COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Nachrichten, Notfälle, Neuanfänge Über Terrorismus und Literatur Von Jörg Magenau (Deutschlandradio, 11.3.2008) -------------------- (Musik: (alle Stücke von dem Sampler "Oriental Club", Universal Music) Intro: CD 1, Track 9, 0:00-0:30) --------------------- SPRECHERIN 1, Zitat 1 (aus: SIRI HUSTVED, "Die Leiden eines Amerikaners", S.73): Sie hatte im Radio gehört, dass ein Flugzeug acht Straßen weiter südlich in den Turm gerast war. Sie wollte Sonia aus der Schule abholen und hatte sich eben auf den Weg gemacht, da sah sie das zweite Flugzeug in den anderen Turm krachen. Sie lief gegen den Strom der Menschenmenge an, nahm aber im Grunde nichts vom Geschehen wahr, sondern rannte Richtung Stuyvesant High School, wo sie von einem Posten aufgehalten wurde. (...) Es war noch eine andere Mutter da, die man nicht hineinlassen wollte, eine Frau, deren Stimme sie an das nächtliche Geheul einer Katze erinnerte. Inga erinnerte sich, (...) dass sie beim Anblick dieses Gesichtes seltsam ruhig geworden war, gelassen und distanziert, und wie sie darauf wartete, dass man ihre Tochter fand, während sie wie betäubt in der Vorhalle stand, und dass sie Sonia dann endlich sah und meinte, so müsse ihr eigenes Gesicht auch aussehen, eine Maske bleicher Leere, und als sie aus dem Gebäude liefen, schimmerten die Türme rot wie brennende Skelette, und da hatte Inga sich gesagt: Ich sehe das. Es ist wahr. Ich muss mir klarmachen, dass das alles real ist. SPRECHER 1: Das 21. Jahrhundert begann am 11. September 2001. Der Anschlag auf das World Trade Center in New York war die Urkatastrophe, die die Weltordnung, die Sicherheitsgefühle und die Gewissheiten des Lebens in ihren Grundfesten erschüttert hat. Globalisierung, das wurde spätestens an diesem Tag klar, bedeutet auch die globale Präsenz des Terrors. Und die Angst vor weiteren Anschlägen wurde zu einem Rohstoff der Politik. Auch in der Literatur hat der 11. September deutliche Spuren hinterlassen. Sich "klarmachen, dass das alles real ist". Das Gesicht, "eine Maske bleicher Leere". Das ist der Ausgangspunkt. Ein Schock. -------------------- (Musik: CD 1, Track 9, 0:30-1:15, dann ausblenden) --------------------- Es ist nicht verwunderlich, dass es zunächst US-amerikanische Autoren waren, die sich damit beschäftigten: John Updike etwa versetzte sich in dem Roman "Terrorist" in die Psyche eines jungen Mannes aus New Jersey, der unter den Einfluss einer islamistischen Gruppe gerät und schließlich bereit dazu ist, eine Bombe zu zünden. Don DeLillo erzählte in "Falling Man" von einem traumatisierten Überlebenden und seinen Versuchen, in den familiären Alltag zurückzufinden. Und auch der neue Roman von Siri Hustved handelt von Alpträumen und Erinnerungen an diesen Tag, die immer wieder aufbrechen wie "Explosionen im Gehirn". So geht es auch dem Mädchen, das in der Nähe des World Trade Centers zur Schule ging. SPRECHERIN 1, Zitat 2 (aus: SIRI HUSTVED, "Die Leiden eines Amerikaners", S.189): "Wir konnten kaum was sehen und kaum atmen. Es war dunkel, und wir kämpften uns durch diesen trockenen, erstickenden Regen. Und dann sah ich eine menschliche Hand auf dem Boden liegen. Das Blut hatte eine merkwürdige Farbe. Das habe ich sogar noch gedacht." Sie atmete schwer. "Ich musste über die Hand steigen. Wir sind gerannt. Ich dachte, wir müssen sterben. Und das kommt jetzt wieder, meistens in der Nacht. Dieses Gefühl, blind zu rennen. Ich bin wieder dort. Ich schrecke hoch, als würde ich explodieren, und mein Herz rast. Ich kriege keine Luft. Es ist kein Traum." Ihr Mund verzerrte sich. "Es ist