KULTUR UND GESELLSCHAFT Titel der Sendung: "Wohlfeilheit, Eleganz und Correctheit" Die verlegerischen Pioniertaten des Christian Bernhard Tauchnitz Autor/in: Christian Blees Redakteurin Dorothea Westphal Sendetermin: 04.06.2013 Besetzung: Erzähler (Kommentar); Zitator (Zitate) Regie: Produktion: O-Töne und Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-5565 O-TON: THOMAS KEIDERLING Die Idee, die Tauchnitz hatte im 19. Jahrhundert, war großartig: englische Bücher in Deutschland und in Europa zu verbreiten, und er war damit extrem erfolgreich. Ich habe mal gefunden: So Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Bücher von Tauchnitz wäschekörbeweise verkauft worden. MUSIK ATMO: PFERDEKUTSCHE AUF KOPFSTEINPFLASTER, "BIG BEN"-GLOCKE LÄUTET, PUB Darüber gelegt: ERZÄHLER London, im Juli 1843. Ein junger deutscher Buchverleger ist in die britische Hauptstadt gekommen, um sich hier in einem Pub mit einem Londoner Kollegen zu treffen. Er heißt Christian Bernhard Tauchnitz und kommt aus Leipzig. Tauchnitz hat ein Rundschreiben im Gepäck, das er über seinen Geschäftsfreund an englische Autoren verteilen lassen möchte. Darin heißt es: GERÄUSCH: FEDERKIEL KRATZT ÜBER PAPIER ZITATOR Der Grund, weshalb ich mich an Sie wende, ist der Wunsch, neue englische Werke in der Originalsprache in Deutschland zu veröffentlichen. Erlauben Sie mir jedoch zu bemerken, dass ich - wie jeder andere Verleger in Deutschland - gegenwärtig das Recht zu solch einer Unternehmung habe, ohne die Genehmigung der Autoren einzuholen. Und dass meine Vorschläge einzig und allein dem Wunsch entspringen, dadurch den ersten Schritt zu einer literarischen Beziehung zwischen England und Deutschland zu unternehmen und zu einer Erweiterung der Urheberrechte. (zitiert nach: Curt Otto, Der Verlag Bernhard Tauchnitz 1837-1912, Leipzig 1912, S. 16-17; Übersetzung: Christian Blees) ERZÄHLER Dass Christian Bernhard Tauchnitz behauptet, das Recht auf seiner Seite zu haben, hat einen einfachen Grund: Als der Leipziger Verleger im Sommer 1843 seinen Brief schreibt, existiert noch gar kein Länder übergreifendes Urheberrecht. Insofern ist das Schreiben geradezu revolutionär. Und nicht nur das. Es ist auch der Auftakt zu einem ebenso ungewöhnlichen wie bis heute weitgehend unbekannten Kapitel deutscher Verlagsgeschichte. MUSIK ATMO: DRUCKERPRESSE ERZÄHLER Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat sich Leipzig längst als Zentrum des deutschen Verlagswesens etabliert. Die Buchdruck-Pressen laufen auf Hochtouren. Auch eine Lehranstalt für Buchhändler und der Börsenverein des deutschen Buchhandels haben hier ihren Sitz. Als Christian Bernhard Tauchnitz 1837 in Leipzig seinen eigenen Buchverlag gründet, ist er einundzwanzig Jahre alt. Bis dahin hat der Sohn eines Juristen zunächst eine Erziehungsanstalt für Knaben aus höheren Ständen besucht, anschließend in einer Buchhandlung gearbeitet und danach in der Druckerei seines Onkels eine Schriftsetzer-Lehre absolviert. O-TON: ELISABETH HERRMANN Der Verlag, der hat angefangen, wie das so in Anfangsjahren von Verlagen üblich ist: mit einem ganz kuriosen Verlagsprogramm. Also, es kamen Bücher heraus wie ein "Handbuch zur Behandlung von Scheintoten", aber auch ganz viele Wörterbücher, unter anderem dann später auch eine Shakespeare-- Ausgabe - Shakespeares Dramen -, bevor er sich dann eben 1841 auf diese "Collection of British and American Authors" eingeschossen hat. ERZÄHLER Elisabeth Herrmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Britische Kultur der Universität Bamberg. Sie hat sich für ihre Masterarbeit ausführlich mit dem Verlag Bernhard Tauchnitz beschäftigt. Auch glaubt sie zu wissen, warum Tauchnitz vier Jahre nach Verlagsgründung damit beginnt, die Bücher englische Autoren in Originalsprache herauszubringen. O-TON: ELISABETH HERRMANN Das war durch Reisen nach Großbritannien bedingt. Dort kam er natürlich in Kontakt mit englischer Literatur und hat diese Begeisterung auch mit nach Deutschland oder mit nach Leipzig gebracht. Es war aber so, dass englische Originalausgaben auf dem Festland fast unerschwinglich waren, was daran lag, dass zum einen die englischen Buchhändler sehr hoch besteuert waren, aber auch die Arbeitslöhne in England einfach höher waren. Und englische Ausgaben waren meistens sehr, sehr wertvoll ausgestattet. ERZÄHLER Christian Bernhard Tauchnitz erkennt, dass er die Bücher der englischen Autoren in Originalsprache deutlich billiger herstellen und verkaufen kann als britische Verleger. Auch will er so die Druckerei besser auslasten, die er gleichzeitig mit seinem Verlag ins Leben gerufen hat. Also schaltet er am 28. September 1841 im "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" eine Anzeige. Mit dieser gibt Tauchnitz bekannt, dass er soeben den ersten Band seiner neuen, englischsprachigen Buch-Kollektion an den Buchhandel ausgeliefert hat. ZITATOR Diese Taschenausgabe ist sehr wohlfeil und elegant, besonders aber empfiehlt sie sich durch Korrektheit. Jeder Band wird ohne Preiserhöhung einzeln verkauft. Die Fortsetzung soll schnell erscheinen. ERZÄHLER Zwar gibt es in England schon seit langem Gesetze, durch die Autoren vor der illegalen Verbreitung ihrer Werke im eigenen Land geschützt werden. Was aber damit im Ausland passiert, darauf haben sie keinen Einfluss. So veröffentlicht auch Christian Bernhard Tauchnitz ab Herbst 1841 zunächst rund 50 Bände in Englisch, ohne den Urhebern dafür irgendetwas zu bezahlen. Das ändert sich erst, nachdem er seinem Londoner Kollegen das Schreiben für die englischen Autoren mitgegeben hat. ATMO: PUB FEDERKIEL KRATZT ÜBER PAPIER ZITATOR Für die vereinbarte Summe wollen Sie mir die Genehmigung erteilen, meine Ausgabe in Europa zu veröffentlichen. Ich erheische in keiner Weise das Recht, meine Ausgabe in England oder in Ihren Kolonien zu vertreiben, und ich werde in keiner Weise versuchen, den Verkauf englischer Originalausgaben in Deutschland zu behindern. Ich zweifle nicht, dass Sie mein Angebot umgehend annehmen, und ich hoffe, dass der erste Versuch, eine Verbindung zu den klassischen Autoren Englands herzustellen, zu einer langdauernden und vorteilhaften Beziehung zwischen beiden Seiten führen wird. (zitiert nach: Curt Otto, Der Verlag Bernhard Tauchnitz 1837-1912, Leipzig 1912, S. 16-17; Übersetzung: Christian Blees) O-TON: ELISABETH HERRMANN Es gab aber natürlich von Autorenseite und teilweise auch von Verlegerseite durchaus Bestrebungen, dieses Urheberrecht auch auf den internationalen Rahmen auszuweiten. Und das hat Tauchnitz auch sehr früh erkannt. Deswegen hat er 1843, ist er nach England gereist und hat Verträge mit Autoren abgeschlossen, in denen er sich einmal das Verlagsrecht von den Autoren einräumen ließ. Auf der anderen Seite hat er ihnen Honorare bezahlt, und er hat das Versprechen abgegeben, die Bücher nicht in Großbritannien oder den britischen Kolonien zu verkaufen. Und damit war Tauchnitz einfach der erste, der