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Der Staatssekretär, der antworten soll, wehrt sich mit Weit- schweifigkeit. Die Frage, die keine Frage ist, erfährt eine Antwort, die überhaupt kei- ne Antwort ist. Wortgeklingel. Gut, dass der Bundesadler keine Ohren hat. Das Schauspiel verfolgen zwei Dutzend Abgeordnete und einige Schulklassen auf der Besuchertribüne des Bundestages. Das Parlament quält sich durch die Sitzung. Die Stimmung ist wohl temperiert. CD: Das wohl temperierte Klavier, kurz freistehend, dann im Hintergrund Autor 2: Das Parlament auf Standby. Die Zuschauer vermissen die politischen Fernsehnasen, die jede Talk-Show bevölkern. Die sind auf Reisen, geben Pressekonferenzen, ver- handeln in den Hinterzimmern der Macht. Aber Fernsehnasen sind die wenigsten im Parlament. Wo sind die über 600 Abgeordneten? Sp. vom Dienst: Im Schatten der Macht 0 Atmo: Bundestagspräsidentin: Nächster Tagesordnungspunkt Sp. vom Dienst: Die Wahlkreiskümmerer Atmo: Sp. vom Dienst: Ein Feature von Thomas Klug und Tim Lang Sprecherin : 09:07 Uhr 1a Atmo: Büro Autor 1: Dr. Margrit Spielmann ist in ihrem Abgeordnetenbüro die Galionsfigur. Sie steht zwischen Tür und Schreibtisch. Wenn sie so da steht, kommt keiner an ihr vorbei. Ihre Mitarbeiterin versucht es trotzdem. Die Abgeordnetenbüros im Paul-Löbe-Haus sind nicht groß. Im Haus gegenüber ist mehr Platz ? es ist das Kanzleramt. Es gibt nur eine Kanzlerin, aber über 600 Abgeordnete. Wer hat da die kleineren Büros? Die Mitarbeiterin will zum Terminkalender. Der liegt auf dem Schreibtisch. Sie steht am Wasserkocher. Margrit Spielmann dazwischen. Irgendwie gelangt die Mitarbeite- rin zum Kalender. 1 Atmo Terminplan durch Sekretariat Autor 1: Margrit Spielmann hört nur halb hin. Sie redet sich für den Gesundheitsausschuss warm. Die SPD will, die CDU will nicht. Ein paar Sätze später sagt Margrit Spiel- mann, worum es eigentlich geht. Das Diamorphin-Programm. Eine Hilfe für schwerst Drogenabhängige, die mit dem Ersatzstoff Diamorphin versorgt werden sollen. Ein erfolgversprechendes Projekt ? was auch CDU-Politiker bestätigen, allerdings auf Landesebene. Im Bund gibt es Bedenken. Margrit Spielmann formuliert es anders. Take 1 Also, es sind Fragen offen, die man innerhalb der Koalition einfach noch mal bespre- chen muss. Darüber bin ich ärgerlich, das weiß man. Weil ich denke, das können wir auch diesen Menschen, die in diesem Projekt angebunden sind, auch nicht antun weiterhin. Das muss jetzt einfach ne Lösung her, zumal uns bei der Anhörung die Dezernenten der Bürgermeister der Städte das absolute Ja dazu gegeben haben. Sprecherin: 09:28 Uhr Autor 1: Margrit Spielmann hat es eilig. Die Sitzung beginnt um halb zehn. Für den Weg braucht sie mindestens acht Minuten ? wenn der Lift sofort kommt. Erst der Lift, dann die ewig langen unterirdischen Gänge, die die Abgeordnetengebäude und den Reichstag miteinander verbinden. 2 Atmo: Spielmann Ja, wir kommen jetzt zu spät. Autor 1: Sie hasst es zu spät zu sein. Take 2 Ich habe wieder mal keine Stimme. Also, diese Sitzungswochen. Aber die im Wahl- kreis, die sind viel schlimmer. Da hatte ich drei oder vier Veranstaltungen und wenn Sie da so schlecht von der Akustik Räume haben. Die Stimme, die mir versaut wur- de. Ich habe ja hier in Berlin Sonderschullehrer ausgebildet an der Humboldt-Uni. Viele Jahre, schlechte Akustik in den Hörsälen. Und da habe ich häufig Probleme mit meiner Stimme ? Aufzugstimme. Schritte. Autor: Zehn Minuten nach halb zehn hat Margrit Spielmann den Sitzungssaal erreicht. Sprecherin: Gesundheitsausschusssitzung. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes und anderer Vorschriften, Jacob-Kaiser Haus, Saal 12/28. 9:30 Uhr. Nicht öffentlich. CD: ?Das wohltemperiertes Klavier? Autor 1: Es ist Sitzungswoche im Deutschen Bundestag. Abgeordnete sitzen in den Aus- schüssen und in den Restaurants. Und manche sitzen im Plenum. Das aber sind die wenigsten. Sprecherin: 11:50 Uhr Autor 2 Marianne Birthler hat hier gesessen. Und ganz früher Margot Honecker. Heute ist es der ?Schwarze Block?, das Gebäude mit den Abgeordnetenbüros der Unionsfraktion. Unter den Linden 71, gleich neben dem Adlon. Dr. Rolf Koschorrek beschäftigt eine Sekretärin. Sie zeigt dem Computermonteur den Rechner im Nachbarzimmer, erzählt von der Post, die dreimal am Tag stapelweise gebracht wird und druckt den Termin- plan aus. Take 3 Also der Tag heute hat angefangen um 8:00h mit dem Treffen des Küstenkreises der CDU/CSU-Fraktion, das sind die Abgeordneten, die irgendwie Kontakt mit der Küste haben.Gut das ist die erste Stunde, dann war der Staatsakt im Reichstag und seit- dem hier im Büro einige Termine gehabt dann schon. Einige Besprechungen und dann durch den Poststapel gearbeitet, der jeden Tag abzuarbeiten ist, war auch heu- te ein Liste von 10/12 Telefonaten die schon die ganze Woche warteten, heute erle- digt zu werden., ja und jetzt wollen wir gemeinsam sehen, dass wir die Besucher- gruppe finden. Die Schulklasse mit der dann eine Stunde zu diskutieren ist und so setzt sich das dann über den Tag dann fort. Eigentlich ein relativ typischer Tag. Autor 2: Eigentlich würde die Sekretärin gern etwas ins Mikrofon singen. Etwas von Marianne Rosenberg vielleicht. Ihr Chef hat gerade noch eine Besprechung. Dann muss er noch einen dringenden Anruf erledigen. Wirklich dringend. Und eigentlich sollte er schon auf dem Weg zum Reichstag sein, ein Ausschuss wartet. Das Telefonat dau- ert nicht lange. Und los geht?s: Take 4 Die Pendelei gehört zum täglichen Ablauf. Und gerade so in den Donnerstag und Freitagsstunden, wenn Plenumsdinge anliegen, ist es schon so, dass man mehrere Tagespunkte hat wo man anwesend sein muss, will und die anderen Stunden auch im Büro nutzt für Termine. Müssen wir noch Ausweise abholen? Autor 2: Rolf Koschorrek muss die Straße Unter den Linden überqueren. Ein paar Mal am Tag. Die Ampel schaltet gerade auf Rot. Der Terminkalender ist wichtiger. Bei der nächsten Straße noch einmal. Dann die Gänge im Jakob-Kaiser-Haus ? unterirdisch bis zum Reichstag. Take 5 Atmo: Halle Wir müssen ein bisschen hinmachen, wir sind spät dran. Ich gehöre eigentlich zu denen, die immer versuchen auf Krampf pünktlich zu sein. Autor 2: Alle Macht geht vom Volke aus ? steht im Grundgesetz. Da das Volk nicht immer Zeit hat für die Macht, lässt es die Abgeordnete machen, stellvertretend sozusagen. Ab- geordneter wird man, wenn man genügend Wählerstimmen bekommt. Dann hat man die Macht, die vom Volke ausgeht. Aber mächtig ist man dann auch nicht. Take 6 Politiker teilen sich nun mal auf in Generalisten, die ganz vorne stehen wollen und die auch ganz vorne stehen müssen und die mit allen Themen irgendwie ein biss- chen arbeiten müssen und das sind die, die auch die öffentliche Aufmerksamkeit fes- seln. Und daneben ist ein ganzes Heer von