ausländischem Background gibt. Barbara Mundel hat zum 100. Geburtstag des Theaters Freiburg im Mai 2010 auf der Jahrestagung des Deutschen Bühnenvereins eine Rede gehalten, mit der sie ihre Kollegen in der Republik bundesweit beeindruckte. Tenor: Wenn ein Drittel der Bewohner unserer Städte nichtdeutscher Herkunft ist, wenn über die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren aus Migrantenfamilien stammen, dann muss sich auch auf den Bühnen etwas ändern. Wir hatten z.B. neulich einen türkisch-armenischen Choreografen und Tänzer zu Gast - der bei uns artist in residence war - in unserer kleinen Dependance im Stadtteil Haslach - genannt der Finkenschlag, nach der Straße - Finkenschlagstraße. Es gab ein Konzert, das live nach Istanbul übertragen wurde. - Barbara Mundel will Berührungsängste ernst nehmen und das Theater zu einem Ort machen, an dem sich Menschen kennenlernen, die sich sonst fremd bleiben würden. Es kam zu Diskussionen, zwischen Istanbul, den in Haslach spielenden Künstlern, den Gästen die in der Gaststätte normalerweise verkehren - das war unglaublich. Und ich glaube diese Art von Begegnung, das verstehe ich darunter, wenn ich sage - da liegt eine große Chance ... für Leute, die sich sonst in der Türkei so nie begegnet wären, das ist ja ziemlich absurd ... oder? (lacht) Begegnungen schaffen - das ist das eine, was Barbara Mundel will. Das andere ist - gesellschaftliche und politische Teilhabe zu ermöglichen. Wir können nicht zugucken, dass so viele Menschen nicht an einem gesellschaftlichen Diskurs, an der Auseinandersetzung mit unserer Kultur mit unserem politischen Vorgängen - nicht teilnehmen, warum auch immer, da gibt es ja sehr unterschiedliche Gründe, über die man reden kann, aber ich denke, das Theater ist ein Ort, also die großen subventionierten Häuser, ein Ort, der eine solche Plattform bieten kann. Der Graben zwischen den Deutschen, die erfolgreich sind, und denen, die es nicht sind, verläuft nicht entlang ethnischer, sondern entlang sozialer Trennungslinien. Wenn es um Teilhabe geht, geht es nicht nur darum, Migranten zu erreichen, es geht darum, all diejenigen zu erreichen, die arm sind, bildungsfern, sozial schwach. Barbara Mundel zitiert gerne den Berliner Migrationsforscher Mark Terkessidis - der in seinem Buch "Interkultur" ein Umdenken fordert. Das Konzept der "Integration", sagt er, sei überholt, "Integration" führe nicht mehr weiter. Mark Terkessidis sieht kein einheimisches, homogenes "Wir" mehr, an das sich "Zuwanderer" anpassen könnten oder sollten. Seine Forderung: Statt "Integration" - "Innovation" für das Ganze. Wenn das Theater Innovation für das Ganze, für die Gesellschaft, will, dann muss es, findet Barbara Mundel, raus aus dem Musentempel, hinein in die Stadt. Und so ist das Freiburger Ensemble mit einem Container durch die Stadtteile getingelt und spielt jetzt eben in Haslach, um näher an das Publikum heranzurücken. - Was Barbara Mundel aber gleichzeitig auch als paradox empfindet. Denn das Freiburger Theater, ein sehr repräsentativer Bau aus dem Jahr 1910, mit seinen fünf großen Eingangstüren und den fünf großen Fenstern darüber, liegt ja mitten im Zentrum der Stadt, ganz nah am Bahnhof, gegenüber der Universität. Wir versuchen immer wieder auch zu sagen, dass dieser Ort, in der Mitte der Stadt ein Ort ist, der für alle da ist. Das aber sehen nicht alle so. Die Menschen haben in Freiburg, wie in vielen anderen Städten in Deutschland auch - Schwellenangst: Das war eine der verblüffendsten Aussagen, die Lehrer mir gegenüber gemacht haben, und wir reden jetzt über Freiburg, nicht über eine Großstadt, in der die Probleme viel offensichtlicher sind, dass Lehrer gesagt haben, in einer Schule, die