autorisierte Ausgaben auf dem Festland verkauft hat. Durch diese Verträge hat er sich natürlich einen enormen Marktvorsprung gesichert, den seine Konkurrenten auch nicht mehr einholen konnten. Deswegen war Tauchnitz quasi Monopolist auf dem Gebiet der englischsprachigen Literatur in Deutschland. ERZÄHLER Mitte des neunzehnten Jahrhunderts existieren in Deutschland gleich mehrere Dutzend Verlage, die ungefragt englischsprachige Bücher herausbringen. Umso mehr freuen sich viele englische Autoren darüber, dass ihnen jetzt zum ersten Mal überhaupt ein ausländischer Verleger Tantiemen zahlen will. Also übertragen sie Christian Bernhard Tauchnitz jeweils ihre gesamten Werke mit allen Rechten. In einer Selbstdarstellung des Verlags heißt es: ZITATOR Das oberste Prinzip der Kollektion ist es, als Vermittler intellektueller Produkte einer großen Nation zu dienen - und zwar in Form einer typischen Sammlung, die einen vertrauenswürdigen und objektiven Eindruck der britischen Literatur vermittelt. MUSIK ERZÄHLER Christian Bernhard Tauchnitz macht Leipzig zum herausragenden deutschen Produktionsort für englischsprachige Bücher. Die Bände seiner Edition im Taschenbuch-Format kosten pro Exemplar einen halben Taler. Damit sind sie wesentlich billiger als vergleichbare Ausgaben englischer und amerikanischer, aber auch anderer deutscher Verlage. Auch schafft es Tauchnitz, manche Titel in Deutschland früher herauszubringen als seine britischen Konkurrenten. Denn in England erscheinen viele Romane zunächst als Fortsetzungen in Zeitschriften. Weil Tauchnitz von vielen Autoren Korrekturfahnen ihrer Werke zugeschickt bekommt, kann er diese oft schon kurz nach Erscheinen der letzten Zeitschriftenfolge in Buchform herausbringen. Thomas Keiderling, Autor des Buches "Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig": O-TON: THOMAS KEIDERLING Und bemerkenswert war auch, dass er sehr erfolgreich war. Es gibt ein Jahrbuch der Millionäre Sachsens von 1912. Da lebte dann nur noch der Sohn von Tauchnitz - der tauchte an siebenter Stelle in Sachsen auf. Also: Nach dem sächsischen König war Tauchnitz Junior der siebent vermögendste Mann im Königreich Sachsen, mit einem geschätzten Vermögen von mehr als sieben Millionen Goldmark, und das ist sehr erstaunlich. ERZÄHLER Schon in der Frühzeit des Verlages erwirtschaftet Christian Bernhard Tauchnitz genügend Geld, um sich 1848 im Südwesten der Stadt Leipzig ein Rittergut zu kaufen. Dort empfängt er regelmäßig Vertreter des Leipziger Bürgertums zum Gedankenaustausch. Seine positiven Erfahrungen mit englischen Autoren ermuntern ihn außerdem schon bald, auch zu US-amerikanischen Verlagen und Schriftstellern Kontakt aufzunehmen - mit Erfolg. Darum erweitert Tauchnitz den Reihentitel schließlich auf "Collection of British and American Authors". Mit vielen seiner englischsprachigen Autoren pflegt der Verleger angeregte Briefwechsel. O-TON: ELISABETH HERRMANN Ein besonderes Verhältnis besteht auf jeden Fall zu Charles Dickens, was daran zu erkennen ist, dass Charles Dickens seinen ältesten Sohn, Charlie, im Alter von 16 Jahren nach Deutschland schickte. Charlie hat bei der Familie Tauchnitz gewohnt und ist auf eine deutsche Schule in Leipzig gegangen. Und auch Bernhard Tauchnitz hat seinen ältesten Sohn, Karl Bernhard, nach England geschickt, nachdem er die Schule abgeschlossen hatte. Und er hat unter anderem eben auch bei Charles Dickens gewohnt und hat natürlich auch Kontakte zu anderen Autoren