COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Tobias Wenzel Deutschlandradio Kultur Literatur Dienstag, 09.10.2007, 19.30-20.00 Uhr Vom berühmten Romancier zum leisen Dichter Michel Butor 50 Jahre nach "La Modification" von Tobias Wenzel "A l'écart", "im Abseits", steht auf dem Schild vor einem Haus im französischen Alpenort Lucinges. Hier lebt und arbeitet der 81jährige französische Schriftsteller Michel Butor. Vor genau 50 Jahren stand Michel Butor alles andere als im Abseits. Am 12. Oktober 1957 erschien sein Roman "La Modification" (deutsch: "Paris- Rom oder Die Modifikation"). Als herausragendes Beispiel des Nouveau Roman wurde das Buch Weltliteratur. Darin reist ein Mann mit dem Zug von Paris nach Rom, um dort endgültig mit seiner Geliebten zu leben, ändert aber auf der Reise seine Meinung. Wer heute "Butor" hört, denkt unwillkürlich an "Die Modifikation". Und das, obwohl sich Michel Butor schon seit Jahrzehnten der kleinen Form zugewandt hat, essayistischen Betrachtungen ebenso wie Gedichten. Inwiefern ist "Die Modifikation" noch heute bedeutend? Und wie blickt der Autor selbst auf sein Werk zurück? Eines ist sicher: Schon in der "Modifikation" selbst sind Michel Butors eigene Wandlungen vorgezeichnet: die vom Romancier zum reisenden Essayisten und leisen Poeten, zum Dichter im Abseits. Vorbemerkung: Zu jedem Lektüre-Zitat ist die Originallesung des Autors auf Französisch vorhanden und sollte vorab kurz eingespielt werden, dann unter der Übersetzung verschwinden Zusätzlich zur Anfangs- und Schlussmusik (= Musik 1) soll eine Erkennungsmusik (=Musik 2) für die Lesepassagen der Modifikation verwendet werden. S. Musiknachweise am Ende des Manuskripts. ___________ Musik O-Ton: Michel Butor "Ich mag es sehr, wenn man mir gegenüber auch andere meiner Werke erwähnt. Aber ich verleugne Die Modifikation überhaupt nicht. Das Buch war wichtig für mich, und ich bin sehr froh, dass man noch immer davon spricht." O-Ton: Friedrich Wolfzettel "In meinen Augen ist sein Rückzug in diese Hochgebirgswelt Savoyens, gewissermaßen eine Art von Eremitendasein, fast symbolisch geworden. Denn er hat ein immenses Werk verfasst, das auch in Frankreich nur wenige Leser hat und wenig bekannt ist." O-Ton: Gerda Scheffel "Andererseits hat er auch etwas ungeheuer Rabelais'sches, also mit ihm Essen gehen! Oder auch allein sein Lachen! Und diese Riesen-Spielfreude!" Musik Atmo: Schritte Sprecher: Lucinges, ein kleiner Ort in den französischen Alpen, nur wenige Kilometer von Genf entfernt. Ein asphaltierter Weg schlängelt sich vorbei an der Dorfkirche, hoch zum letzten Haus am Hang. Es ist unverputzt, gebaut aus großen Natursteinen. "A l'écart" hat der Besitzerin in weißer Handschrift auf ein Holzschild im Garten geschrieben und so dem Haus einen Namen gegeben: "Im Abseits". Das Gatter ist verschlossen. Aber der Hund, ein Golden Retriever, hat den Besuch schon bemerkt. Atmo Bellen O-Ton: Michel Butor "Bonjour! Voilà, entrez. Oban, à la maison!" Sprecher: Michel Butor, ein kleiner Mann mit Halbglatze und einem imposanten weißen Bart, grüßt freundlich, öffnet die Pforte und schickt den Hund mit dem Namen eines schottischen Whiskeys zurück ins Haus. Der Schriftsteller trägt eine Latzhose aus blauem Jeansstoff, eine Norwegerstrickjacke und graue Filzpantoffeln. 