DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 04.05.2010 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Wiederholung: 05.05.2015 19.15 ? 20.00 Uhr Sprachstunde null Wie die Bundesrepublik über Juden und Israel zu sprechen lernte Von Daniel Cil Brecher Co-Produktion DLF/WDR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton Diskussion Schüler: Die wenigsten von uns haben wirklich große Gestalten unter den Juden kennen gelernt. Die (meisten) kennen nur die üblichen Darstellungen aus der Nazi-Zeit, die Menschen mit der krummen Nase und so weiter. O-Ton Lüth Wir haben ja auch großartige Komponisten, Mendelsohn-Bartholdy, wir haben wunderbare Schriftsteller, die Brüder Zweig und Jakob Wassermann, wir haben herrliche Ärzte. Ärzte, die Hunderttausenden von Menschen das Leben gerettet haben. O-Ton Diskussion Schülerin: Uns wurde doch immer gesagt, dass die Juden schlecht sind und dass die Juden immer handeln und dass wir immer von den Juden übervorteilt werden. Es ist dann schwer für uns zu erklären, zu sagen: Juden sind gut, Juden sind schön. O-Ton Lüth Und wir müssen näher an das Problem herangehen und nicht immer nur die Vorstellung von der oberflächlichen Berührung mit dem Teppich handelnden Juden haben. Sondern wir müssen versuchen ... mein Gott, ihr kennt doch alle Heinrich Heine, die Loreley und das Buch der Lieder. Gibt es herrlichere Lyrik in Deutschland als die im Buch der Lieder? O-Ton Diskussion Schülerin: Mein Vater stammt aus der Teppichbranche, und ich kann nur sagen: Mir reicht's. Was ich bis jetzt gehört habe?Die Juden übervorteilen sich gegenseitig. Ansage Sprachstunde null Wie die Bundesrepublik über Juden und Israel zu sprechen lernte Ein Feature von Daniel Cil Brecher O-Ton Diskussion Mein Vater verkehrte mit verschiedenen Juden, und da war es jedenfalls ganz anders. Es waren Leute der Intelligenz, die keinesfalls irgendwie schmutzige Beweggründe hatten im Umgang oder dergleichen. O-Ton Diskussion Es gibt in jedem Volk schlechte und gute. Bei den Deutschen gibt es mehr gute und bei den Juden gibt es mehr schlechte. Das ist eine Meinung, die viel vertreten wird. Autor Berlin im Februar 1952. An der Friedrich-Ebert-Schule diskutierte der Hamburger Journalist und Senatssprecher Erich Lüth mit Schülern über seine Aktion "Frieden mit Israel". Er wollte mit dieser im Sommer 1951 gegründeten Initiative gegen das Schweigen protestieren, das - sieben Jahre nach Ende des Krieges - noch immer über den deutschen Massenmord an den europäischen Juden herrschte. Unmittelbarer Anlass für Lüths Aktion war die Erklärung der drei West-Alliierten, den Kriegszustand zu beenden. O-Ton Lüth Ich hatte in der Zeitung gelesen, dass der Ministerpräsident von Israel, Ben Gurion, erklärt hat, wir können nicht wie die anderen Alliierten erklären: der Kriegszustand mit Deutschland ist beendet, denn das deutsche Volk hatte einen Krieg gegen die Juden geführt und es muss jetzt von Deutschland aus etwas geschehen. Und es war bis dahin nichts geschehen. Als Ben Gurion das erklärte, hat mich das, der ich die Judenverfolgung im Dritten Reich bewusst miterlebt habe, so getroffen, dass ich jede Stunde darauf wartete, dass nun von Bonn aus, von der Regierung, der Bundeskanzler oder ein Minister aufstand und sagte: wir müssen ein neues Verhältnis zu den Juden finden. Wir müssen wiedergutmachen. Und das ist nicht geschehen. Autor Erich Lüth war Lokalpolitiker in Hamburg und Mitglied der FDP. 1950 hatte er zum Boykott eines Nachkriegsfilms von Veit Harlan aufgerufen, dem Regisseur des Nazi-Propaganda-Films ?Jud Süß?, und damals schon gegen das Schweigen über die Verbrechen der NS-Zeit protestiert. Jetzt appellierte er mit drei Gleichgesinnten in Presse und Rundfunk, für die "Schandtaten der Ermordung von 6 Millionen", wie er das nannte, die richtigen Worte zu finden. Er wollte für die Annäherung an die "jüdische Restgemeinde in Deutschland" und an Israel die richtige Sprache suchen. Seine Diskussion mit Schülern in Berlin wurde vom RIAS am 18. Februar 1952 gesendet - in einer stark gekürzten Fassung, aus der alle nicht willkommenen Meinungen über Juden, wie z.B. die folgenden, entfernt worden waren. O-Ton Diskussion Schülerin: Aber warum gehen nicht alle Juden nach Israel und tauchen hier alle wieder auf? Alle aus Amerika. Alles taucht doch hier wieder auf. O-Ton Diskussion Schüler: Also ich kann nur sagen: solchen Auffassungen stehe ich hilflos gegenüber. O-Ton Diskussion Schülerin: Ich kenne zum Beispiel Juden, die nie vorher in Deutschland waren, die hier nur den Zweig sehen, dass sie sich hier wieder noch - ich weiß nicht, wie ich das sagen soll - bereichern wollen. O-Ton Lüth Ich möchte aber zunächst noch ein Wort über Israel sagen. Da sind nun aus allen Teilen der Welt die Juden zusammengeströmt, sie haben die allerschwerste körperliche Arbeit auf sich genommen und sie haben Wunderbares in Israel bereits geleistet. Und das widerlegt ja einen großen Teil der Behauptungen und Vorurteile, die sich konzentrieren auf gewisse abgedrängte Existenzen und auch auf gewisse abgedrängte Berufe. Autor Lüth rief zur "Aussöhnung" mit Juden und Israel auf - ein Wort, das zur Standardvokabel der neuen Sprache wurde. Doch das israelische Außenministerium hatte Bedenken. Es gehe nicht um "Aussöhnung", sondern um Reue, hieß es 1952 in einem internen Memorandum. Die israelische Regierung erwarte einen Ausdruck der Reue von Deutschland und eine