COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport In Schule und Studium ganz vorn - Vietnamesische Bildungsaufsteiger in Berlin - In die DDR kamen die Vietnamesen vor allem in den 70er Jahren: als Vertragsarbeiter aus dem befreundeten sozialistischen Staat. In die BRD flüchteten sie in den 80ern Jahren: als boat-people aus dem ehemals kapitalistischem Süd-Vietnam. Und noch heute ist der Unterschied zwischen beiden Gruppen deutlich zu spüren: Vor allem in Berlin, der Stadt, in der es heute die größte vietnamesische Community Deutschlands gibt. Über ihre Probleme wird selten gesprochen. Eher über ihre Erfolge, denn keine andere Einwanderergruppe in Deutschland hat in der Schule bessere Noten als die Vietnamesen: Obwohl die Eltern häufig arm sind, schaffen über 50 Prozent ihrer Kinder den Sprung aufs Gymnasium - und viele studieren danach mit Erfolg. Autorin Lisa Steger Redaktion Stucke, Julius Sendung 05.10.11 - 13.07 Uhr M A N U S K R I P T B E I T R A G Klaviermusik Ein Präludium von Johann Sebastian Bach erfüllt das Wohnzimmer der Familie Nguyen in Berlin-Biesdorf. Einer grünen Vorstadt im Osten Berlins. Es ist 19 Uhr am Abend. Am Klavier sitzt der 10-jährige Giao, wie immer um diese Zeit zeigt er, was er geübt hat. Giao spielt Klavier, seit er viereinhalb ist. "Also, mein Vater sagt immer, Du musst jedes Stück so lange spielen, bis du alles richtig hast. Aber nur, wenn Du die Lieder schon mal gespielt hast und sie gut kannst. Du musst schon so spielen, dass es schon ein bisschen überzeugend ist, dass es schon ein bisschen gut ist." Der Vater, Dai Duong Nguyen, sitzt auf einem Stuhl hinter dem Jungen. Er ist gerade aus dem Büro gekommen. Der 44-Jährige hat viel zu tun. Er arbeitet als Software-Ingenieur in einem Unternehmen mit 2.000 Mitarbeitern. Der Vater hat der Musik konzentriert gelauscht. Jetzt lächelt er zufrieden. Sein Sohn übt jeden Tag, das ist Dai Duong Nguyen wichtig. "Wenn man angefangen hat, muss man es bis zum Ende machen. Als er klein war, haben wir gefunden, dass er ein bisschen Talent hat. Weil die Mama auch spielt und die Oma auch, deshalb muss er immer lernen. Außerdem, er ist kein ruhiger Junge, also Kind. Deshalb muss man mit der Musik seine Energie mal ein bisschen dämpfen." Zur Musikschule geht der Zehnjährige immer samstags, denn an den Werktagen hat er keine Zeit, wegen der Schule. Giao muss sich oft zwingen zu üben. "Es ist nicht so, dass ich nicht will. Ich mag aber das Klavier nicht so, dass ich immer, wenn ich frei habe, erstmal Klavier spiele. Ich machs nur, wenn meine Eltern es sagen." Giao Nguyen spielt im Schulorchester mit. Er hat schon Konzerte gegeben und in einem Musical mitgewirkt. Das erzählt er beiläufig, ganz so, als sei es völlig normal in seinem Alter. Der Zehnjährige platzt vor Energie. Er spielt gern Fußball und geht mehrmals in der Woche zum Sport. "Ich bin in einem Tischtennisverein. Ich hatte einmal einen Pokal, einmal eine Goldmedaille, zweimal Silber und einmal Bronze. Das war in `Jugend trainiert für Olympia`. Ich bin auch im Federball gut. Und mein Onkel hat gesagt, ich könnte auch bald Tennis spielen, Also alles, was mit einem Schläger und einem Ball gehört." Es ist inzwischen acht Uhr am Abend. Giao und sein Vater gehen in die Küche, zum Abendessen. Der Tisch ist klein, fünf Familienmitglieder sitzen dicht nebeneinander. Vater, Mutter, die Großeltern und Giao. Es riecht nach Kräutertee und Gewürzen. Giaos Oma hat gekocht: Gebratene Entenbrust mit Reis und Gemüse für die Erwachsenen, Pizza für Giao. Die Großeltern sind für drei Monate aus Hanoi zu Besuch gekommen um zu helfen, das machen sie sehr oft. Die Mutter des Jungen, Minh-Dip