Deutschlandradio Kultur, Literatur, 15.1.2008, 19.30 Uhr ?Es gab eine Landschaft, die ich kannte?. Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist. Von Carola Wiemers Erzählerin: Zitator Per Olov Enquist: Zitatorin: / Musik: Maria Callas: ?Casta Diva? aus ?Norma?von Vincenzo Bellini Maria Callas ?Casta Diva? POE, O-Ton 1 ?Aber man muss diese Punkte aufsuchen, zu finden, warum tut es weh, warum sind die Schmerzen da.? POE, O-Ton 2 ?Diese Suche nach den Schmerzpunkten sind doch wie?eine Form von, was sagt man, Befreiung. Und vielleicht habe ich diese Schmerzpunkte, das Wort noch einmal geschrieben und es kommt also Schmerz und Erleichterung.? Weiter Maria Callas ?Casta Diva? POE, O-Ton 35 ?Ich habe versucht, diese Schmerzpunkte zu beschreiben in meinen früheren Büchern in den 70er Jahren. Aber da sind sie fiktionalisiert oder dokumentiert.? O-Ton 28: schwedisch ?Blanche und Marie? ?Det gör ont att ställa sig på sina ben och gå.? Zitatorin ?Es tut weh, sich auf seine Füße zu stellen und zu gehen.? Maria Callas ?Casta Diva? überblendet Text ab ?zu stellen und zu gehen? POE, O-Ton 4 ?Dieses kleine Buch ?Kapitän Nemo? hat mein Leben gerettet.? POE, O-Ton 5-5b ?Es handelt von einer sehr schmerzlichen Geschichte in meiner Jugend, von meiner Mutter und meiner Stiefschwester und die Geschichte von meiner ganzen Familie und von dem kleinen Dorf in Nordschweden. Das war eine sehr glückliche Zeit in meinem Leben.? POE, O-Ton 6 ?So ein Glück und das Buch ist so schwarz und schrecklich und es war so glücklich alles.? Maria Callas langsam ausblenden Erzählerin Per Olov Enquists Roman ?Kapitän Nemos Bibliothek? entsteht 1990 in nur sechs Monaten. Dreizehn Jahre lang ? von 1978 bis 1991 ? hatte Enquist geglaubt, nie wieder einen Roman schreiben zu können. Einmal nur, 1985, wagt er es doch und schreibt einen Liebesroman, seinen ersten. ?Gestürzter Engel? heißt er. Rückblickend liest er sich wie eine leise, aber eindringliche Ouvertüre zu ?Kapitän Nemos Bibliothek?, mit dem sich Per Olov Enquist als Romancier zurückmeldet. POE, O-Ton 7 ?Ich würde nicht sagen, dass ich ein Neugeborener war.? POE, O-Ton 8 ?Ich erinnere mich, dass ich da gesagt habe, das war mein letzter Roman, aber in Wahrheit war dieser Roman mein erster in meiner zweiten Periode.? Erzählerin Zwei Knaben werden bei der Geburt verwechselt. Sie leben in dem nordschwedischen Dorf Hjoggböle als Freunde in enger Nachbarschaft. Der Irrtum wird für sie zum Trauma, als sie im Alter von sechs Jahren per Gerichtsbeschluss den leiblichen Eltern zurückgegeben werden. Zitator POE ?Johannes...durfte nicht mit mir sprechen, und er kratzte mit seinem Nagel an der Fensterscheibe, als wollte er ein unsichtbares Zeichen einritzen. Er war mir vorgekommen wie ein Vogel hinter dieser Scheibe, ein Vogel, der mit seinen Flügelspitzen daran rührte: denn so leise waren seine heftigen Atemzüge gewesen und so undeutlich sein Weinen.? Erzählerin Das gelebte Leben wird annulliert. Die bisherigen erweisen sich als die falschen Eltern und werden den Kindern entzogen. Ihrer Identität beraubt, sind sie fortan anonyme Variable in einer stark vom Pietismus beherrschten Gemeinde. Enquist greift eine wahre Begebenheit auf, mit der die eigene Biographie verknüpft ist. Er ist 1934 in diesem nordschwedischen Dorf