COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Pleitegeier unterm Zuckerhut Nachspiel 27.04.2014/Peer Vorderwülbecke Atmo 1 : Nationalhymne A Capella im Maracana Beim Finale des Confed-Cups im letzten Jahr. Das Maracana-Stadion in Rio ist ausverkauft – ein Meer aus kanariengelben Trikots, 70.000 Brasilianer singen A-Capella die Nationalhymne mit. Gänsehautstimmung pur. Mit 3:0 wird der Weltmeister, wird Spanien, nach Hause geschickt. Atmo 2: Gooool Brasilien hat die WM-Generalprobe gewonnen – Freudentaumel auf dem Rasen, Ekstase auf den Rängen. Der Mythos Maracana lebt, diese Bilder gehen um die Welt. Und sie scheinen zu beweisen, was alle eigentlich schon wussten: Brasilien ist das Land des Fußballs. Atmo Nationalhymne (fade out) Was den Fernsehzuschauern in aller Welt präsentiert wurde, hat aber nur wenig mit der Realität des brasilianischen Fußballs zu tun. Ausverkaufte Stadien und eine ausgelassene, fröhliche Stimmung sind im Land des Fußballs mittlerweile die Ausnahme. In der Regel sind die Stadien in der ersten Liga nur mäßig gefüllt, im Schnitt kamen in der letzten Saison nur knapp 15.000 Zuschauer zu den Spielen. Weltweit bedeutet das Rang 18 hinter Australien. Selbst in der zweiten Liga in Deutschland kommen mehr Zuschauer. Für Amir Somoggi sind die niedrigen Zuschauerzahlen nur ein Symptom für die umfassende Krise des brasilianischen Profifußballs. Seit Jahren befasst sich der Spezialist für Sport-Marketing mit dem Nationalsport und mit den großen Vereinen im Land, er kennt alle Probleme des brasilianischen Fußballs. Der 38 jährige hat Analysen und Studien verfasst, er ist wahrscheinlich der renommierteste Experte im Land, wenn es um Fußball-Vermarktung geht. Atmo 3: Straßencafe In einem kleinen Straßencafe in Sao Paulo, rührt er kurz in seinem Espresso und holt dann weit aus: Von 2003 bis heute sind die Einnahmen sehr stark gestiegen – aber auch die Ausgaben. Und die Klubs sind alle gemeinnützige Vereine, also wird alles, was eingenommen wird, auch wieder ausgegeben. Und da gibt es keine so strenge Kontrolle. Vor zehn Jahren, da haben die Klubs 800 Millionen Reais umgesetzt, heute sind es vier Milliarden. Innerhalb einer Dekade haben sich die Umsätze also fast vervierfacht auf fast 1,3 Milliarden Euro. Damit ist die brasilianische Liga rein zahlenmäßig auf Platz sechs in der Welt. Trotzdem bezeichnen viele Experten und mittlerweile auch viele Spieler die Situation im brasilianischen Fußball als katastrophal – trotz der sprudelnden Einnahmen. Wir erleben derzeit einen Widerspruch. Auf der einen Seite ist die finanzielle Situation so gut wie nie, die Einnahmen wachsen, besonders aus den Fernsehrechten. Auf der anderen Seite haben viele Vereine außerhalb des Spielfeldes überhaupt keine Struktur. Dabei verfügen sie über Geld, aber es wird nicht strategisch eingesetzt. All die Diskussionen über den Spielplan, über die Qualität unseres Fußballs, die fehlende Saisonvorbereitung – all das ist nur eine Reaktion auf die fehlende Struktur im Umfeld unseres Fußballs. Strukturprobleme gibt es in allen Bereichen. Sie beginnen in der Nachwuchsarbeit, die statt von Vereinen immer mehr von Investoren übernommen wird und setzen sich fort in einem unprofessionellen Management, gerade wenn es um die Vermarktung geht. Die Kosten hat keiner der großen Vereine unter Kontrolle, in der Regel geben sie weit mehr aus als sie einnehmen. Es gibt keine Klubs, die in Infrastruktur investieren, Stadien, Trainingszentren oder in die eigene Marke. Es geht immer nur um eins: schlagkräftige Teams aufzubauen, um zu gewinnen. Aber selbst wenn die Teams erfolgreich sind, geht die Rechnung nicht auf. Wer die Copa Libertadores, die