Pham, ist gerade nach Hause gekommen. Die 42-Jährige arbeitet als technische Zeichnerin in Schöneberg, das liegt für sie am anderen Ende von Berlin. Pham fährt eine volle Stunde dorthin. Am Samstag, so erzählt sie, arbeitet sie "nur acht Stunden" - sie hat einen Nebenjob in einem Blumenladen: "Als Hobby. Das ist nur einfach als Hobby. Natürlich verdiene ich auch ein bisschen Geld mehr und einfach macht Spaß. Deshalb gehe ich dorthin. Das schaffen wir schon! Weil, samstags, da bringt mein Mann sowieso den Kleinen zur Musikschule. Dann habe ich diese Lücke." Rechnet man alles zusammen, arbeitet Minh-Dip Pham an über 50 Stunden in der Woche. Die kleine, zierliche Frau wirkt trotzdem nicht im Geringsten gestresst. Sie sagt, es liegt an der Unterstützung durch die Familie. "Das ist ganz normal bei uns. Also zum Beispiel, meine Eltern wohnen auch zusammen mit meinem Bruder. Und mein Bruder hat auch zwei kleine Kinder. Zwei Mädchen. Ist total wunderbar, weil Oma und Opa helfen auch, die Kinder abzuholen, was für die Kinder zu kochen und lernen. Wir helfen uns, und das ist wunderbar. Das klappt wunderbar. Familie ist für uns schon sehr wichtig. Wir lieben immer unsere Eltern." Gaios neue Schule ist Gesprächsthema beim Abendessen. Seit ein paar Wochen ist er da. Wie gefällt es ihm bisher auf dem Gymnasium? "Am Morgen möchte man ja nicht in die Schule eigentlich. Ich mag sie zwar nicht, aber hassen mag ich es auch nicht." Giao konnte schon in der ersten Klasse bis 1000 rechnen, sagen die Eltern. Jetzt geht er auf ein so genanntes "grundständiges Gymnasium", das die Schüler bereits nach der vierten Klasse aufnimmt. Sechs Prozent der Berliner Kinder besuchen eine solche Schule. Die meisten wechseln erst nach der sechsten Klasse. Giao aber hat eine Aufnahmeprüfung absolviert, mit psychologischem Test und Vorstellungsgespräch. Jetzt hat der Zehnjährige jeden Tag Unterricht von 8 bis 15 Uhr, danach macht er noch Hausaufgaben. Es ist ein langer Tag für einen Zehnjährigen, doch Giao nimmt es in Kauf. "Als erstes muss man gut lernen, damit man zum Studium kommt und dann man sich was auswählen. Und dann muss man darauf eben sich gut spezialisieren." Für die Hausaufgaben braucht Giao etwa eine Stunde, danach übt er Klavier und anschließend muss er sein Zusatzpensum erledigen. Der Vater hat ihm ein Heft mit Rechenaufgaben gekauft, die schwerer sind als die im Mathematikunterricht. Giao zeigt stolz das zerlesene Heft. "Die Aufgaben werden immer schwerer und schwerer. Nach einer Stunde gebe ich es dann mit einer Aufgabe auf." Giao war einer von vielen vietnamesischen Bewerbern im Otto-Nagel-Gymnasium. Das ist typisch für die östlichen Stadtbezirke Berlins: Hier leben viele Vietnamesen und 75 Prozent ihrer Kinder besuchen das Gymnasium. Die Vietnamesen machen häufiger Abitur als die einheimischen Deutschen und sie schneiden besser ab. Die Nguyens sind sicher, dass die Erziehung dazu beiträgt. "Wir sind schon sehr fleißig. Disziplin! Wenn wir arbeiten, dann arbeiten wir richtig. Ich denke einfach so." "Vielleicht sind die Leute aus Asien ein bisschen anders. Bei uns legt man großen Wert auf die Zukunft der Kinder. Deshalb investiert man Zeit und Geld dafür. In Deutschland muss man nicht sehr viel Geld investieren. Aber Zeit muss man nicht dafür haben. Aber selbst, wenn man nicht an einem Tisch mit ihnen lernt, muss man schon dafür sorgen, dass die Kinder ordentlich lernen. Ich war noch nie in einer deutschen Familie und habe gesehen, wie die Eltern es mit ihren Kindern machen. So hab ich dann bei mir gemacht, wie es früher die Eltern bei mir gemacht haben." Dai Duong Nguyen zeigt aus dem Fenster. Vom Vorgarten seines