Hjoggböle geboren. Im Roman wird sie zur Allegorie einer entbehrungsvollen Zeit, die von Härte und Tränen und von Gott, dem ewig strafenden Vater, beherrscht wird. Materielle Not paart sich mit seelischer Kälte. Enquist lässt die unfassbare Geschichte von einem der beiden Jungen erzählen. Dieser Ich-Erzähler bleibt namenlos. Zitator POE ?Wenn man keinen Namen hat, ist man niemand. Auch das ist eine Art Befreiung.? Erzählerin Sein Tauschbruder hat einen Namen. Er heißt Johannes und dieser Name weist auf die biblische Gestalt, die zusammen mit Jakobus von Jesus zum Jünger berufen wurde. Mit Johannes verbindet sich Hoffnung. Durch seine Aura wird er für den Erzähler zur Lichtgestalt. Zitator POE ?Er sah geradezu nettig aus, hatte blaue Augen und helles Haar, regelmäßige Gesichtszüge? Es war wohl der Menschensohn, der aufs neue zur Erde hinab gesandt worden war.? Erzählerin Aber Johannes ist nicht gekommen, um auf Erden etwas zu verkünden. Johannes hat keine Stimme. Was der Erzähler von ihm über das gemeinsame Lebensschicksal erfahren will, muss der Bibliothek Kapitän Nemos entnommen werden. Sie ist ein Archiv der Erinnerung. Es beherbergt religiöse, weltliche und literarische Schriften sowie Bücher, die der Erzähler gelesen hat: Daniel Defoes ?Robinson Crusoe?, Rudyard Kiplings ?Kim?, ?Das Geheimnis der Grotte?. Vor allem aber Jules Vernes phantastischen Roman ?Die geheimnisvolle Insel?, der zum literarischen Kompass wird. In der Bibliothek befinden sich auch rätselhafte Dossiers, Bücher und Anweisungen, die Johannes verfasst haben soll. Zitator POE ?Es waren Hunderte, vielleicht Tausende von Büchern. Ich wusste auf einmal, dass er sie alle geschrieben hatte?Er hatte, in seinen Mitteilungen an mich, oft über die Schmerzpunkte geschrieben? Die inneren Schmerzpunkte hatte er hier in seiner Bibliothek katalogisiert.? Erzählerin Johannes wird zum alter Ego des Erzählers. Das Schicksal hat zwei Lebenslinien in eine Spur gelenkt, aus der kein Ausbrechen möglich ist. Mit der Erzählung ringen beide um eine späte Daseinsberechtigung. Mit dem Tausch der Familien, ging auch ihr Recht auf Identität verloren. Um das Vergangene rekonstruieren zu können, gibt es in Enquists Romanen immer wieder Notizbücher, die geheimnisvolle Botschaften enthalten. Auch in ?Kapitän Nemo? müssen diese entschlüsselt werden. Mit ihrer Hilfe könnten die aus der Zeit gefallenen Leben wieder zusammengefügt werden. Zitator POE ?Um am Ende sagen zu können, so war es, so ging es zu, dies ist die ganze Geschichte.? Musik Callas ?Casta Diva? hineinblenden O-Ton 28: schwedisch ?Blanche und Marie? IM FLÜSTERTON schwedisch und deutsch ineinander sprechen!!! ?Det gör ont att ställa sig på sina ben och gå.? Zitatorin ?Es tut weh, sich auf seine Füße zu stellen und zu gehen.? Erzählerin Es braucht einen Ort, um erzählen zu können. Ohne ihn gibt es keine Geschichte. In ?Kapitän Nemos Bibliothek? ist Enquists Heimat, die nordschwedische Landschaft Västerbottens mit dem Dorf Hjoggböle, dieser Ort. Als Kind träumte er von Käpten Nemos U-Boot Nautilus und malte seinen imaginären Atlas auf die Ränder der Lokalzeitung Norra Västerbotten. Später beginnt der versierte Kartenzeichner mit sicherem Strich eine andere Erinnerungslandschaft zu zeichnen. POE, O-Ton 9 ?Dieses grüne Haus existiert