südamerikanische Champions-League gewinnt, der Verdient am Ende drei Millionen Euro. Es ist also fast schon absurd, dass die Clubs immer mehr ausgeben, um Titel zu gewinnen und am Ende bekommen sie nichts dafür. Nur zum Vergleich: Wer die Champions-League in Europa gewinnt, kann mit bis zu 60 Millionen Euro rechnen. Die brasilianischen Klubs spielen also selbst im Erfolgsfall kaum Geld ein, stattdessen häufen sie immer mehr Schulden an: Mit 1,5 Milliarden Euro sind die Erstligaklubs im Minus, über die Hälfte davon sind Steuer-Schulden beim brasilianischen Staat. Und sportlich ist das Niveau ohnehin eher niedrig, es fehlt an taktischer Schulung und an modernen trainingswissenschaftlichen Konzepten. Und an den ganz großen Stars, die in Europa spielen. Außerdem steht das Fußball-Geschäft im Ruf von Korruption, Geldwäsche und Vetternwirtschaft. Die meisten Vereine werden von Präsidenten nach Gutsherrenart regiert. Das schreckt hochqualifizierte Mitarbeiter ebenso ab wie viele Sponsoren. Wer die Wahl hat, engagiert sich nicht im Fußball. Und das obwohl sich 93% der Männer für Fußball interessieren und 75% der Frauen, das heißt ganz Brasilien konsumiert Fußball über die Medien. Warum boomt der Sponsorenmarkt nicht? Weil die Strukturen in den Vereinsführungen die Sponsoren verschrecken. In den Vereinen fehlen also fähige Sport- und Marketingexperten – die in Brasilien allerdings gar nicht ausgebildet werden. Die Privathochschule Uninove in Sao Paulo hat vor zwei Jahren den ersten Masterstudiengang für Sportmanager aufgelegt. Einer der Professoren ist Fernando Fleury, seine Einschätzung deckt sich mit der von Amir Somoggi. Die Situation, die der brasilianische Fußball im Moment erlebt, ist das Resultat von einem jahrelangen Missmanagement. Und jetzt ist der Punkt erreicht, an dem es kippt. Und die Spieler als Hauptdarsteller des Spektakels spüren die Probleme jetzt bei der Ausübung ihres Berufes. Das liegt am Missmanagement der letzten 30 Jahre. Seit Mitte der 80er Jahre verdienten die brasilianischen Vereine mit Spielerverkäufen weit über eine Milliarde Euro – die Erlöse versickerten meist in dubiosen Kanälen. In die Professionalisierung der Vereinsstrukturen wurden sie auf jeden Fall nicht investiert. Mit dem Wirtschaftsboom der letzten Jahre gab es plötzlich potente Sponsoren, die Fernsehrechte wurden von den Clubs individuell vermarktet und schwemmten Geld in die Vereinskassen. Die anstehende Weltmeisterschaft tat ein Übriges, um den Fußballboom in Brasilien anzuheizen. Nach den Altstars Ronaldo, Roberto Carlos oder Ronaldinho kehrten in den letzten Jahren weitere international renommierte Spieler zurück - Lucio etwa, Fred, Luis Fabiano, Josué, Juan oder Alex. Und diese Spieler stoßen jetzt Veränderungen von unten an, sagt Fernando Fleury. Sie haben ihre Erfahrungen in Europa gemacht und dort gelernt, wie wichtig die Organisation außerhalb des Spielfeldes ist. Und Ihren Erfahrungsschatz haben sie nach Brasilien gebracht. Inklusive der Verantwortung, hier etwas zu verändern. Das wird sich auch auf die jungen Spieler auswirken, wir werden hier eine neue Generation von Spielern erleben, die viel kritischer sein wird, als die Spieler früher. Die meisten der 20.000 Fußballprofis die es in Brasilien gibt, darf man nicht unbedingt als mündige Profis bezeichnen. Viele geben sich in die Hände von dubiosen Beratern oder Investoren, immer mit der Hoffnung, irgendwann den großen Durchbruch zu schaffen. 