Einfamilienhauses guckt er auf die Plattenbauten von Berlin-Marzahn. Kilometerweit erstrecken sich die Hochhäuser bis zum Horizont, dazwischen: sechs- und achtspurige Straßen. Marzahn ist das größte zusammenhängende Hochhausgebiet in Europa. In der DDR waren die Wohnungen begehrt. Viele wollten hierher, weil die Altbauten marode waren - es gab nur Kohleöfen und oft nicht einmal eine Toilette. Inzwischen sind die besser gestellten Berliner aus der "Platte" ausgezogen. Marzahn ist jetzt eine der ärmsten Gegenden in Berlin. Auch viele vietnamesische Landsleute wohnen hier. Sie betreiben günstige Imbiss- Stuben, Blumenläden und Textilgeschäfte, in denen die Pullover 15 Euro kosten. Die Ladenbesitzer sprechen oft kaum Deutsch. Einige sind nicht einmal krankenversichert. Dai Duong Nguyen weiß, dass viele dieser Menschen in Vietnam einen guten Beruf erlernt oder sogar studiert haben. In Berlin dagegen kämpfen sie um ihre Existenz. Ohne Deutschkenntnisse können sie nicht aufsteigen. Um aber richtig Deutsch zu lernen, haben sie schlicht keine Zeit, sagt Nguyen. "Hart arbeiten, sonst nichts. Hart müssen wir arbeiten, besonders als Ausländer, denn wir können uns auf niemand verlassen, wir können uns nur auf uns selber verlassen. Wir kriegen keine Hilfe außer von uns selbst." Die Welt der Marzahner Plattenbauten - er kennt sie gut. Denn in einem dieser Hochhäuser begann Dai Duong Nguyens Leben in Deutschland. Er kam aus Nordvietnam und er war erst 17 Jahre alt. "Ich bin als Student nach Deutschland geschickt worden. Das war 1984. Dann habe ich an der Humboldt-Universität vier Jahre studiert. Für mich war es ein schönes Land, die DDR. Das war das erste Ausland, das ich kennengelernt habe. Natürlich, von der Wirtschaft und von der Ordnung her, war es besser als in Vietnam. Das waren viele Sachen, die mir sehr gut gefallen haben. Na, zum Beispiel der Verkehr ist anders, ist sauberer als in Vietnam. Die Wirtschaft war auch besser als in Vietnam." Das Studentenwohnheim in Marzahn, sagt Nguyen, sah aus wie eine Kaserne. Lange Flure, Linoleum, Neonlicht. Es war ihm egal. "Als Student wurde man geschickt. Habe ich nicht viel darüber nachgedacht, ob das schön ist oder nicht. Weil, das war ein Internat." Der junge Vietnamese lernte an sieben Tagen die Woche, manchmal bis zum Schlafengehen. Der Druck war hoch. Denn Dai Duong Nguyens Stipendium galt nur für vier Jahre. "Man wurde hierher geschickt um zu studieren. Und man darf auch keine, also, wenn man nicht krank ist, keine Semester ausfallen lassen. Also man wurde für vier Jahre geschickt und dann muss man es nach vier Jahren fertig haben." Dai Duong Nguyen war 1984 mit mehreren vietnamesischen Abiturienten aus Hanoi gekommen. Alle schafften das Diplom in vier Jahren. Sie wussten, dass sie mussten. Schlechte Zensuren wurden nicht toleriert. "Dann wurde man nach Vietnam zurückgeschickt. Leuten, die schlechte Leistungen hatten, drohte schon die Abschiebung. Weil wir ausgewählt waren. Wir waren keine, die einfach Interesse hatten, die sich einfach beworben hatten. Man musste sehr gute Zensuren haben und eine der besten Ergebnisse in der Hochschul-Aufnahmeprüfung haben." 