aufgebaut und die dann im Nachhinein gepflegt. ERZÄHLER Charles Dickens schreibt in einem Brief an eine Freundin: GERÄUSCH: FEDERKIEL KRATZT ÜBER PAPIER ZITATOR Tauchnitz ist zwar ein professioneller Verleger - der größte in Deutschland, glaube ich -, aber auch ein ehrenvoller und integrer Gentleman. Ich habe mit ihm schon einige Geschäfte gemacht, die alle mit meinen Büchern zu tun hatten, und bin mit ihm nicht nur persönlich sehr gut vertraut, sondern auch mit seiner durch und durch guten Reputation. (Simon Novell-Smith: Firma Tauchnitz 1837-1900, London 1966, Übersetzung: Christian Blees) MUSIK ERZÄHLER 1869 - und damit 28 Jahre nach ihrem Start - erblickt Band 1000 der Edition das Licht der Öffentlichkeit. Christian Bernhard Tauchnitz ist jetzt 53 Jahre alt. Ebenso rasch wie das Buchprogramm des Verlegers wächst, nimmt auch sein politisches und gesellschaftliches Ansehen zu. O-TON: ELISABETH HERRMANN 1860 wurde Bernhard Tauchnitz in den Erbadel aufgenommen, 1872 zum britischen Generalkonsul ernannt. Und dieser Aufstieg in die Adelskreise hat ihm natürlich eine gesellschaftliche Stellung eingebracht, die er vorher nicht hatte. So wurde er 1866 zum Mitglied der ersten sächsischen Ständekammer ernannt und konnte dort eben politisch wirken. Er war aber auch sozial sehr engagiert. Er hat beispielsweise in seinem Heimatdorf den Milchfrauen den Weg durch den Wald pflastern lassen, er hat die Kinderbewahranstalt mit einem Grundstück beschenkt oder mit einem Großteil seines Privatvermögens eine Kirche erbauen lassen. ERZÄHLER Die einheimischen Mitbewerber verfolgen den Erfolg der Tauchnitz Collection mit großem Interesse. Einer von ihnen heißt Anton Philipp Reclam. In punkto englischsprachiger Literatur kann zwar auch er Tauchnitz nicht das Wasser reichen. Doch dann tritt 1867 eine Gesetzesnovelle in Kraft, die sich auf deutsche Schriftsteller bezieht. Durch sie wird geregelt, dass die Urheberrechte am Werk eines Autors dreißig Jahre nach dessen Tod verfallen. Das bringt Anton Philipp Reclam auf eine Idee. Was Tauchnitz mit englischen Autoren macht, ahmt Reclam mit deutschen Schriftstellern jetzt ganz einfach nach: anspruchsvolle Literatur zum Niedrigpreis im Taschenbuchformat. O-TON: ELISABETH HERRMANN Das heißt, Goethe und Schiller und so weiter durften dann einfach gedruckt werden, und das hat Reclam ausgenutzt und hat eben auch so eine offene Reihe gegründet mit seiner Universal-Bibliothek, in der die einzelnen Bände einzeln käuflich waren. Reclam hat das wirklich genauso aufgezogen wie Tauchnitz: Das Taschenbuchformat, einfach diese Handhabung. Der einzige gravierende Unterschied ist wirklich die rechtliche Situation. ERZÄHLER Nicht nur in Deutschland tut sich etwas in Sachen Urheberrecht. 1891 verabschiedet der US-amerikanische Kongress den sogenannten "International Copyright Act". In diesem wird unter anderem geregelt, dass - vereinfacht ausgedrückt - in den USA ab sofort nur noch solche Bücher verkauft werden dürfen, die auch in den USA produziert worden sind. Bis dahin hat Tauchnitz auf der anderen Seite des Atlantiks in knapp fünfzig Jahren mehr als fünf Millionen englischsprachige Bände absetzen können. Damit ist jetzt Schluss. Trotz dieses Rückschlags ist der Erfolg der Tauchnitz-Kollektion auf Dauer nicht mehr aufzuhalten. ZITATOR Wer des Öfteren im Ausland unterwegs ist, der hat schon längst erkannt, dass Tauchnitz weitaus mehr vermag, als ihn nur mit aktueller fiktionaler Literatur zu