COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Von Ost nach West und immer weiter Die Berliner Brunnenstraße Von Anette Selg Sendung: 29. März 2015, 11.05 Uhr Ton: Peter Seyffert Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2015 1 Atmo Brunnenstraße Autorin Seit bald 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie in Berlin-Mitte, an der alten Ost- Brunnenstraße. In einem schlichten Berliner Mietshaus, im Hinterhof alte Garagen und ein verwunschener Garten. Mittlerweile sind hier fast alle Gebäude renoviert, die Lücken aus dem Zweiten Weltkrieg geschlossen. Und ganz langsam vergesse ich: die grauen Häuserfassaden, die dschungelartigen Brachen dazwischen, und den dumpfen Geruch nach Kohleheizung, der über allem lag. Stattdessen kommen immer mehr Touristen aus aller Welt, um genau hier an der Brunnenstraße die Berliner Geschichte des vergangenen Jahrhunderts nachzuerleben. 1 ff Atmo Brunnenstraße Autorin Irgendwann beschließe ich, das, was die Brunnenstraße ausgemacht hat, festzuhalten. Ich krame nach meinen Erinnerungen aus den ersten Jahren, als wir - Mutter, Vater und sehr kleines Kind -, in diese noch ruhige, fast verlassene Gegend gezogen sind. In der alte Leute den ganzen Tag am Fenster verbrachten um auf ein dickes Kissen gelehnt, die Straße zu beobachten. Und im Ladenlokal an der Ecke noch ein schäbiger Thai-Imbiss war und keine Kunstgalerie. Ein paar Wochen lang befrage ich alle möglichen Leute zur Brunnenstraße. Suche nach alten Erinnerungen und neuen Geschichten. Suche nach Menschen, die mir von ihrem Leben im Osten und im Westen der Brunnenstraße erzählen - aus der Zeit, als die Berliner Mauer die Straße teilte. Und, vielleicht, erfahre ich ja auch etwas über die Zukunft der Straße. 1 ff Atmo Brunnenstraße Hochkommen lassen Kennmelodie Von Ost nach West und immer weiter Die Berliner Brunnenstraße Eine Deutschlandrundfahrt von Anette Selg 2 Atmo Peter Becker, OB Fluchttunnel ... Türgeräusch, Straßenlärm PB: Kuck mal, das is hier noch OB, Oswald Berliner. Ich: Das hat überlebt? PB: Ja, das hat alle Zeiten überlebt, das Tor, das is eins der alten Eingangstore der Brauerei. Das hat alle Jahrhunderte überstanden. (Straßenlärm) Und hier gabs mehrere Fluchttunnel. Die sind jetzt gekennzeichnet. Diese Markierung hier vorne ist auch n Fluchttunnel. Autorin Peter Becker ist der Besitzer unseres Mietshauses. Ein großer, schmaler Westfale um die Fünfzig, der ebenfalls im Haus lebt. Er ist Architekt und ein guter Freund. 1 O-Ton Peter Becker Ja, jetzt gehen wir an der alten Hinterlandmauer, das ist der letzte Rest der Hinterlandmauer, also bis hierhin konnte man noch als Nicht-Militär oder sonst was gehen, und dahinter war dann direkt der Todesstreifen. Und der hat lange vor sich hin gerottet und jetzt ist er n bisschen restauriert worden im Zuge der Anlage der Berliner Mauergedenkstätte bis zur Brunnenstraße. Schritte Autorin Vor zweihundert Jahren lag die Berliner Brunnenstraße noch vor der Stadt, vor dem Rosenthaler Tor. Sie war ein unbefestigter Feldweg und bekam erst 1801 von einer Heilquelle namens "Gesundbrunnen" am oberen Weg-Ende ihren Namen. Heute verläuft die Brunnenstraße vom Berliner Stadtteil Mitte hoch in den Stadtteil Wedding. Bis 1989 lag Mitte dabei im Osten und der Wedding im Westen der Stadt. Und das, obwohl die Straße, geographisch gesehen, ganz gerade von Süd nach Nord verläuft. 2 Atmo Peter Becker OB Fluchttunnel ff Ich mag den Blick sehr gern mit der Mauergedenkstätte, die Hinterlandmauer besprayt, so verschiedene Schichten. Das macht sich selten so bemerkbar wie hier an der Kreuzung Brunnenstraße Bernauer. (Verkehr) Autorin Die Berliner Mauer, der Todesstreifen, die Fluchttunnel - und heute die Touristen, die zur Gedenkstätte mit den nachgebauten Mauerstücken strömen. Auch wenn die Teilung der deutschen Hauptstadt Geschichte ist - hier, genau auf der Mitte der Brunnenstraße, ist diese Vergangenheit noch sehr lebendig. 3 Atmo Peter Becker 0.03 Ost-West-Backshop, ja (icke), und hier Ost-West-Café, wolln wir hier n Kaffee trinken gehen? ab 0.17 drinnen 0.25 PB: ich will einfach nur nen Kaffee ab 0.35 Musik ((Gequatsche: Café Cappuccino Kuchen Musik)) 4 Atmo Ost-West-Café unter O-Ton 2 O-Ton Peter Becker erster Eindruck Als ich mir dieses Haus angeguckt habe, mich mit dem Makler getroffen hab. Das muss gewesen sein, Winter 93/94. Da war ich zum ersten Mal bewusst in der Gegend. Mein Eindruck war sehr deprimierend, sehr heruntergekommen, aber ohne den extremen Charme des Scheunenviertels zu haben, mit abbröckelnden Stuckfassaden, das hatte etwas sehr Morbides. Hier hatte es den Charme einer grauen englischen Industriestadt des 19. Jahrhunderts, weil es auch nicht so heruntergekommen war. War auf ne spießige Art halbwegs ordentlich und trotzdem grau. Das war mein erster Eindruck, kann ich mich noch sehr genau erinnern. Autorin Die Familie Becker, eine rechtschaffene westfälische Handwerkerfamilie, gehörte zu den ersten Hauskäufern in dieser Gegend. Damals noch unter ziemlich abenteuerlichen Umständen. Es dauerte Jahre, bis der Besitz endlich ins Grundbuch eingetragen werden konnte. Gut, dass der Sohn Peter Becker in Berlin arbeitete, und gut auch, dass er Architekt war und sich um die Komplettrenovierung kümmern konnte. 