Spezialisten, die eigentlich in ihrem Spe- zialwissen schon fast ersaufen. Und die Kompetenz, die sie versammeln, wie in Bundestagsausschüssen z.B., die kommt in den Medien überhaupt nicht mehr rüber. Autor 2: Dr. Marco Althaus, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Public Affairs in Berlin. Take 7 Und inzwischen sind selbst diese Spezialisten angewiesen auf ein Heer von Zuträ- gern, von Experten, von Interessenvertretern, die es dann noch besser wissen, von Leuten, die ihnen dann auch erklären können, warum das alles, was sie gerade be- schließen wollen, eigentlich schon vorentschieden wurde, vor drei Jahren in Brüssel oder internationale Expertengremien, die niemand gewählt hat, das ganze schon vor zehn Jahren mal ausgehandelt haben. Das kommt nämlich auch immer häufiger vor. Wir können nicht einmal mehr nach Brüssel gucken. Wir haben nicht einmal andere demokratische Gremien, die etwas vorentschieden haben, sondern irgendwelche Expertengremien. Das macht vielen Politikern extrem zu schaffen, die dann sagen, gut, wenn ich mit meinem Spezialwissen, als Arbeitstier in der Politik nicht mehr wahrgenommen werden kann, um wirklich Gesetzgebung zu gestalten, dann habe ich zwei Möglichkeiten. Entweder ich mache den Wahlkreiskümmerer, der sich um jedes kleine Problem kümmert. Da bin ich natürlich auch kein politisches Urgestein, es sei denn bei mir zu Hause im Dorf bei den rund 200 000 Menschen in meinem Bundestagswahlkreis oder sehr viel kleiner im Landtagswahlkreis. Autor 1 Wer direkt gewählt werden will, sollte im Wahlkreis bekannt sein. Für nett und freundlich gehalten werden. Wahrgenommen werden als jemand, mit dem man reden kann. Aber welchen Einfluss haben die netten, sympathischen, freundlichen ?Wahlkreiskümmerer? auf große politische Entscheidungen? Autor 2: Abgeordnete können sich entscheiden. Sie können ihrem Gewissen folgen oder ihrer Fraktion. Schwierig, wenn die Mehrheiten knapp sind. Dann kann der Fraktionsvor- sitzende wichtiger werden als das Gewissen. Abgeordnete können sich entscheiden. Sie müssen aber Rechenschaft ablegen. Den Wählern. Und der Fraktion. Take 8 Oder ich gehöre halt zu dieser kleinen, sehr, sehr kleinen Gruppe der Medienstars in der Politik, wo es vor allem darum geht, Präsenz, Präsenz, Präsenz zu zeigen und jeden Tag das Spiel zu machen. Performance. Und das ist ein sehr hartes Spiel. Es ist nicht einfach für die Politiker, solche Entscheidungen zu fällen. CD: Das wohltemperierte Klavier Effekt: Ticker / Fernschreiber Sprecherin: immer schneller, Fernschreiber immer lauter werdend Name: Spielmann Vorname: Margrit akademischer Titel: Doktor Familienstand: verheiratet Geburtsdatum: 29. April 1943 Partei: SPD Mitglied seit: 1990 Status: direkt gewählte Abgeordnete Wahlkreis: 060 Brandenburg an der Havel Bundestagsabgeordnete: seit 1998 Tätigkeiten: Ordentliches Mitglied im Ausschuss für Gesundheit. Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren und Jugend. Schriftführerin des deutschen Bundestages. Mitglied in der deutsch-irischen, deutsch-ungarischen, deutsch-mexikanischen, deutsch-österreichischen Parlamenta- riergruppe, Verwaltungsratsmitglied von SOS Kinder e.V. Deutschland, Vorstands- vorsitzende der Seniorenbetreuung e.V. Brandenburg an der Havel, Vorsitzende des Trägervereins Neurologisches Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche Brandenburg e.V., Schirmherrin der Kinder- und