Deutschlandradio Kultur, NACHSPIEL 14.10 2012 Von Gerd Michalek Aktiv im Alter - Senioren und ihr Spaß am Wettkampf Nachspiel 14.10.2012 O-Ton 1 (Schrader) Ich springe dann mal rein - Ziel sind die beiden Bojen, die umschwimme ich und komme dann zurück.700, höchstens 800 Meter. Atmo: 1 Schwimmen Baggersee SPRECHER Georg von Schrader krault seine Trainingsrunde im Baggersee. Der Mann mit dem grauen Bart ist danach noch lange nicht mit dem Training fertig. O-Ton 2 Danach laufe ich und Sie fahren mit dem Rad nebenher. Das ist eine Unterhaltung für mich, es erleichtert mir mein Training. Atmo 2: Schrader läuft und keucht SPRECHER Der ehemalige Sportlehrer - hager und braun gebrannt - schwimmt, läuft und fährt Rad - seit 30 Jahren. Im November wird der Rheinländer 75 Jahre alt. Atmo: 3 Aufwärm-Training O-Ton 3 Anne-Chatrine Rühlow Die Faszination, Wettkampf mitzumachen, die ist immer noch da. Ich habe sofort gemerkt, dass das Übungen sind, die mir liegen, vor allem das Diskuswerfen: dieser Schwung und dieses Wegwerfen, und der fliegt. Und bei Kugel ist das ein bisschen anders. SPRECHER Anne-Chatrine Rühlow mag Wurfdisziplinen. Dabei ist die Frau aus Steinfurt im Münsterland nur 1,65 Meter groß, schlank und inzwischen 76 Jahre alt. O-Ton 4 (Müller) Da kann man auch sagen, dass Sport treiben auch im Alter, wenn man es nicht übertreibt, ein Gesundbrunnen ist. Dadurch kann man sich bis ins hohe Alter wirklich die Beweglichkeit bewahren. Und darauf kommt es an! SPRECHER Auch schnelles Laufen ist im höheren Alter noch möglich. Guido Müller ist dafür ein Musterbeispiel. Der Münchner sprintet die 100-Meter in nur 13 Sekunden - mit 73 Jahren! Schneller als die meisten Sportstudenten. Erstaunlich, doch Guido Müller ist kein Einzelfall. Alle drei - der Triathlet von Schrader, die Diskuswerferin Rühlow und der Sprinter Müller sind Weißgott keine Durchschnitts-Sportler: alle jenseits der 70, alle überdurchschnittlich fit - und verliebt in den Wettkampf: O-Ton 5 Rühlow Sich mit anderen messen, und die, die besser ist, die zu schlagen, ne bessere Leistung zu bringen, aber ich leide nicht darunter, wenn ich das nicht schaffe. Aber das ist doch ein Ziel. Das ist für mich immer noch ein Ziel. SPRECHER Dass man mit über 70 noch Sport treibt, fällt heute kaum auf. Im Tennisverein wie im Schwimmbad sieht man viele Ältere, die Bewegung mögen. Sportlichkeit ist ein übergreifender Wert. Und viele Wege führen dorthin. Sportsoziologin Ulrike Tischer zu den Sportvorlieben Älterer. O-Ton 6 Die klassischen Sportarten im Alter: Wandern, Schwimmen, Radfahren, das sind die meistgenannten. Die meisten Aktivi- täten sind auch selbst organisiert, das ergibt sich auch aus den Sportarten. Und es werden immer solche bevorzugt, die man sowohl alleine und als auch in der Gruppe ausführen kann. SPRECHER Die Lebensläufe älterer Athleten zeigen, dass sie sehr unterschiedliche Wege gegangen sind. Die meisten fingen früh mit ihrem Lieblingssport an. Wie Guido Müller: O-Ton 7 Mit elf Jahren bin ich in den Verein eingetreten: Salamander Kornwestheim, etwas nördlich von Stuttgart. Meine Eltern haben ganz in der Nähe des Sport-platzes gewohnt. Ich habe bis 1964 zielstrebig und syste-matisch Leichtathletik betrieben. Und ich war mehrere Male bei Deutschen Meisterschaften im Endlauf - über 400m flach und über 400m Hürden. Und mein Karriere-Ende war, wenn man so sagen will, 1964 im Olympiastadion Berlin - bei den Olympia-Ausscheidung für Tokio mit der DDR. Da bin ich statt Dritter nur Fünfter geworden. SPRECHER Danach hatte für den Schwaben der Beruf Vorrang. 