4 ff Café-Atmo hoch 3 0-Ton PB mauerstreifen präsenter AS: Als du ankamst, wie präsent war da die Mauer im Vergleich zu jetzt? PB: Gar nich, die is jetzt viel präsenter. Vorher war das nur ein verwilderter Grünstreifen. Wo ich oft spazieren gegangen bin. Übrig war nur noch der Postenweg, alles andere war weg in den 90er Jahren, und unten noch ein paar Mauersegmente. Da hab ich botanisiert, da gab es Kartäusernelken und Blauen Lein. Und jetzt ist es Gedenkstätte - Natürlich ist es präsenter geworden durch die Mauergedenkstätte, aber das ist erst ne Entwicklung der Nuller Jahre. Autorin Nach der Jahrtausendwende kamen die jungen Galerien in die alte Ost-Brunnenstraße. Es gab illegale Clubs in Kellern und leerstehenden Ladengeschäften, mit sehr lauter Musik, Getränken in Plastikbechern und ein paar ausrangierten Sofas. Und irgendwann begegnete ich vor der Haustür einer amerikanischen Touristengruppe, und alle hielten sie einen Brunnenstraßen-Artikel aus der "New York Times" in den Händen. 01 Musik "Draußen hinterm Fenster" Interpret: Element of Crime Komponist und Texter: Sven Regener Label: Universal Music, LC-Nr. 01846 anspielen Autorin Vor wenigen Jahren hat das Architekturbüro Peter Becker für einen Bauherrn ein verfallenes Brauereigebäude umgebaut. Auf einer der letzten, noch verbliebenen Brachen im alten Osten der Brunnenstraße, fast genau am Mauerstreifen. Mittlerweile arbeiten, in der einstigen Oswald-Berliner-Brauerei, einige der weltweit führenden Internetfirmen. 4 O-Ton PB Brauerei Keller PB: Das war ne jüdische Brauerei, Oswald Berliner kam aus Breslau, soweit ich weiß. War, glaub ich, der einziger jüdische Brauer hier, von den großen Brauereien. Die Brauerei hat aber im Zug der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre Pleite gemacht. Autorin In den riesigen Brauereikellern, die Peter Becker bei den Umbauten entdeckt hat, sitzt heute der Verein "Berliner Unterwelten" - und bietet Führungen an zu ehemaligen Bunkeranlagen, Geisterbahnhöfen oder Fluchttunneln. In direkter Nachbarschaft: ein Bioladen, ein Yogastudio, schicke Cafés, Hostels, eine Foto-Galerie. Das besetzte Haus ganz unten auf der Brunnenstraße wurde schon vor Jahren geräumt. Und in den Massage-Club, ein paar Häuser weiter, ist irgendwann eine deutsch-spanische Kita gezogen. 5 O-Ton PB heute, Zukunft, Auswirkungen Ich muss sagen, diese grauen, noch so vor 10 Jahren, die frühen Nuller Jahre, ist nicht das, was ich unbedingt vermisse hier. Bin sehr zufrieden mit dem, wie es jetzt hier auch als Stadt funktioniert. Was mir Sorgen macht, ist schon die weitere Gentrifizierung, noch mal ne Nummer höher. Mit noch mal teureren Wohnungen und noch mal mehr Leute, die nochmal mehr Geld verdienen. Das find ich schon beängstigend, weil es noch mal n anderes Lebensgefühl reinbringt. Pff, das hat ja auch immer viel mit Vorurteilen zu tun. Ist jemand, der so'nen SUV fährt, automatisch n schlechterer Mensch? Nimmt der Stadt anders wahr? Keine Ahnung. Grundsätzlich stehen mir so Leute nicht unbedingt so nah (lacht). Aber die Tatsache ist schon, dass es bewirkt, dass Mieten immer höher steigen und dass Leute, die ein normales Einkommen haben, oder eher ein Leben führen, das nicht so geprägt ist von einem Einkommen über 5000 Euro brutto im Monat, dass die Schwierigkeiten haben, hier noch zu leben. Und das hat natürlich Auswirkungen, ganz klar. 5 Atmo aus Mitte Autorin Zurzeit verläuft die Gentrifizierungsgrenze genau an der Mauer entlang. Zwischen Berlin- Mitte: bürgerlich und prosperierend, und dem Wedding. Dem ehemaligen Arbeiterbezirk mit einem hohen Anteil an Migranten und sozial schwachen Bewohnern. 6 Atmo aus Wedding Autorin Hier die renovierten Altbauten, Patisserien, Designerläden - und auf der anderen Seite: Spielhallen, Wettbüros, Telefonbuden, türkische und arabische Lebensmittelgeschäfte. Dass die Wohnungspreise im unteren Teil der Brunnenstraße so dermaßen ansteigen, hat aber auch architektonische Gründe. Die Brunnenstraße im Wedding sieht komplett anders aus. 6 O-Ton PB, Sanierung weinig Alles so 70er 80er Jahre, das war eines der großen Konzepte, eines der größten Flächensanierungsprogramme der Bundesrepublik, wo der ganze Bereich zwischen S-Bahn Gesundbrunnen und Bernauer Straße flächendeckend abgeräumt worden ist, und dann ist dieses ganze Gebiet neubebaut worden. Bis auf ein paar dagelassene Altbauten, Reminiszenzen, es gibt ein paar, ist alles vollflächig enteignet und abgerissen worden. Sonst wäre da genauso Gründerzeitstadt wie hier n Stück runter wieder ist. Und dann hätten wir auch nicht diese harte Grenze. Weil dann wäre das längst da rüber geschwappt. Aber dadurch, dass du nen ganz anderen Typ von Wohnungen hast, nämlich 2 Meter 50 Deckenhöhe, klein proportionierte Zimmer des sozialen Wohnungsbaus. Nicht unbedingt das, was unsere Generation, es mögen andere Generationen kommen, als ihre Traumwohnung bezeichnen würde. Und deswegen gibt es diese harte Grenze. 