Luftlinie vielleicht einen Kilometer entfernt war, dass diese Kinder in dieser Grundschule dieses Zentrum nie betreten. Dass das Theater zu betreten ein Riesen-Akt ist. Wir haben ein großes Tanzprojekt gemacht mit mehreren Schulklassen über sechs Wochen, in denen die auch gar keine Schule hatten und wirklich nach kurzer Zeit dann auch im Theater geprobt wurde und ich glaube, das kann auch ein wichtiger Punkt sein - zu sagen: Das Zentrum ist auch Euer Ort. Und ihr könnt daran teilnehmen und ihr könnt es sogar mit-gestalten. Musik aus Tanzprojekt - geht über in Straßenatmo Zurück nach Berlin. Zurück in den Bezirk Kreuzberg, in dem über die Hälfte der Bewohner aus anderen Ländern stammen, vor allem aus der Türkei. Seit Jahrzehnten wird hier das Zusammenleben mit den einheimischen Deutschen, mit den in Kreuzberg sogenannten "Bio- Deutschen" geprobt. Immer herrscht hier buntes Treiben, manchmal auch konfliktreich. Der Platz am Kottbusser Tor, von den Kreuzbergern auch "Kotti" genannt, gilt als beliebter Ort für Dealer. In manchen Teestuben und Vereinsheimen trifft man nur Männer. Viele Frauen tragen auf der Straße Kopftuch und auch schon mal Schleier. Gemüsehändler, Döner-Restaurants, aber auch Cafés mit türkischem Gebäck prägen das Straßenbild. Und hier, in einer Seitenstraße und doch mittendrin, erkundet das Ballhaus Naunynstraße die Möglichkeiten des "postmigrantischen" Theaters. An diesem Abend steht "Die lange Nacht der Generationen" auf dem Programm. Eine Trilogie unter der Regie von Lukas Langhoff - Ehemann der Ballhaus Naunynstraße-Chefin Shermin Langhoff. In "Pauschalreise - Die Erste Generation" geht es um diejenigen Gastarbeiter und Einwanderer, die in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland kamen, in "Klassentreffen - Die Zweite Generation" um deren Kinder und in "Ferienlager - Die Dritte Generation" um die Enkel. Ausschnitt aus "Die erste Generation" Wir sind seit 50 Jahren hier, unsere Familie hat 40 Mitglieder, aber es befindet sich nicht einer darunter, der anders wäre als die anderen, nicht einer, weder einst noch jetzt, der heldenmütig für eine allgemeine Sache eingetreten wäre. Kein einziger Gelehrter, kein Künstler. Es wird nur gegessen, getrunken, geschlafen.... und andere werden geboren, die auch wieder essen, trinken und schlafen. Ins Ballhaus Naunynstraße kommen zu etwa 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund in die Vorstellungen. Viel mehr, als in die anderen Theater der Republik. Dennoch: Auch hier ist das Publikum überwiegend deutsch-deutsch - und durchaus überrascht, über das, was es erfährt. Es bringt mich zum Nachdenken, weil ich sonst kaum Verbindung zu türkischstämmigen Bürgern habe. Ich finde das hochinteressant, und ich finde dass wir auch in Zukunft so damit umgehen müssen, weil wir dann alle offener werden. Lukas Langhoff freut sich: Ein kleiner Erfolg, wenn die Theaterbesucher so reagieren. Er sitzt in einer kleinen Garderobe, neben ihm schwimmen in einem Aquarium ein paar Goldfische. Lebende Requisiten seiner "Generationen"-Trilogie. Auf der Bühne schwimmen sie in einem Glas als ironischer Kommentar zum deutschen Blick auf die fremden Essgewohnheiten: Wollen die bösen Fremden womöglich gar die hübschen Zierfische essen? Sie tun es dann doch nicht. Aber die Gastarbeiter - und auch ihre Kinder und Enkel - leben und denken anders. Das wird an diesem Theaterabend klar. Und sie sind geprägt von ganz eigenen Erfahrungen. Lukas Langhoff vergleicht aus seiner Sicht die drei Generationen: Das sind sehr unterschiedliche Erfahrungen, die die gemacht haben. Von einem Dorf ausgehend kommt man in eine Großstadt und wird da in einen Großstadtkontext reingebeamt mit den ganzen Möglichkeiten