1983 jedoch besann sich der gelernte Hürdensprinter wieder - mit 45Jahren. O-Ton 8 Ich habe irgendwie was gesucht, auch Anschluss gesucht kameradschaftlicher Art und habe auch zehn Kilo Übergewicht gehabt. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass bei Vaterstetten, das ist in Verein östlich von München, das war der Aufhänger, dass in der Zeitung stand, da wurde ein Senior deutscher Seniorenmeister im Hochsprung. Da habe ich gedacht: "Aha, die haben einen Seniorengruppe." Ich habe mich da vorgestellt, ob ich mitmachen darf, und es hat Riesenspaß gemacht. Am Anfang habe ich überhaupt nicht an Wettkämpfe gedacht, ein bisschen mittrainieren, vielleicht auf Abzeichen-Ebene. SPRECHER Es wurde viel mehr daraus. In den nächsten Jahren legte Guido Müller richtig los - und erlebte seinen zweiten Frühling. O-Ton 9 Ich habe ein intensives Wintertraining gemacht und war im ersten Wettkampfjahr schon erfolgreich auf deutscher Ebene. Als ich bei den Deutschen Meisterschaft teilgenommen habe in Schriesheim 1983, war ich im ersten Jahr der M 45 und habe dort die 200m und 400m gewonnen: Über 200m bin ich 23,17 gelaufen, die 400m in 50,10. Und beide Zeiten waren deutsche Rekorde. SPRECHER Selbst mit 57 Jahren konnte Müller die 100 Meter noch unter 12 Sekunden sprinten: Zurzeit - mit 73 Jahren - benötigt er für die Stadionrunde - also 400 Meter - gerade einmal 60 Sekunden. Kein anderer auf der Welt kann das mit über 70. "Erstaunlich, wie lange eine Karriere dauern kann!", sagt sich auch Anne-Cathrine Rühlow im Rückblick. Die gebürtige Holstei- nerin fing 1950 mit 13 Jahren an - gut unterstützt von ihren Eltern, die einen Bauernhof hatten. O-Ton 10 (Rühlow) Eines Tages, meine Eltern, fuhren zur Bullen-Auktion nach Lübeck, brachten sie mir eine Kugel und einen Diskus mit, so dass ich auf dem Bauernhof viel trainieren konnte mit den beiden Geräten. Außerdem gab es auf dem Bauernhof viel zu tun, was auch körperliche Beanspruchung hieß: zum Beispiel Kohl auf den Wagen werfen, ich habe das gleich als Training genommen. SPRECHER Schnell hatte die junge Werferin Erfolg. Sie war fleißig, hatte gute Trainer und war vielseitig: Sie sprang über fünfeinhalb Meter weit und holte mehrere Fünf-Kampf-Titel. Schon damals passte sie nicht in die "Werfer-Schublade". O-Ton 11 Das war 1956, da bin ich bei den rumänischen Meisterschaften gestartet. Und als wir ins Stadion gelassen wurden, da hat mich eine Kampfrichterin zurückgehalten, weil ich ja nicht wie eine Werferin aussehe. Dann musste die DLV-Frauenwartin kommen und sagen: "Das ist sehr wohl eine Werferin." Da dur- fte ich rein und dann habe das ganze auch noch gewonnen - gegen Russinnen, die ja ziemlich stabil - heute noch sind. Aber nicht mehr so! Atmo 4: Olympia-Fanfare SPRECHER Mit 20 Jahren durfte die Holsteinerin 1956 an den Olympischen Spielen in Melbourne teilnehmen. Etwas enttäuschend für sie: im Kugelstoßen der