8) O-Ton Butor (ohne Übsetzung) "Il y a du vent !" Sprecher : Es weht ein starker Wind. Michel Butor führt seinen Gast deshalb schnell ins Haus und dann über eine Holztreppe in sein Arbeitszimmer im ersten Stock. Atmo Treppe Sprecher: Hier gibt es kaum einen freien Flecken an der Wand. Fotos, Zeichnungen, über der Tür ein Fisch aus Papierschnipseln, und auf dem Boden und den drei Tischen Bücher, Manuskriptstapel, Postkarten und bunte Klebestreifen. Michel Butor nimmt hinter seinem Holzschreibtisch Platz, auf einem Stuhl, der, ebenso wie der Stuhl auf der anderen Seite des Tisches, durch den barocken Schwung, die Goldlasur und den roten Bezug an einen Thron erinnert. Eine Assoziation, die den 1926 geborenen Butor amüsiert: Atmo Lachen Sprecher: Im Alter von 31 Jahren, am 12. Oktober 1957, veröffentlichte Michel Butor einen Roman, der ihn national und international bekannt machen sollte: La Modification - der spätere deutsche Titel: Paris - Rom oder Die Modifikation. 50 Jahre später denkt Michel Butor darüber nach, wie er heute zu diesem Werk steht, das in den Köpfen der Menschen genauso mit seinem Namen verknüpft ist wie der Faust mit Goethe und Madame Bovary mit Flaubert. O-Ton: Michel Butor "2006 habe ich den ersten Band der Gesamtausgabe meiner Werke redigiert. Da habe ich auch Die Modifikation noch einmal sehr genau gelesen. Mir fiel auf, dass das Buch kaum gealtert ist. Natürlich schreibe ich heute nicht mehr so wie damals. Aber Die Modifikation hat wohl ihre Aktualität bewahrt. Das hat mich beruhigt." Sprecher: Rückblick: 1956. Gerda und Helmut Scheffel, beide studierte Romanisten, leben in Paris und sind zu einer Redaktionssitzung der französischen Zeitschrift Argument eingeladen. Gerda Scheffel erinnert sich in ihrem Frankfurter Haus: O-Ton: Gerda Scheffel "Da kam also ein junger Mann im Staubmantel rein. Und uns fiel nur auf, dass der jedes Mal, wenn es konkret wurde, wandten sich alle Blicke an ihn. Und er, ich will nicht sagen: wusste alles. Aber jedenfalls kam da immer etwas sehr Präzises. Und siehe da, es war eben Michel Butor, den wir ein bisschen dem Namen nach kannten. Und dann haben wir Emploi du temps gekauft und waren dann also ganz fasziniert." Sprecher: Schnell wird dem Übersetzerehepaar klar: Es will Michel Butors zuletzt erschienenen Roman L'emploi du temps - Der Zeitplan - ins Deutsche übersetzen. Gemeinsam. Denn die beiden Übersetzer arbeiten immer zusammen, wenn auch Helmut Scheffel im Falle Butors die Hauptarbeit leistet. Fortan wird er sein deutscher Übersetzer sein. Im Frühjahr 1957, ein halbes Jahr vor dem Erscheinen der Modification, besucht Michel Butor Gerda und Helmut Scheffel in ihrer Pariser Studentenwohnung. 50 Jahre später schlägt Gerda Scheffel ihr altes Tagebuch auf. Eintrag vom 11. April 1957: O-Ton: Gerda Scheffel "Er ist mit einem neuen Roman beschäftigt, quält sich mit ihm herum. Ein Mann im Zug zwischen Paris und Rom, zwischen zwei Frauen, eine in Rom, eine in Paris. Wir haben ein sehr großes Vertrauen in seine literarischen Fähigkeiten. Ob er allerdings in zehn Jahren anerkannt sein wird, wie er wohl meint, weiß ich nicht. Vielleicht ist er zu literarisch und zu sehr vom Problem der Form absorbiert." Sprecher: Michel Butor ist ein wenig gelesener Autor, trotz der Anerkennung, die er auch international erfahren hat. Vielleicht, weil er es liebt, mit der Textform zu experimentieren? O-Ton: Gerda Scheffel "Jeder große Schriftsteller erzählt letztlich nicht irgendeine Geschichte, sondern es geht nicht darum, was ich erzähle, sondern wie. So banal das klingt: Das hat natürlich Konsequenzen. Und je strenger Sie sind, desto anstrengender sind Sie." Lesung Modification "Du wirst jetzt ruhig und vernünftig sein und nicht mehr daran denken, denn es ist geschehen, der Schritt ist getan, ich bin hier, du mußt es dir immer wiederholen: ich fahre nach Rom, ich fahre zu Cécile, und wenn ich mich auf diesem Platz niederlasse, so ist das ihretwegen, weil