01 Musik "Draußen hinterm Fenster" Interpret: Element of Crime Komponist und Texter: Sven Regener Label: Universal Music, LC-Nr. 01846 ausspielen 7 Atmo Ankunft bei Dilek leises Gespräch im Laden ...Normalerweise bestellt meine andere Sekretärin, ein Stück zu viel überflüssig Zewawischundweg... Tochter: Kannst du mir deinen Nachnamen nochmal sagen Autorin (irgendwo in die Atmo rein) Oja heißt meine Blumenhändlerin auf der Brunnenstraße. Vor zehn Jahren hat sie ihre Blumen noch in einem Holzcontainer auf einer kleinen Brache verkauft, mittlerweile hat sie ein schönes Ladengeschäft, nur ein paar Meter weiter. Als ich ihr von meiner Brunnenstraßen-Recherche erzähle, sagt sie: "Na, ich bin da aufgewachsen, in der Brunnenstraße, im Wedding. Nachdem wir die Türkei verlassen haben." Ein Interview will sie mir aber nicht geben. "Geh doch zu meiner Schwester ", sagt Oja. "Die hat eine Fahrschule im Wedding, die erzählt dir bestimmt." 7 ff Atmo Dilek Dilek lacht, is meine Tochter wolln se Kaffee trinken? AS: gern. türkisch im Hintergrund Autorin Dilek Tirkes hat das runde hübsche Gesicht ihrer Schwester Oja, auch die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen und die dunklen Locken. Genau wie Tochter Ebru, die an diesem Tag in der Fahrschule aushilft. Draußen regnet es in Strömen, und ich bin froh, im Trockenen zu sein. 7 O-Ton Dilek ANKUNFT IN BERLIN Ich: Kamen Sie denn mit der Mutter oder mit den Eltern? Nee, wir sind nachgekommen. Meine Eltern waren 1970 hier, wir sind 1978 nachgereist. Wie wir hier nach Deutschland gekommen sind, wie wir die Ramlerstraße gesehen haben, die Brunnenstraße, da waren noch die Altbauten mit Kugellöchern. Aber es war trotzdem damals viel schöner als jetzt, da waren sehr viele ältere deutsche Frauen, schön gepflegt mit ihren Pudelhunden und so, die schön im Humboldthain spazieren gegangen, leider sieht man solche Leute nicht mehr jetzt. Nur - ja - andere so. Manche Jugend so hier, wenn ich mal so schaue -. Ich arbeite hier Fahrschulbranche, hab ich seit 18 Jahren meine Fahrschule. Gegenüber is für Alkoholiker ein Park, da sieht man nur junge Menschen, die so kaputt gegangen sind. Autorin In Istanbul ist der Vater Lehrer und die Mutter Hausfrau. Als die Eltern nach Deutschland gehen, bleiben die Kinder noch vier Jahre bei Verwandten in der Türkei. 8 O-Ton Dilek Mein Vater war der erste, war einer der ersten, der türkisches Gemüseladen aufgemacht. Meine Mutter sagt, die Leute haben damals wie verrückt gekauft, nur vom türkischen Laden. Weil sie bei anderen Läden gedacht haben, es könnte überall Schwein drin sein, Schweinemilch und so weiter. Da ham sie nur von türkische Laden gekauft. So ausländische , türkische. Autorin Dileks Mutter hat dann im Weddinger Humboldt-Krankenhaus gearbeitet, 30 Jahre lang. Deutsch hat sie schnell gelernt, weil sie fast nur deutsche Kolleginnen hatte und vielleicht auch, weil es in Berlin damals nur einen türkischsprachigen Fernsehsender gab, TD1 - das "Türkisch-Deutsche Fernsehen in Berlin". In den 80ern Jahren zog die Familie mit den Kindern in eine der neugebauten Wohnungen im Brunnenviertel. 9 O-Ton Dilek aber an Anfang ... nicht haben Aber am Anfang war es für Ausländer schwierig in Neubau reinzukommen. Aber da sie Krankenhaus gearbeitet hat, sieben Jahre, gutes Deutsch konnte, haben sie gesagt, ok, hier haben Sie Neubauwohnung. Graunstraße 7 war das. In der Nähe von Brunnenstraße, sehr schön, da war schön. Kinderspielplatz. Da haben wir uns darüber gefreut. Tischtennis gespielt, war sehr schön. AS: Das wusste ich nicht. Dann war es gar nicht einfach zum Beispiel für eine türkische Familie, dort rein zu kommen? Dilek: Ja, war schwierig, am Anfang haben sie nicht gegeben. Meine Mutter sagt das so. Degewo und so weiter wollten erst mal ausländische Familien nicht haben. 02 MUSIK "Gariban" Interpret und Komponist: Celik Label: Seyhan Müzik, ASIN B000RFSQMC Nur anspielen Autorin Und welche Rolle spielte die Mauer, die Teilung der Stadt im Leben dieser türkischen Einwanderer - ohne Ost-Verwandtschaft, ohne Erinnerungen an das ungeteilte Berlin? 11 O-Ton Dilek mauer Bruder Natürlich, wo Mauer war, da is mein älterer Bruder öfter nach Ostberlin gereist, manchmal drei vier Tage weggeblieben, hat meiner Mutter große Schaden gemacht. Meine Mutter hat immer gebetet, Mauer soll runterfallen und wo es denn passiert ist, hat sie gesagt Gott hat meine Gebete erhört. (lacht) AS: wieso ist er rüber? Dilek: Feiern. Freundin hat er da gehabt, hübsche Freundin Tochter: die Gabi Dilek: Wie gesagt, damals hat Mutter immer vom siebten Stock geschaut und hat gebetet. Gott soll die Mauer (lacht) fallen lassen, damit sie folgen kann und so. Wir haben uns natürlich riesig gefreut mit den Leuten, sehr sehr. Is doch was gutes. 02 MUSIK "Gariban" Interpret und Komponist: Celik Label: Seyhan Müzik, ASIN B000RFSQMC ausspielen 8 Atmo Dilek Büro, Kaffee Autorin Die Bürotür der Fahrschule von Dilek Tirkes geht auf und Felicitas Freiberg kommt herein, ihre Sekretärin. Eine freundliche Dame Mitte 50, mit kurzen dunklen Haaren. 