Verpflichtung, dass Ähnliches nicht mehr auf deutschem Boden geschehen könne. Mit "Aussöhnung" sei eine Leistung von beiden Seiten gemeint, also auch die Vergebung von jüdischer. O-Ton Lüth Ihr müsst wissen, was geschehen ist. Denn es ist der Auftrag eurer Generation, die Konsequenz zu ziehen aus dem Bösen - nämlich das Böse in ein Gutes zu verwandeln und mit denen, die so viel gelitten haben, auch mitzufühlen. Autor Juden waren laut Umfragen in der Bundesrepublik weiter unbeliebt - und besonders die so genannte ?Wiedergutmachung?, die an Juden und Israel gezahlt werden sollte. Lüth forderte dagegen, jedem Juden "Ehrfurcht und Liebe zu zeigen" und sprach von dem "unabsehbar Guten, das die Juden im Dienste der Menschheit, auch in Deutschland, geleistet haben". Die Lehrmeister der neuen Sprache bemühten sich, den negativen Stereotypen über Juden etwas Neues entgegen zu setzen: positive Stereotypen. Zitator 1 Jüdischer Mensch sein, bedeutet zuerst ein Leid tragen, das mitgelitten werden muss. Jüdische Prägung, das ist besondere Geistigkeit, jenes zarte, feinsinnige Menschentum, das tiefe Empfinden für Gerechtigkeit, gepaart mit großer Güte, Gastfreundschaft und Milde, die besondere Art zu reagieren auf die Geschicke, die seltsame Gabe, geduldig zuhören zu können, das Geheimnis vieler jüdischer Ärzte, die besondere Art, gütig zu sein und einzugreifen in die Nöte der Welt. Hermann Maas, Heidelberger Theologe, 1952 Autor Ein anderes Kennzeichen der entstehenden Sprachregelung war die Vermeidung des Wortes "Jude". Bei der Gründung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Bonn sprach Bundespräsident Theodor Heuss Ende 1949 von der "suggestiven Wiederholung", die es unmöglich mache, das Wort "Jude" auszusprechen. Der adjektivische Gebrauch des Unworts, zum Beispiel im Zusammenhang mit "Mitbürger", hatte sich inzwischen eingebürgert. Der "jüdische Mensch" und seine "besondere Geistigkeit" führten bald zum Klischee des Juden als wertvoller Kulturträger und zu den vielen anderen unpersönlichen, realitätsfernen Abstraktionen, derer sich der Philosemitismus der späteren Jahre bediente. Doch wie eine Umfrage nach der anderen in den 50er Jahren auswies, riefen Juden weniger Mitleid als weiterhin vorwiegend Ablehnung hervor. Nur die Juden in Israel nötigten Respekt und Bewunderung ab. Zitatorin Israel, der Staat der Juden, wurde in der deutschen Öffentlichkeit zum beliebten Gesprächsthema. Es war einfacher, sich mit ihm zu befassen als mit den Juden in Deutschland, mit denen man Seite an Seite leben musste. Israel war weit, man konnte es vorbehaltlos bewundern. Ja, es wurde modern, von seinen Fortschritten überwältigt zu sein. Inge Deutschkron Autor Die Journalistin berichtete in den Fünfziger Jahren aus Berlin für israelische Zeitungen. Als der Vertrag über die Entschädigungszahlungen an Israel im März 1953 Bundestag und Bundesrat zur Verabschiedung vorlag, drohte eine Ablehnung. Eine Mehrheit der konservativen Regierungsfraktionen aus Christdemokraten, FDP und Deutscher Partei und ein großer Teil der westdeutschen Presse waren dagegen. In diesem Moment lud die israelische Regierung Erich Lüth zu einer Reise in den jüdischen Staat ein. Zwischen der Bundesrepublik und Israel gab es noch keine diplomatischen Beziehungen, Israel hatte per Gesetz den Handel zwischen den Ländern verboten und versuchte, den Personenverkehr zu unterbinden. Erich Lüth war einer der ersten Bürger der Bundesrepublik, die nach Israel eingeladen wurden. Er sollte, so hoffte Jerusalem, über seine Eindrücke einen positiven Bericht schreiben. Zitator 2 Über alles, was man mit seinen Augen im alt-neuen Staate Israel sieht, lässt sich in klaren Worten berichten. In keinem Land ist die Luft so klar, und nirgends sonst weitet sich der Blick bis in die tiefste Unendlichkeit. Tausend Bilder drängen in brennenden Farben so stark auf den Betrachtenden ein, dass die Netzhaut sie noch nach Wochen bei geschlossenen Augen immer aufs Neue reflektiert. Autor 1953 war die Reise eines nichtjüdischen Bundes-Deutschen nach Israel noch ein Politikum. Bei seiner Rückkehr erwartete Lüth die Presse, und selbst US-Zeitschriften berichteten über seine Reise. In den folgenden Monaten beschrieb Lüth seine Eindrücke in einem Dutzend westdeutscher Zeitungen und Zeitschriften und im Rundfunk. Schon im Sommer erschien sein Buch: Reise ins Gelobte Land. Auch die Geschichte, die Lüth zu erzählen hatte, war ein Politikum. Sein Bericht entwarf ein umfangreiches Wunschbild des jüdischen Staates und seiner jüdischen Bürger, ein Wunschbild, das in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem millionenfachen Mord entstand und spezifisch deutsche Züge trug. Lüth sang ein "Heldenlied" auf den jungen Staat, wie er selbst es nannte. Zitator 2 Der Prototyp des neuen Israeli ist der Typus der Aufrechten, Starken, Selbstbewussten, körperlich und geistig Beweglichen, der Zähen und im Ringen ums Dasein Tapferen. Autor Lüth setzte ganz bewusst Kontraste. Das Deutsche stand für ihn nun, nach Hitler und der Niederlage, für das Schwächliche und Verabscheuungswürdige, das Jüdisch-Israelische für das Edle und Gute. Zitator 2 Und es gibt eine zweite Feststellung, die vielleicht noch zwingender ist. Dieses Volk ist im Gegenteil von einer Vitalität, Frische, Tatkraft und Entschlossenheit ohnegleichen, die den Gast aus Deutschland, der das Land im vollen Bewusstsein alles dessen, was im Tausendjährigen