ich den Mut gehabt habe, mich zu diesem Abenteuer zu entschließen." Sprecher: Der Erzähler des Romans Paris - Rom. Oder: Die Modifikation spricht ungewöhnlicher Weise mit sich selbst in der zweiten Person. Michel Butor verlangt seinen Lesern und Übersetzern einiges ab: eine enorme Lektüreerfahrung, um zu erkennen, wann er die Gesetze eines Texgenres bricht, und Geduld, um sich auf die oft strenge Formen einzulassen. In den 50er und 60er Jahren wird Michel Butor aufgrund seiner vier Romane zu den Autoren des so genannten Nouveau Roman gezählt, neben Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet und Claude Simon. Sie alle brachen mit der Romantradition und distanzierten sich von der damals üblichen Betroffenheitsprosa. Der Roman Paris - Rom oder Die Modifikation ist mit Abstand Butors zugänglichstes Werk. Der Frankfurter Romanistik-Professor Friedrich Wolfzettel hat als erster deutscher Wissenschaftler über Butor eine Doktorarbeit geschrieben hat. 16) O-Ton: Friedrich Friedrich Wolfzettel "Es geht wirklich nur darum, in linearer Form die Reise eines in die Lebenskrise geratenen Mannes von Paris nach Rom zu schildern und diese Reise von Paris nach Rom im Nachtzug durch allerlei Überlegungen, Exkurse und Gedankensplitter zu untermauern." Lesung aus: "Die Modifikation" "Am nächsten Dienstag, wenn du Henriette wiedersiehst, die auf dich wartet und gerade beim Nähen ist, wirst du ihr, bevor sie noch irgendeine Frage gestellt hat, sagen: 'Ich habe dich belogen, wie du dir ja auch wohl gedacht hast, ich bin diesmal nicht für die Firma Scabelli nach Rom gefahren, [...] ich bin diesmal nur wegen Cécile nach Rom gefahren, um ihr zu zeigen, dass ich mich endgültig für sie entschieden habe [...])'" O-Ton: Friedrich Friedrich Wolfzettel "Also der Held der Modifikation ist eigentlich nur ein stellvertretender Held, der durch andere ersetzt werden könnte. Wir interessieren uns nicht für seine persönlichen Probleme, für sein lustloses Eheleben und die Beziehung zur Freundin in Rom, sondern das ist alles nur vorgeschoben. In Wirklichkeit geht es um einen paradigmatischen Prozess der Bewusstwerdung, der da geschildert werden soll." Lesung aus: "Die Modifikation" "Bin ich denn nicht in diesem Zug, auf dem Weg zu Cécile, meiner Freiheit? Mein Wille und mein Begehren waren so stark...! Ich muss meine Gedanken zügeln, ich muss mich sammeln, ich muss mich wieder fassen, um alle die Bilder abzuweisen, die mich überfallen." Sprecher: Der Bewusstseinswandel ist nicht mehr zu stoppen. Ebenso wenig wie der Zug, in dem der Romanheld sitzt. Je mehr er sich Rom und seiner Geliebten Cécile räumlich nähert, desto mehr entfernt er sich gedanklich von ihr und dem Entschluss, für sie seine Frau zu verlassen. O-Ton: Friedrich Wolfzettel "Dieser Roman ist der Inbegriff des Lebensthemas von Michel Butor: nämlich die Orientierung des Ich in der modernen Welt in der Krise nach dem zweiten Weltkrieg. Und man kann von La Modification eine Beziehung zu allen seinen anderen Werken herstellen. Alle Werke kreisen um dieses Thema: Wer bist du? Was hast du? Was willst du? Wohin gehst du? Woher kommst du? und so weiter." Sprecher: Auch wenn die späteren Werke sehr avangardistisch und surreal werden, sind sie doch schon in der Modifikation angelegt, für die Michel Butor 1957 den Prix Renaudot erhielt. Die Lyrik ebenso wie die Reiseprosa. Auch Die Modifikation beschreibt eine Reise. Dass sie der Romanheld mit dem Zug absolviert, ist kein Zufall: O-Ton: Michel Butor "Ich hatte eine Eisenbahner-Kindheit. Mein Vater war bei der Eisenbahn. Und deshalb konnten wir quasi umsonst fahren. Sich fortbewegen