12 O-Ton auftritt Felicitas Dilek und ich reden leise Dilek: Gucken Sie mal, die Dame kenn ich hier 20 Jahre, fast 30 Jahre. Wir waren Nachbarn Graunstraße, wo ich gesagt hab. Sie wohnt noch Graunstraße, jetzt arbeiten wir seit 18 Jahren zusammen. Freiberg: Das stimmt Autorin Während Dilek mit ihrer Tochter und auch Oja, die Blumenhändlerin mit ihrer Familie, vor Jahren aus dem Wedding weggezogen sind, lebt Felicitas Freiberg noch immer hier. Lebt immer noch gern hier. 13 O-Ton Dilek und Frau Freiberg über Brunnenstraße Frau Freiberg: (leise) du hast andere Erinnerungen, (laut) du bist ja in dem Moment Ausländerin, dadurch ist das sowieso... Dilek: Schlechter hab ich nich gesagt, aber früher war besser, hab ich gesagt, war ja auch so Freiberg: die Brunnen Straße? Gesundbrunnen, aber kuck dir mal die Leute an... Freiberg: Ja, die Infrastruktur hat sich total verändert, die Infrastruktur hat sich eigentlich nach unten bewegt, nicht nach oben Bubi Scholz war damals hier ganz groß da, Parfümerie, und die Leute, die in der AEG gearbeitet haben. Haben alle Geld gehabt. Die Brunnenstraße war eigentlich AEG, nachher Osram, Osram auch nicht mehr, Schering dann nachher, Dilek: Siemens gibt es nicht mehr, alles schlimm Autorin Ich folge Felicitas Freiberg an ihren Schreibtisch in das hintere Büro der Fahrschule. 14 O-Ton Freiberg Brunnen alte Erinnerungen AS: woher kennen Sie die Familie? Freiberg: wir hatten damals in der Graunstraße, wohnen da ja immer noch, und Familie Duja is damals mit in unser Haus eingezogen. Durch die Kinder Verknüpfung zum Spielen, Freundschaft, die sich aufgebaut hat, dadurch kam das. AS: und Sie, wie lange kennen Sie die Brunnenstraße schon? Freiberg: ich bin da aufgewachsen, bin da geboren worden. Also die erste Verbindung mit der Brunnenstraße war eigentlich damals als Kind, was ich so mitbekommen habe... (zeichnet Plan) Autorin Sie holt Papier und Bleistift aus einer Schreibtischschublade und zeichnet einen Straßenplan. 15 O-Ton Freiberg ff hier lief die Brunnenstraße. Da war früher mal so ne große Markthalle, wo jetzt so die Tankstelle is, und dann war da ein Bauernhof, da ham wir Milch geholt. Der war noch bis Mitte ..., bin 56 geboren, war noch bis Mitte 60er Jahre war da noch, der Bauernhof. Mit Tiere, mit Bauern, wo wir mit Milchkannen Milch geholt haben und so'ne Sachen alles. Autorin Die Brunnenstraße auf dem karierten Blatt vor uns fängt oben am Weddinger Humboldthain an und endet ganz eindeutig an der Bernauer Straße. Am ehemaligen Mauerstreifen. Die Ost-Brunnenstraße gibt es nicht auf der Skizze. 16 Freiberg O-Ton nur westliche Seite Meine Erinnerungen sind eigentlich so nur von der westlichen Seite her. Ich kann mich auch teilweise noch erinnern an zerbombte Häuser hier. Und dann wurden die geräumt, dann ham teilweise die Alliierten in den alten Ruinen ihre Kriegsspiele durchgeführt. Dann lagen die auf der Straße, unter Autos, in Hausausgängen. Und wir ham hier gewohnt und konnten vom Balkon aus alles beobachten. Die ham richtig Straßenkämpfe da geprobt, ja. War ja immer die Gefahr mit'm Osten gewesen. Ende 60er Jahre war dann alles so ein bisschen vorbei. Dann wurden ja auch die Häuser teilweise geräumt und abgerissen. Autorin Der Kahlschlag rund um die Weddinger Brunnenstraße in den 70er Jahren oder die "Flächensanierung", das Wort hatte der verantwortliche West-Bürgermeister Willy Brandt 1963 geprägt, war die erste im Westteil der Stadt. Dasselbe sollte danach auch in anderen Westberliner Bezirken, in Schöneberg oder Kreuzberg, passieren. Nur dass sich dort massiver Widerstand formierte, der die Abrisspläne des Senats zum Kippen brachte. 17 0-ton Freiberg Räumung Neubau Zuzugsstopp Die haben eigentlich die Brunnenstraße komplett bis zur Usedomer vollkommen runtergerissen, da sind ja nur noch Neubauten, da is gar nix mehr. AS: und gab es Proteste? Freiberg: nee, gar nicht AS: oder fand man es gut. Freiberg: Man hat also dann in so'nem Abrisshaus gewohnt, hat dann nen Schein bekommen. Man musste verheiratet sein. Und hat dann nen Abrisschein bekommen, dass man vorrangig in die Neubauten gesetzt wurde. Die waren billig, die Neubauten. Die Wohnungen waren auch sehr schön, von der ganzen Ausstattung her. Da waren gar keine Proteste, det war der neueste Standard. Da war zum Beispiel auch der Stopp, dass keine Ausländer mehr einziehen durften. Ich bin ja beim Bürgeramt tätig, da hab ich heute teilweise noch Aufenthaltserlaubnisse, die damals ausgestellt wurden. Wo drin stand: kein Zuzug in die Bezirke so und so. Und da war auch im Wedding totaler Zuzugsstopp gewesen für Ausländer. Autorin Über 15 Jahre lang hatte diese Zuzugssperre für Ausländer Bestand. Sie galt für die Westberliner Bezirke Wedding, Kreuzberg und Tiergarten und macht deutlich, wie die Stadt die Zuwanderer wahrnahm: als Problem, als Bedrohung. Heute gehen zumindest manche Entwicklungen in eine andere Richtung. So bemüht sich die Weddinger Gustav-Falke-Grundschule, genau hinter der Brunnenstraße gelegen, Kinder mit und ohne Migrationshintergrund zusammenzubringen. Und schafft es seit einigen Jahren, dass Kinder aus Mitte rüber in den Wedding zur Schule gehen. 