und das war wohl auch das Problem, dass man so viele Möglichkeiten hatte - und die vielen Möglichkeiten in Anspruch genommen werden wollten, weil da ein Nachholbedarf war: Anschaffen, Arbeiten, ist das Ziel, kaufen und so - det sind viele Zerreißproben, glaube ich, seelische Zerreißproben, die da zu sehen sind, zwischen den Generationen, das ist so das Stärkste, was ich mitbekommen hab. Um aus diesen Erfahrungen Theater zu machen, hat Lukas Langhoff durchaus Basisarbeit leisten müssen. Im Ballhaus Naunynstraße arbeiten ja überwiegend Laien. Hier kommen die Projekte aus der Gruppe, die kommen aus dem Menschen, die Vorschläge, die Themen aus dieser Straße, das hat man selten, dass das aus dem Bezirk, aus dem Moment heraus geschieht und nicht geplant ist oder vorgeschlagen ist oder analysiert. Wir versuchen das nicht zu verwalten, sondern da sein zu lassen, leben zu lassen, das bedeutet auch auf Sprachbildung zu verzichten. Weil das ist ja eine Sprache, die die hier sprechen, wir sollten uns mehr für ihre interessieren, als sie zu zwingen, unsere hochdeutsche Sprache anzunehmen, das ertragen viele Menschen sehr schwer, besonders aus dem Bildungsbürgertum, besonders aus der Kulturmaschinerie, dass da anstatt "ich" "isch" gesagt wird, daran scheitert oft schon mal die Wahrnehmung dessen und - dem verweigert man sich hier und sagt, das ist halt die Sprache, ich finde die gut, mich interessiert die! Der Regisseur Lukas Langhoff macht eine Pause, schaut auf das Aquarium, einer der beiden Goldfische erwidert den Blick, scheint ihm genau zuzuhören. Die ersten beiden Stücke der Trilogie hatten 2009 Premiere und wurden auch 2010 immer wieder gezeigt - genau zu der Zeit, als die Debatte um Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" ihren Höhepunkt erreichte. Sarrazin sieht die kulturelle Identität Deutschlands gefährdet, auch die deutsche Sprache. Er fordert eine restriktive Einwanderungspolitik und dass sich Muslime besser integrieren und bekam dafür auch noch breite Zustimmung. Für Lukas Langhoff zeigt sich hier etwas Wichtiges: Davor da war das so eine undefinierte Masse, da zeigt sich so ein reaktionäres Bildungsbildungsbürgertum. Das war das einzig Gute, dass man das Feindbild jetzt besser kennt. Jetzt weiß man auch ungefähr, gegen wen man ist. Und das Schönste war immer so der Satz: Naja, so ein bisschen recht hat er ja. (lacht) Das hat mir gut gefallen. Aber das hat gut getan, ick wees jetzt - die gibt es und ... ok, denen muss man helfen! (lacht) Dass die Migranten uns die Arbeit weg nehmen, dass sie kriminell wären, das ist eine dumme Pauschalisierung und geht nicht auf die Ursachen zurück, und interessant ist - die Frage, warum benimmt sich wer wie und was macht das mit den Menschen, in dem System zu leben, unter bestimmten prekären Lebenssituationen - darum geht es ja eigentlich nur, die Frage, was passiert mit Hartz IV, was passiert mit dir psychologisch, was macht das mit dir. Und das ist unabhängig von der Herkunft. Wenn man das noch an der Herkunft fest machen will, dann hat man wirklich in Zeiten der Globalisierung ein Problem, weil das hat nüscht mit der Herkunft zu tun. Die Depressionen eines Arbeitslosen - die sind alle gleich. Für das Stück "Klassentreffen - Die 2. Generation" hat Lukas Langhoff mit sehr erfolgreichen Deutschtürken gearbeitet und ihre Geschichten auf die Bühne gebracht. Um den gängigen Klischees etwas entgegenzusetzen: Das ging mir irgendwie auf die Nerven: Ständig waren das die asozialen Problemtürken, das ging ja überhaupt nicht mehr - und dann haben es die Türken auch noch gespielt, nur um auf der Bühne zu stehen, also, das Klischee auch noch befeuert - det war mir immer zu blöd, ob im Hau oder