hieß für mich als Kind: mit dem Zug fahren. Außerdem interessierten mich die Fahrpläne der Eisenbahn, also die enge Verbindung zwischen Zeit und Ort. Im Prinzip fahren die Züge pünktlich los und kommen pünktlich an. Wenn man die Uhrzeit kennt, kennt man auch den Ort und umgekehrt. Natürlich haben Züge manchmal Verspätung. Aber mich hat die Theorie interessiert." Sprecher: Moralität der Eisenbahn nennt Michel Butor diese Verbindung zwischen Zeit und Ort. Moralität und Grammatik, also das Funktionieren der Eisenbahn. Mit Grammatik im eigentlichen Sinn, nämlich mit der französischen Grammatik, hat sich Michel Butor ausgiebig beschäftigt: In den 50er Jahren arbeitete er in verschiedenen Ländern, von Ägypten bis Großbritannien, als Französisch-Lehrer. Aus dieser Tätigkeit stammt die Idee, seine Romane Der Zeitplan, Stufen und Die Modifikation mit einem zugleich pädagogischen und ästhetischen Eingriff zu ordnen: O-Ton Butor: "Um die Grammatik zu verdeutlichen, habe ich Paragraphen in mitten der Sätze eingefügt. Das ist übrigens in Lehrbüchern üblich. Normalerweise bilden ja einige Sätze einen Paragraphen. Ich aber wollte einen Satz haben und darin mehrere Paragraphen. Dadurch konnte ich den Text außerdem poetischer machen. Der Zeilensprung ähnelt doch dem Übergang von einem Vers zum anderen. Das war Absicht: Ich wollte, dass Romane Gedichte sind." Sprecher: Dieses Verfahren der Satzgliederung übernimmt Michel Butor auch in Genius loci, dem ersten Band seiner Reiseprosa. Der Beschreibung des Tempels in Delphi glaubt er nur mit einem einzigen hymnischen Satz gerecht werden zu können, der sich über fünf Seiten erstreckt und der in elf Paragraphen eingeteilt ist. Der beschriebene Ort gibt die Form des Textes vor. Und wenn der Ort so komplex ist wie beispielsweise die USA, dann muss eben die Art des Erzählens ähnlich facettenreich sein. O-Ton: Friedrich Wolfzettel "Man kann verfolgen, wie sich der Autor allmählich von der traditionellen Reiseauffassung löst und eine völlig neue Reiseprosa begründet. Bücher wie dieses bekannte Buch über den Niagara-Fall mit dem Titel 6.810.000 Liter Wasser pro Sekunde, ein verrückter Titel." Ausschnitt Hörspiel "6.810.000 Liter" Der Umstand, dass vom Eriesee an mit einem immer stärkeren Gefälle Unter der Menge der jungen Paare einige, die wesentlich älter sind. mit einem immer stärkeren Gefälle nähert vom Eriesee an Alles hat sich verändert. so dass er im Augenblick des Sturzes mit einem immer stärkeren Gefälle weniger ein Fluss ist in einem Lauf von fast 6 Meilen Wir haben uns verändert. als ein Meer. O-Ton: Friedrich Wolfzettel "Das ist Reiseprosa in einem ganz neuen Sinn. Da werden verschiedene Perspektiven einfach ineinander verschachtelt, nebeneinander gerückt, Zitate von Chateaubriand und anderen verbunden mit eigener Wahrnehmung des Ich, des beobachtenden Ich, oder auch mit Aussagen aus dem Reiseführer und dergleichen mehr." Sprecher: Der Reiseführer - auch er spielt schon in der Modifikation eine wichtige Rolle. O-Ton Friedrich Wolfzettel "Denn in La Modification hält der Held, in seinem Abteil sitzend und vor sich hin träumend und dösend, einen Reiseführer in der Hand, in dem er hin und wieder blättert. Und es heißt dann immer emphatisch: 'Dieses Buch'. Damit wird das zentrale Thema angeschnitten: Das Buch als Rettung." Sprecher: Bücher haben schon immer eine wichtige Rolle in Michel Butors Leben gespielt. O-Ton: Michel Butor "Ich liebe es, in alten Bibliotheken zu stöbern. Meine Großmutter hatte schon eine alte Bibliothek. Bücher haben mein Leben in die entscheidende Bahn gelenkt. Ich entdeckte zum Beispiel den französischen