1988, nach dem Diplom, arbeitete Dai Doung Nguyen erst einmal ein Jahr in der DDR. Als Praktikant, das hatte Vietnam genehmigt. In diesem Jahr lernten sich Dai Doung Nguyen und Minh-Dip Pham kennen. Die junge Frau war in die DDR gekommen, um eine Lehre als Bauzeichnerin zu absolvieren. Beide hatten Heimweh. Denn auch Minh-Dip war zum ersten Mal von zu Hause weg und sie konnte die Eltern mehrere Jahre lang nicht besuchen. "Es gab nur Briefe damals. Keine Email, Telefon auch nicht. Ich schreibe meine Eltern jede Wochen und wir kriegten auch regelmäßig Briefe von Zuhause damals. Damals als Lehrling, wir durften nicht nach Hause fliegen damals. Wir haben nicht genug Geld, um das selbst zu finanzieren, das ist wirklich so. Jetzt habe ich nicht mehr im Kopf, was ich damals verdient habe, aber es war wenig, ganz wenig damals." Minh-Dip und Dai Duong waren ein Paar. Doch heiraten oder Kinder bekommen durften sie nicht, denn die DDR wollte verhindern, dass Zuwanderer sesshaft werden. Auch Minh-Dip hatte seinerzeit eine befristete Aufenthaltserlaubnis - für die Dauer ihrer Ausbildung. Dann fiel die Mauer. Für Minh-Dip war es ein Schock, sie hatte Angst. "Und ich weiß auch nicht, weiß ich weiter machen soll. Ich habe wirklich keine richtige Vorstellung gehabt. Es bleibt ein einziger Weg: Dass ich wieder zurückfliege. So habe ich damals gedacht." Nguyen, damals 22, sah aus dem Fenster seiner Wohnung auf einen Trabi-Stau, der nach Westberlin unterwegs war und in den Betrieben blieben viele Plätze leer. Nguyen aber erschien an den Tagen nach dem Mauerfall pünktlich zur Arbeit. Wie immer. Ich habe gerade das Studium beendet, habe ein Arbeit gefunden. Und für mich war das, was drum herum ist, nicht so anders. Außerdem bin ich auch als Ausländer hier gewesen." Ein Jahr später war die DDR Geschichte. Dai Duong Nguyens Diplom in sozialistischer Volkswirtschaft war nichts mehr wert. Der junge Akademiker konzentrierte sich deshalb auf Informatik, sein zweites Studienfach. 1992 heirateten Dai Duong Nguyen und Minh-Dip Pham. Die junge Frau hatte man kurz nach der Wende aus Deutschland ausgewiesen; das Paar führte eine Fernbeziehung - wider Willen. Denn Nguyen hatte immer noch keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, daher durfte seine Frau zunächst nicht herkommen. Erst 1995 war es so weit. Drei Jahre nach der Heirat. Minh-Dip-Pham fand Arbeit als technische Zeichnerin. Die Eheleute verdienten gut und sparten eisern. Sie lebten - erst zu zweit, dann mit ihrem Sohn Giao - in einer kleinen Zwei-Zimmer- Wohnung. Dann zahlten sie mit ihren Ersparnissen das Eigenheim an, in dem sie jetzt seit zwei Jahren leben. Ein Haus mit einem riesigen Wohnzimmer. Parkett, Kamin, ein großer Garten. "Die Nguyens haben ein Haus für ihren Sohn gebaut", sagen die Verwandten. Aber der Junge macht sich noch keine Gedanken darüber, wo er einmal leben möchte. Nur eins weiß er: Nach Vietnam will er nicht. "Als ich in Vietnam war, war alles so schmutzig und staubig. Wo man wohnt - das ist manchmal so ein kleines Quadrat in so einem Hochhaus. Da gibt es manchmal auch so ´ne schlechten Türen, wo die ganze Zeit so Insekten in die Räume gehen können. "Furchtbar. Die Kinder in Vietnam, die müssen richtig sehr viel lernen. Die lernen, so, wie ich gehört habe, die lernen bis 10 Uhr, 11 Uhr abends, jeden Abend. Die müssen richtig schön schreiben, das dauert ewig. Da muss man den ganzen Tag üben. Die lernen wirklich viel zu viel. Das kann ich auch nicht verstehen. Viel zu viel. Das macht die Kinder nur kaputt." Inzwischen ist es 21 Uhr, Giao gähnt. Er ist seinen Rest Pizza und geht unaufgefordert ins Bett. "Tschüss!" - "Tschüss! Tschüss, Mama, ich hau´ jetzt ab!" Am nächsten Morgen klingelt der Wecker später als sonst. Es ist Samstag. Giao geht zur Musikschule, seine Mutter in den Blumenladen und der Vater, Dai Duong Nguyen, fährt ins Dong-Xuan-Center zum Einkaufen. Das Dong-Xuan-Center ist ein vietnamesischer Großmarkt in Berlin-Lichtenberg, weit im Osten der Stadt. Auf einem ehemaligen Industriegelände, umgeben von Fabrikruinen mit kaputten Fenstern, hat ein vietnamesischer Unternehmer vor sechs Jahren Markthallen errichten lassen. Acht