doch. Es existiert noch und die Grotte existiert. In der Wirklichkeit war vielleicht diese Grotte ein bisschen weniger und nicht so groß. Aber es gab ein Gebirge und einen Berg und eine Grotte.? Erzählerin Dokument und Fiktion überlagern sich in Enquists Texten und markieren eine Topographie, die einer konkreten Landkarte entstammt, doch auf keinem Atlas zu finden ist. Diese Topographie ist von poetisch-utopischer Qualität. Der Philosoph Ernst Bloch nannte diese Entwürfe ?Phantasiebilder?. Mit ihnen sind Traumlandschaften skizziert, die von einer realen Außenwelt begrenzt werden. Noch ?das inwendigste Märchen?, so Bloch, ?enthält dieses Stück auswendigen Ort? und damit eine Verankerung in der Realität. POE, O-Ton 10 ?Es gab eine Landschaft, die ich kannte sehr sehr wohl und später kommt das Haus, die Grotte und der Wald?Es kommt alles zusammen in einer Geschichte, die fast dokumentarisch war, aber nicht dokumentarisch ist. Aber doch, so das ist eine Mischung von was damals sehr viel bedeutete und später viel mehr bedeutet.? Erzählerin In der Rekonstruktion des Vergangenen stellt Jules Vernes Roman ?Die geheimnisvolle Insel? ein wertvolles Strandgut dar. Vernes legendärer Kapitän Nemo, der untrennbar mit dem U-Boot Nautilus verbunden ist, wird auch bei Enquist zum Helden. Während Nemo in Vernes Roman die Inselbewohner vor dem drohenden Vulkanausbruch retten will, verschafft er dem Ich-Erzähler bei Enquist wichtige Dokumente, um die verlorenen Lebensgeschichten zu retten. Nemo weiß, dass Johannes sterben wird. Eile ist geboten. Denn wenn Kapitän Nemo den Befehl gibt, die Wassertanks zu öffnen, werden mit dem Schiff Johannes und die Bibliothek sinken. Es bleibt nur eine kurze Zeitspanne zum Erzählen. Zitator POE ?Man muss sich vielleicht beeilen, bevor alles dahinschrumpft. Das ist es wohl, was zusammenfügen heißt.? Erzählerin In Kapitän Nemo spiegelt sich die Sehnsucht des Ich-Erzählers nach einer Vaterfigur, die vor dem strafenden Gott-Vater schützt. Als Inkarnation der Versöhnung stellt er den Gegenentwurf zur kalten Welt pietistischer Frömmigkeit dar, in der die strengen Gesetze des Herrnhutismus regieren. Film, Theater, Tanz, Alkohol sind streng verboten. Der Vater aber soll sich widersetzt haben, indem er Gedichte schrieb. Poesie bedeutet eine sündige Form der Selbsterkundung. Und die pietistischen Gesetze besagen, dass der Einzelne nichts wert ist und keinen eigenen Text hat. Zitator POE ?Es war sündig, Verse zu schreiben, wenn es keine geistlichen Lieder waren?Er soll sie aufgeschrieben haben, wenn er aus dem Wald nach Hause kam, abends. Oder am Sonntag, was weniger wahrscheinlich war, auf jeden Fall aber sündiger. An einem Sonntag Verse zu schreiben, musste eine doppelte Sünde sein, außer am Karfreitag, wo es eine Todsünde war.? Erzählerin Doch niemand kann den Erzähler daran hindern, sich vorzustellen, er würde diese Gedichte besitzen. Die Phantasiebilder, als Orte der Utopie und Hoffnung, werden Teil der Überlebensstrategie. Hilfe, das weiß der Erzähler, kann nur aus den Büchern kommen, die sich in der Bibliothek der Nautilus befinden. Dort herrschen Kapitän Nemo und Johannes. Aber während Johannes als göttlicher Menschensohn, ein stummes Phantasiebild bleibt, wird Nemo zum handelnden Wohltäter, zu einer