80 Prozent von ihnen verdienen im Monat aber nur zwei Mindestlöhne, also weniger als 500 Euro. Damit gehören sie nicht einmal zur unteren Mittelschicht. Dazu sind die Spielklassen und Spielpläne veraltet und manchmal sogar absurd – und sie schaden den Spielern. Das und mehr hat zur Gründung des FC Bom Senso geführt. Bom Senso heißt übersetzt „gesunder Menschenverstand“. Der Ex-Leverkusener Juan, der seit 2012 wieder in Porto Alegre spielt, hat den Anstoß zur Gründung gegeben – weil er nicht einverstanden war mit der Situation, die er in seiner alten Heimat vorgefunden hat. Natürlich war ich überrascht. Aber andere Spieler, die schon lange hier spielen haben sich auch beschwert. Bei der Gründung haben wir mit Spielern aus allen Regionen gesprochen, verschiedenen Ligen und verschiedenen Vereinen. Alle haben sich beschwert. Daher kam die Kraft, diese Bewegung zu gründen. Unterstützt wird der FC Bom Senso von Experten und Wissenschaftlern – auch von Fernando Fleury. Atmo vor Auditorium Bei der ersten großen Präsentation der Reformpläne – für die seine Universität das Auditorium zur Verfügung gestellt hat - war er natürlich auch dabei: Wir haben ein sehr großes Potential in unserem Fußball, vielleicht sogar das größte der Welt. Bom Senso wurde gegründet um den Fußball in Brasilien neu zu organisieren und zu strukturieren – um das nicht genutzte Potential frei zu setzen. Wir wollen bei der Professionalisierung der kleinen und mittleren Klubs helfen, aber es geht auch um Transparenz und eine bessere Vereinsführung. Das ist eine zurückhaltende, fast schon diplomatische Beschreibung der Ziele von Bom Senso. Die Präsentation, zu der über 50 Journalisten und mehr als ein Dutzend Kameraleute gekommen waren, wurde dann sehr viel deutlicher. Sie begann mit einem aufwändig produzierten Trailer, der den Fußball in düsteren, schnell geschnittenen Schwarz-Weiß Bildern zeigte und die Forderung in Schlagworten auf den Bildschirm schleuderte: Atmo Trailer Wir kämpfen für Demokratie im brasilianischen Fußball Wir wollen gehört werden Wir sind tausende von Profis Bereit, unseren Fußball zu verändern Brasilien tatsächlich zum Land des Fußballs zu machen – dass ist unsere Mission Wir fordern zu einer Revolution auf Für einen besseren Fußball Für alle Spieler - alle Fans - alle Medien - alle Sponsoren. Für einen bessern Fußball – für alle. Atmo Applaus Atmo Begrüßung Stars wie der ehemalige Nationaltorhüter Dida saßen auf dem Podium oder Alex, der zehn Jahre lang bei Fenerbahce Istanbul gespielt hat. Und natürlich viele Experten. Atmo Vorstellung Fernando Fleury … Die Einführung eines finanziellen Fair-Play war eine der wichtigsten Forderungen. Die Klubs sind nicht nur massiv überschuldet. Sie haben außerdem gegenüber den Spielern eine miserable Zahlungsmoral. Der Vortrag von Fernando Fleury präsentierte viele Zahlen und Fakten, unterstützt durch Statistiken und Diagramme, die den katastrophalen Zustand der brasilianischen Vereine offenlegten. Die Konsequenz von all dem ist ein Rückgang bei den Investitionen, die Fußball-Marken verlieren an Wert, die Zuschauerzahlen sind niedrig, es gibt wenige Investoren, wenige Sponsoren aus der Privatwirtschaft. Die Fans sind unzufrieden, wir verlieren ganz offensichtlich unsere Talente. Die Konsequenz von dem allen wäre eigentlich die Pleite der Klubs. Wären die Klubs Unternehmen, dann hätten einige große schon dicht machen müssen Applaus Der zweite wichtige Punkt betraf die Organisation der Ligen und Spielpläne. In Brasilien gibt es knapp 700 Proficlubs. Für die ersten vier Ligen ist die CBF zuständig, der nationale Fußballverband. Organisierter Amateurfußball existiert in Brasilien nicht. Stattdessen gibt es hunderte von kleinen Provinz-Profiklubs, deren Saison aber manchmal schon nach acht Spieltagen endet. Was das bedeutet, erzählt ein Spieler in einem von Bom Senso produzierten Video: Ich habe im Bundesstaat Paraná gespielt, als die Saison