Wirklichkeit." Sie schloss die Augen und fing an zu weinen. SPRECHER 1: Literatur ist im Falle von Siri Hustved ein Therapeutikum. Mit psychoanalytischem Interesse wendet sie sich ihren Figuren zu und lässt sie aussprechen, was sie quält. Sie dringt von der Oberfläche der Ereignisse in die seelischen Tiefendimensionen vor und macht die Verwundungen sichtbar. Das legt schon der Titel ihres Romans, "Die Leiden eines Amerikaners", nahe. Hustved schreibt aus der Opferperspektive derer, die den Terroranschlag aus nächster Nähe miterlebt haben und die damit fertig werden müssen. -------------------- Musik, CD 1, Track 9, 1:30-1:58, dann ausblenden --------------------- Literatur ist darüber hinaus aber auch ein Instrument, das Gegensätzliche, das Andere, das Fremde plausibel zu machen. Vielleicht ist das sogar die noch größere Herausforderung: zu begreifen, was Terroristen zu ihren Taten motiviert und wie sie die Welt wahrnehmen. Denn nur, wenn man sie versteht, kann man darauf eine Antwort finden. Aber was bringt einen Autor dazu, sich ausgerechnet in einen Terroristen hineinzuversetzen? O-TON 1, SHERKO FATAH: Wie bin ich dazu gekommen? So etwas nimmt seinen Anfang lange vor dem Projekt, wahrscheinlich durch den 11. September. Ich habe mich - wie alle - damals, 2001, gefragt: Wie könnte man darauf reagieren? Was ist das? Was bedeutet das alles? Der Nachdenkensprozess, der dann bei mir einsetzte, war mit dem Schöpferischen verbunden. 2004 war ich im Nordirak bei meinem Vater und habe mit den Recherchen für dieses Buch begonnen, habe Leute getroffen, die gekämpft haben gegen die Gotteskrieger dort oben, Islamisten - das wird im Buch ja auch erklärt, woher sie sich rekrutieren, wie sie versorgt werden. (...)Es hat mich begleitet und fasziniert. Es ist ja auch eine Sache der Faszination und nicht nur so ein geisteswissenschaftliches oder politikwissenschaftliches Interesse. Und diese Faszination treibt einen Erzähler manchmal sehr weit in diese Gebiete hinein. SPRECHER 1: Sherko Fatah ist ein deutscher Schriftsteller. 1964 wurde er in Ost- Berlin geboren. Sein Vater ist irakischer Kurde, über ihn hat er einen direkten Bezug zu dieser Region. Die Romane Sherko Fatahs spielen im Grenzbereich zwischen der westlichen und der islamischen Welt und setzen sich immer wieder mit der Gewalt auseinander. In seinem neuen Roman "Das dunkle Schiff", der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, erzählt er von einem jungen Kurden, der von Gotteskriegern entführt und zu einem ihrer Kämpfer ausgebildet wird. Bevor er sich bei einem Selbstmordattentat töten müsste, flieht er über das Mittelmeer nach Europa und weiter nach Berlin. Doch seine schreckliche Geschichte wird er nicht los. Die Gewalt holt ihn wieder ein. Besonders eindrucksvoll sind die Kapitel des Romans, die vom Leben der Gotteskrieger in den Bergen erzählen, von ihrer Gemeinschaft und ihrem Glauben und ihren Mordtaten. O-TON 2, SHERKO FATAH: Natürlich wäre es leicht gewesen, die als Idioten darzustellen, Extremisten, Fanatiker, die keine Ahnung haben von nichts und die für die falsche Sache kämpfen. Wenn die Sache so einfach wäre, wäre es nicht so ein Problem. Was mich interessiert hat, war, das am Extremismus dieser Färbung darzustellen, was für uns interessant wäre, was auch in Teilen das eigene Unbehagen der westlichen Welt an sich selbst wiederspiegelt. (...) Es geht nicht darum, dem zuzustimmen, aber es geht darum, den Leser damit zu konfrontieren, was an deren Argumentation interessant sein könnte. Denn: Stelle ich jemanden dar, der sich wie in Palästina einen Sprengstoffgürtel umschnallt und in einer Pizzeria in die Luft