versorgen. ERZÄHLER Schreibt der Schriftsteller Tighe Hopkins 1901. Die Tauchnitz-Bände sind nicht nur erfolgreich, weil sie so preisgünstig sind. Auch sind sie Ausdruck einer neuen Lesekultur. Im viktorianischen Zeitalter ist es eigentlich üblich, Bücher zuhause, im Kreise der eigenen Familie, zu lesen. Die handlichen Tauchnitz-Bände dagegen richten sich vor allem an Individualreisende. Das einzelne Buch wird für sie zum Begleiter in oft ferne Länder. ZITATOR Falls man einmal wegen Krankheit oder Regen in seinem Hotelzimmer eingesperrt sein sollte - ganz egal, ob in Paris, Rom, Wien oder Madrid -, dann braucht man nur jemanden in die nächst gelegene Buchhandlung zu schicken. Schon kann man sicher sein, zu einem geringen Preis fast jedes Buch zu bekommen, das man vergessen hat, vor der Abreise in den Koffer zu packen. Ganz egal, ob Shakespeare, Stevenson oder Browning. (Tighe Hopkins: The Tauchnitz Edition, in : The Pall Mall Magazine 25/1901, S. 199; Übersetzung: Christian Blees) ERZÄHLER Reisende aus England und den USA, die nach Hause zurückkehren wollen, haben nicht selten ein Problem: Sie dürfen die im Ausland gekauften Tauchnitz- Bände nicht in ihr Heimatland einführen. Das hat Bernhard Tauchnitz mit seinen englischsprachigen Autoren und deren Originalverlegern jeweils vertraglich so geregelt. Viele Käufer sehen sich daher genötigt, die Bücher ganz einfach heimlich einzuschmuggeln. Andere Tauchnitz-Leser wiederum greifen vor ihrer Rückkehr in heimische Gefilde zu ganz anderen Maßnahmen. In seinem Roman "The Sea Lady", der 1902 ebenfalls innerhalb der Tauchnitz Collection erscheint, schreibt der berühmte englische Autor H. G. Wells: ZITATOR Wie es aussieht, gibt es an einem ungewöhnlichen Ort eine ganz besondere Sammlung englischsprachiger Bücher: Auf dem Boden des Ärmelkanals. Praktisch die gesamte Tauchnitz-Edition ist dort versammelt - im letzten Moment über Bord geworfen von gewissenhaften oder eingeschüchterten Reisenden, die vom Kontinent zurückkehren. (H. G. Wells: The Sea Lady, Leipzig 1902; Übersetzung: Christian Blees) ERZÄHLER Mitte 1894 erscheint Band Nummer dreitausend der englischsprachigen Tauchnitz-Edition. Gut ein Jahr später - und damit kurz vor Vollendung seines neunundsiebzigsten Lebensjahres - stirbt Christian Bernhard Tauchnitz am 14. August 1895 auf seinem Rittergut bei Leipzig. MUSIK ERZÄHLER Mit dem Tod seines Gründers, Christian Bernhard Tauchnitz, gehen die Geschicke des Verlags über in die Hände des Sohnes. Der heißt Karl Bernhard Tauchnitz und ist 1841 auf die Welt gekommen - im selben Jahr, in dem auch die "Collection of British and American Authors" einst das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Karl Bernhard Tauchnitz ist vierundfünfzig Jahre alt, als er den Vater beerbt. Drei Jahre lang führt er die Verlagsgeschäfte alleine weiter. Dann entschließt er sich dazu, die programmatische Arbeit einem anderen zu überlassen. Der Buchwissenschaftler Thomas Keiderling. O-TON: THOMAS KEIDERLING Es ist erst mal so, dass man bei großen Verleger-Persönlichkeiten immer von genialen Verlegern ausgeht und von Verwaltern. Der Bernhard Tauchnitz war ein genialer Gründer. Der hatte also Ideen, der wusste, was er wollte. Und der Sohn, der gleichnamige Sohn von Bernhard Tauchnitz, das war eher ein Verwalter. Das hat man oft bei Verleger-Familien: Der Sohn, der ist dann zwar auch im Haus drin, der macht die Arbeiten weiter, aber er ist nicht so genial. Deshalb holt man sich dann Prokuristen