03 Musik "Singapur" Interpret: Keimzeit Komponist und Texter: Norbert Leisegang Label: Anja, LC-Nr. 00055 anspielen Autorin Beim Mauerbau hat ihre Mutter geweint, erinnert sich Felicitas Freiberg. Der Großteil ihrer Verwandtschaft lebte damals im Ostteil der Stadt. Und wie hat sie selbst die DDR erlebt? 18 O-Ton Freiberg osten is osten Für mich war der Osten einfach Osten, ja. Wir sind wirklich Kinder des Westberliner Stadtteils. Wenn wir nach Westdeutschland gefahren sind, mussten wir ja auch durch n Osten durch. Aber wir ham uns in Berlin nie unwohl, nie eingesperrt gefühlt. Mir kam der Gedanke auch gar nicht, det war so ganz anders. Det is für uns auch wirklich nich im Kopf drin. Is leider so. Irgendwie is da so noch ne Grenze, kann man nich greifen. Aber die is einfach noch da. Autorin Ich schüttle ungläubig den Kopf. Nicht zu fassen: Die Grenze ist seit Jahrzehnten offen und Felicitas Freiberg geht nicht rüber. 19 O-Ton Freiberg ganz selten im osten Also, is einfach so. Ich bin ganz selten im Osten. Muss ich ganz ehrlich zugeben. Aber für mich is Osten immer noch Osten. Det is die Generation, weil wir so aufgewachsen sind. Det is wirklich so, ich geh auch nich in die Straßen komischerweise rüber. Ick geh nich in die kleinen Straßen rein. Aber nich weil ich nich will, sondern weil die für mich wahrscheinlich nich existieren. Ja, auch der Mauerpark zum Beispiel existiert für mich nicht. Obwohl ich da genau wohne. Is nich meine Welt. Meine Kinder werden da anders sein und meine Enkelkinder vollkommen anders sein. Aber für uns is so immer noch so ne Mauer im Kopf. 03 Musik "Singapur" Interpret: Keimzeit Komponist und Texter: Norbert Leisegang Label: Anja, LC-Nr. 00055 ausspielen Autorin Ich hab den Osten nicht gekannt. Ich bin in einer süddeutschen Kleinstadt aufgewachsen, Verwandte in der DDR hatten wir keine. Das erste Mal in Berlin war ich im Herbst '89, zur Maueröffnung, und das auch nur für ein paar Tage. Wie war er eigentlich, frage ich mich jetzt. Der Osten, in der Brunnenstraße? 9 ATMO Anfang Zander Zander: Zu meinem 70. wollte ich gern hier ausstellen, weil die Räume sehr schön sind, nich. Zander: Geb ihnen hier mal mit, nen Katalog, von Gegenwind, wat wir da gemacht hatten dann hat ich so den Kontakt gekriegt am Ende Raumatmo Ausstellungseröffnung von Dieter Zander in der Zionskirche in Mitte. Auf der Empore stehen bunte Skulpturen, an den Wänden hängen Ölgemälde - und in einer Ecke entdecke ich kopierte Stasi-Unterlagen aus dem Jahr 1976. Es geht um den "freischaffenden Maler und Grafiker Zander, Dieter, wohnhaft: Berlin, Brunnenstr. 27". Ein IM berichtet unter anderem von Zanders Kritik an der "Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Wolf Biermann". 10 leise Raumatmo Zander Autorin Dieter Zander hat nicht nur in der DDR, als Erwachsener, in der Brunnenstraße gewohnt, er ist auch im Brunnenkiez aufgewachsen. 20 O-Ton Dieter Zander als Kinder Kino Und, ja, die Brunnenstraße ist insofern für mich als Kind, wir sind immer in den Westen gegangen, da so rüber an der Grenze, oder auch mit der U-Bahn gefahren. Dieser Westsektor machte einen faszinierenden, auf Kinder, auf uns. Da gab es, am Vinetaplatz, ein Stück weiter, da gab es immer so Kinos, für Ostler, konnten wir 1,25 Ost bezahlen, weil wir hatten ja kein Westgeld. Nich, da sind wir schon morgens ins Kino gegangen. Zur Schule? Hat doch keinen interessiert. Autorin Er ist 1944 geboren. Der Vater in Russland vermisst, die Mutter arbeitet den ganzen Tag als Schneiderin. Wie viele seiner Freunde ist er früh auf sich gestellt. 21 O-Ton Zander als Kinder Buntmetall Ja, als Kinder, wir hatten ja kein Westgeld, war ja 1 zu 5 oder noch mehr. An der Grenze waren überall dann Trümmer. Dann haben wir als Jugendliche, waren so kleine Banden gewesen, haben wir Gusseisen und Buntmetall gesucht in den Trümmern, und die haben wir uns unter die Jacken geschoben und sind dann über die Grenze gegangen und haben det drüben, gleich um die Ecke war ein Ankauf-Verkauf von Buntmetall. Und det haben wir dann verkauft und haben Westgeld bekommen und sind damit ins Kino gegangen. Autorin Heute lebt Dieter Zander mit seiner Frau in Pankow, in einer großen ausgebauten Dachwohnung. Wir unterhalten uns in seinem Atelier. Dort sitzt der Maler in einem riesigen Lehnstuhl aus dunkelrotem Samt. Ein grauer Mann in grauer Hose und einem grauen Hemd mit vielen Farbspritzern. Als gehe die ganze Farbe in seinem Leben in seine Kunstwerke, die überall in dem hohen lichten Raum zu sehen sind. 22 O-Ton Dieter Zander triste Ja, und sonst, da is so viel. Es war triste. Janz einfach trist! Als die Mauer dann da war, da war gar nichts mehr. Zur Brunnenstraße kam man noch ran, die anderen Häuser musste man nen Passierschein haben, da kam man nich rein. Und die U-Bahn war dann sowieso ne Geisterbahn. Aber es war trist, da gibst nich viel zu erzählen. Es gab lauter Kneipen, die Leute mussten sich ja. Es gibt so ein Sprichwort: Die DDR konnte man nur im Suff ertragen. Sprecherin Dieter Zander studiert Malerei an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, lebt als freischaffender Maler in Ost-Berlin. Mit 19 ist er in die SED eingetreten, 1976 wird er aus der Partei ausgeschlossen wegen "unsozialistischer Lebensweise" und der "Groben Verletzung der Pflichten eines Genossen". Öffentliche Aufträge bekommt er von da an keine mehr. Kollegen wechseln auf die andere Straßenseite, wenn sie ihn sehen. "Rückzug ins Private" sagt er über diese Zeit, und: "Man versuchte, nicht ganz beschädigt rauszukommen". 