Reich geschehen ist, betritt, auf das Tiefste bewegt und erschüttert. Autor Die jüdischen Bürger des Staates nahm er nicht mehr als "Juden" wahr, sondern als "neue Menschen", die von den negativen Assoziationen des sog. Diaspora-Judentums befreit sind. Seine scharfe Unterscheidung zwischen Juden und Israelis entsprach den Selbstbildern, die Israel von sich entwarf. Der neue Diskurs war beiden Seiten willkommen. Er entsprach den Wunschbildern des Zionismus, der einen neuen Juden schaffen wollte ebenso wie denen einer deutschen Gesellschaft, die sich von einer antisemitischen in eine philosemitische zu verwandeln wünschte. Die jüdische Gesellschaft Israels lud zu idealisierenden Projektionen durch Deutsche geradezu ein. Die jüdische "Restgemeinde" in Deutschland zu lieben, wie Lüth es in Berlin gefordert hatte, blieb schwer. Zitator 2 Die letzten Reste des Ghettos, die bis in die volle Emanzipation und bis in die Assimilierung fühlbar blieben, haben sich im neuen Staat Israel in ein Nichts verflüchtigt. Wir erleben das Phänomen einer unglaublichen Renaissance. Eigenschaften, die unsere früheren jüdischen Landsleute aus mancherlei Gründen nicht entwickeln konnten, sind jetzt frei entfaltet und schöpferisch geworden. Wer heute in Israel "typische Juden" sucht, versehen mit jenen alten Merkmalen, die teils durchaus positiv waren, der wird im ganzen Lande kaum einen Juden dieser alten Art antreffen. Autor Das Thema der Transformation taucht in Lüths Reisebericht in vielen Variationen auf. Israelische Beamte des Außenministeriums chauffieren ihn in US-amerikanischen Limousinen über tausende Kilometer kreuz und quer durch das Land. Zitator 2 Wir besuchten Siedlungen, deren Häuser nach wenigen Jahren harter Aufbauarbeit bereits in dichtes Grün gebettet waren. Denn auch die Erde Judäas ist fruchtbar, sobald man sie durch künstliche Bewässerung ihrer Verdorrung entreißt. Bald werden die Berge von Judäa unter den Händen der Einwanderer zu einem Waldgebirge voller fruchtbarer Lichtungen und paradiesischer Gärten werden. Ein an das Wunderbare grenzender Wandel, eine Neugeburt oder Wiedergeburt des Landes hat begonnen. Autor Die Energie der Juden, ihre Tüchtigkeit, die westliche Rationalität ihrer Industrie, Landwirtschaft und ihrer sozialen Einrichtungen, wird in den Gegensatz zu den traditionellen Praktiken der Araber gesetzt, die in den Augen von Lüth in der Irrationalität gefangen bleiben. Warum haben sie die Bäume abgeholzt, fragt Lüth immer wieder. Es ist ihre Ignoranz. "Selbstvernichtung" nennt Lüth die Rodung der Hügel, während er die jüdischen Gegenmaßnahmen immer wieder als "Rettung" des Landes bezeichnet. Zitator 2 Die Araber haben unbekümmert Raubwirtschaft betrieben. - Dieser Boden war vor dreißig Jahren wüst und leer. Bis die Einwanderer kamen und die Erde erlösten. - Die alten Bäume wurden verbrannt, da die Nomaden der Wüste weder Gärtner noch Förster sind. Jetzt sind die Juden nach langer Wanderung als Gärtner und Förster zurückgekehrt. Autor Wir jagen im Pontiac nach Sodom ans Tote Meer hinab, auf der neuen Chaussee, "eine der größten Leistungen, die der junge Staat Israel" vollbracht hat, schreibt Lüth. Zitator 2 Zwei oder dreimal sahen wir Araber in statuenhafter Unbeweglichkeit nahe der Straße sitzend. Ihr Burnus leuchtet im grellen Licht der Sonne. Sie hüten ihre Kamele, die an den dürftigen Wüstengräsern rupfen. Autor Lüth bejubelt die Beschleunigung, in die die jüdische Geschichte hier geraten zu sein scheint, dank des Zionismus, und bemitleidet die arabische Gesellschaft, die stehen geblieben ist. Aber schon geht es weiter, im "Pontiac" oder im "Chevrolet". Lüth, der Fan der Moderne, nennt immer wieder die Marken der US-amerikanischen Limousinen. Zitator 2 Die Araber kennen den Begriff der Infektion und Infektionsgefahr nicht. So war es nicht leicht, hygienische Maßnahmen gegen ihren Fatalismus durchzusetzen. Die arabischen Frauen sind es, nicht die Männer, die auf ihrem Kopf Lasten tragen. Zieht der Araber mit seiner Familie hinauf aufs Feld, so reitet er, auf dem Esel sitzend, voraus und lässt die Frauen zu Fuß folgen. Autor Wie in vielen anderen europäischen Darstellungen des Orients treten in Lüths Reisebericht die Bewohner der Städte und die Vertreter des modernen Nahen Ostens nicht auf: Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler. Lüth folgt dem Bild, das die jüdische Gesellschaft Israels von den Arabern des Landes entwirft. Zitator 2 Es gibt noch Araber in Israel. 170 000 arabische Staatsbürger Israels haben den von der arabischen Liga angeordneten Auszug aus Israel nicht mitgemacht. 700 000 Araber flohen während des arabisch-israelischen Krieges. Sie glaubten, nach der von den arabischen Staaten angekündigten Niederlage der Juden zurückkehren zu können. Sie wurden bitter enttäuscht. Autor Diese Verklärung von Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung hatte für ein deutsches Publikum eine besondere Bedeutung, denn "Vertreibung", das war 1953 auch in der Bundesrepublik ein aktuelles Thema. Angeordneter Auszug klang in deutschen Ohren besser als die Realität: In Palästina waren im Krieg von 1948 etwa 400 arabische Dörfer von israelischen Truppen zerstört worden; die Bevölkerung war geflohen. In den Städten blieben ganze Stadtteile leer zurück. Lüth schildert dieses Panorama der gewaltsamen Errichtung des Staates und der ebenso gewaltsamen Schaffung einer jüdischen Mehrheit dagegen