Erlöserfigur. Zitator POE ?Der Wohltäter, der sich Kapitän Nemo nannte?hatte Zeit für die?Gestürzten, für die, die fast nicht glaubten, dass sie Menschen waren. Der Menschensohn war ein Vorbild, aber er hatte nie Zeit. Auf den Wohltäter konnte man sich verlassen.? Erzählerin Von ihm erhält der Ich-Erzähler das verloren geglaubte Notizbuch des Vaters. Es ist Kapitän Nemos letztes Geschenk und enthält eine ?Bergungsliste? mit Utensilien, die zum Überleben unverzichtbar sind. Zitator POE Ich verstand. Ich konnte es nicht fassen, dass er schon damals, als ich so klein und noch nicht ausgetauscht worden war, begriffen hatte, was mit mir geschehen würde. Und welche Ratschläge ich brauchte.? POE, O-Ton 11 ?Mein Vater war sehr, sehr früh gestorben, ich war nur sechs Monate und ich wusste ganz wenig über diesen Vater. Er war gestorben, punkt um. Und er sitzt im Himmel und war wahrscheinlich sehr glücklich, auf der linken oder rechten Seite von Gott. Aber mein Wohltäter könnte mein Vater sein. Man könnte mit dem Wohltäter, also meinem Vater sprechen und fragen und guten Rat bekommen und das war vielmehr menschlich als theologisch.? Erzählerin ?Kapitän Nemos Bibliothek? wird zur Hommage an eine Vaterfigur, die existiert hat, doch nur als literarische Figur überlebt. POE, O-Ton 13 ?Ich habe so eine Vorstellung, dass ich sollte diesen allzu früh gestorbenen Vater ein bisschen erzählen.? Erzählerin Durch die Taten Kapitän Nemos wächst diese Figur in den Erzähler hinein. Gemeinsam betreten sie eine Landschaft, die voll quälender Fragen ist. POE, O-Ton 16 ?Ich konnte zum ersten Mal in meinem schreibenden Leben in ?Kapitän Nemo? ziemlich frei und ziemlich direkt über diese Sachen schreiben.? Maria Calles setzt ein O-Ton 28: schwedisch ?Blanche und Marie? ?Det gör ont att ställa sig på sina ben och gå.? Zitatorin ?Es tut weh, sich auf seine Füße zu stellen und zu gehen.? Flüsterton!!! Musik wird mit dem deutschen Text schwächer! Erzählerin In seinen Romanen legt Per Olov Enquist immer neue Schmerzzentren frei. Im Realen verankert, werden sie in der poetischen Fiktion zu fragilen Utopien. So nennt er auch seine Essays, die 1997 unter dem Titel ?Die Kartenzeichner? erscheinen. Enquist wird zum poetischen Landvermesser. Um eine literarische Selbsterkundung geht es im Roman ?Lewis Reise?, der 2001 erscheint. Das Erinnern basiert hier gleichermaßen auf seelischem und körperlichem Schmerz. Er will wissen, wie er der geworden ist, der er ist. Eine Frage, die sich bereits der Erzähler in ?Kapitän Nemos Bibliothek? stellt. Zitator POE ?Für mich gab es?nur eine Frage?, ob ich eigentlich ein richtiger Mensch war. Und wenn ja: wer.? Erzählerin In ?Lewis Reise? bekennt sich der Erzähler dazu, der Autor von Enquists Romanen zu sein. Doch wie lässt sich die eigene Person kartieren. Indem Enquist seinen biographischen Spuren folgt, gelangt er zur schwedischen Pfingstbewegung, die unter dem Einfluss des Herrnhutismus entstanden ist und für Schweden eine religiöse Grunderfahrung bedeutet. Im Umfeld einer Erweckungsbewegung, die sich Evangelische Vaterländische Stiftung nennt, wird die Spurensuche in eigener Sache zum kulturgeschichtlichen Exkurs. Denn als Reaktion auf die Aufklärung brachten die Volksbewegungen charismatische Prediger und Propheten, Apokalyptiker und