Autor Buffon in der Bibliothek eines Schlosses. Ich wollte wissen, was Buffon über meinen Namen schrieb. Mein Name, Butor - deutsch: die Rohrdommel -, bezeichnet einen Vogel, war aber früher auch ein schlimmes Schimpfwort. Als Kind litt ich sehr darunter. Eines Tages sah ich also nach, was Buffon über den Butor schrieb. Und siehe da: Das Tier entpuppte sich dort als äußerst sympathisch Wesen mit sehr interessanten Seiten." Lesung aus: "Boumerang" ("Bumerang") "Weniger dumm als der Fischreiher, dafür aber scheuer. Man sieht ihn fast nie, lebt nur in ausgedehnten Sümpfen mit viel Schilf. Hält sich vorzugsweise in Weihern auf, die von Wald umgeben sind, und führt ein ruhiges, einsames Leben [...]" Sprecher: Dieses Zitat Buffons hat Michel Butor in die Reiseerzählung Bumerang aufgenommen und mit vier weiteren Tierbeschreibungen Buffons zu einer Collage zusammengefügt, einer Collage ohne Satzzeichen. So ist ein Fabelwesen mit den Eigenschaften von fünf Tieren entstanden. Zitate in den eigenen Text einzufügen, Montagen aus unterschiedlichen Stimmen zu erzeugen, Dinge und Materialien zusammenzubringen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören - das liebt Michel Butor: 30) O-Ton Gerda Scheffel "Diese Riesen-Spielfreude. Also etwas, wo man sich wirklich fragt: Wann macht der das? Umso mehr er auch ganz gerne schläft!" Sprecher: Die Spielfreude lebt er täglich aus. Denn seit den 60er Jahren, in einer Zeit, in der die Glückwunschkarten besonders beliebt waren, schreibt der Autor seine Korrespondenz auf Postkarten, die er selbst gestaltet und bearbeitet. O-Ton: Michel Butor "Das hier sind die Karten, auf denen ich zur Zeit schreibe. Eine Karte mit einem Foto von der Salzgewinnung in der Algarve. Auf das Foto habe ich mit einem grünen Klebestreifen einen Ausschnitt aus einer Geografiezeitschrift, eine Schneeregion, befestigt und das Stück eines Schmetterlingsflügels aus einem alten Kalender. So entsteht eine kleine Collage, jedes Mal natürlich eine etwas andere." Sprecher: Die Postkarten sind mehr als ein Spiel. Sie spiegeln im Kleinen die Sicht Butors auf die Welt wider. Alles verweist aufeinander und hängt voneinander ab. So befindet sich das Ich, wie der Reisende zwischen Paris und Rom bzw. Ehefrau und Geliebter, gedanklich an mehreren Orten zugleich. Auch in dem Hörspiel "Fluglinien", worin im Flugzeug geführte Diaologe immer mehr zum Gedicht werden: Ausschnitt: Hörspiel "Fluglinien" Den Iran verlassen. Kein Gebirge mehr. Das Tal des Tigris, Mossul? Ich sehe zwar einen Fluß glänzen... Ganz Syrien überqueren. Ich denke nur noch an Paris O-Ton: Friedrich Wolfzettel "Kein anderer Autor hat so wie Michel Butor Weltzivilisation begriffen und verstanden, dass man nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher. Und alle seine Werke sind Versuche, quasi mit dem Reisekonzept der neuen Globalisierung der Welt und der Vernetzung der Welt Rechnung zu tragen." Sprecher: Michel Butor ist ein Meister im Assoziieren und im Spinnen von verschiedenen Netzen. Auch in seinem mehrbändigen Werk Traummaterial. Er hat Traumdarstellungen in der Malerei und der Literatur untersucht. Ebenso wie die eigenen Träume, wenn man sie denn nicht wieder vergisst O-Ton: Michel Butor "Sehr oft sagt ein Familienmitglied am Frühstückstisch: 'Ich habe heute Nacht einen besonderen Traum gehabt.' Und die anderen sagen: 'Los, erzähl.' Aber meistens verschwindet der Traum genau in dem Moment. In meiner Traumprosa habe ich meine eigenen Träume mit anderen Traumschilderungen in Verbindung gesetzt, sie gewissermaßen über Kanäle verbunden. So entstand ein Netz, mit dem ich die Träume