in den Farben des Aufblühens und der Begrünung. Zitator 2 Nach der Ausrufung des Staates Israel zog die Jugend des Landes von den Städten und Dörfern und den vielen Kibbuzim aus und pflanzte an allen Straßen Bäume. Die Berge Judäas waren in ihrer Kargheit fast unbewohnbar geworden. Nur in wenigen Tälern entdeckten wir an den Hang geklebte und würfelförmig in sich verschachtelte Arabersiedlungen. Manche von ihnen sind im Kriege zerstört worden. Doch schon ist das Land von jungen Siedlungen überzogen. Autor Diese transformatorische Logik ist eines der Bindeglieder zwischen der Ideologie Israels und dem Geist der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland. Wenn Lüth über den Staat für Juden schreibt, schreibt er auch über seine Hoffnungen auf einen neuen, geläuterten deutschen Staat: Das junge Israel erscheint ihm als das Modell einer idealen Gesellschaft, wehrbar aber nicht militaristisch, geleitet von einem "leidenschaftlichen Staatsgefühl", wie Lüth es bewundernswert euphemistisch formuliert, und nicht vom Nationalismus. Zitator 2 Der israelische Prozess der Staatswerdung ist ein heroischer Prozess, der ohne die ganz konkrete Heldenhaftigkeit der Männer und Frauen des ewig jungen Volkes Israel niemals zu Sieg und Erfolg hätte führen können. "Heroismus", "Sieg", "persönliche Heldenhaftigkeit", alles Begriffe, die in unserem Land zunächst einmal mancher Verdächtigkeit entkleidet werden müssen. Autor Ethnischer Zusammenhalt in Israel ist für ihn ein "Prinzip der gegenseitigen Hilfe", das eine, wie er schreibt, "geradezu revolutionäre gesellschafts- und staatsbildende Kraft" entfaltet. Lüth benutzt Begriffe wie "Land Israel" und "Volk Israel" und legt damit die Quellen seiner Impressionen bloß: die israelischen Selbstdarstellungen der Zeit und die zionistischen Thesen über die Kongruenz von jüdischem Volk, jüdischem Land und jüdischem Staat. Es sind diese spezifisch deutschen Wunschbilder von Israel, mit denen Lüth den Zionismus als Gegensatz zum deutschen Nationalismus stilisiert: das Streben nach einem auf ethnischer Basis definierten Staat für Juden und die Mittel, die dabei angewendet wurden, stellen den anständigen, ethischen Nationalismus dar. Das Prinzip des Völkischen, die Organisation von Staat und Gesellschaft um eine ebenso mythische deutsche Volksgemeinschaft, ist das Vergangene, Verwerfliche. Zitator 2 In einem Haus in Tel Aviv sprachen wir über das Wesen der Juden und über das der Deutschen. Einer der Freunde sagt: Wie ähnlich sind wir, sind unsere Völker einander! Beide suchen das Absolute, beide drängt es zum Unbedingten! Diese fast mystische Verwandtschaft hat uns früher so sehr angezogen. Autor Noch ein anderer Aspekt des neuen Diskurses über Juden und Israel wird deutlich. Durch ihn wurde ein Gespräch über das "Wir" des deutschen Nationalismus wieder möglich, über das Deutsche, das Juden wie selbstverständlich ausschloss. Zitator 2 Deshalb liebten die Juden das Deutsche wie sich selber, deshalb auch wurde die Enttäuschung zum Höllensturz. O-Ton Lüth Das Faktum ist bekannt, und ich glaube, es ist in eurem Kreise keiner, der daran zweifelt, dass es böse Wahrheit ist, bittere, schmerzliche Wahrheit für uns, dass sechs Millionen Menschen ermordet sind. Nun kommt für uns das Problem: Wie werden wir damit fertig? Autor Die Verklärungen und Auslassungen, die Lüth für das Gespräch über Juden und Israel fand, wurden in den folgenden Jahren immer mehr zum Normalen, und schließlich zum Normativen. Ab Mitte der Fünfziger Jahre berichteten westdeutsche Korrespondenten regelmäßig aus Israel, deutsche Journalisten drehten Dokumentarfilme, und die Wochenendausgaben der Zeitungen druckten Reiseimpressionen ab. Die meisten Berichte folgten Lüths Vorbild. Seine Idealisierungen entsprachen den Bildern, die Israel mehr und mehr ins Ausland projizierte, und denen, die in der Bundesrepublik aus eigenen, spezifisch deutschen Gründen besonders willkommen waren. Zitator 1 Im Kibbuz, das spürte ich deutlich, war ich dem Geheimnis nahe, das die Wiedergeburt eines verachteten Volkes in eine selbstbewusste und tapfere Nation bewirkte. Aus der Berührung mit der Mutter Erde gewannen die Gestürzten neue Kräfte. Man sagt, dass die Berührung mit dem biblischen Boden bereits rein körperlich einen vom jüdischen verschiedenen, israelischen Typus hervorbringe. Tatsache ist, dass bei Fahrten durch Israel die vielen blonden Kinder auffallen. Egon Heymann 1959 im Industriekurier Autor Zwischen der Verabschiedung des Israel-Vertrages 1953 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel 1965 bewegte sich der neue Diskurs allmählich aus den Nischen der westdeutschen Öffentlichkeit ins Zentrum. Während Lehrmeister wie Erich Lüth und Hermann Maas später als Repräsentanten des "neuen" oder des "anderen Deutschland" gefeiert wurden, waren sie Anfang der Fünfziger Jahre noch Außenseiter. Die folgende Generation hingegen stand dem Zentrum der Macht viel näher. Der Pressekonzern von Axel Springer propagierte den neuen Diskurs in seinen Zeitungen, deutsche Städte und Verbände schickten Besuchergruppen in den jüdischen Staat, und Schulen schickten ihre Schüler. Die von Lüth geforderte Hinwendung zu Juden wurde zu einer Hinwendung zu Israel. Zehntausende Jugendliche strömten ins Land. Zitator 3 Nirgendwo anders bietet sich solch unvergleichlicher politischer Anschauungsunterricht. Die alten Naziargumente, Juden seien Ausbeuter und