Politiker hervor, die Schwedens Entwicklung prägten. POE, O-Ton 18 ?Das ist mit Blut, Mystik, eine ganz besondere, sehr spezielle, ein bisschen wahnsinnige, aber doch sehr interessante Bewegung mit einer Mischung von nordschwedischem Pietismus und böhmischen Herrnhutismus.? Erzählerin Im Romanzentrum stehen Lewi Pethrus, der Vater der schwedischen Pfingstbewegung und der Dichter Sven Lidman. Erneut werden zwei Leben rekonstruiert, deren Verlauf eng miteinander verknüpft ist. Nach dem vertauschten Bruderpaar in ?Kapitän Nemos Bibliothek? lässt sich ein poetologisches Prinzip erkennen, das Enquist auch mit Blanche und Marie in dem gleichnamigen Roman von 2004 anwendet. Die Paarstruktur ermöglicht die Spiegelung eines historischen Charakters aus verschiedenen Perspektiven. In ihnen nistet der Autor. Er weiß, dass er sich auch in ?Lewis Reise? auf dünnes Eis begibt. Die dokumentierten Momente aus dem Leben des strengen Predigers Lewi Pethrus sowie des erotomanischen Dichters Lidman sind nur eine Ebene der Darstellung. Ihre rigiden Anweisungen für den vollendeten fundamentalistischen Menschen berühren auch die Biographie des Erzählers und Autors. Zitator POE ?Ich erkannte alles wieder. Genau so war ich erzogen worden. Das war ich. Ich hatte es nur vergessen.? Erzählerin Im Prozess der Selbsterkundung erweist sich eine Person als besonders einflussreich. Ihr ist der Roman ?Lewis Reise? gewidmet. Es ist Maja, die Mutter von Per Olov Enquist. In ihrem Umfeld wurzelt die Identität des Schreibenden. Maja ist wie Pethrus und Lidman ein Kind der Erweckungsbewegung. POE, O-Ton 19 ?Meine Mutter war eine Bauerntochter, die studierte als Dorflehrerin und sie war sehr stark engagiert in der folkpartiet, das ist die liberale schwedische Partei. Sie war ein großer Bewunderer von dem Leiter der schwedischen Liberalpartei.? POE, O-Ton 20 ?Ich war das einzige Kind. Ich habe alles von sie gelernt.? POE, O-Ton 21 ?Die ersten 15, 16 Jahre sind doch so phantastisch wichtig. Gott im Himmel.? Erzählerin Mütter wie Maja organisierten nicht nur den entbehrungsvollen Alltag im nordschwedischen Västerbotten. Als Exponenten des strengen religiösen Fundamentalismus erzogen sie ihre Kinder getreu dieser geistlichen und moralischen Prinzipien. Sie bezogen ihre Kraft und Überzeugung aus den Gesängen und Predigten dieser eigenwilligen Basisdemokratie, die Schwedens politische Struktur beherrschte. In der Gemeinschaft hörten sie auf, als Einzelne zu existieren. POE, O-Ton 22 ?Alle die Bauernfrauen waren sehr stark, die hatten Kontrolle über?die Kinder und die Ökonomie und die Religion?Aber die Frauen waren da die ganze Zeit?So das war völlig völlig natürlich. Das war ein Matriarchat. ? Erzählerin Diesem Matriarchat gibt Enquist im Roman ?Lewis Reise? seinen Platz in der Geschichte einer Erweckungsbewegung, die zu 2/3 von Frauen dominiert, aber von Männern angeführt wurde. Lewi Pethrus leitete somit Schwedens größte Frauenbewegung. Nur durch die arme Landbevölkerung konnten Personen wie Lewi Pethrus und Sven Lidman aus dem Nichts ein weltumspannendes Imperium von 280 Millionen Anhängern schaffen. Sie gründeten Zeitungen, Banken, Verlage und die Christdemokratische Partei Schwedens und schrieben Geschichte. Maja, Pethrus, Lidman und der Autor sind ein Teil davon. Callas ?Casta Diva?, wird bei Textbeginn leise, bleibt dem Text aber unterlegt POE, O-Ton 27 ?Wenn ich den Roman geschrieben habe, war ich 66 Jahre alt und ich habe gefunden mit einer Mischung von Schreck und Erstaunen: so bin ich ein Mensch geworden!? Musik wird wieder lauter! O-Ton 28: schwedisch ?Blanche und Marie? vom deutschen Text überspielt VERMISCHEN!!! ?Det gör ont att ställa sig på sina ben och gå. En gång hade Charcot förevisat henne för herr Strindberg?? Zitatorin ?Es tut weh, sich auf die Füße zu stellen und zu gehen. Einmal hatte Charcot sie Herrn Strindberg vorgeführt. Das ist der einzige schwedische Anknüpfungspunkt zu Blanche und Charcot, den ich finden kann? Das wissenschaftlich untersuchte Objekt war nicht eine spezielle Frau, sondern die Frau an sich, und ihre Natur.? O-Ton 29 Ab ?Das wissenschaftlich untersuchte Objekt? wieder schwedisch, nach ?und ihre Natur? deutsch enden ?Det vetenskapligt granskade objektet var inte en särskild kvinna, utan Kvinnan, och dennas natur.? Erzählerin ?Amor Omnia Vincit? ? Die Liebe überwindet alles. Mit diesem Gedanken Vergils beginnt Enquists Roman ?Das Buch von Blanche und Marie?, der 2004 erscheint. Der Satz soll als Arbeitshypothese eine neue Suche nach den inneren Schmerzpunkten begleiten, die für Enquist früh begann. POE, O-Ton 30 ?Diese Idee mit Blanche und Marie ist so alt für mich. Ich hatte einmal in die Mitte von die Sechziger Jahre einen Versuch gemacht, über dieses Thema zu schreiben. Ich habe Texte von 66 mit Blanche und Marie und ich versuchte ein Theaterstück zu tun in der Mitte von den 80er Jahren, das geht nicht. Und so habe ich einen Roman geschrieben und das war möglich.? Erzählerin ?Blanche und Marie? ist eine moderne Parabel. Im Zentrum stehen erneut zwei Biographien, die mit zwei spektakulären wissenschaftlichen Ereignissen am Beginn des 20. Jahrhunderts verknüpft sind: die Psychoanalyse und die Entdeckung der Radioaktivität. POE, O-Ton 31 ?Ich hatte einen Arbeitstitel, der ein bisschen zu romantisch war: ?Das blaue Licht? oder ?Das tödliche blaue Licht??und dieses blaue Licht, das Radium, das so schön ist und so tödlich und so gefährlich und liegt und existiert genau in dem Wechselpunkt von dem 19. Jahrhundert bis zu dem schrecklichen 20. Jahrhundert. Aber das war ein bisschen zu symbolisch. Also ich habe einen sehr nüchternen Titel gemacht: ?Blanche und Marie?.? Erzählerin Bei Marie handelt es sich um die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie, die als erste Frau an der Sorbonne lehrte. Blanche, das ist Blanche Wittman. Sie galt an der Pariser Nervenanstalt Salpêtrière als Lieblingspatientin des Arztes Charcot und ist auf dem Gemälde ?Une leçon de clinique á la Salpêtrière? von André Brouillet in symptomatischer Pose als ?Königin der Hysterikerinnen? dargestellt. Blanche verkörpert einen Kanon weiblicher Leidenschaften, den die männliche Wissenschaft erkunden will. Charcot entwickelt eine Theorie so genannter Druckstellen, mit denen die inneren Schmerzpunkte aufgespürt und beliebig abgerufen werden sollen. Zitatorin POE deutsch beginnen, schwedisch einblenden, am Ende wieder deutsch Zitatorin ?dass die Frau gewissermaßen als eine Maschine zu betrachten war?, so dass man durch Druck auf bestimmte, sinnreich erdachte Punkte einen Gefühlsausbruch