der Leser fangen wollte." Sprecher: Bei anderen Völkern, erzählt Michel Butor begeistert, existieren regelrechte Traumfallen, reale Gegenstände, gewissermaßen symbolische Netze, mit deren Hilfe die Menschen hoffen, leichter über Träume sprechen und die Kräfte der Träume nutzen zu können. Butor-Kenner Friedrich Wolfzettel ist besonders von einer surrealen Traumschilderung Butors fasziniert: O-Ton: Friedrich Wolfzettel "Es gibt eine Traumerzählung, in der er wunderbar beschreibt, wie er auf einer Tagung ist, einen Vortrag hält, groß gefeiert wird und dergleichen. Und er schleicht sich zum Hintereingang hinaus und landet in einer Fluss- und Meereslandschaft, verliert die Kleider, verliert sozusagen alles, was seine bisherige gesellschaftliche Stellung ausgemacht hat, wird quasi zum Penner, der auf einer schmutzigen Matte vegetiert. Und dann liest man ein paar Zeilen weiter. Und dann steht er wieder im Saal. Und alle sagen: 'Na schön, dass Sie gerade zur rechten Zeit gekommen sind. Es wird gerade der Champagner gereicht." Sprecher: Michel Butor hat sich immer wieder zurückgezogen und lebt inzwischen ganz abgeschieden, fernab von der Hauptstadt und ihrem Kulturbetrieb. Als Michel Butor drei Jahre alt war, zogen seine Eltern aus dem Norden Frankreichs nach Paris. Dort ging er zur Schule und studierte. Lange dachte er, er würde bis zu seinem Tod in der Hauptstadt leben. Aber irgendwann interessierte es ihn, wie man wohl von außen auf Paris blickt. Er reiste nach Ägypten, nach England, in die USA und nahm eine Professur für französische Literatur in Genf an. "Ich bin aus Paris geflüchtet" heißt ein Text aus dem Reiseband "OU". Lesung aus: "OU", "J'ai fui Paris" "Ich habe zwischen Paris und mich eine Menge Land geschoben: Hecken, hohle Gassen, Windungen der Seine, Zuflüsse der Loire, Weiden, Obstbäume, Wälder und Dörfer, in denen aus den Dächern gerade einmal die ersten Satellitenantennen hervorsprießen, außerdem das Band der Strände mit ihren Inselwächtern, Klippen, Felsen, Kieselsteinen, Dünen, Sümpfen und Häfen, den Atlantischen Ozean, auf dem die großen, immer seltener verkehrenden Passagierschiffe nur noch jeden Abend die Zeit umstellen." O-Ton: Michel Butor "[lacht] Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Aber ich habe für die deutsche Zeitschrift Merian einen Text mit der Überschrift 'Ich hasse Paris' geschrieben. Ich liebe zwar Paris, aber ich hasse es auch, weil es mich unaufhörlich enttäuscht. Ich habe versucht herauszufinden, warum die Pariser sich für den Mittelpunkt der Welt halten. Daher in der Modifikation die Verweise auf Rom und das Römische Reich." Sprecher: Da ist es wieder, das komplexe Verweissystem des Michel Butor. Aber bevor er Dinge und Ideen einordnet und verlinkt, beschreibt er sie sehr genau. So wie der Reisende in der Modifikation die anderen Passagiere sehr präzise beobachtet: Lesung aus: "Die Modifikation" "Du ziehst deine Beine zurück, um den Geistlichen wieder vorbeizulassen; er nimmt sein Gebetbuch von der Bank, aber schlägt es nicht auf; er stopft es in eine seiner Taschen und sieht hinaus in den Regen. Worin mag die Ursache des Widerstreits liegen, der sich auf seinem Gesicht spiegelt, der Nervosität, die seine muskulösen Finger zusammenzieht?" 