zwölfte, im Diskuswerfen nur der 15.Platz! In den Folgejahren drehte sie richtig auf und wurde mehrmals deutsche Meisterin. Sie war so stark, dass sie noch mit 40 in der Aktivenklasse vorne mitmischte! Erst mit 43 suchte sie den Vergleich mit Seniorinnen. Im Unterschied zu Guido Müller hat Rühlow ihre Sportlaufbahn nie unterbrochen, höchstens einmal wegen zweier Babypausen. O-Ton 12 Ich habe als junger Mensch angefangen, diese Übungen zu trainieren, und habe nie aufgehört und habe die Technik einigermaßen hinbekommen. Dann die Späteinsteiger sind die, die erstens die Kondition nicht mitbringen, und auch das technische Verständnis. Und ich glaube, sie können das auch nicht von mir abgucken, weil ich zu schnell bin. SPRECHER Auch Sprinter Guido Müller profitiert davon, dass er früh die Hürdentechnik gelernt hat. Noch heute gilt er als Ästhet der Laufbahn. Bei anderen Sportarten, etwa im Ausdauerlauf, hat man auch als Späteinsteiger noch gute Chancen. Denn motorisch gesehen ist langes Laufen nicht so anspruchsvoll wie Hürden- sprint. Für den Sprint investiert Müller nach wie vor viel Training. O-Ton 13 Mein Rezept ist, dass ich lieber öfter trainiere und weniger trainiere - als weniger oft in der Woche und dann richtig rein zuhauen. Ich trainiere so vier-, fünfmal in der Woche - sechs ( ... ) Ich führe ein Trainingsbuch und schaue manchmal nach, was habe ich in dieser Zeit im Vorjahr trainiert. Und schreibe auch auf mein Körpergewicht auf, die Uhrzeit, wann ich trainiere und die Temperatur. O-Ton-14 Ich mache das schon seit Jahren so, dass ich im Badezimmer Gymnastik mache: Ich laufe auf der Stelle, mache Rumpf- Übungen, mache Bauchmuskelübungen. Das sind 20 Minuten, die ich morgens im Bad veranstalte. Durch geschwitzt - das ist schon anstrengend. Dann fahre ich ganz oft mit dem Fahrrad, um Kondition und Puste zu behalten. Hin und wieder gehe ich ins Stadion, um zu werfen, vor allem, wenn ich einen Wettkampf in Aussicht habe. SPRECHER Anne-Chatrine Rühlow erreichte in jungen Jahren über 56 Meter im Diskuswurf und machte 35 Wettkämpfe im Jahr. Heute gelingen ihr 30 Meter-Würfe. Sie beschränkt sich auf etwa zehn Starts pro Jahr. Ältere Menschen brauchen mehr Regeneration. Rühlow ist wie Guido Müller eine Lebenszeitsportlerin: gut 60 Jahre lang aktiv. Die Werferin hat bislang 71 deutsche Meistertitel geholt, 64 davon in der Seniorenklasse. Kürzlich wurde sie zweifache Senioren-Europameisterin. O-Ton 15 In Zittau habe ich zuerst Kugel gemacht und habe mit 10,28m das gewonnen, mit viel Vorsprung. Und im Diskuswerfen habe ich auch 27,83m geworfen, da war der Vorsprung auch acht Meter, das ist nicht schön, ich fände besser, ich hätte stärkere Konkurrenz, aber es macht halt Spaß. Zu gewinnen macht immer Spaß. SPRECHER Nicht nur Erfolge hielten sie bei der Stange. Rühlow liebt Laufen, Springen und Werfen als Basissport. Die Leichtathletik bietet für ältere Sportler eine breite Palette an Disziplinen. Selbst 70jährige können im Hürdenlauf oder Hammerwurf ihre Kräfte messen. Wer findet dagegen als Fußballer oder Handbal- ler schon ein Ü-70-Team? Mannschaftssportler haben es ungleich schwerer, Gleichgesinnte zu finden. Atmo 5: Auf die Plätze ... ... SPRECHER Alljährlich treffen sich ehrgeizige