ins Haus. Und der Curt Otto ist jemand, der das sehr gut gemacht hat, der Ideen hatte und der letztendlich auch der Motor der Entwicklung war, so zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. ERZÄHLER Curt Otto ist erst vierundzwanzig Jahre alt, als Karl Bernhard Tauchnitz ihn mit der Gestaltung des Verlagsprogramms betraut. Anders als noch der Verlagsgründer, verfügt Otto aber über keinerlei persönlichen Kontakte zu ausländischen Schriftstellern. Um dennoch interessante zeitgenössische Autoren für die "Collection of British and American Authors" gewinnen zu können, nimmt Otto Kontakt zu mehreren Literaturagenturen auf. Neu aufgenommen ins Programm werden dadurch unter anderem Joseph Conrad, Gilbert K. Chesterton und Jack London. 1909 erscheint der viertausendste Band der Reihe, ein Ende ist zunächst nicht in Sicht. Doch dann, im Sommer 1914, macht plötzlich die Weltpolitik dem Tauchnitz Verlag einen kräftigen Strich durch die Rechnung. Am 6. August wendet sich Kaiser Wilhelm II. per Ansprache an das deutsche Volk. O-TON: KAISER WILHELM II. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. ERZÄHLER Ende September 1914 wird der Zahlungsverkehr zwischen den Kriegsgegnern Deutschland und Großbritannien eingestellt. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die englischsprachige Edition des Hauses Tauchnitz. Noch im Jahr 1913 waren innerhalb der "Collection of British and American Authors" insgesamt 81 Bände erschienen. Jetzt kommt die Reihe vorübergehend völlig zum Erliegen. Um die englischsprachige Edition nicht gänzlich eingehen zu lassen, greift Programmleiter Curt Otto zu einer Notlösung: Er beschränkt sich auf wenige US-amerikanische Philosophen und Klassiker, darunter die "Fantastic Tales" von Edgar Allan Poe und "The Last Mohican" von James Fenimore Cooper. Zwischen 1915 und 1919 erscheinen nie mehr als acht Bände pro Jahr. Das ist nur ein Zehntel dessen, was zuvor üblich gewesen ist. O-TON: THOMAS KEIDERLING Der Erste Weltkrieg war ein sehr tiefer Einschnitt, und man kann sagen, dass die Geschäftsbeziehungen zu Großbritannien komplett zum Erliegen kamen. Und das ging nicht nur über die gesamte Kriegsdauer hinweg, sondern auch bis zum Jahr 1923. Also, ich würde sagen: Diese neun Jahre war der Kontakt völlig unterbrochen, und der Verlag hat dann auch an Substanz verloren. Das war mit einer der Gründe, warum Tauchnitz dann nicht mehr so erfolgreich war. ERZÄHLER Auch nach Ende des Ersten Weltkriegs bleibt der Verlag von Schicksalsschlägen nicht verschont. Erst stirbt 1921 der Sohn des Verlagsgründers, acht Jahre später der Prokurist und Programmleiter, Curt Otto. MUSIK O-TON: ELISABETH HERRMANN Nach dem Tod von Curt Otto wurde der Verlag in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und 1929 kam dann eben Max Christian Wegner als Geschäftsführer in diese Aktiengesellschaft. Er war vorher Prokurist bei Insel, hat da auch Vor- und Nachworte zu zahlreichen Büchern geschrieben. Er war also literarisch schon auf Zack und wusste, mit was er arbeitet. 