provozieren konnte.? CD, 1:45-1:56 ?För första gången fanns möjligheten att kartlägga kvinnans mörka och okända kontinent, på samma sätt som upptäcktsresande, som Stanley! Hade kartlagt delar av Afrika.? Zitatorin ?Zum erstenmal bestand die Möglichkeit, den dunklen und unbekannten Kontinent der Frau zu kartieren, auf die gleiche Weise, wie Entdeckungsreisende, wie Stanley! Teile von Afrika kartiert hatten?Wie ein Abstieg in die Hekla! Ein Tunnel abwärts! Wie der bekannte Wissenschaftler Jules Verne bewiesen hatte!? CD, 2:45-2:51 ?en tunnel nedåt! som den kände vetenskapsmannen Jules Verne bevisat!? Erzählerin Der Punkt, von dem aus die Erzählung nun betrachtet wird, ist ein Torso. Er ist keine Metapher, sondern ein konkreter Ausgangspunkt: der Torso Blanche Wittmans. Blanche arbeitet in Enquists Roman nach dem Tod von Charcot in Curies Labor und verliert durch das Radium beide Beine sowie ihren linken Arm. Im Motiv vom blauen Licht bündelt Enquist die Faszination von Verführung, Schönheit und Tod. Doch mehr als die sichtbaren Amputationen, geht es ihm um die inwendigen Wundmale. Der Schmerz wird zur Nahtstelle zwischen dem Körpergedächtnis und einem Sinn stiftenden Sprachgedächtnis. Blanches amputierter Leib vermag in Enquists Version weder die Pose der Hysterie noch die Leidenschaft körperlicher Liebe auszuüben. Seine Funktion ist es, Gedächtnis zu sein. Zitatorin POE ?Meine linke Hand, die nicht mehr da ist, schmerzt nicht mehr, kann sich aber an das Streicheln erinnern?Das Abgetrennte und Verschwundene hat auch seine Liebe, seine Erinnerungen.? Erzählerin Der Torso wird zum monumentalen Memento Mori, dessen Bildkraft immer wieder zum Erzählen zwingt. Eine ästhetische Idee par excellence, um über etwas zu sprechen, das nicht messbar ist: der Verlust all dessen, was in der Liebe ersehnt wird und nicht eingelöst werden kann. Schmerz und Erinnerung auf kleinstem Raum. Mit dem Torso hat Enquist ein Bild gefunden, um die Schmerzpunkte zu lokalisieren, die seit dem Roman ?Kapitän Nemos Bibliothek? sein Königsthema sind. In ihm sind alle Erzählungen aufbewahrt. Der Satz Zitatorin ?Stell dich auf deine Füße und geh.? Erzählerin wird zur poetischen Provokation. Der Torso soll schreibend ergänzt werden. Enquists Umgang mit dem dokumentarischen Material erfährt in diesem Roman eine neue Qualität. Es besteht also kein Grund, Blanches Torso tragisch zu deuten. POE, O-Ton 41 ?Es gibt Menschen, die haben dieses Buch gelesen als ein sehr schwarzes Buch und diesen Torso, diese Frau mit nur einer schreibenden Hand, der rechten Hand, das es eine sehr tragische Geschichte ist.? POE, O-Ton 32 ?Ich kann es überhaupt nicht als einen tragischen Roman finden, nicht am Ende, das ist?so eine Heldingestalt.? Zitator POE ?Man kann Liebe nicht erklären?Aber wenn man es nicht versucht, wenn man es nicht versuchte, wo ständen wir dann?? POE, O-Ton 32 ?Keine Füße, keinen linken Arm, keine Möglichkeit im Leben und doch, doch, doch, arbeiten, schreiben, guten Rat geben, voll von Optimismus. Oh ich finde sie schön.? Erzählerin Per Olov Enquist skizziert mit seinen Romanen eine Schmerzlandschaft, von der es in ?Kapitän Nemo Bibliothek? heißt Zitator POE ?Wenn man den Schmerz fortwirft, war er vergebens. Dann hat er nur weh getan.? Maria Callas ?Casta Diva? 1