vorbei war, wusste ich nicht was ich tun sollte, ich habe keinen neuen Club gefunden. Mein Vater hat eine Bar und da habe ich dann ausgeholfen, schließlich braucht ja jeder Geld und irgendetwas musste ich ja machen. Trotzdem träumen Millionen Kinder in Brasilien immer noch von diesem Beruf, obwohl nur die Topspieler wirklich zwölf Monate im Jahr von ihrem Job leben können. Selbst die Akteure mit einem hohen Gehalt leiden an den Rahmenbedingungen: Sie müssen bis zu 84 Partien pro Saison absolvieren, das sind über 20 Spiele mehr als in Deutschland. Die notwendigen Änderungen im Spielplan hätte Fernando Fleury gerne während der Podiumsdiskussion thematisiert – mit Vertretern der CBF, also des Dachverbandes: Die CBF war eingeladen, sie wird von uns immer eingeladen, um an der Diskussion teilzunehmen. Nur … von der CBF war jetzt, glaube ich, nur ein ehemaliger Funktionär da ... ein offizieller Repräsentant ist tatsächlich nicht gekommen. Aber auch alle Verantwortlichen der Vereine und der Regionalverbände waren eingeladen. Und sind genauso wenig gekommen. Bom Senso mit seinen mehr als 1.000 Mitgliedern wird - ignoriert. Egal wie konkret, egal wie sinnvoll oder gar notwendig die Vorschläge auch sind. Denn die Mächtigen im brasilianischen Fußball wissen sehr genau, dass die Initiative der Fußballprofis ihre Machtposition bedroht. Den eigentlich revolutionären Vorschlag hat Bom Senso fast nebenbei präsentiert: Die Einrichtung einer unabhängigen Organisation, die die nationalen Profi-Wettbewerbe plant und beaufsichtigt. Das ist bislang die ureigenste Aufgabe der CBF – die damit auch reichlich Geld verdient. In der neuen Organisation gäbe es dagegen eine völlig neue Führungs-struktur: Das wäre ein siebenköpfiges Komitee, das sich aus den verschiedensten Vertretern zusammensetzt: Die Regierung benennt einen Vertreter, die CBF auch, genauso die Sponsoren und alle Clubs zusammen ebenfalls, - damit hätten alle, die im Fußball was zu sagen haben einen Sitz in diesem Komitee. Die Organisation soll dann so aufgestellt sein, dass sie die Klubs kontrollieren kann. Auch ein Lizensierungsverfahren nach deutschem Vorbild soll eingeführt werden. Im Moment gibt es für brasilianische Proficlubs keinerlei Auflagen. Weder finanziell noch strukturell oder organisatorisch. An einer solchen Kontroll-Instanz haben die meisten Vereinschefs allerdings überhaupt kein Interesse. Häufig sind sie - obwohl von den Mitgliedern gewählt - Alleinherrscher über den Klub und die Finanzen. Nicht selten sind die Millionen-Geschäfte der Profivereine nicht wirklich durchschaubar. Allerdings will Fernando Fleury, der an einer Privathochschule in Sao Paulo forscht und lehrt, nicht explizit von Korruption im brasilianischen Fußball sprechen: Die Fußballklubs – oder der Fußball allgemein in Brasilien – ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Die Korruption in den Klubs, die gibt es, im Fußball genauso wie in anderen Bereichen in Brasilien. Heutzutage ist die Korruption in der brasilianischen Gesellschaft in alle Bereiche vorgedrungen. Der Fußball leidet darunter auch. Zumindest ein Hauch von Korruption umgibt die Klubs, seit sie mit den Millionensummen der Spielertransfers jonglieren. Keinen Zweifel gibt es daran, dass viele Profivereine einfach keine Steuern und Abgaben zahlen. Auch die CBF, also der Dachverband, hat nicht den besten Ruf. Mit dazu beigetragen hat der ehemalige Präsident Ricardo Texeira. Er musste sich mehrfach gegen verschiedenste Korruptionsvorwürfe wehren, vor zwei Jahren ist er dann Hals über Kopf in die USA geflüchtet und wurde seither in Brasilien nicht mehr gesehen – angeblich droht ihm in der Heimat die Strafverfolgung. Nicht nur wegen