1929 ging es dem Verlag ja natürlich aufgrund des Währungsverfalls und der Weltwirtschaftskrise relativ schlecht, und Wegner hat versucht, den Verlag durch mehrere Neuerungen einfach wieder besser dastehen zu lassen. ERZÄHLER Max Christian Wegner sorgt unter anderem dafür, dass die verlagseigene Druckerei aus dem Unternehmen ausgegliedert wird. Auch reduziert er die Anzahl lieferbarer Titel innerhalb der englischsprachigen Edition deutlich. So sind zum Beispiel von Charles Dickens nur noch 15 statt zuvor 33 Titel erhältlich. Doch Wegners Aktivitäten stoßen bei manchen Anteilseignern auf wenig Gegenliebe. Darum kehrt dieser dem Tauchnitz Verlag nach nur zwei Jahren als Geschäftsführer wieder den Rücken. Ende Januar 1933 übernehmen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Zu dieser Zeit laufen die Geschäfte des Tauchnitz-Verlages mehr schlecht als recht. Darum wird das traditionsreiche Unternehmen im Sommer 1934 an die Firma Oscar Brandstetter verkauft. Offenbar glaubt man hier nach wie vor an eine Zukunft der fremdsprachigen Edition. Denn auch die neue politische Führung hat durchaus Interesse an einem kulturellen Austausch mit anderen Ländern. O-TON: THOMAS KEIDERLING Man hat ja noch international Partner gesucht, und Großbritannien war eine Option. Das heißt, wir hatten durchaus in den Anfangsjahren noch das Interesse am englischen Buch. Und das zeigt erst einmal, dass die Arbeit des Tauchnitz-Verlages, was das Programm betrifft, so nicht eingeschränkt wurde. ERZÄHLER Bei der Firma Oscar Brandstetter handelt es sich ursprünglich um eine Druckerei. Was dem Unternehmen als neuem Besitzer des Tauchnitz-Verlages fehlt, ist ein Geschäftsführer mit Visionen sowie mit ausreichenden Literatur- Kenntnissen. Zumal die Konkurrenz, was preisgünstige englischsprachige Bücher betrifft, inzwischen deutlich zugenommen hat. Da ist zum einen das im Juli 1935 in London gegründete Unternehmen Penguin Books - der erste britische Taschenbuch-Verlag. Noch mehr zu schaffen macht Brandstetter aber ein Konkurrent aus Leipzig mit Namen Albatross. Dessen englischsprachige Bände kommen optisch deutlich frischer daher als die doch etwas angestaubt wirkenden Tauchnitz-Ausgaben. Deren Aufmachung hat sich seit dem Start vor neunzig Jahren überhaupt nicht verändert. Ein zeitgenössischer Kritiker lobt dagegen die Konkurrenz: ZITATOR Die ausgezeichnet gedruckten und ausgestatteten Bände der "Albatross Library" bestätigen eine mit sicherem Geschmack und lebendiger Beweglichkeit getroffene Auswahl aus dem heutigen englischen und amerikanischen Schrifttum. Billiger Bandpreis und leichte Übersichtlichkeit ermöglichen dem interessierten Leser eine rasche und dauernde Fühlungnahme mit den bestehenden Neuerscheinungen in englischer Sprache. ERZÄHLER Wirtschaftlich hat Albatross den dahin siechenden Konkurrenten Tauchnitz innerhalb von nur 36 Monaten bereits überflügeln können. Das Pikante daran: Bei dem Albatross-Geschäftsführer handelt es sich um keinen Geringeren als Max Christian Wegner. Alistair McCleery, Literatur-Professor an der Napier Universität von Edinburgh, schreibt: ZITATOR Wegners Verbindungen zu Brandstetter waren nie abgerissen. Früher hatte er hier die Tauchnitz-Bücher drucken lassen, danach dann die Albatross-Bände. Darum hatte man auf Seiten Brandstetters auch keine Hemmungen, Wegner zu fragen, ob dieser bereit wäre, die Tauchnitz-Reihe zu retten. Man bot ihm das Marketing und die Herausgeberschaft der englischsprachigen Bände an. (Alistair McCleery: Tauchnitz and Albatross, in: The Library, Vol. 7, No. 3, September 2006, S. 303; Übersetzung: Christian Blees) ERZÄHLER Mitte der 1930er Jahre fungiert Max Christian Wegner plötzlich als Herausgeber zweier direkt miteinander konkurrierender englischsprachiger Taschenbuch-Reihen. Doch das Experiment gelingt. Denn Wegner teilt die britischen und US-amerikanischen Autoren beider Verlage so untereinander