Halsabschneider, sie scheuten körperliche Arbeit, seien feige und verschlagen, können in Israel leicht widerlegt werden. Was die Juden beim Aufbau ihres Staates geleistet und erreicht haben, ist ein schlagendes Beispiel des Gegenteils. Der Frankfurter Oberbürgermeister Werner Bockelmann 1960 O-Ton Zeit im Funk Sprecher: Die Zeit im Funk. Erkennungsmelodie. Sprecher: Guten Abend, meine Damen und Herren. Der Zeitfunk berichtet heute aus Israel, Frankreich und der Bundesrepublik. Jerusalem: Heute Früh begann der Eichmann-Prozess. Paris: Heute Nachmittag sprach Staatspräsident De Gaulle auf einer Pressekonferenz über die letzte Entwicklung der Algerienfrage. Sprecher: Israel. Heute Früh begann um 8:01 Uhr im Volkshaus der geteilten Stadt Jerusalem der Prozess gegen den 55-jährigen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Dieser Prozess wird in der Geschichte seinen Platz neben den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen haben. Eichmann wird beschuldigt, für die so genannte Endlösung der Judenfrage zuständig gewesen zu sein. Zitatorin Je früher er tot ist - desto besser - so dachten wohl die meisten Deutschen, als die Beweisaufnahme am 14. August 1961 abgeschlossen war. Es war, als ob die deutsche Öffentlichkeit zum ersten Mal begriff, was Deutsche den Juden angetan hatten. Man kann wohl annehmen, dass Verzweiflung und Scham in den ersten Wochen des Prozesses weit verbreitet waren. Je eher der Prozess vorüber war, desto schneller konnten sie vergessen, was sie gehört hatten. Mit Eichmann am Galgen wäre ein für viele unerfreuliches Kapitel abgeschlossen. Inge Deutschkron Autor Hunderte Journalisten strömten 1961 zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem und beschrieben das Land in dem Zusammenhang, in dem die israelische Regierung es präsentieren wollte: als Zufluchtstätte der Holocaust-Überlebenden, als einen Staat, dessen Existenz durch den Massenmord legitimiert war und als ein jüdisches Gemeinwesen neuen Typs, wehrbar, selbstbewusst und autark, in dem die Juden ihr Schicksal zum ersten Mal in die eigene Hand nahmen. Entführung und Prozess sollten als Anschauungsunterricht im Holocaust-Ethos dienen, den auf den Holocaust bezogenen politischen und moralischen Maximen, die den Staat zu bestimmten Handlungen legitimierten. Der unrechtmäßige Akt der Entführung Eichmanns aus Argentinien im Namen eines höheren Rechtsprinzips schien dafür besonders geeignet. Deutsche Politiker reagierten mit Sorge. Im Herbst 1961 standen Wahlen zum Bundestag vor der Tür. Zitatorin Fast flehend erinnerte Kanzler Adenauer die Welt daran, dass es in Deutschland jetzt nicht nur eine junge Generation gebe, die an den Verbrechern unschuldig sei, sondern dass es auch viele Deutsche gegeben habe, die ebenfalls unter dem Naziregime gelitten hätten. Er fügte hinzu: Zitator 1 Man soll nicht vergessen, dass hier in Deutschland selbst nationalsozialistische Deutsche an Deutschen genau dieselben Verbrechen begangen haben, wie sie Eichmann an Juden vollbracht hat, und dass die allermeisten Menschen, wenn sie irgendeinem jüdischen Mitbürger helfen konnten, das mit Freude und gern getan haben. Zitatorin Es ist müßig zu fragen, ob Adenauer wirklich glaubte, was er sagte. Auch die Sozialdemokraten übernahmen diese Taktik. Der kluge Wahlstratege Wehner gab den sozialdemokratischen Zeitungsherausgebern und Journalisten den Rat, sich bei der Berichterstattung über den Eichmann-Prozess die größtmögliche Zurückhaltung aufzuerlegen. Der Grund war offensichtlich: die Bevölkerungskreise nicht zurückzustoßen, an deren Stimme ihm lag. Inge Deutschkron Autor Die überwiegende Meinung in der Bundesrepublik, wie in anderen westlichen Ländern, wertete die Eichmann-Entführung und seinen Prozess als Zeichen des israelischen Exzeptionalismus, der sich aus der Besonderheit der jüdischen Geschichte und des Holocaust ableitete und dem jüdischen Staat und Juden bestimmte Privilegien einräumte. Im Winter 1961 wurde die Todesstrafe über Eichmann verhängt und im Mai 1962 vollstreckt. Zitatorin Die Älteren, die der Ansicht waren, dass mit Eichmann all ihre Sünden ausgelöscht seien, konnten plötzlich viel leichter und unbefangener über Israel sprechen. Die Jüngeren gingen nach Israel. In ihrem Verlangen nach Idealen, nach Vorbildern, für die es sich zu kämpfen lohnt, wollten sie etwas erfahren über den Geist, der in diesem Staat der Juden lebte, der ihn dazu befähigt hatte, sich gegen eine dreißigmal stärkere feindliche Übermacht zu behaupten, und der es fertiggebracht hatte, einen Eichmann in seinem entfernten Versteck ausfindig zu machen. Inge Deutschkron O-Töne Schüler Schüler 1: Man sieht weniger das religiös Trennende unter den Juden, sondern das rassisch Trennende, die Äußerlichkeiten sind meistens diese Sachen und vielfach auch Berufsneid. Schüler 2: Kannst du das näher erläutern? Schüler 1: Ich will damit ausdrücken: Man versteht die Kultur nicht, man versteht die Religion nicht. Und es ist ja bekannt, dass Juden große Wissenschaftler waren, gute Kaufleute und so weiter, und vielfach kam es da vor, dass andere Ärzte und Kaufleute benachteiligt wurden. Schülerin: Es ist hauptsächlich der Neid, dass die Juden schneller vorwärts kamen. Autor Nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Jerusalem begannen schließlich auch staatliche Akteure, den besonderen Diskurs zu übernehmen. Die Freundschaft mit Israel wurde zu einem wichtigen Bestandteil