sind es jetzt, eine neunte wird gerade gebaut - wegen der großen Nachfrage. Vor einer der Hallen verfrachtet ein Paar den Inhalt zweier Einkaufswagen in einen Kofferraum. Ein Lieferwagen parkt vor der Halle, junge Männer packen die Ware aus. Sie rennen mehr, als dass sie laufen. Lebensmittelgeschäfte, Restaurants, Nagelstudios, Friseure, Nippesgeschäfte mit Plastikblumen - es sind über 150 Läden und fast alle werden sie von Landsleuten betrieben. Ein vietnamesisches Wirtschaftswunder mitten in Deutschland. Dai Duong Nguyen betritt den Supermarkt "Achau 24". Er kauft dort öfter. "Manchmal Tofu und Gemüse und ein paar andere Sachen. Je nachdem, was wir im Haushalt nicht mehr auf Vorrat haben." Wasserspinat, Reisfeldpflanzen, Lychee-Pudding... - hier gibt es Lebensmittel, von denen viele Deutsche noch nie etwas gehört haben. Der Eigentümer Phan Nguyen grüßt kurz. Er muss gleich weiter. Nguyen, der in Berlin Informatik studiert hat, gründete seinen Betrieb vor sechs Jahren. Da war er 27. Die Firma läuft gut, sagt er. "Das ist klar. Weil wir hier im Dong-Xuan-Center sind und das ist hier nun mal der Sammelpunkt der Vietnamesen, also auch der Verteilerpunkt für die Waren, die ganzen Produkte, die aus Asien kommen. Die meisten Vertreter sind hier auf dem Gelände ansässig. Und deswegen bleiben wir natürlich auch hier auf dem Gelände." Dai Duong Nguyen hat Hunger bekommen. Sein Stamm-Restaurant, das "Duc Anh" in Halle 3 ist jetzt, um 13 Uhr, bereits brechend voll. Es riecht nach Koriander und Ingwer. Bunte Lampions und Girlanden hängen an der Decke, ein Hausaltar aus rot lackiertem Holz mit Räucherkerzen steht neben dem Eingang. Diese Altäre gibt es in jedem Laden des Dong-Xuan-Centers. Ein konfuzianischer Brauch. Man möchte die Hausgeister gewogen stimmen. Der Wirt begrüßt Nguyen mit Handschlag und der Gast lehnt sich zufrieden zurück. "Ich treffe hier auch Freunde. Und wenn ich was brauche, was ich eben nicht im deutschen Laden bekomme, dann komme ich eben hierher. Bevor ich zu einem Laden hier gehe, frage ich auch bei Freunden, wo man was findet. Und die empfehlen auch meistens bestimmte Läden hier." Das "Duc Anh" erinnert ihn an zuhause, sagt Nguyen. Dieselbe Einrichtung, dieselben Gerüche. Das Gewusel, die Lebendigkeit und natürlich der vertraute Klang der Muttersprache: Für den Ingenieur ist das "Dong Xuan" weit mehr als ein Handelszentrum. Nguyen hatte früher oft Heimweh. In den letzten Jahren ist es besser geworden. Ich war selbst lange nicht mehr in Vietnam. Aber ich sehe meine Eltern und meine Verwandten fast jeden Tag über Video, also über Internet. Da ist es dann nicht so ein Heimweh wir früher. (...) Weihnachten hier, da kriegt man auch Heimweh. Aber jetzt - man kann sich nicht berühren, aber sehen kann man. Und was man in Vietnam essen möchte, kriegt man hier auch alles." Nguyen ist nun schon seit 27 Jahren in Berlin und er möchte hier beerdigt werden. Wo sein Sohn einmal leben wird, das weiß er nicht. Vielleicht hier, vielleicht auch in den USA. Der Vater wird ihm keine Steine in den Weg legen. "Das ist gut. Ich selbst bin schon um die halbe Welt gekommen. Also warum kann mein Sohn nicht um die halbe Welt ziehen. Ich behalte meine vietnamesischen Wurzeln. Mein Sohn muss schon selber denken." Dai Duong Nguyen bezahlt das Essen und macht sich auf den Weg zurück nach Hause. Heute sind Gartenarbeit und Grillen angesagt. Dai Duong Nguyen lebt das Leben seiner deutschen Nachbarn. Sein Sohn Giao kann kaum noch Vietnamesisch. Der Vater aber hat noch immer einen vietnamesischen Pass. Den braucht er eigentlich gar nicht. Aber er möchte ihn keinesfalls abgeben. Es ist eine Gefühlssache. E N D E