Jugendrehabilitation im Arbeitskreis Gesundheit für Deutschland. Hat bei der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz im Kongo gegen ihre Fraktion gestimmt. Autor 1 Die Ausschusssitzung ist nach dreieinhalb Stunden vorüber. Ohne Ergebnis. Margrit Spielmann wollte die Entscheidung. Aber gegen den Koalitionspartner stimmen? Take 9 Man darf es nicht schieben, man kann es auch nicht mehr schieben. Deshalb gab es noch mal einen großen Protest, sowohl der FDP, der Linken, als auch der Bündnis- grünen. Wir haben uns dann natürlich unserem Koalitionspartner angeschlossen. Ich nicht, meine Sprecherin hat es dann gemacht, weil man wusste, dass ich mich nicht verbiegen lasse. Autor 1 Jetzt ist keine Zeit darüber nachzudenken. Viele Termine, viele Menschen und viel Papier: Take 10 Wir haben gestern wieder drei oder vier Gesetzespakete bekommen, die guckt man sich schon an. Also wir wissen immer schon so in etwa, worum es geht, zwar nicht in Details, aber wir wissen, da gibt es etwas, was uns interessiert, was für den Wahl- kreis vor allem auch interessant ist. Es ist immer die Frage, welche Probleme man im Wahlkreis dort auf seinen Tisch bekommt. Deshalb habe ich das gleich heute abge- legt hier, man guckt drauf und überlegt, haben wir im Wahlkreis Probleme die sich aus diesem Gesetz ergeben könnten oder die wir nicht beantworten konnten. Gibt es ja auch Bedürftigkeiten, wo wir immer noch ringen. Wenn Sie die Frage damit ver- binden, ob man im Plenum nur die Hand hebt, ohne die Zielsetzung des Gesetzes zu kennen, da muss ich schon sagen, ich gucke schon rein, also ich weiß in dem jedem Falle, worum es in diesem Gesetz geht. Aber ich könnte nicht inhaltliche Details ver- suchen zu erklären. Das mache ich nicht. Sprecherin: 13:40 Uhr Autor 1: Im Büro von Margrit Spielmann sitzen jetzt zwei Praktikanten aus dem Wahlkreis. Die Arbeiterwohlfahrt wollte von Margrit Spielmann ein paar Sätze haben, etwas ?knacki- ges? sagt sie. Die Aufgabe wurde an die Praktikanten delegiert: 4 Atmo: Angenommen werden, das ist so schön kuschelig. Aber mach erst mal weiter. Autor 1: Die Mitarbeiterin mahnt zum Aufbruch. Die öffentliche Anhörung im Gesundheitsaus- schuss. Dann der Empfang einer Schulklasse, dann ist sie Schriftführerin im Plenum. Die übliche Sitzungswoche in Berlin eben. 4a Atmo: kurz frei dann drunter: Spielmann unterwegs, Gänge, Türen Aufzug Sprecherin: 14:00h ? 15:00h. CDU/CSU Fraktionssaal 3 N001. Öffentliche Anhörung. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Masseur- und Physiotherapeutengesetzes und anderer Gesetze zur Regelung von Gesundheitsfachberufen. Take 11 Heute wollen wir eine Altersangleichung der Masseure, der Logopäden und noch an- derer Berufe auf 18 Jahre, das ist jetzt auf 18 Jahre begrenzt, wenn die dann fertig sind mit 17 müssen die rumgammeln oder mit 16, dann haben wir gesagt, hier müs- sen wir versuchen, das runterzuziehen. Und dieses werden wir dann per Gesetz, in dem wir eine Veränderung des Alters hinkriegen. Da gibt es eine Anhörung dazu. Ei- ne Stunde. Autor 1 Die Anhörung findet im Saal der Unionsfraktion im Reichstagsgebäude statt. Ein schwarzer Kellner mit Tablettwagen serviert die Getränke. Geladene Experten sitzen in der Mitte wie in einer Manege. Die Abgeordneten sitzen um sie herum. Vor jedem Platz ein Mikrofon. Das ist nötig, sonst wird jedes Wort verschluckt. Gleiche Dezibel für alle. Die Redezeit wird nach Minuten gemessen, die Fragen werden abgelesen. Die Antworten sind vorbereitet. 