Texeira ist das Verhältnis zwischen Regierung und Fußballverband seit Jahren unterkühlt. Hinter den Kulissen scheint das Sportministerium sogar die Entmachtung des Verbandes voranzutreiben. Ich kann da nicht für das Sportministerium sprechen, aber wir wissen, dass die Regierung einen Trumpf in Händen hält – nämlich die Schulden, die die Klubs bei der Regierung haben. Das öffnet der Regierung Türen für Verhandlungen – oder besser gesagt: Die Regierung kann Druck ausüben, damit sich die Dinge ändern. Das ist ein Druckmittel dass die Regierung hat und das sehe ich positiv. Das Sportministerium in Brasilia arbeitet derzeit an einem Gesetzentwurf, der wohl auch einen teilweisen Schuldenerlass beinhalten wird. Dieses Projekt betreut Antonio Nascimento, er ist Staatssekretär für die Weiterentwicklung des Fußballs. Der frühere Journalist gilt als einer der Vordenker in der brasilianischen Sportpolitik und er ist ein Freund klarer Worte. Und die derzeitige Organisationsstruktur im brasilianischen Fußball ist ihm ein Dorn im Auge, besonders die Rolle der CBF: Sie hat viel Macht – in Deutschland hat man einen Ligaverband, in Brasilien nicht. Hier hat die CBF die totale Macht, sie ist praktisch der Besitzer des Profifußballs. Und bei den Abstimmungen in der CBF haben die Regionalverbände 27 Stimmen. Die Klubs der ersten Liga nur 20. Das ist also eine anti-demokratische Struktur. Die mächtigen Verbände setzen sich also immer durch, die Führungspersönlichkeiten sind alte Männer, die seit Jahrzehnten ihre Machtposition verteidigen. Der 81 jährige CBF-Präsident Jose Maria Marin wurde Anfang April vom 73 jährigen Marco Polo del Nero abgelöst – übrigens das erste mal seit 1989 durch eine Wahl. Und die ist wie üblich fast einstimmig ausgefallen. Sportpolitiker Antonio Nascimento, den alle nur Toninho rufen, gefällt das alles überhaupt nicht. Er will grundlegende Veränderungen: Wir brauchen in Brasilien eine richtige Re-Demokratisierung. So wie es in den 80er Jahren auf politischer Ebene passiert ist. Jetzt brauchen wir dringend eine Re-Demokratisierung im Sport. Und es sieht ganz so aus, als ob das Sportministerium bei diesem Prozess eher auf die reformfreudigen Bom Senso-Leute setzt als auf die greisen Verbandsfürsten, die sich jeder Veränderung verweigern. Aber die Finanzen und die Organisation des Profifußballs sind nicht die einzigen Sorgen die Antonio Nascimento im Sportministerium hat. Die Macht der Investoren und Berater im brasilianischen Fußball bereitet ihm Kopfzerbrechen, und die Situation in den Stadien. Die Regierung hat eine Mega-Sorge, weil der brasilianische Fußball seinen Charakter zu verlieren droht. Da entwickelt sich eine Elitisierung – und die traditionellen Fanklubs werden in diesem Prozess missbraucht. Sie würden sich nicht richtig verhalten, hätten keine Verantwortung. Und die Vereine lassen ihre Fanklubs fallen. So wie das der Club Cruzeiro gemacht hat. Und diese Prozesse machen uns Sorgen. Zum einen die Kriminalisierung der Fanklubs und zum anderen die Elitisierung der Fußballfans besonders in den neuen Stadien. Der Club Cruzeiro in Belo Horizonte spielt in einem dieser neuen Stadien, die für die WM gebaut worden sind. Und eigentlich ist der Traditionsclub aus Belo Horizonte ein perfektes Beispiel für die neue Fußballkultur in Brasilien. Cruzeiro hat die brasilianische Meisterschaft gewonnen und gleichzeitig den Zuschauerrekord in der ersten Liga aufgestellt, mit einem Durchschnitt von 28.000 pro Spiel. Nur, dass Cruzeiro nach der Saison seine Fanclubs aus dem Stadion verbannt hat – angeblich weil es nach dem letzten Spieltag zu Prügeleien vor dem Stadion kam. Trotzdem ist die Stimmung im Stadion nicht so