Leichtathleten zu Landes- und auch deutschen Meisterschaften, die besten gar zu Europa- und Weltmeisterschaften. Für die deutschen Meisterschaften muss ein 70jähriger vier Meter weit springen, um teilnehmen zu dürfen. Das kann nur jemand mit Talent, Ehrgeiz und Fleiß! Atmo 6: (von Schrader joggt) SPRECHER Die meisten Ausdauersportler zeichnen sich durch großen Fleiß aus. Vor allem solche Athleten, die den trainingsintensiven Triathlon betreiben. Georg von Schrader muss stundenlang joggen, Radfahren und schwimmen vor großen Wettkämpfen, von denen er sich meist drei im Jahr zumutet. Er investiert dafür zehn und mehr Stunden Training pro Woche. Trotzdem geht er regelmäßig zum Belastungs-EKG. O-Ton 16 (Dr. Latsch) Da gibt es Normwerte, die alters- und gewichtsbezogen sind. So ein Körper-Index. Diese Normwerte werden beispielsweise von Herrn Schrader, wenn ich mich recht entsinne, bei etwa 300 Prozent übererfüllt. Wenn ein Normwert für einen 70jährigen Mann bei 120 Watt läge, wäre Herr Schrader bei 340 Watt und hätte 270 Prozent dieser Leistungsfähigkeit erreicht. Also granatenmäßig, um es salopp zu sagen, überdurchschnittlich gut. Das heißt nicht, dass er nicht irgendwo versteckt Ablagerungen an einem Herzkranzgefäß haben könnte. SPRECHER Auch fitte Senioren müssen regelmäßig zum medizinischen Check, sagt Sportmediziner Joachim Latsch. Er behandelt von Schra- der, der sich im Wettkampf hohe Maßstäbe setzt. Der Triathlet begnügt sich nicht mit Kurzstrecken. Er liebt den Ironman. MUSIK 1: CD: Go for Gold - The unforgetable Sporthits, 1991, Nr. 12 " Titel: The final countdown", Interpret: "Europe" (Hardrock-Band), Komponist: Joey Tempest LC-Nr: 7719 SPRECHER Diese "Eisenmänner" - übrigens auch Frauen machen mit - sind Sportler, die sich nach 3,8 Kilometern Schwimmen aufs Rad setzen und nicht weniger als 180 Kilometer fahren. Zum Schluss laufen sie die komplette Marathonstrecke, 42,195 Kilometer! Den Ironman absolvierte von Schrader erstmals 1984 auf Hawaii - als 46jähriger! Ein echter Späteinsteiger war er trotzdem nicht. O-Ton 17 Ich hab ja vorher im Sport gelebt, war Marathon gelaufen, war wegen einer Fußverletzung mal im Schwimmsport gewesen, habe alle Schwimmtechniken gelernt, und konnte auch lange Strecken schwimmen: 1983/84 war ich auf einer Weltradtour und kam da in Hawaii vorbei. Vorher war ich mit einem deutschen Tria- thleten zusammen gewesen. Er hatte mir die Adresse von Hawaii gegeben und sagt, ich sollte mich doch versuchen, dort anzumelden. Atmo 7: Anfeuerung im Wettkampf SPRECHER Von Schrader wurde bei seinem Debüt prompt 17. seiner Altersgruppe. Das Erlebnis von 1984 wirkt bis heute. O-Ton 18 Die große Menschenmenge vor dem Start, drei Hubschrauber in der Luft, ne Riesenstimmung, das war unheimlich. Dann die vielen Schwimmer im Wasser um einen rum, überhaupt diese fremde Umgebung. Das habe ich ganz enorm erlebt. Und auch nachträglich der ganze Wettkampf, die Feiern hinterher! SPRECHER Inzwischen hat der 74jährige 39 Langdistanzen absolviert, allein 13 davon auf Hawaii. Er ist immer noch nicht "satt" und wird im Oktober erneut dort antreten. Gute 14 Stunden Dauer- belastung im Triathlon heißt das für ihn, der sich mit etwa einem Dutzend 75jähriger in Hawaii schindet. Das