04 MUSIK "Going down slow" Interpret und Komponist: Tom Waits Label: Bizarre Straight Records, MFO 40601 anspielen Autorin Erst lange nach dem Mauerfall erfährt der Künstler, dass ein guter Freund ihn über Jahre bespitzelt hat. 1999 wird er nach dem 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz für die Jahre 1976 bis 90 rehabilitiert. Und wie hat Dieter Zander den Zusammenbruch des DDR-Systems 89 erlebt? 23 O-Ton Zander Euphorie Die, die Euphorie, ja, stürmten alle rüber, bin denn auch rüber gegangen, det war nich real. Ich hab mir auch die 100 Mark geholt, und denn futterten se alle Bananen und sonst wat. Aber wat kommt danach? Det is det Problem. Wat kam danach? Sicher, die meisten sind dann gleich mit von Aldi oder wie diese Billigbusse hießen, nach Frankreich gefahren, nach dahin und dahin. Aber ick hatte kein Geld. Freiheit muss man finanzieren können, sonst nutzt sie einem nichts. Irgendwie stand man ein bisschen betroffen und wusste nich, was man mit seiner Freiheit anfangen sollte. Wat nutzt mir Jubel, da bin ick besoffen, dann kommt der Tag danach. 04 MUSIK "Goin' down slow" Interpret und Komponist: Tom Waits Label: Bizarre Straight Records, MFO 40601 ausspielen Atmo 1 Brunnenstraße Autorin Heute ist der Künstler Dieter Zander nur selten in der Brunnenstraße. Manchmal läuft er mit seiner Frau noch durch den alten Kiez, durch den Mauerpark oder über die Kastanienallee. Und dort hatte er vor einigen Jahren ein Erlebnis, das für ihn zum Sinnbild für die Veränderungen im Brunnenkiez wurde. Das eine Zäsur darstellte zwischen dem Leben in der DDR und Heute. 24 O-Ton Zander det merkwürdige - Kunst erklären Da bin ick die Kastanienalle runter bis zur Fehrbelliner und geh um die Ecke und da seh ick zwei orthodoxe Männer laufen. Juden, orthodoxe Juden mit Löckchen, Hut, und ich dachte, wo bin ick denn hier? Wat alles so mysteriös is, ne Vergangenheit, die man nich kennt, aber die irgendwie... und da laufen die, als ob die so reingebeamt wurden. Also da hab ich Gänsehaut bekommen, muss ich sagen. Aber das erst in der neuen Welt, was da wiedergekommen is an Geistern. Det war so, irgendwie ging es da so ans Kollektivbewusstsein bei mir ran, kann ich nich erklären. Wenn ich det erklären könnte, könnt ich auch Kunst erklären. Atmo 1 kurz hoch 25 O-Ton Zander Wär ich jetzt nach Israel gefahren, würde die dort sehen, würde mir das nichts ausmachen. Aber hat vielleicht wat von der Schuld, die da an der Straße liegt. Wie ne Zwischenwelt, die man nicht hat sehen sollen, aber die jetzt da is. Als ob sich die kollektive Schuld durch eine Erscheinung manifestiert, det war so det Gefühl. 05 "Grant Peace" Interpret und Komponist: Sim Shalom Label: Bradley Egel, o. LC-Angabe anspielen 12 Atmo Ankunft Synagoge Straßenlärm Tür Daniel: Hallo, Daniel , ok, sie nehmen die Straße auf. Sicherheitsleute: dachten schon sie wollen uns abhören, wir nich, dürfen nichts dazu sagen. wir dürfen nich, sin von der Sicherheit, is im Arbeitsvertrag so geregelt, dass wir keine Auskünfte übers Projekt geben. Irgendwo in die Atmo: Autorin Wann erzählt man einem Kind vom Nationalsozialismus? Das frage ich mich manchmal, wenn ich mit meinen Söhnen auf dem Nachhauseweg von Kita oder Schule an der Synagoge in der Brunnenstraße vorbeilaufe. Sie ist rund um die Uhr bewacht und liegt ganz in der Nähe von Dieter Zanders früherer Wohnung im Ostteil der Straße. 12 Atmo ff ich: aber über die Brunnenstraße? Sicherheit: is ja in dem Fall Objekt ich: ok, komm ich mal nach Feierabend, Sicherheit: n ander Mal gern wieder Autorin Die Kontaktaufnahme mit der orthodoxen jüdischen Gemeinde hier in der Brunnenstraße hatte ich mir schwierig vorgestellt. Stattdessen erhalte ich am Tag nach meiner E-Mail einen Anruf von Rabbiner Daniel. "Ein Interview zur Brunnenstraße? Gerne." Zwei Tage später stehe ich neben ihm im Hof der Gemeinde. 12 Atmo Anfang ff Hier is der Kindergarten drin, auf mehreren Ebenen. Da kommt eine junge Dame angerannt, die gehört mir. Hallo, willst du was sagen, nein? Willst du wieder zurück? Nein. Gleich mit Jana zurück? hinten dran Kindergarten Atmo Autorin Rabbiner Daniel, ein mittelgroßer dunkelhaariger Mann um die vierzig, steht im langgestreckten Hinterhof des Gebäudes, der rundum von Mauern umgeben ist. 26 O-Ton Rabbiner Kita Wohnung Küche Kindergarten Das hier sind zwei Küchen, eine milchige und eine fleischige. ich: komplett getrennt? Daniel: Komplett getrennt, da ist die milchige, da die fleischige, da muss man außen rum gehen, wenn man rüber möchte. Autorin Auf der linken Seite des Hofs steht ein altes zweistöckiges Gebäude mit kreisrunden Fenstern in der oberen Etage. Ein paar Stufen führen zum Eingangsportal. 