schlecht, selbst bei einem unwichtigen Spiel gegen Tupi aus der Kleinstadt Juiz de Fora sind 15.000 Fans ins Stadion gekommen. Atmo Fangesänge Unter den Zuschauern ist auch Martin Curi. Der deutsche Fußballexperte lebt seit über 10 Jahren in Rio, hat über die Fankultur in Brasilien seine Doktorarbeit geschrieben und gerade ein Buch über den brasilianischen Fußball veröffentlicht. Es ist ganz klar, dass eine Veränderung des Publikums stattgefunden hat. Es gibt keine Stehplätze mehr, die Stadien wurden teurer, die neuen Stadien wirken wie klinisch, sterile Shopping Center, das spricht eine ganz andere Klienten-Schicht an. Menschen mit einem geringen Einkommen, kommen nicht mehr in die Stadien ganz klar und dadurch, dass dazu auch wenige Menschen in die Stadien kommen, ist die Stimmung schlecht in brasilianischen Stadien. Wahrscheinlich gibt es kaum einen Deutschen, der so viele brasilianische Stadien von innen gesehen hat, wie der fußballverrückte Martin Curi. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass das Zuschaueraufkommen in den letzten Jahren immer mehr zurückgegangen ist. Bei manchen Erstligaspielen hat er weniger als 2.000 Zuschauer im Stadion erlebt: Dafür gibt es mehrere Gründe, einer ist sicherlich die brasilianische Angst vor Gewalt und vor unsicheren Stadien, aber es gibt auch noch ganz viele andere Gründe, einer ist eben, dass der Fußball ja einfach schlecht ist, weil die Stars hier nicht spielen und direkt damit zusammenhängt, dass man eben einen Fernseher hat und die guten Spieler in Europa sehen kann, das läuft ja hier im Fernsehen – die Spiele sind einfach zu teuer, wenn man das sieht, so 20, 25 Euro pro Spiel, für wirklich schlechte Spiele, für Spieler, die man kaum kennt, in München zahle ich um Robben und Ribery zu sehen 15 Euro und in Brasilien zahle ich 25 Euro um Nobodies zu sehen, da stimmt einfach etwas mit der Relation nicht. Aber die Vereine mit den neuen Stadien gleichen so den Zuschauerschwund aus, erzielen teilweise mit weniger Zuschauer sogar höhere Erlöse. Das finanziell erfolgreichste Stadion war in der letzten Saison das von Brasilia – obwohl es dort gar keinen Verein gibt. Die Stadionmanager haben populäre Erstligisten wie Flamengo mit hohen Summen geködert, damit sie ihre Heimspiele im tausend Kilometer entfernten Brasilia austragen – für beide Seiten war das ein gutes Geschäft: Die Tickets kosten zwischen 30 und 80 Euro. Gekauft werden sie von Leuten, die teilweise noch nie vorher in einem Fußballstadion waren: Umfrage Stadion Brasilia Im Stadion von Belo Horizonte sind jetzt nicht nur Operetten-Fans. In der Kurve hinter dem Tor machen auch drei- bis vierhundert Anhänger ordentlich Stimmung. Es ist eine der neuen, braven Fanclubs, die der Verein zulässt. Mit den traditionellen Torcidas Organisadas hat der Fanklub, den Rudolfo Soarez leitet, nichts mehr zu tun: Wir haben da ein bisschen Glück, denn unsere Mitglieder haben alle ein gewisses Niveau, sie haben einen Schulabschluss und wissen sich zu benehmen. Und unser Fanklub besteht nur aus Mitgliedern, das sind also Leute die das Geld haben, jeden Monat die Mitgliedschaft zu bezahlen. Dadurch werden tatsächlich diejenigen rausgefiltert, die nur Ärger machen wollen. Unser Fanclub will also nur unsere Mannschaft unterstützen und dafür zahlen wir jeden Monat. Klar, dass sich der Club über solche wohlhabenden und konsumfreudigen Fußballfans freut. Aber das Ursprüngliche, Wilde und auch etwas Unkontrollierbare der typischen brasilianischen Fußballfans, das ist den neuen Zuschauern der Stadien fremd. Wir haben jetzt eine Initiative gestartet, damit sich niemand auf die Stühle stellt. Früher haben das alle gemacht. Aber wir wollen das