woanders, immer nur Problemtürken - die ich gesehen habe. Und da habe ich Shermin gebeten, die sechs erfolgreichsten Türken Berlins anzusprechen, einfach dass man mal guckt, was für eine Fallhöhe da eigentlich ist - was das für ne Geschichte hat! Ausschnitt "Klassentreffen die 2. Generation" Ich esse ja kein Schweinefleisch. Auch wenn ich nicht so aussehe, ich versuche etwas gläubig zu sein. Wenn ich bei den Türken zu Besuch bin, komme ich nie hungrig nach Hause, bei den Deutschen passiert mir das öfter. (Lachen) Eine der Protagonistinnen in Lukas Langhoffs Stück ist Dilek Silman. Sie ist eigentlich Polizistin, erzählt auf der Bühne - ihre Lebensgeschichte und auch, wie steinig der Weg zur Polizei war. Später in der Pause, im Garten des Ballhaus Naunynstraße, ergänzt sie: Na klar, als ich mich damals 1993 beworben habe, da waren wir vereinzelt Ausländer bei der Polizei - ich hab mir auch gar nicht ausgemalt, was mich erwartet. Ich wollte schon als Kind Polizistin werden und habe mich beworben weil der Beruf mich interessiert hat, und als ich dann gesehen habe, was mich erwartet, da habe ich richtig Angst bekommen, damals. Heutzutage bin ich entspannter, bin jetzt schon seit 18 Jahren bei der Polizei, deswegen bin ich viel entspannter als früher. Dilek Silman trinkt einen Schluck Wasser, schüttelt ihre langen braunen Haare, lächelt. Sie ist froh über den Weg, den sie gegangen ist, obwohl er eigentlich für sie nicht vorgesehen war. Ich bin hier geboren 1974, meine Eltern sind 1969 als Gastarbeiter gekommen(...) und für meine Eltern waren wir halt auch Gastarbeiterkinder und wir sollten halt Jobs annehmen in der Reinigung, in der Firma, ich wollte das gar nicht, ich wollte so sein, wie die anderen. Ich war ja auch hier in der Schule, hatte auch einen Abschluss, da habe ich gesagt, warum soll ich in der Reinigung enden? Ich kann doch genauso Jobs machen, wie die anderen Deutschen auch! Und hab mein Glück halt bei der Polizei versucht und hat auch geklappt. Jetzt fährt Dilek Silman also im Polizeiwagen Streife, aber dann und wann nimmt sie sich frei, um Theater zu spielen. Die Produktion "Klassentreffen - Die 2. Generation", in der z.B. auch der Berliner Grünen-Politiker Özcan Mutlu mitspielt, ist sehr gefragt, war bereits in Istanbul zu Gast, in München, Hamburg und New York. Wir, die zweite Generation, waren die Leidtragenden, denn meine Eltern, die wollten ja immer Geld verdienen und zurück gehen in die Türkei - und jedes Jahr haben wir unsere Sachen gepackt - und rüber in die Türkei, da waren wir dann zwei Monate, und dann haben es sich die Eltern doch anders überlegt, und dann kamen wir zurück, wir hatten nicht mal Möbel in der Wohnung, weil meine Eltern jedes Mal gesagt haben - so, jetzt gehen wir zurück, jetzt gehen wir zurück - und mit 18 hab ich gesagt - so, jetzt geh ich nicht mehr zurück! Ich werd mich bewerben und werd meine Zukunft hier vorbereiten und nicht in der Türkei. Weil das war immer so ein Hin und Her für uns, und wir wussten gar nicht, ob wir in die Türkei gehören, nach Deutschland gehören ... Das war wirklich für uns - wir waren in so einem Zwiespalt. Zwiespalt. Zwischen. Heimat ist ein Begriff, der viele Bedeutungen haben kann. Und hier, im Garten des Ballhaus Naunynstraße ist zu erleben, wie das ganz konkret funktioniert: Anzuerkennen, dass man auch im "Zwischen" zu Hause sein kann. Auch wenn man Sehnsucht hat - wie es vor allem bei den Älteren durchklingt. Idil Lacin spielt in der Generationen-Trilogie, genau wie Dilek Silman. Seit 50 Jahren lebt sie in Deutschland, kam 1962, sie war die Einzige in ihrer Familie, die damals ausgewandert ist. Ich war ein wohlbehütetes Kind, ich habe meine Familie geliebt und die haben mich