27 O-Ton Daniel Synagoge Inschrift Kita-Atmo Von hier haben Sie nen ganz guten Blick auf die komplette Synagogenfassade. Dieses Gebäude hier, das war tatsächlich die Synagoge. Das ist also noch das original Synagogengebäude von 1910, da wurde es gekauft. Das Gebäude selber ist wahrscheinlich schon älter. Aber seit 1910 war hier ne Synagoge drin, und da oben sehen Sie auch noch den Schriftzug. Da steht drauf "Se Hascha'ar l'Haschem, Zadikim jawo'u wo ..." Was so viel bedeutet wie: "Dies ist das Tor, durch das die Gerechten schreiten", und jetzt können wir reingehen und es uns von innen anschauen. 13 ATMO Rabbiner (vom O-Ton Synagoge unten) O-Ton Synagoge unten Kita-Atmo Tür geht auf Autorin Der Eingangsbereich der Synagoge ist sehr schlicht, schwarzes Linoleum auf dem Fußboden, die Wände weiß. Der eigentliche Gebetsraum liegt im ersten Stock. 14 Atmo (kurz, nur 0.03, er sagt dabei "ja, war nicht so sichtbar") Treppensteigen Autorin Über uns erstreckt sich die Frauenempore, die mit einem grau schimmernden Stoff verhängt ist. Die Frauen können hindurchsehen, nicht die unten sitzenden Männer, erklärt der Rabbiner. Vorn ein schwarzer Samtvorhang mit goldener Schrift. 28 O-Ton Daniel Weil hier ne Talmudschule für lange Zeit drin gewesen is, sehen Sie, dass es geprägt wird von sehr sehr vielen Büchern, Kommentaren auf die Thora, auf Talmud und so weiter. Hier drin sind, glaub ich, so um die 150 Sitze. Die original Synagoge hatte 520 Plätze, glaub ich, also das war deutlich größer. Aber wir kriegen das am Wochenende schon ziemlich voll. Autorin Aus einem der Räume hinter uns kommt Stimmengewirr und ab und zu Gesang. Wir schauen durch die angelehnte Tür. An den zusammengestellten Tischen sitzen an die zwanzig Talmudschüler, zwischen 16 und 20, die meisten tragen ein weißes Hemd und Kippa. 29 O-Ton Stimmengewirr Ich leise: Unterrichtsstunde? Rabbi: Keine Unterrichtsstunde. Da sitzen einfach jetzt junge Männer, die miteinander lernen. Sie hören, auf ganz verschiedenen Sprachen. Hebräisch, Russisch, auf Englisch oder auf Deutsch. Ganz gemischt, was halt die gemeinsame Sprache der Leute ist. So klingt das. Atmo Stimmengewirr Kreuzblende in 05 "Grant Peace" Interpret und Komponist: Sim Shalom Label: Bradley Egel, o. LC-Angabe nur anspielen Autorin Im 18. Jahrhundert lebten nur ungefähr 2000 Juden in der Stadt Berlin, und auch 100 Jahre später waren es erst rund 8000. 30 O-Ton Daniel Dann aber im 19. Jahrhundert gab es einen ziemlich explosionsartigen Anstieg. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben sich ganz viele Juden angesiedelt, zum Teil hier eben in der Rosenthaler Vorstadt, weil sie nicht ins Stadtzentrum reinziehen durften so ohne weiteres. Die ham sich dann hier draußen angesiedelt. Der Großteil der Juden in Berlin lebte eben hier Sprecherin Der Rabbiner hat ein paar ausgedruckte Din A4 Seiten vor sich liegen, mit historischen Daten zur Brunnenstraße. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren bereits über 100 000 Juden aus ganz Deutschland und Osteuropa nach Berlin gezogen. Es bildeten sich private Betvereine, und einer von ihnen, "Beth Zion", hat 1910 dieses Gebäude in der Brunnenstraße gekauft und als Synagoge eingeweiht. 15 ATMO Rabbi Blättern 31 O-Ton Daniel Ich hab das mal nachgelesen, (blättern) in der Brunnenstraße 185 waren die Gebrüder Weinberger, die hatten dort ne Butterfabrik, waren die größten Butterhändler Deutschlands, mehr als 2000 Angestellte, die dort gearbeitet haben. Mehr als 10 000 Händler mussten beliefert werden. Das war ein ziemlich großes Unterfangen. Dann gab es eine Schneiderei hier, Mandelkern hieß die, und es gab noch, hier, sehe ich, in der Brunnenstraße 143 anscheinend eine kleine Brauerei mit Brauereiausschank. Die wurde benannt nach Oswald Berliner. O und B, sind anscheinend noch Initialen draußen zu sehen. Autorin Ich erzähle dem Rabbiner von der Eisentür, kurz vor dem Mauerstreifen, die mir der Architekt Peter Becker auf unserem Spaziergang durch die Brunnenstraße gezeigt hat. Und von den fast einen Meter hohen , rot und schwarz lackierten, geschwungenen Buchstaben darauf. Er habe die Initialen noch nie gesehen, sagt Rabbiner Daniel erstaunt. 32 O-Ton Daniel Nach dem Krieg wurde das Gebäude hier dann an ein pharmazeutisches Werk gegeben und als Papplager benutzt, das war 1949. Und ich kann mich erinnern, als ich das erste Mal hier rein kam, da waren wir in diesem Gebäude. Die Gebäude ringsum waren relativ normal, waren in normalem Zustand, aber das Synagogengebäude hier war ne Ruine. Es war nichts verputzt, man sah die Holzdachbalken. Und vorne, da wo jetzt der Thoraschrein ist, sah man Tapeten, die noch von den Büros waren, die hier drin gewesen sind. Autorin Vor etwa zehn Jahren betrat der Rabbiner zum ersten Mal das Gebäude in der Brunnenstraße. Ein jüdischer Arzt aus Berlin hatte die ehemalige Synagoge zurückgekauft und sie dann der Ronald S. Lauder-Stiftung zur Verfügung gestellt. Die Stiftung engagiert sich seit Ende der 80er Jahre für einen Neuanfang jüdischen Lebens in Mittel- und Osteuropa. 