nicht mehr, weil man sich dabei verletzen könnte. Genau diese Fans meint der Fußball-Staatssekretär Antonio Nascimento, wenn er davon spricht, dass die brasilianischen Stadien ihren Charakter verlieren. Aber der Fußball muss viel mehr aufpassen, dass er nicht seine Vereine verliert. Denn viele sind so abgewirtschaftet, dass sie sich vollkommen in die Hände von Investoren und Spielerberatern begeben haben. Die Schwäche der Klubs, ihr schlechter wirtschaftlicher Zustand hat dazu geführt, dass sie von den Spielerberatern abhängig sind. Aber es gibt Leute die glauben – und ich gehöre zu diesen Leuten - dass man wenigstens ein Limit einbauen müsste, um das Ganze dann irgendwann zu beenden. Ein Limit wäre: 51% beim Klub, 49% beim Berater. Heute besitzen die Erstliga-Klubs nur 20% an den eigenen Spielern. Rein rechtlich ist daran nichts auszusetzen – auch wenn der Europäische Fußballverband, die UEFA, seit Jahren versucht, die Geldgeber aus dem Fußball zu verdrängen. In Brasilien verdienen inzwischen nur noch die Investoren. Einer von ihnen ist die Sportmarketingfirma Traffic. Präsident für Internationale Geschäfte ist der deutsche Jochen Lösch. Er kümmert sich vor allem um die Vermarktung von großen Fußballevents. Sein Unternehmen investiert zugleich aber auch in Vereine u n d Spieler: Wir haben Fußballvereine in Brasilien, in Portugal und in den Vereinigten Staaten, bilden Spieler aus und investieren in sogenannte wirtschaftliche Rechte von Spielern, wobei dieser sogenannte Fußballbereich vielleicht 10% des Gesamtumsatzes der Gruppe ausmacht. Genaue Zahlen will Lösch nicht nennen, das Investitionsvolumen liege aber im zweistelligen Millionenbereich. Für das brasilianische Sportministerium gehören Firmen wie Traffic zu den Totengräbern des brasilianischen Vereinsfußballs. Die hochgradig professionell geführten Investoren machen die großen Gewinne, indem sie den Vereinen frühzeitig und zu niedrigen Preisen die wirtschaftlichen Rechte an den Fußballprofis abkaufen – dabei handelt es sich dann in der Regel um die zukünftigen Ablösesummen. Auch die UEFA kämpft gegen die Investoren, in Europa spricht man von der Beteiligung von dritten Parteien, oder Third Party Ownership. Der gelernte Jurist Jochen Lösch kann daran aber nichts Rechtswidriges finden: Diese Third Parties, das sind einfach Kreditgeber, die an einer zukünftigen Ablösesumme partizipieren. Sprich, der Club A verkauft an Club B und muss dann von der Ablösesumme, genauso wie einer Bank einen Kredit zurückzahlen müsste, an bestimmte Investoren bestimmte Summen abgeben. Dem Spieler selbst kann das komplett egal sein, wie viele Menschen wirtschaftlich an ihm beteiligt sind – die Ablösesumme kriegt nur der verkaufende Verein, was er mit diesem Geld macht, ist eigentlich völlig irrelevant. Er zahlt es an die Investoren – mittlerweile gehen die Vereine bei großen Transfers leer aus, wie zuletzt beim Wechsel von Neymar bekannt wurde. Der FC Santos hat nur einen Bruchteil der tatsächlich gezahlten Ablösesumme erhalten. Aber natürlich liegt die Schuld nicht bei den Investoren – die brasilianischen Vereine wirtschaften so schlecht, dass sie häufig Rechte an ihren Stars verkaufen müssen, um die laufenden Kosten zu bezahlen. Das ist der Grund, warum sie bei einem späteren Transfer nichts mehr verdienen – sie haben das Geld bereits vorzeitig ausgegeben. Es ist die desolate Situation der Vereine, die Investoren wie Jochen Lösch in Brasilien eine vorteilhafte Verhandlungsposition verschafft: Ja, klar, wenn ein Klub immer Geldnöte hat, macht das einem Investor die Arbeit ein bisschen einfacher, nach dem Motto: Gib mir mal 50% der wirtschaftlichen Rechte an dem 18-jährigen Spieler X, dafür