5 Atmo: Frage im Ausschuss von Spielmann CD: Das wohltemperierte Klavier Effekt: Ticker / Fernschreiber Sprecherin: (schneller werdend, Fernschreiber lauter) Name: Koschorrek Vorname: Rolf akademischer Titel: Dr. Familienstand: verheiratet Geburtsdatum: 17.Juni 1956 Partei: CDU Mitglied seit: 1983 Status: direkt gewählter Abgeordneter Wahlkreis: 003 ? Schleswig-Holstein Steinburg-Dittmarschen Bundestagsabgeordneter: seit 2005 Tätigkeiten: Ordentliches Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, Ordentliches Mitglied als Schriftführer, Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Stellvertretendes Mitglied im Petitions- ausschuss, Stellvertretendes Mitglied im Verteidigungsausschuss, selbständiger Zahnarzt in der Gemeinschaftspraxis Koschorrek & Kirchmann, Bad Bramstedt, Mitglied des Gemeinderates, Bad Bramstedt Bei der Abstimmung über die Vorratsdatenspeicherung hat Rolf Koschorrek gegen seine Fraktion gestimmt. Sprecherin: 15:02 Uhr Autor 1: Die Ausschusssitzung ist vorbei. Eine Stunde, abgelaufen wie vorgesehen: Langeweile, wohl temperiert. Vom Thema hing nicht wirklich etwas ab: keine Koaliti- onskrise, kein Finanzierungsloch, kein Skandal. Keine Machtfrage. Und keine Frage fürs Gewissen. Rolf Koschorrek verabschiedet sich von Margrit Spielmann. Sie sind per du, sie werden sich bald wieder sehen. Beide sind Gesundheitspolitiker. Autor 2: Vom Ausschuss zur Schulklasse. Rolf Koschorrek hastet durch die Gänge. Besucherebene des Reichstages, Raum C2. Oder war es B2? Er findet die Klasse, geht an die Stirnseite, setzt sich auf einen Tisch, schraubt sein Bein um das Tisch- bein und hakt seinen Fuß fest. 6 Atmo: ?Gut dann begrüße ich Euch im Deutschen Bundestag, ich hoffe dass das mit der Anreise gut geklappt hat .... ich habe mich vorzustellen, 51, eine Tochter, Bad Bramstadt, ... Autor 2 Der Abgeordneten-Alltag ist sein Thema. Er erzählt von seinem Tagesablauf, redet von Sitzungswochen und Wahlkreisarbeit, von Terminen und langen Abenden. Er spricht die Sprache der Politiker. Seine Zuhörer, vierzehn-, fünfzehnjährige Schüler sprechen eine andere Sprache. Die Schüler stellen ein paar Fragen. Nicht zur Politik, sondern zur Familie. Wie die das alles aushalte. CD: Das wohl temperierte Klavier Autor 1: Margrit Spielmann steht vor 20 Schülern aus ihrem Wahlkreis. Sie weiß nicht, dass es eine Klasse ist, auf deren Jugendweihefeier sie gesprochen hat. Sie begrüßt die Klasse umständlich. Sie ist in ihrer Floskelsprache gefangen. Die Schüler langweilen sich. Take 13 Ich stelle immer wieder fest, dass die Klassen höchst unterschiedlich sind. Höchst unterschiedlich in der Vorbereitung, wie der Klassenlehrer so etwas vorbereitet. Da habe ich schon Schülergruppen erlebt, die ein ganz abgestimmtes Programm hatten. Die waren überhaupt nicht vorbereitet. Ist ja auch gut so, habe ich ja nichts dagegen. Da habe ich auch nicht vor, dass bis zum Ende in dieser zähen Art weiter zu betrei- ben, dann höre ich auf. Autor 1: Margrit Spielmann weiß nicht, was die Jugendlichen interessiert. Hinterher wundert sie sich, warum sie kaum in Brandenburger Schulen eingeladen wird, sie habe doch spannende Themen für Jugendliche, sie hat sich mit Sucht beschäftigt, mit dem Rauchverbot. Da hätte sie viel Material, sagt Margrit Spielmann und hastet zum nächsten Termin. CD: Das wohl temperierte Klavier Autor 