der bundesdeutschen Selbstdarstellung im In- und Ausland. Die Berichterstattung über den Eichmann-Prozess verstärkte die Zweiteilung in der Darstellung von Juden und Israel. Israel und Israelis erschienen zwar weiterhin im besonderen Kontext der "jüdischen Frage", wie sie sich in der jungen Bundesrepublik stellte, waren aber gleichzeitig von den negativen Konnotationen des Jüdischen befreit. "Juden", das waren die Opfer der deutschen Verfolgung, jene Gruppe, die gleichzeitig Mitleid und Ablehnung hervorrief. Israel und Israelis hingegen nötigten Respekt ab. Zitator 2 Dutzende deutscher Journalisten kamen zum ersten Mal nach Israel und berichteten nicht nur vom Prozess und den Verbrechen Eichmanns, sondern auch über das Land und das, was ihnen an diesem Staat gefallen hatte. Das Interesse am Land Israel und seinen Leistungen war gerade erwacht und ich wollte dieses Interesse nutzen, um die Menschen über Israel zu informieren. Asher Ben-Natan, ab 1965 erster israelischer Botschafter in Bonn Autor Der in Wien geborene Ben-Natan verstand die besondere Sprache über Juden und Israel gut. Zitator 2 Das Fernsehen und die Presse brachten den Deutschen zwar den Holocaust in Artikeln, Interviews und Dokumentationen hin und wieder in Erinnerung, aber im Allgemeinen wollte der Mann auf der Straße nichts davon hören. Vergessen oder unter den Teppich schieben, war die Devise. Die Shoa, der Holocaust - wie auch immer man den Völkermord an den Juden bezeichnete - das Thema kehrte immer wieder zu mir zurück. Die Bundesrepublik aber sollte sich ihrer Geschichte selbst stellen, auch ohne die Fingerzeige eines israelischen Botschafters. Zu allen Fragen, die Israel direkt oder indirekt betrafen, wollte ich mich äußern. Vom Holocaust sprachen wir nicht. Das überließen wir den deutschen Medien. Autor Auch Israels erster Premier David Ben Gurion hatte auf diese Unterschiede noch Rücksicht genommen. In seinen Verhandlungen mit Konrad Adenauer über deutsche Entwicklungshilfe, die ab 1961 gezahlt wurde, vermied er es, direkt über Schuld und Sühne zu sprechen. Er sprach über die "Fruchtbarmachung der Wüste", an der Deutschland Teil haben sollte - ein Thema, das Ben Gurion gerne ausführlich erläuterte, gerade gegenüber deutschen Besuchern. Er bestand darauf, dass die "Fruchtbarmachung" auch als Formulierung in die Verträge mit Deutschland aufgenommen wurde. Dieser politische Euphemismus führte Mitte der Sechziger Jahre zu einem diplomatischen Konflikt mit Ägypten. Kairo protestierte in Bonn gegen die Formulierung, weil es die Wüste, um die es ging, im Krieg von 1948 an Israel verloren hatte. O-Töne Schüler Schülerin 1: Ich habe eine Frage zur Wiedergutmachung, Herr Lüth. Gerade in dieser Zeit, wo nicht nur die Juden so schlecht dran sind, sollte man nicht darauf achten, ob der Mensch nun Jude ist oder kein Jude. Man sollte da eingreifen, wo es Not tut. Es gibt viele Familien, die nicht jüdisch sind, denen es auch sehr schlecht geht und denen auch bis zu 20 oder 30 Personen aus einer Familie ausgerottet worden sind. Und da sollte man doch auch eingreifen. Schüler: Ein Zwischenruf. Ich wage zu bezweifeln, dass eine deutsche Familie 30 Mitglieder verloren hat. Schülerin 1: Wenn es eine große Familie ist, warum nicht? Bei Juden sind auch nicht 30 oder 40 in einer Familie ... Schülerin 2: Ich weiß es, dass es doch der Fall ist. Ich kenne es aus Ostpreußen. Da sind ganze Dörfer ausgerottet worden; und teilweise waren die Dörfer durch und durch verschwägert. O-Ton Zeit im Funk Sprecher: Die Zeit im Funk. Erkennungsmelodie Rolf Schloss: Die Israelis haben heute Mittag die Jerusalemer Altstadt besetzt und sind damit, wie es heute ein Jerusalemer Bürger sagte, zum ersten Mal als Volk und Staat nach zweitausend Jahren an der Klagemauer, der Westmauer des zweiten Tempels. Hier hat heute der Oberrabbiner der Armee, Goren, in das Widderhorn geblasen, ein biblischer Brauch, in unseren Tagen erneuert. Autor Der damalige SFB-Reporter Rolf Schloss berichtete am 7. Juni 1967 aus Jerusalem. Kaum ein anderes Ereignis beeinflusste das bundesrepublikanische Gespräch über Juden und Israel so stark wie dieser Krieg. Er rief in der Bundesrepublik die Erinnerung an die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg in vielerlei Weise wach. Zitator 1 Mit einem Blitzkrieg, der schneller gewonnen wurde als je ein deutscher Sieg, eroberten die Israelis in der vergangenen Woche die Halbinsel Sinai und die ganze Bundesrepublik. Mit einer Musterdemonstration stählernen Soldatentums - für die Deutschen seit je die imponierendste aller Eigenschaften - schossen sie sich in die Herzen jenes Volkes, in dessen Namen einst alle Juden ausgerottet werden sollten. Ausgerechnet Juden, die deutsche Nazis für feig, faul und verkommen hielten, gewannen im Gegensatz zu deutschen Herrenmenschen schon zum dritten Mal den Krieg gegen eine erdrückende Übermacht. Ausgerechnet Juden riefen deutschen Veteranen ihren Rommel in Erinnerung und erwiesen sich als wahre Wüstenfüchse. Allen war bewusst, was der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt in einem Appell "Helft Israel" so formulierte: "Wir können nicht schweigen, wenn das israelische Volk mit Völkermord bedroht wird." "Der Spiegel" am 12. Juni 1967 unter dem Titel "Blitz und Blut". Autor Das israelische Narrativ vom "Sechstagekrieg", in dem die israelischen Streitkräfte am siebten Tag scheinbar unerwartet und wundersam den