Gefühl, unter seinesgleichen in einer großen Sportlerfamilie zu sein, behagt Georg von Schrader. Dazu Mediziner Joachim Latsch. O-Ton 19 Joachim Latsch Für meinen Eindruck, und ich kenne jetzt einige Sportler dieser Altersklasse, ist das ein Stückweit Lebenssinn, also das Training eher als Weg zum Ziel und die Wettkämpfe, wo man sich trifft wie eine Familie. Die erzählen dann immer, wenn sie auf Hawaii sind beim Iron-Man, da trifft man seinen langjährigen Konkurrenten aus USA, aus Brasilien, ist eine Art Familientreff. SPRECHER Wer ist nicht stolz, einem erlesenen Kreis anzugehören, aus- ländische Konkurrenz aus früheren Jahren zu treffen! Allerdings: Anne-Chatrine Rühlow gibt zu, dass ihre Geselligkeit Grenzen hat! Ton 20 Rühlow Wir waren jetzt in einem Hotel, da waren auch Sportler in meinem Alter, die haben entweder darüber gesprochen, wie krank sie sind oder welche tollen Leistungen sie noch bringen. Nur über Sport und über Krankheiten zu reden - das mag ich überhaupt nicht. SPRECHER Sobald Sportler das Rentenalter erreichen, gewinnt der Sport noch mehr an Stellenwert. Der Tagesablauf, die Ernährung, die Reiseplanung - vieles dreht sich um den Sport. Weil der Körper nicht mehr so ohne weiteres funktioniert wie früher, schenkt man ihm besondere Beachtung. Es wächst der Wille, auch den Widrigkeiten zu trotzen. Zumindest bei Georg von Schrader. O-Ton 21 Dass man dann vielleicht, wenn das Schwimmen nicht geht, wegen der Schulter, dass dann mehr gelaufen wird, und wenn die Knie weh tun, dass man da jedenfalls auf dem Rad sitzt, dass ich das so hinbastele. SPRECHER Weil der Bewegungsdrang mit dem Alter abnimmt, wird Sporttreiben oft eine Kopfsache, sagt der 92jährige Werfer Philipp Frech. Er ist Späteinsteiger und besuchte erstmals mit 68 Jahren ein Seniorensportfest. Für Frech ist Wettkampfsport eine Art Gratwanderung: Der Ehrgeiz stachelt einen an, doch übertreiben darf man es auch nicht. O-Ton 22 Frech Es ist ja so im Alter, wenn man einen Schaden hat, ist der ja nicht mehr reparabel - so schnell. SPRECHER Behutsam und regelmäßig trainieren - ist wichtig. Und doch den inneren Schweinehund bekämpfen, wenn Unlust und schlappe Tage kommen. Das kennt auch Triathlet Georg von Schrader! O-Ton 23 Der Winter ist ne ganz mühsame Zeit. Und da fange ich regelrecht an zu wackeln. Und da gehe ich weniger ins Training und die Verletzungen stören mich immer mehr. Wenn dann irgendein Wettkampftermin - auch wenn er drei oder zwei Monate vor mir liegt, bringt der doch schon nen gewissen Druck mit. Ich muss was tun, sonst kann ich es nicht schaffen! ( ... ) SPRECHER Gerade im Winter sorgt sich der 92jährige Philipp Frech um seinen Körper. Seit Ende der 90er Jahre verbringt der ehemalige Speditionsunternehmer die Winter in Südafrika. Das milde Klima von Kapstadt spornt ihn an. O-Ton 24 Vor allem Dingen muss man es nicht einseitig machen, sondern muss sich auch andere Bewegungsarten suchen. Schwimmen oder sonst was. Diese ganze körperliche Tätigkeit hilft mir ungemein stark. Das landet meistens nicht vor allem in den Muckis, sondern im Kopf. Man ist auch ausgeglichen und den Dingen gegenüber offen. SPRECHER Für Philipp Frech heißt flexibel zu sein auch, kluge Ent- Scheidungen zu treffen. Als