auch geliebt, aber das war ein Drang nach Freiheit, nach selbstbestimmtem Leben und dass man halt auch mal weg ist und selbst entscheiden kann. Und die gesamte Familie war ziemlich entsetzt, dass ich diesen Schritt gemacht habe und das ist auch immer eine Mischung von Neid und von meinen Geschwistern dass ich den Schritt getan habe. Ein bisschen Neid und Ärger und die waren sauer auf mich, - ich habe die ja verlassen. Nicht leicht, mit diesen Emotionen umzugehen, das merkt man ihr an. Jeden Sommer fliegt Idil Lacin zurück in die Türkei, aber ihr Leben lebt sie jetzt hier in Kreuzberg, sie ist Sozialpädagogin. Jetzt gesellt sich Serpil Simsek Bierschwale zu uns. Auch sie spielt in dieser "Langen Nacht der Generationen" mit. Sie ist Schauspielerin. 1980-81 hat sie bereits mit Peter Stein an der Berliner Schaubühne gearbeitet. Stein hatte 1979 ein Türkisches Ensemble gegründet. Damals, sagt Serpil Simsek Bierschwale, hatte ein solches Projekt noch keine Zukunft - jetzt schon. Also, wie Shermin sagt, das gefällt mir so sehr! Wie nennt sie? Postmigrant! Was mir gefällt in diesem Gebäude, in diesem Haus, ich übertreibe nicht - mindestens über 20 Nationalitäten hier arbeiten! Vom Brasilianer, bis zum Gitane und Kurden, Armenier, das gefällt mir sehr! (...) Hier darf man nicht - ich bin Türkin, du bist Brasilianer - nein, wir sind ein Volk, wir sind alle Berliner hier und das gefällt mir sehr! "Berliner" ist auch Ozan Aksu, einer der Protagonisten in "Ferienlager - Die Dritte Generation", in dem die Enkelkinder der eingewanderten Gastarbeiter im Fokus stehen. Der 20-Jährige sitzt nach der Vorstellung ein paar Straßen weiter in einer Kneipe. Seit wann er Theater spielt? Seitdem ich 14 bin circa, oder 13 weiß nicht genau, aber das hat sich halt so ergeben. Aus Zufall, aus Zwang. Na, ja, das war so ne Art Bestrafung halt für uns, weil wir viel Scheiße gebaut haben - wir haben die Pädagogen beschimpft, die haben uns dann zum Rap geschickt, vom Rap zum Theater - ... - und das war so eine Art Bestrafung, die sich dann ausgezahlt hat für uns - halt. Ozan Aksus Großvater ist in den 70er- oder 80er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, so genau weiß er das grad nicht, aber dann hat der Opa die Familie nachgeholt. Nach Berlin-Kreuzberg. Vielleicht geht Ozan Aksu eines Tages zurück in das Land seiner Vorfahren: Wenn ich vielleicht mal 60-70 Jahre alt bin, so meine letzten Jahre genießen will, an der frischen Luft und in der Natur, in meinem Dorf, aber sonst - ich bin hier geboren, ich bin dran gewöhnt hier zu leben. Das ist meine Heimat, meine 2. Heimat - oder meine Heimat, ich weiß es nicht, man kann sich auch nicht so recht entscheiden, es ist so ein Ding dazwischen. Das Ballhaus Naunynstraße ist ein in Deutschland so bisher einzigartiges Labor. Möglich gemacht durch die Förderung des Berliner Senats. Als es 2008 gegründet wird, lädt Shermin Langhoff, die Künstlerische Leiterin, zu einem Gang durch anatolische Kaffeehäuser in Kreuzberg ein, der 2011 wiederholt wird. Das Theater-Publikum findet sich in Cafés und Kulturvereinen wieder, die es sonst kaum betreten würde - weil sie hermetisch wirken, weil darin eine Sprache gesprochen wird, die es nicht versteht. Junge türkisch-deutsche Regisseurinnen und Regisseure haben für die jeweiligen Cafés kleine Performances erarbeitet - in Kooperation mit den Männern, die hinter dem Tresen arbeiten oder hier ihren türkischen Tee trinken. Im Publikum ist heute auch Gweng Gunaltai mit auf dem Weg. Er kommt aus der Türkei, lebt seit 10 Jahren in Deutschland, hat hier Produktdesign studiert, blieb aber immer nur mit den türkischen Freunden im Kontakt, die gemeinsam mit ihm zum Studieren aus der Türkei gekommen