auf, dass sowohl die Albatross- wie auch die Tauchnitz-Edition jeweils ein eigenes inhaltliches Profil erhalten. ERZÄHLER Erst der Zweite Weltkrieg setzt der positiven Entwicklung ein jähes Ende. Zunächst untersagt die nationalsozialistische Regierung deutschen Unternehmen den Handel mit England. Dann wird das Tauchnitz- Verlagsgebäude Anfang Dezember 1943 bei einem alliierten Bombenangriff komplett zerstört. Und auch nach Ende des Krieges kann das traditionsreiche Unternehmen nie wieder richtig Fuß fassen. O-TON: THOMAS KEIDERLING Die Idee, die Tauchnitz hatte im 19. Jahrhundert, war großartig: englische Bücher in Deutschland und in Europa zu verbreiten, und er war damit extrem erfolgreich. Diese Geschäftsidee verlor so nach und nach an Bedeutung. Es gab andere Verlage, die das gemacht haben, und in der Bundesrepublik kam hinzu, dass nun eine Marktöffnung stattfand und sehr viel amerikanische und englische Literatur auf den westdeutschen Markt strömten (sic!). ERZÄHLER Der Tauchnitz Verlag wird nach dem Krieg aus dem Druckunternehmen Brandstetter ausgegliedert und wechselt mehrfach den Besitzer. Ohne Erfolg: 1963 erscheint der endgültig letzte Band der englischsprachigen Taschenbuch- Reihe. Damit erstreckt sich die "Collection of British and American Authors" insgesamt über 122 Jahre und mehr als 5400 Titel. Die Druckauflage liegt bei über 40 Millionen Exemplaren. MUSIK ERZÄHLER Eine der weltweit größten Tauchnitz-Sammlungen befindet sich noch heute in der Landesbibliothek Coburg. Hier werden über 2800 Bände der englischsprachigen Edition, sorgfältig chronologisch geordnet, in einem eigenen Bibliotheksschrank hinter Glas aufbewahrt. O-TON: RUDI MECHTHOLD Lange Zeit hat man geglaubt, es war ein Geschenk des Bernhard Tauchnitz an den Coburger Herzog, Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha. ERZÄHLER Rudi Mechthold, ehemals stellvertretender Leiter der Landesbibliothek Coburg und inzwischen im Ruhestand. O-TON: RUDI MECHTHOLD Dieser Tauchnitz hat 1860 ein Nobilitierungsgesuch an den Herzog gestellt, also er wollte in den Adelsstand erhoben werden. Es hat auch funktioniert, er hat auch 4.000 Taler dafür bezahlt, und man hat lange Zeit angenommen, dass er aus Dankbarkeit diese Sammlung dem Coburger Herzog geschenkt hat. Später hat man dann festgestellt, dass die Bände keine Erstausgaben, sondern Nachdrucke sind, die erst nach dem Tod des Bernhard Tauchnitz und nach dem Tod des Herzogs Ernst erschienen sind. Und wahrscheinlich ist es ein Geschenk des Sohnes an den Herzog Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha. Aber es gibt keine Unterlagen. ERZÄHLER Jahrzehntelang hätten die Bände der Tauchnitz-Kollektion nur ein Schattendasein gefristet, erzählt Mechthold. Erst mit Abschluss der Katalogisierung aller Bände 2008 habe sich dies geändert. Seitdem seien die Bücher endlich auch für die Allgemeinheit zugänglich. Vor allem per Fernleihe träfen inzwischen viele Bestellungen ein. In Fachkreisen dagegen sei das Interesse an den Tauchnitz-Bänden seit jeher groß gewesen, sagt Buchwissenschaftler Thomas Keiderling. O-TON: THOMAS KEIDERLING Wenn man Bibliotheken, auch private Bibliotheken, besucht, weltweit - es stehen überall Tauchnitz-Bücher. Das ist erstaunlich. Und das spricht eben auch für die hohe Qualität, die er damals geliefert hat. Die Bücher waren fehlerfrei. Er hat das über Ländergrenzen hinweg gemacht. Und das haben die Amerikaner und die Briten bis heute nicht vergessen. MUSIK 1