vor einigen Jahren sein Knie nicht mehr belastbar war, ließ er sich operieren und stellte seine Drehtechnik im Diskuswerfen um - mit Erfolg. Was er durch schöne Wettkämpfe erlebt, bereichert sein Leben. O-Ton 25 Da war ich abends im Hotel, ein Badeort in Südafrika, da hat einer ne Zeitung gehabt - so ein großes Bild von mir. Und einer hat es gesehen. Da ist der zum Wirt gegangen und hat gesagt: "Guck mal, wer da sitzt?" Und da gab es alles umsonst. Da gab`s Freibier! Das sind Dinge, die machen Spaß. SPRECHER Auch Sprinter Guido Müller freut sich über seine Leistungen. Besonders über den 300-Meter-Hürden-Weltrekord! O-Ton 26 Dann bin ich die 300m gelaufen bei den Deutschen Meisterschaften bei meinem Verein in Vaterstetten und habe den Weltrekord verbessert um fast 4 Sekunden auf 45,24 sek. Da hatte ich ein bisschen Glück. SPRECHER Guido Müller wurde zweimal - 2004 und 2009 - vom Weltverband zum Welt-Senioren-Leichtathleten gewählt. Er hat sich auch außerhalb der Laufbahn Verdienste erworben. Sie betreffen die Schattenseiten des Sports. O-Ton 27 Ich persönlich glaube, dass bei den Senioren wesentlich weniger gedopt wird als bei den Aktiven, aber es gibt immer wieder schwarze Schafe, die Betrüger sind und glauben, nicht erwischt zu werden. Es gab die ersten Dopingfälle in der Senioren-Leichtathletik, was sehr bedauerlich ist, da kam ein Sportkamerad, Arno Hamaekers, auf mich zu bei Hallenmeister- schaften in Düsseldorf und sagte: "Sollen wir nicht mal eine Initiative machen, dass mehr kontrolliert wird bei Senioren." SPRECHER Im Jahr 2004 folgte den Worten die Tat: Guido Müller, Dieter Massin, Arno Hamaekers und Rüdiger Nickel vom Deutschen Leichtathletikverband entwarfen einen Ehrenkodex. O-Ton 28 (Müller) Die Vaterstettener Erklärung ist ein Ehrenkodex: "Ich möchte durch ganz normales Training meine Leistung, die in meinem Alter möglich ist, erbringen - ohne verbotene Hilfsmittel." SPRECHER Inzwischen sind viele Seniorensportler für das Thema sensibilisiert. Sie unterschreiben den Kodex. Das ist ein erster Schritt, der natürlich keine Wettkampf-Kontrollen ersetzt. Dazu Dieter Massin, ehemaliger Präsident des Europäischen Senioren-Leichtathletikverbandes: O-Ton 29 Ich weiß genau, dass bei allen deutschen Senioren- Meisterschaften Teste durchgeführt werden - es gibt zwei verschiedene Testformen, einmal gibt es Zielkontrollen und einmal dieses Zufallsprinzip. SPRECHER Guido Müllers Engagement hat sich gelohnt. Seit 2004 haben mehr als 1400 ältere Wettkampfsportler aus 51 Ländern die so genannte Vaterstettener Erklärung unterschrieben. Gleichwohl ist klar - die Welt des Seniorensports besteht nicht allein aus Wettkämpfern. Die meisten Älteren streben gar nicht nach Medaillen und Rekorden! Atmo 8: Sitzgymnastik - Ansprache Trainerin SPRECHER Seit sechs Jahren gibt es das Gymnastikprogramm "Fit für 100", eine Initiative der Sporthochschule Köln. Das Projekt hilft hoch betagten Menschen, durch einfache Übungen, mit leichten Hanteln und Gewichtsmanschetten, ihre Beweglichkeit zu steigern. Muskeltraining ist für sie so wichtig wie für die Müllers und Rühlows. Dazu Sportmediziner Hans-Georg Predel von der Sporthochschule Köln: O-Ton 30 Wir verlieren ab dem 30. Lebensjahr im Jahr im