33 O-Ton Daniel Als klar wurde, hier wird das neue Heim der Stiftung , der Talmudschule, des Kindergarten usw. , sind wir alle hierhergekommen, es war Abend, es war glaub ich auch Winter und ziemlich kalt, und wir haben hier unten einen kurzen Gottesdienst abgehalten, und es war ein bisschen gespenstisch. Und wir haben uns alle immer vorgestellt mit den Tapeten, wie wird das mal aussehen, wenn das fertig ist und wenn hier wieder Leute sind. Und heute sehen wir es. Und da bin ich auch froh drüber, dass ich das in den beiden Zuständen sehen konnte. 1 Atmo Straße Autorin Die Brunnenstraße ist heute wieder ein sehr lebendiger Ort, und hier, im Umkreis der Synagoge, ist auch das jüdische Leben sehr präsent. Auf der Straße, dem Spielplatz und in den Geschäften sieht man Jungs mit Schläfenlocken unter dem Basecap, manche tragen einen weißen Gürtel mit Fransen. Junge Mütter mit Perücken und in dunkler Kleidung. Die Männer in schwarz. 1 Atmo Straße noch mal hoch Autorin Rabbiner Daniel ist im Jahr 2000 nach Berlin gekommen, hat hier an der Universität studiert und war einer der ersten Schüler der damals gegründeten Talmudschule der Lauder-Stiftung. Wie leben er und die anderen Mitglieder der Berliner Gemeinde hier in der Brunnenstraße? 35 O-Ton Rabbiner Ich bin in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen. Nach dem Krieg. Ich hab keine solchen direkten Assoziationen. Jetzt, wo wir darüber sprechen, kommen solche Gedanken hoch, und solche Erinnerungen kommen hoch. Aber ansonsten lebe ich hier ganz normal, und es wäre unmöglich für mich oder für andere Leute, die ganze Zeit mit so nem Gedanken hier rumzulaufen: Wie war das hier damals, was hat diese Person gemacht im Krieg, die mir grade entgegenkommt? So denkt keiner, so kann man auch nicht denken. Wir haben das Gefühl, wir leben in einer demokratischen weltoffenen Gesellschaft hier in Deutschland, von Leuten, die nach vorn schauen wollen, die wieder gemeinsam aufbauen wollen, die auch den Kontakt suchen. Ich hab das Gefühl, dass, was das angeht, grade hier in dieser Gegend eine gute Atmosphäre wieder herrscht. Autorin Dann lacht er leise, hält inne, erzählt dann doch. 36 O-Ton Rabbiner Kostümparty bis Gegend gemeinsam Also, wissen Sie, manchmal am Freitagabend, wenn ich mit meinem Hut hier entlanglaufe, manchmal staunen die Leute, das verstehe ich. Weil, wenn jemand im Hochsommer mit schwarzem Anzug und schwarzem Hut rumläuft, dann ist das n bisschen merkwürdig. Ein Freund und ich sind mal entlang gelaufen, da kamen irgendwelche Jugendlichen an (lacht), die waren anscheinend für ne Kostümparty angezogen, die ham dann gefragt, ach geht ihr auch zur Kostümparty? Da hab ich gedacht, nee eigentlich nicht. Und das hat vielleicht schon bisschen was Außergewöhnliches, wie Juden ihre Tradition pflegen, aber mein Wunsch ist erstens mal, dass jüdisches Leben hier weitergeht auf der Brunnenstraße und um die Brunnenstraße herum. Und dass das jüdische Leben hier zu ner gewissen Normalität zurückkommt, wo Leute einfach nich mehr starren, sondern das Gefühl haben, ja klar, das gehört hier dazu, das sind Mitbewohner von unserer Gegend. Und wir alle bewohnen diese Gegend hier gemeinsam. 05 "Grant Peace" Interpret und Komponist: Sim Shalom Label: Bradley Egel, o. LC-Angabe Ausklingen lassen 1 Atmo Brunnenstraße Autorin Der Gesundbrunnen, von dem die Brunnenstraße 1801 ihren Namen bekam, existiert schon lange nicht mehr. Erst verdreckte das Quellwasser zusehends, von den Abwässern der benachbarten Gerbereien, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachten Bauarbeiten die Quelle endgültig zum Versiegen. Auch eine Brunnenstraßengeschichte. Aber dafür fahren seit einiger Zeit wieder Kutschen die Straße hoch und runter. Zweispänner, die sich vorschriftsmäßig in den Verkehr einreihen, an roten Ampeln stehenbleiben. Die Touristen betrachten aus dem verschnörkelten Fond das 21. Jahrhundert. Nur die Pferde sehen nicht sehr glücklich aus dabei. Jetzt habe ich so viele Gespräche geführt über die Brunnenstraße, habe schöne, ergreifende, komische und traurige Geschichten erfahren. Und als ich zum Abschluss meinen Frisör nach der Brunnenstraße frage, sagt er: "Also für mich ist das einfach eine Durchgangsstraße. Hoch in den Wedding oder runter bis zum Alexanderplatz." Auch er hat Recht. Und dann laufe ich nach Hause. Beschaue mir die Brunnenstraße noch einmal. Eine Schönheit ist sie wirklich nicht. Aber für mich ein beeindruckendes Abbild der Stadt, in der ich lebe. Ein Abbild meiner Zeit und ihrer Veränderungen, durch die Geschichte hindurch und immer weiter. Straßenlärm Kennmusik Sprecher vom Dienst: Von Ost nach West und immer weiter Die Berliner Brunnenstraße Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt Von Anette Selg Ton: Peter Seyffert Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2015 Manuskript und das Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 1