gebe ich Dir eine Millionen. Und der Klub braucht jetzt die Millionen, um morgen die Stromrechnung bezahlen zu können. Das ist selbstverständlich ein Umfeld, das Investoren hilft. Denn wenn die Talente ein paar Jahre erfolgreich in Brasilien gespielt haben, dann können die Ablösesummen sich um ein vielfaches steigern. Eines der in der Branche bekanntesten Beispiele ist der Transfer des ehemaligen Bayern-Abwehrspielers Breno. Ein Investor hat die Rechte an dem 17 jährigen erworben, der ein halbes Jahr später für zehn Millionen Dollar zu Bayern München ging. Der Investor hat einen Gewinn von 2000% eingefahren. Und da zeichnet sich eines der Probleme im Geschäft mit den Investoren ab: Wenn in einen Spieler investiert wurde, dann entwickelt sich eine Wertsteigerung nur, wenn er auch spielt. Ein Investor, der viel wirtschaftlichen Einfluss auf den Club hat, könnte auch Interesse haben, in die sportlichen Belange einzugreifen. Wir haben noch nie Einfluss auf irgendwas genommen, ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals bei einem Profiverein mehr als zwei oder drei Spieler als Investoren gehabt hätten. Also Einflussnahme null. Nicht wirklich überraschend, dass Jochen Lösch das sagt. Aber es gibt in der Branche eben auch Investoren, die weniger seriös sind als Traffic. Und die Clubs haben noch auf einer anderen Ebene Probleme mit den Investoren. Traffic zum Beispiel hat – völlig legal – einen Fußball Verein gegründet und ein hochgradig professionelles Nachwuchsleistungszentrum aufgebaut. Selbst Corinthians aus Sao Paulo, der mit Abstand finanzkräftigste Klub in Brasilien, blickt neidisch auf das Projekt von Traffic. Die großen Klubs machen durch die Bank eine schlechtere Ausbildung als wir, weil sie denken, ihnen fliegt sowieso alles einfach zu. Die Bedingungen, unter denen die Jungs bei Corinthians trainieren, sind katastrophal verglichen mit unseren. Ich glaube, was uns am meisten unterscheidet, ist die Ausbildung selbst. Wir investieren sehr, sehr viel und sehen heute das Ergebnis: Wir sind vielleicht der besten Klubs im Jugendbereich in Brasilien, zumindest sind wir einer der besten - was für einen No-Name-Klub, der einer Firma gehört, sehr beachtlich ist. Für die brasilianischen Vereine bedeutet das allerdings, dass es für sie noch schwieriger wird, talentierte Jugendliche in ihre Nachwuchs-Teams zu lotsen. Ohne eine Basis von vereinseigenen Spielern werden die Vereine immer mehr zur bloßen Abspielstation für Akteure, die zum Verkauf stehen. Mittelfristig können sie so nicht überleben. Das ist der Grund, warum der Sportpolitiker Antonio Nascimento gegen die Investoren wettert: Wenn die Regierung die Schulden der Klubs neu verhandelt, damit sie wieder wettbewerbsfähig sind, dann macht das nur Sinn, wenn wir wirklich die Klubs stärken – und nicht die Investoren. Wir wollen die Klubs neu aufstellen, damit sie die Investoren herausdrängen. Denn es geht ja nicht um Commodities, wie Eisenerz – sondern es handelt sich um Fußballspieler. Nachdem der grauhaarige Staatssekretär mit der randlosen Brille all die Probleme des brasilianischen Fußballs aufgezählt hat, atmet er einmal tief durch und macht eine lange Pause. Wirklich optimistisch sieht er nicht aus. Der Profifußball ist in einer wirklich schlechten Phase, aber wir hoffen, dass die WM ein Wendepunkt sein wird. Unsere Nationalmannschaft funktioniert ja sehr gut, aber die Fußball-Ligen funktionieren sehr schlecht. Und es besteht die Gefahr, falls Brasilien die WM gewinnt oder zumindest gut spielt, dass man denkt, dem brasilianischen Fußball geht es gut, aber es geht ihm schlecht. Vielleicht befindet er sich sogar im schlechtesten Moment seiner Geschichte. 1