Durchschnitt ein Prozent unserer gesamten Muskelmasse. SPRECHER Doch Gegensteuern ist möglich: Wer zwei Stunden pro Woche übt, trotzt dem Abbau - selbst als 80jähriger. Er stärkt seine Beinmuskeln, kann leichter Treppen steigen und ist eher vor Stürzen gewappnet. Für Bewegung ist es nie zu spät, selbst wenn man vorher überhaupt nichts mit Sport zu tun hatte. Atmo 9: Sitzgymnastik/ "Tief einatmen und wieder ausatmen." SPRECHER Wer Gymnastik lieber in der Gruppe macht als im stillen Kämmerlein, tut etwas gegen die Vereinsamung. Das weiss Eva Emmighaus. Um sich und andere fit zu halten, bietet die Kölnerin seit 35 Jahren Sitzgymnastikkurse an. Als Deutschlands älteste Gymnastiklehrerin schafft sie es nach wie vor, das gestreckte Bein an die Nasenspitze zu führen, mit 97! O-Ton 31 Wir nehmen beide Hände zusammen, --kräftig drücken! Die Übung geht von den Unterarmen zu den Oberarmen bis zur Brustmuskulatur, wenn wir ein bisschen fest drücken. SPRECHER Natürlich darf in ihrer Gymnastikstunde auch gelacht werden. O-Ton 32 Zeigt was ihr habt, die Brust raus, das muss man auch zeigen können. Und die können das auch zeigen! SPRECHER In den nächsten Jahren werden immer mehr ältere Personen Gymnastik machen und Gesundheitssport treiben. Gewiss eine Folge der zunehmenden Lebenserwartung - womöglich auch, weil viele merken, dass Bewegung Lebensqualität bedeutet. Atmo 10: Stadion - Zuschauerapplaus SPRECHER Ähnlich läuft der Trend bei Wettkämpfern. Sie werden auch immer älter. Selbst beim härtesten Triathlon der Welt, sagt Georg von Schrader. O-Ton 33 Als ich das erste Mal am Ironman teilnahm, vielleicht war jemand über 65 alt. Heute gibt es Leute, die sind über 80. Ich habe die 80jährigen kennen gelernt. Sozusagen, dass bei mir der Gedanke gewachsen ist, wenn es mit 80 noch gehen sollte, wenn der Kopf das wirklich schafft, dann mache ich noch mal mit. SPRECHER Derzeit ist man mit 90 Jahren in der Leichtathletik noch eine Ausnahme. Diskuswerfer Philipp Frech ist sogar zwei Jahre älter und fühlt sich dennoch nicht als Exot. O-Ton 34 Ist für mich Normalität - ich bin da unten, da ist der älteste 104 - 103 ist der - in Südafrika! SPRECHER Übrigens: Greise im Wettkampf sah man schon 2010 auf der Kino- leinwand, im Dokumentarfilm "Herbstgold": Regisseur Jan Ten- haven hatte an sich eine Art Freak-Show befürchtet. Er war positiv überrascht von Menschen, die zur Senioren- Weltmeisterschaft der Leichtathletik wollen: O-Ton 35 War völlig überrascht, was das für eine große ernsthafte Veranstaltung ist und mit welcher Ernsthaftigkeit diese sehr alten Menschen ihren Sport betreiben. Obwohl sie wissen, dass sie jedes Jahr langsamer laufen, weniger weit werfen, verzweifeln die daran nicht, gehen immer an ihre Grenzen, obwohl sie immer enger werden. Und dieses Paradoxon hat mich völlig fasziniert, mit welchem Humor, mit welchem Lebensmut und auch Lebensweisheit sie damit klar kommen. Sport ist ja ein ganz brutaler Gradmesser für die Vergänglichkeit des Körpers, man kriegt wirklich in Sekunden und Millisekunden vorgehalten, dass der Körper abbaut und älter wird. SPRECHER Jan Tenhaven schaute über den deutschen Tellerrand hinaus. Er portraitierte fünf Spätberufene aus Europa zwischen 82 und 100 Jahren: sehr