jüdischen Staat vor der geplanten Vernichtung durch eine überwältigende arabische Übermacht bewahrten, bezog sich offen wie verdeckt auf den Vorabend des Holocaust. In Israel selbst wollten Kabinett und Armeeführung damit die Wehrbereitschaft und den Kampfgeist stimulieren. Die Israelis sollten - anders als die europäischen Juden vor 30 Jahren - "wie Männer aufstehen". Auch gegenüber dem Ausland wurden mit Slogans wie "Hitler kehrt zurück" oder "Nasser ist Hitler" Analogien zur NS-Zeit eingesetzt. Die westdeutsche Öffentlichkeit reagierte mit außergewöhnlicher Intensität. Zitator 3 Mit Bestürzung vernahm ich gestern die Kriegsmeldung. Da die arabische Welt zum zweiten Völkermord in diesem Jahrhundert aufruft, möchte ich Ihnen persönlich meine Unterstützung in dem Kampf um Ihre staatliche Existenz vergewissern. Meine Frau und ich dachten zunächst an die Aufnahme eines evakuierten Kindes. Zitator 1 Hiermit melde ich mich freiwillig zum Kampf- oder Arbeitseinsatz. Ich bin 25 Jahre alt und voll wehrtauglich. Zitatorin Jetzt steht ein zweiter Hitler auf und will die paar Überlebenden auch noch liquidieren. Bitte glauben Sie mir, dass wir nicht alle so sind. Meine Familie weint! Autor So stand es in Briefen deutscher Bürger an den israelischen Botschafter in Bonn im Juni 1967. Neben unzähligen Geldspenden und ebenso vielen Angeboten, "evakuierte Kinder" aufzunehmen, boten die Briefschreiber vor allem Ratschläge. Zitator 3 Zu uns Deutschen sagt man: ?Ihr müsst Euch damit abfinden, dass Ihr den Krieg verloren habt und infolgedessen keinen Anspruch mehr auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie stellen könnt.? Wenn es schon bei uns so gemacht wird, warum dann in Israel nicht genau so? Dass Jerusalem vereint bleiben soll, ist wohl jedem klar. Warum sollen in Zukunft nicht auch der Gazastreifen, das westliche Jordanufer und der Zugang zum Golf von Akaba Israel gehören? Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Autor Asher Ben-Natan gab diese Briefe 1971 als Buch heraus - nach seiner Abberufung aus Bonn. Einen überraschend großen Teil widmete Ben-Natan einem neuen Phänomen, oder dem, was er als ein neues Phänomen darstellte - der Kritik von Deutschen an Israel. In seiner Einleitung schrieb er, dass nur etwa 1,5 Prozent der 15 000 zwischen 1965 und 1969 empfangenen Briefe "an Israel oder an meiner Person Kritik übten oder ihren antisemitischen Neigungen Ausdruck geben wollten". Die bemerkenswerte Entscheidung dieses hohen israelischen Diplomaten, ein Drittel des fast 400 Seiten umfassenden Bandes trotzdem der Veröffentlichung von "kritisch-ablehnenden und antisemitischen Briefen", so Ben-Natan, zu widmen, stand in einem besonderen Zusammenhang mit der israelischen Presse- und Informationspolitik, die sich seit Mitte der Sechziger Jahre darum bemühte, Kritik an israelischer Politik in der westlichen Öffentlichkeit mit dem Makel des Antisemitismus zu versehen. Zitator 2 Ich habe ihnen bei der Auswahl einen großen Raum eingeräumt, weil ich glaube, dass der Prozentsatz solcher Ansichten in der Bundesrepublik größer ist, als es sich in den Briefen ausdrückt. Zitator 1 An den Botschafter Ben Natan-Satan. Die Frechheit der Juden nimmt schon wieder überhand. Wir brauchen keine Juden in Deutschland. Ab nach Palästina. Zitator 3 Wirtschaft, Fernsehen, Politik, Theater sind wieder fest in jüdischer Hand. Die Aufwertungsgewinne, die der jüdische Weltparasit eingestrichen hat, sind recht akzeptabel. Autor Unter der Rubrik "Ambivalentes und Antisemitisches" oder "Es gab auch negative Reaktionen" veröffentlichte der Ex-Botschafter Briefe von Verfassern, deren Beschuldigungen dank der genüsslich präsentierten Rechtschreibfehler und eigenwilligen Syntax überdeutlich dem gröbsten Gossen-Antisemitismus zuzuschreiben sind. In diesen Zusammenhang rückte Ben-Natan auch seriöse Kritik am israelischen Vorgehen, an Israels Grundargumentation hinsichtlich der arabischen Bedrohung und der Flüchtlingsfrage. Auch die Auseinandersetzung mit westdeutschen Linken nimmt in der Briefsammlung, wie in seinen 2005 veröffentlichten Memoiren, einen wichtigen Platz ein. Ben-Natans Auto wurde im September 1968 während eines Protestes in Frankfurt, der nicht gegen ihn oder Israel, sondern gegen die Verleihung des Friedenspreises an Leopold Senghor gerichtet war, von Studenten bedrängt. Der Botschafter ließ anhalten. Zitator 2 Als einer aus der Menge die israelische Standarte vom Kotflügel reißen wollte, stieg ich aus dem Wagen, richtete meine ganzen 1,84 Meter auf und drängte den Burschen ab. Ich weiß nicht, ob es ein Linker oder ein Rechter war, aber ich posaunte lautstark in die Menge, dass sie sich wie die Nazis benähmen. Autor Kurz danach wurde er während einer Diskussionsveranstaltung an der Universität Frankfurt am Main aufgefordert, sich dafür zu entschuldigen, dass er die Demonstranten vor der Paulskirche als Nazis beschimpft hatte. Zitator 2 Ich erklärte, dass ich jeden einen Nazi nenne, der die Fahne Israels in den Schmutz zieht oder mit Füßen tritt. Immer wieder wurde ich unterbrochen und als "Faschist" beschimpft und es erschallten Parolen wie "Zionisten raus aus Palästina", was mich stark an "Juden raus aus Deutschland" erinnerte. Autor Nach dem Junikrieg 1967 war die neue Sprache über Juden und Israel zum großen Teil normiert. Zu den Idealisierungen Israels und den leblosen Abstraktionen des "Jüdischen Mitbürgers", der als "Opfer" apostrophiert