2: Wie ist das mit der Macht? Abgeordnete machen viel. Aber haben sie Macht? Kön- nen sie überblicken, was sie entscheiden, wenn sie ihren Arm zur Abstimmung ha- ben? Dr. Marco Althaus, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Public Affairs in Berlin. Take 14 Wenn Sie den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament vergleichen: Wenn Sie politische Karriere machen wollen, wenn Sie Aufmerksamkeit haben wol- len, wenn Sie möchten, dass die Bildzeitung Sie anruft, um Sie zu zitieren, wenn Sie aufrücken wollen zu einem der Stellvertreter in der Partei oder in der Fraktion, wenn Sie ein Ministeramt haben wollen, dann versuchen Sie eine Karriere im deutschen Bundestag zu machen. Wenn Sie dagegen Einfluss haben wollen auf Gesetzgebung, an inhaltlichen Details herumschrauben wollen, wenn Sie auch überparteilich mit an- deren Leuten gestalten wollen, wenn Sie 450 Millionen Leute mitregieren wollen und wenn Sie darauf verzichten können, dass die Leute wissen, wer Sie sind, dann wer- den Sie Abgeordneter in Brüssel und Straßburg. Autor 1: Margrit Spielmann und Rolf Koschorrek sind Strippenzieher. Sie knüpfen Kontakte, schreiben Briefe an Minister, suchen Hilfe und führen Gespräche. Für sie ist das Poli- tik. Die Politik im Kleinen ? Gesetzesvorlagen und Ausschussberichte, das Feilschen um Nebensätze und Ergänzungsanträge. Die einen nennen es das Graubrot der Po- litik. Die anderen die politische Langeweile. Unauffällig. Ohne die Chance auf Lorbeeren außerhalb des Wahlkreises. Und ohne die Chance, die Richtung vorzugeben. Unaufgeregt. Wohl temperiert. CD: Das wohl temperierte Klavier Sprecherin: 11:53 Uhr Autor 2: Die Bohrer kämpfen sich durch Beton. Nebenan. In der Zahnarztpraxis wird leiser gearbeitet. Take 15 Der kommt gleich zu Ihnen, sie können im Wartezimmer Platz nehmen. Autor 2: Der Bundestagsabgeordnete empfängt in der Zahnarztpraxis: Weiße Hose, weißer Kittel, den Mundschutz nach unten gezogen. Rolf Koschorrek ist der einzige prakti- zierende Zahnarzt des Bundestages. Er legt den Bohrer beiseite, zieht sich um und geht in Pullover und Jeans zum ersten politischen Termin des Tages. Take 16 Zu Anfang war es ein bisschen schwierig die beiden Welten übereinander zu ziehen, weil es ja auch ein völlig anderes Anforderungsprofil ist, aber ich habe mich mit der Situation arrangiert. Das funktioniert schon ganz prima. Autor 2: In Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein sind die Wege kurz. Die Politik findet in der Gaststätte gegenüber der Praxis statt. Take 17 Das ist dann halt mal Wild-Wechsel. Jetzt gehen wir einen Landtagskollegen treffen für die Region. Ein paar Sachen besprechen. Er hat ein paar Sachen auf der Agenda und ich auch. Autor 2: Wilfried Wengler, Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein und Parteifreund. Take 18 Du ich bin am Wochenende wie ein Verrückter in der Gegend rum. Das ist eine typische Situation, dass sich die verschienen politischen Ebenen treffen. Wengler sitzt hier für die Region im Landtag in Kiel. Und das ist genauso mit Kreis- tagsabgeordneten, Kommunalpolitikern, das ist völlig normal, dass sich man über die Ebenen austauscht. Autor 2: Der Austausch findet hinter einem Raumteiler statt. Politik will Geheimnisse, auch wenn es um Kommunales geht. Take 19 Gut, Kommunalpolitik macht man nur aus Spaß. Das sind ganz wenige die aus der Kommunalpolitik für ihren Beruf daraus Vorteile