unterschiedliche Menschen, die alle vom WM-Traum beseelt sind. Statt Waschbrettbäuchen präsentieren sie nachlassende Kräfte. Sie nehmen es mit Gelassenheit und Selbstironie - wie Herbert aus Stockholm. Der sprintet die 100 Meter noch mit 93. O-Ton 36 Ich bin ein kleiner Angeber, aber diese kleine Krankheit darf man doch haben. SPRECHER Alfred aus Wien, der älteste, schwingt den Diskus mit 100. O-Ton 37 Ohne Übertreibung: Ich habe einen unbändigen Ehrgeiz. Ich bin ungern Zweiter, ich bin lieber Erster! SPRECHER Derzeit sucht man 100jährige Sportler noch mit der Lupe. Doch HERBSTGOLD ist keine ferne Zukunftsvision. Die Wettkampfrea- lität zeigt, dass Senioren-Sportfeste ungeheuer stimulierend wirken, obgleich Senioren sehr genau wissen, dass es mit ihren Leistungen bergab geht. Was bringt es, den Bestzeiten der Jugendzeit hinterher zu trauern, meint Philipp Frech. O-Ton 38 Unlogisch wäre das, und dieses Denken, was ich einmal gemacht habe, das war, das ist vorbei! Heute zählt! Deswegen mache ich das ja. Was für mich heute zählt, ist, dass ich überhaupt noch teilnehmen kann und da noch Leistung bringe, die unter Umständen noch Anerkennung findet. SPRECHER Betagte Sportler haben ihren Wettkampfanspruch. Sie bringen meist keine großen Weiten und fabelhafte Zeiten mehr zustande. Doch sie haben Ziele. Diese im Alter zu bewahren, ist nichts, was Sportmedizinern Sorgen macht. Professor Hans-Georg Predel: O-Ton 39 Ich finde das grundsätzlich sehr förderungswürdig, und finde das ganz positiv, dass sehr alte Menschen - also 80 plus - noch leistungssportliche Gedanken haben. Mag zwar auf den ersten Blick als abwegig erscheinen, ist aber durchaus ein wichtiger Trend. Es muss natürlich alles zusammenkommen: Genetisches Glück, lebenslange sportliche Aktivitäten treiben und ein Schuss Exzentrizität. MUSIK 2: Titel: Time to say good bye" Interpreten: Andrea Bocelli und Sarah Brightman Text: Lucio Quarantotto - Komponist: Francesco Sartori, LC-Nr. 1557 SPRECHER Einmal ist es dann soweit. Was Profiathleten schon mit 30 Jahren ins Auge fassen, den Abtritt von der Sportbühne, müssen betagte Sportler auch eines Tages tun. Sprinter Guido Müller. O-Ton 40 Bei mir kommt auch einmal der Zeitpunkt, wo man sagen muss "Okay, es sieht nicht mehr schön aus." Meine Leistungen fallen so stark ab, und ich hoffe, dass ich noch so klar im Kopf bin, dass ich die Entscheidung treffe, so bis hierher war es schön, und ich muss einfach aufhören. Und da muss ich vielleicht gar nicht warten, bis ich 80 bin. SPRECHER Wie steht es bei Werferin Anne Chatrine Rühlow? O-Ton 41 Aber so ohne weiteres würde ich nicht aufhören können. Dafür mache ich das einfach zu lange und dafür bin ich zu begeistert von dem Sport- von meinem Sport! SPRECHER Auch Triathlet Georg von Schrader hat noch keinen Ausstiegsplan. Er formuliert es wie ein Alpinist: O-Ton 42 Ich klettere sozusagen an der Sportwand in mein Alter hinein, ich ziehe mich daran hoch. Es ist eine selbst gewählte Aufgabe, die ich für mich erfülle. Musik-3: "Hoop Dreams", (Film-Soundtrack) 1994, Nr.7: Titel "Low Post" Interpreten: Rufus Reid (bass), Carl Allen (drums),Bob Malach (tenor sax), Bend Sidran (piano). Komponist: Ben Sidran", LC-Nr. 6713 Länge bis Wortende: 27:30 Minuten 1