wurde, gehörte auch das Pendant - die ebenso künstlichen Konstruktionen, die sich hinter den Schlagworten der "Täter" oder der "Tätergesellschaft" verbargen. Die deutsche Gesellschaft erschwerte damit auch eine adäquate und realistische Auseinandersetzung mit Juden und ein differenziertes Gespräch über Israel. In der Bundesrepublik - wie in Israel - wurde der Eindruck gefördert, dass der Nahostkonflikt nicht aus dem Streit über Territorium entstanden war, sondern aus dem alt-neuen Antisemitismus, erst dem der Deutschen, dann dem der Araber. O-Ton Schüler Schüler: Ich bin auch der Meinung, dass die Unterteilung in Juden ... Wenn man vom Gegensatz spricht "Juden oder Deutsche", das ist genauso dumm als wenn man sagen würde "Moslem oder Christ" oder "Moslem oder Katholik", "Katholik oder Protestant". Jude ist doch eine Religionssache und kein Staatsangehörigkeit. Autor Deutsche Schuld schien auch das nahöstliche Geschehen mit einzuschließen, eine Konstruktion, die von israelischer Seite begrüßt und verstärkt wurde. Zitatorin In den 10 Wochen, die ich jetzt schon in Israel bin, habe ich fast jeden Tag erlebt, wie in diesem winzigen Land das Lebensrecht der Juden und der palästinensischen Araber aufeinanderprallen. Fast jeden Tag werde ich auch gefragt, was meine Meinung dazu ist, meine Meinung als Deutsche, als Sühnezeichen-Freiwillige. Ich betone hier jetzt meine Solidarität mit dem jüdischen Volk, aber es ist mir lange nicht gelungen, meine Solidarität in einem vollbewaffneten jüdischen Staat wiederzufinden. Zitator 1 Der Vorstand (der Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste) in Berlin beschloss, dass in den besetzten Gebieten keine Freiwilligen tätig werden sollten, aber mit den israelischen Arabern bahnte sich allmählich eine Zusammenarbeit an. Was als Ausdehnung unseres Friedensdienstes auf die gesamte Staatsbürgerschaft Israels gemeint war, wurde leider von einem Teil unserer israelischen Freunde als Abkehr von unserer ursprünglichen Linie, als Preisgeben der Solidarität empfunden. Autor War das Ziel des politischen Lernens, das der Nachkriegsphilosemitismus darstellte, die Versöhnung mit Juden oder die Aneignung politischer Prinzipien wie zum Beispiel die Absage an den Nationalismus? Eine ganze Generation von deutschen Jugendlichen, die als Freiwillige nach Israel kamen, fragte sich: Folgte aus "Auschwitz", wie es seit den Achtziger Jahren hieß, nun eine Verpflichtung gegenüber Israel oder gegenüber den Palästinensern? 2006 veröffentlichten 25 deutsche Politologen das Manifest "Freundschaft und Kritik", in dem die israelischen Argumente über die Ursprünge des Nahostkonflikts reproduziert werden, diesmal im Namen der Solidarität mit den Palästinensern. Zitator 3 Der seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten andauernde, immer wieder blutige Nahostkonflikt hat unbestreitbar eine deutsche und in Abstufungen eine europäische Genese; europäisch insofern, als der deutsche Gedanke einer "Endlösung der Judenfrage" aus dem europäischen Antisemitismus und Nationalismus hervorgegangen ist. Es ist der Holocaust, der das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid über die Palästinenser gebracht hat. Es ist also nicht nur Israel, das Anspruch auf besondere Aufmerksamkeit, Zuwendung und freundschaftliche Kritik Deutschlands hat. Als Deutsche haben wir nicht nur Mitverantwortung für die Existenz Israels, sondern auch eine Mitverantwortung für die Lebensbedingungen und eine selbstbestimmte Zukunft des palästinensischen Volkes. Autor Je weniger sich die komplexen Ursachen und Wirklichkeiten des Nahostkonflikts mit den Idealisierungen, Auslassungen und Identitätsprojektionen des deutschen Diskurses deckten, desto mehr mussten die Grenzen bewacht werden. In der Bundesrepublik wurde das Gespräch über Israel, den Ursprung und die Dynamik des Konflikts zunehmend von Strategien bestimmt, die ihre Quelle im Jerusalemer Außenministerium oder bei Organisationen hatten, die sich mit der Verteidigung des "Lebensrechts" Israels befassten. Diese Entwicklungen waren in gewissem Maße unumgänglich, hatte sich der deutsche Diskurs doch Jahrzehnte lang aus eigenen Interessen der Wunschbilder Israels über sich selbst bedient. O-Ton Diskussion Schülern 1: Wenn man schon mit solchen Anwürfen herangeht - Merke, es gibt Untaten, über die kein Gras wächst - dann können wir uns doch gar nicht mit den Juden versöhnen. Dann steht diese Untat immer wieder zwischen uns. Schüler: Natürlich wird das immer zwischen uns stehen. Aber es darf kein Hindernis sein. Man darf das nicht so aufnehmen: das ist geschehen und das ist unüberbrückbar. Es wird immer dazwischen stehen als Mahnmal. Schülerin 1: Aber wenn der Satz immer zwischen einem steht, dann kommt man doch nie zum Ziel. Es muss doch schließlich einmal bedeckt werden können, auch wenn es ganz spärliches Gras ist. Einmal muss es zu Ende sein. Schülerin 2: Also ich denke, die Juden wissen doch auch, dass es gute Deutsche gibt. Denn dadurch sind die doch gerettet worden. Absage Sprachstunde null Wie die Bundesrepublik über Juden und Israel zu sprechen lernte Ein Feature von Daniel Cil Brecher Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk 2010. Es sprachen: Frank Arnold, Axel Gottschick, Gregor Höppner, Anja Niederfahrenhorst, Volker Roos und Bruno Winzen Ton und Technik: Gunther Rose und Beate Braun Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff 25