ziehen können, da wird ja auch nichts aufwandentschädigt. Die Bundestagsebene ist schon eine andere, weil das ist schon eine berufliche Aufgabe, weil das ja anders als das, was man am Feierabend in der Kommunalpolitik regelt. Man kann es nicht vergleichen. Der Spaßfaktor ist bei beiden vorhanden. Bei mir ist es im Bund spannend, weil es jeden Tag eine neue Herausforderung gibt, in die man sich hineinarbeiten kann. Nicht zwingend muss, man muss ja nicht jeden Tag ein neues Fass aufmachen, aber man kann. Diese Viel- falt der Betätigungsmöglichkeiten, die hat man natürlich im Kommunalbereich nicht. Autor 2: Rolf Korroschek muss los; sich umziehen für den nächsten Termin. CD: Das wohl temperierte Klavier 7 Atmo Wagen, Rundgang im Spatzenhaus Autor 1: Ein evangelischer Kindergarten in Treuenbrietzen braucht einen Krippenwagen. Treuenbrietzen liegt im Südwesten Brandenburgs, der Kindergarten mitten in Treu- enbrietzen. Das Geld für den Wagen fehlt, der Kindergarten wendet sich an einen Landtagsabgeordneten. Der Landtagsabgeordnete wendet sich an Margrit Spiel- mann. Und Margrit Spielmann kennt den Weg zu einem Spendentopf. Jetzt will sie das Ergebnis der guten Tat besichtigen. Take 20 mit Atmo Wir dachten, wir bringen etwas Gesundes und etwas Anderes. So, wie gestaltet sich jetzt Ihre? Wir können erst einmal alles anschauen. Autor 1: Kurz vor elf hält Margrit Spielmanns Wagen vor dem Kindergarten. Das Geld ist bereits übergeben, die Lokalpresse eingeladen. Nur der Krippenwagen ist noch nicht da, die Lokalpresse auch nicht. Vielleicht kommt der Wagen in einer Woche. Die Lokalpresse gar nicht. Der Kindergarten wolle sich bedanken, sagt Margrit Spielmann. Das ist der Kindergarten, sagt die Kindergärtnerin. Und das sind die Kinder, sagt sie noch. Margrit Spielmann staunt. Und ist ungeduldig. Take 21 Gehen wir weiter? Ja, gehen wir weiter. Autor 1: Die Kindergartenleiterin überreicht ein Bild. Die Kinder hätten es für Margrit Spiel- mann gemalt ? als Dankeschön für einen Wagen, den sie noch nicht einmal gesehen haben. Take 22 Wer hat das Bild gemalt. Komm mal her, zeig mir das mal. Das ist eine Giraffe, ein Affe. Wo sind die anderen Tiere. Danke. Bitte. Wisst ihr auch, warum ihr mir das Bild gemalt habt. Nein. Wissen wir nicht. Der ist ja noch nicht da, wir können ihn noch nicht sehen. Autor 2: Bad Bramstedt. Neben dem Wohnhaus Rolf Koschorreks prangt ein Fahnenmast. Ein Geschenk zum 50. Geburtstag. Rolf Korroschek hat den Mast aufgestellt und die Deutschlandfahne hochgezogen. Das Fraunhofer-Institut für Silizium-Technologie hat seinen Sitz in Itzehoe. Dort ist der nächste Termin. Rolf Koschorrek nimmt das Auto. Take 23 Das ist ein Termin über Forschung und Bildung. Ich mache da immer so, dass ich im Wahlkreis so relevante Dinge zu besichtigen, mit den Chefs mal in Kontakt zu kom- men, um zu sehen wo wir helfen können in der Politik oder für die ganze Sache was tun kann. Autor 2 Rolf Koschorrek sitzt am Lenkrad, das Mobiltelefon auf dem Schoß, die Freisprech- anlage eingeschaltet. Er fährt, redet und telefoniert. Wenn niemand anruft, wählt er selbst eine Nummer. Die hoch gerüstete Technik im Wagen surrt und piepst. Take Koschorrek 8 Atmo Telefonat ? Anrufbeantworter Autor 2: Die Fahrt dauert eine halbe Stunde. Koschorrek ist zügig gefahren. 