waren. Dieser Theaterparcours führt in eine fremde Welt, meint er, - der sich in dieser Kreuzberger deutsch-türkischen Kultur nicht aus auskennt: Es hat mich zum Nachdenken gebracht, wenn man im Nachhinein kommt, dann ist vieles schon vorbereitet, und man hat eine Gemütlichkeit, aber in diesen Cafés hat man gesehen, durch die kleinen Geschichten, kurzen Geschichten, was für eine Evolution das hatte und wie die türkische Kultur hier durch den deutschen Einfluss ein bisschen so gefiltert und - ja, verfeinert, nicht - aber so ein Hybrid entsteht. Eine Hybrid-Kultur? Wie würde er die beschreiben? Bisschen in sich verschlossen, ein wenig traurig, ängstlich, und irgendwie nicht so ganz weltoffen, vielleicht ist das eine böse Äußerung, aber fand ich so - auch wenn ich so in den Cafés war - obwohl ich selber Türke bin hatte ich das Gefühl, oh, ich bin nicht so ganz am richtigen Ort, aber das ist auch ein Vorurteil - aber man hat das Gefühl, man gehört nicht dazu und man wurde auch so beobachtet von denjenigen, die in den Cafés waren, als ob wir irgendwie gleich so aus dem All gekommen wären.... Man fühlt sich ein bisschen wie ein Alien. (lacht) Nach dem Weg durch vier echte Cafés ist die letzte Station das Café N.N., ein temporäres Café, extra für diesen Parcours in Szene gesetzt. Männer sitzen an kleinen Tischen, sprechen laut in einer Kunstsprache, trinken türkischen Tee, spielen Karten. Die Atmosphäre wirkt aufgeladen, fast gefährlich. Plötzlich stehen die Männer auf, Schuberts "Winterreise" erklingt aus Lautsprechern, sie bewegen ihre Münder, als würden sie singen - und dann ziehen sie sich aus. Bis sie nackt sind. Schubert: "Fremd bin ich eingezogen - fremd zieh ich wieder aus.." Nackt und bedrohlich kommen sie auf das Publikum zu. Die Zuschauer wissen nicht genau - was jetzt passiert, es ist eine verunsichernde Situation. Dann fordern die Männer das Publikum unmissverständlich auf - das Café zu verlassen. Eine Inszenierung, die also mit den Ängsten der deutschen Zuschauer spielt - und mit der oft beschworenen Gefahr einer "Überfremdung". Was würde passieren, wenn wir den Schritt in die "Parallelgesellschaft" hineinwagen würden? Erwarten uns nackte, fremde Männer, Wilde, die uns bedrohen? Bis zu diesem Moment hatte der Theaterparcours in Kreuzberg eine optimistisches Bild von der multikulturellen Gesellschaft gezeichnet. In den ersten vier Stationen des Rundgangs durch die Kreuzberger Cafés war gezeigt worden, dass man sich zwar selbst fremd vorkommen kann und dass die Männer in den Cafés einen mustern, als käme man aus dem All, dass Annäherung aber möglich ist und bereichernd sein kann. Nun, am Ende, dieser starke Abschluß. Ausgedacht hat sich den kein anderer als Nurkan Erpulat, der Regisseur aus Ankara, der in Berlin studiert hat und von sich sagt: Ich bin kein Migrant, ich bin Ausländer - und der eine klare Forderung hat: Normalität soll es geben, sonst wird in Deutschland keine Ruhe sein. Gucken Sie mal nach Paris, England. Normalität müssen wir schaffen! Und Normalität - so scheint Nurkan Erpulat zu sagen - kann es in Deutschland nur geben, wenn man den Menschen in diesem Land ihre ärgsten Ängste deutlich vor Augen führt. Indem man zum Beispiel eine Gruppe von Theaterbesuchern von nackten, fremden Männern aus einem türkischen Café vertreiben lässt. Man kann nur hoffen, dass er den Eingeboren auch weiterhin den Spiegel vorhält. Denn das ist wohl die schärfste Drohung, die die Akteure des so genannten postmigrantischen Theaters bereithalten: dass sie einfach abreisen, wenn sich in Deutschland nichts ändert ........ Ihr müsst Normalität schaffen, ich bin vielleicht morgen auch weg hier. Die Türkei ist auch ein sehr sonniges Land! - ENDE - 26