40) O-Ton Butor/ Sprecher 2 "In der Modifikation fragt sich der Romanheld, was die Person macht oder denkt, die ihm im Zug gegenüber sitzt. Ich mache in etwa dasselbe, wenn ich über Maler, Musiker oder Schriftsteller schreibe. Ich betrachte ihr Werk und frage mich: Warum macht der Künstler das so, wie er es macht? Und wenn es etwas für mich Neues ist, dann tauche ich geradezu ein in das, was sich da auftut." Sprecher: Nachdem Michel Butor sich Anfang der 60er Jahre von der Form des Romans verabschiedet hatte, verfasste er vor allem Essays über Literatur, besonders über den Nouveau Roman. Später dann ist Butor immer wieder Kooperationen mit Musikern wie Pierre Boulez eingegangen, auch mit Malern und Fotografen. Meistens legt ihm ein Maler oder Fotograf Kunstdrucke oder Fotos vor. Michel Butor lässt dann die Bilder auf sich wirken und schreibt dazu reimlose Gedichte. Über 1500 bibliophile Werke sind allein auf diese Weise entstanden, nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit. O-Ton: Michel Butor "Zuerst hat man mir den Stempel 'Romancier' aufgedrückt. Dann den Stempel 'Romancier und Essayist'. Erst sehr spät haben Beobachter bemerkt, dass ich zunehmend Gedichte schrieb. Auch für mich selbst wurde ich sehr langsam zum Dichter, weil ich mich nicht getraut habe, mich so zu nennen. Aber langsam gebe ich zu, dass ich ein Dichter bin. [LACHT]" Auszug aus: Gedicht "Sérénade urbaine" ("Städtische Nachtmusik") "Fuchsrote Haare auf den Kupferbalkonen die brennenden Fahnen zwischen Wutanfall und gerostetem Wein" Sprecher: "Städtische Nachtmusik" heißt dieses Gedicht von Michel Butor. Für Michel Butor ist jeder Ort eine faszinierende Landschaft und Fläche, die es mit den Füßen, mit Augen und Ohren zu erkunden und schließlich - immer handschriftlich und mit einem Füllfederhalter - in die passende Textform zu überführen gilt. Das ist ihm nicht immer leicht von der Hand gegangen. Einmal besuchten die Übersetzer Gerda und Helmut Scheffel Michel Butor, seine Frau und die vier Kinder im Sommerurlaub: O-Ton: Gerda Scheffel "Irgendwie kam er mit einem Text nicht zurande. Und da ist der also in diesem Haus rumgelaufen, also wie so ein Bär im Käfig. Wie dieser Mensch da einfach um etwas gerungen hat, was irgendwie nicht kam! [LACHT] Es war faszinierend. Auch wenn er so eine Struktur von dieser Modifikation da erklärt und, ich meine, diese Fäden, die er da in der Hand hält, das ist ja ungeheuerlich." Lesung aus: Die Modifikation "Allein in deinem Zimmer, wirst du ein Buch zu schreiben beginnen, um die Leere dieser Tage in Rom auszufüllen, diese Tage ohne Cécile und mit dem Verbot, dich ihr zu nähern. Dann, am Montag abend, wirst du zur vorgesehen Stunde zum Bahnhof zurückkehren, um den vorgesehenen Zug zu nehmen, ohne sie gesehen zu haben." Sprecher: Der Reisende in Paris - Rom oder Die Modifikation hat die Entscheidung revidiert, seine Frau für seine Geliebte in Rom zu verlassen. Die lange Fahrt voller Gedanken hat in ihm einen Wandel vollzogen. Auch Michel Butor hat sich im Laufe seines Lebens gewandelt: vom bekannten Romancier zum leisen Dichter, zum Dichter im Abseits: Musik O-Ton: Friedrich Wolfzettel "Michel Butor, das ist der Einsiedlerkrebs, der von Zeit zu Zeit auch mit dem Champagnerglas in der Hand dasteht, aber dann wieder sich einfach entzieht." O-Ton: Gerda Scheffel "Diese faszinierende Mischung von einerseits Wärme und Menschlichkeit - und dann aber diese Unerbittlichkeit, wenn es um Kunst geht. Und das finde ich, ja, wunderbar." O-Ton: Michel Butor "Aufgrund der Modifikation muss ich mich als alten Romancier definieren. Gleichzeitig bin ich aber ein junger Dichter. Ich habe also sehr viel Glück." Musik ____________________________________________________________________ [Ende Manuskript] _________________________________________________ Verwendete Musiken: Chopin, Préludes, Nr. 4 Schumann, Fantasiestücke für Klavier, "Des Abends" Tobias Wenzel Deutschlandradio Kultur: Feature Michel Butor Seite 13 (Tel. 030 - 97 98 76 11)