9 Atmo Tag. Ich wollte zu Dr. Windbracke. Koschorrek. Ein bisschen spät dran, aber ange- kündigt. Take 24 Herzlichen Dank ich habe das schon lange auf der Liste. Zweierlei Gründe. Pharmainstitut im Wahlkreis ... ... was hier konkret angeht. Autor 2: Es geht um Geld, es geht um Technik. Es geht um Aufträge. Autor 2: Prof. Wolfgang Windbracke ist der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Siliziumtechnik. Take 27 Zum anderen leben wir in großen Teilen von öffentlich geförderten Projekten, obwohl die Industrie da auch teilnimmt und da hilft Lobbyarbeit allemal, weil es bewerben sich viele um Projekte und da ist Lobbyarbeit wichtig. Autor 2: Der Erfolg eines Gesprächs mit einem Abgeordneten ist nicht messbar. Die Institutsleitung ist aber zuversichtlich. Man fühlt sich verstanden. Man ist sich einig ? es geht um den Wahlkreis. Es geht um das Institut. Take 28 Das war ein normales Gespräch, aber ich glaube dass Herr Koschorrek sicherlich die richtigen Verbindungen hat in Berlin, um zumindest unsere Thematik unsere Sorgen mal in höherer Stelle anzubringen. Ob das letztendlich zu einer Lösung führt wissen wir nicht, aber je mehr Leute involviert werden, desto besser ist es für uns. CD: Das wohl temperierte Klavier Autor 1: Um einen Tunnel einzuweihen, braucht man ein Fahrrad. Margrit Spielmann kommt mit dem Auto. Das Fahrrad bringt ein Parteifreund. Margrit Spielmann braucht es, um später, wenn die Fernsehkameras aufgebaut sind, durch den Tunnel zu radeln. Take 29 Straßenatmo Damenfahrrad ist in Ordnung. Wo ist das Fahrrad für Dellmann. ... Autor 1: Der Chauffeur des Ministers hat seine Limousine 500 Meter vor dem Ziel angehalten und das Fahrrad vom Gepäckständer genommen. Der Minister kann nun als Fahr- radfahrer verkleidet den Fernsehkameras und Fotoreportern entgegenrollen. Gute Bilder für die Regionalnachrichten. Die Einweihung kann beginnen. Take 30 So, sehr geehrter Herr Minister Dellmann, sehr geehrte Frau Dr. Spielmann Autor 1: Margrit Spielmann hat sich ein paar Stichworte aufgeschrieben, eine Pointe formu- liert. Take Ich hätte so gern das letzte Wort gehabt. Aber gut... Autor 1 Sie sagt, was man bei Eröffnungen so sagt. Aber die Textbausteine sitzen nicht si- cher, sie verliert die Satzanfänge aus dem Blick. Ihre vorbereitete Pointe vergisst sie fast: Take 32 ? an diesem Erfolg haben nicht nur, ach so. wir könnten den Tunnel ? 10 Atmo Autor 1: Margrit Spielmann ist zufrieden. Der Tunnel war wichtig. Es ging um die Sicherheit von Kindern. Der Wagen für den Kindergarten war wichtig. Wer sollte schon etwas dagegen haben, soziale Einrichtungen zu unterstützen. Margrit Spielmann weiß, wo es Spendengelder oder Fördermittel gibt. Margrit Spielmann kümmert sich. Take 33 Na gut, also ich gebe schon zu, wenn es Fördermittel zu verteilen gibt, wir sehen ja aus den Ministerien, ob es aus den Familienministerium oder aus anderen Ministe- rien Fördermittel aufgelegt werden, dann bemühen wir uns mindestens einmal im Monat, aber dann immer für den Wahlkreis. Dann ist man Wahlkreislobbyist. Autor 1: Beim nächsten Problem wird sie wieder einen Brief an einen Minister schreiben. Oder Geld eintreiben, von einem Unternehmen. CD: Das wohltemperierte Klavier: Sprecherin: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Sprecher vom Dienst: Im Schatten der Macht. Die Wahlkreiskümmerer. Ein Feature von Thomas Klug und Tim Lang. Es sprachen: Simone Kabst und die Autoren Technik: Andreas Narr Regie: Rita Höhne Redaktion: Constanze Lehmann Produktion Deutschlandradio Kultur 2008