sprengt, dann ist das Verständnis dafür gleich Null. Wir nehmen das zur Kenntnis, dass Menschen das tun. Dass es womöglich eine Reaktion auf Unrecht ist, das dort herrscht. Aber es erklärt sich uns nicht, ist nicht interessant in dem Sinne, in dem ich das thematisiere, weil unser eigenes Verhältnis zum Extremismus - und darum geht es hier, nicht um den Islam - weil unser Verhältnis dazu nicht befragt wird. SPRECHER 1: Wenn irgendwo auf der Welt eine Bombe explodiert, dann wird in den Nachrichten zumeist al-Qaida dafür verantwortlich gemacht. Dabei wissen wir, dass dieser Name eher eine Fiktion bezeichnet, als eine weltweit zusammenarbeitende Organisation. Sherko Fatah zeigt, dass die kleinen Terrorgruppen sehr viel weniger geplant und in großen Zusammenhängen agieren, als der Begriff al-Qaida nahe legt. Doch bei einem Anschlag die Verbindung zum "Terrornetzwerk" festzustellen, scheint eine seltsam tröstliche Wirkung zu besitzen: Als ob man den Schrecken bannen könnte, wenn man ihm einen Namen gibt und glaubt, das wäre schon eine Erklärung. Die Angst speist sich ja gerade aus dem Unverstandenen, daraus, dass man die Motivation der Attentäter nicht begreifen kann. -------------------- (Musik, CD 1, Track 16, 0:50-1:30, ausblenden) --------------------- SPRECHER 1: Was bringt junge Menschen dazu, ihr eigenes Leben zu opfern? Wer in Israel lebt, stellt die Frage anders. Er weiß um die Alltäglichkeit von Verzweiflung und Hass und antwortet auf die Allgegenwart der Bedrohung mit Zynismus und Desinteresse. Weitermachen!, ist das Motto im Roman des israelischen Autors Assaf Gavron mit dem sprechenden Titel "Ein schönes Attentat". Wenn Palästinenser sich in Bussen und in Cafés in die Luft sprengen, darf man eben gerade nicht damit aufhören, mit dem Bus zu fahren und ins Café zu gehen. Denn dann hätten die Terroristen gewonnen. Gavron erzählt in dieser Tragikomödie von einem Mann, der innerhalb einer Woche gleich drei Terroranschläge überlebt und dadurch zu einem israelischen Nationalhelden und Talkshowgast wird. SPRECHER 2, Zitat 3, (aus: ASSAF GAVRON, "Ein schönes Attentat", S.81) Die Leute fragen sich immer, was das Letzte ist, das einem Menschen durch den Kopf geht, bevor er stirbt. An wen er oder sie denkt - an die Kinder, die Eltern, die Ehepartner? Die Kindheit? Die erste Liebe? Liebe generell? Spult sich das ganze Leben vor ihren Augen ab wie ein Film? Ich weiß die Antwort im Fall des Soldaten, der in jener Nacht mit mir von Tel Aviv nach Jerusalem fuhr. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, bevor er starb, den er sogar in überaus überzeugender Form ausdrückte, war: "Mein Finger! Scheiße, ich spüre ihn nicht!" SPRECHER 1: Gavron beschreibt den Terror aus den Nahdistanz und zeigt die Absurditäten einer Gesellschaft, die seit Jahren im Zustand einer kollektiven Psychose lebt. Das wird in vielen Einzelbildern und Beobachtungen deutlich, etwa in der Szene kurz nach einem Anschlag, wenn die Überlebenden alle zu ihren Handys greifen um die Familie und Freunde anzurufen: SPRECHER 2, Zitat 4, (aus: ASSAF GAVRON, "Ein schönes Attentat", S.85): Ich stand noch einige Minuten dort, neben anderen Menschen, die auch ein paar Minuten dort standen. Die Leute aus den Ambulanzen machten ihre Arbeit, und wir standen herum und schauten. Viele Leute telefonierten, in der typischen Nach-Anschlag-Telefonierhaltung: das Telefon fester als sonst und nötig ans Ohr gedrückt, als seien die in dieser Position eingehenden Worte wichtiger, dürften keinesfalls entweichen. Den Rücken leicht gekrümmt, in einer Art Bereitschaftsstellung, über den Feind herzufallen oder auf einen Berg zu klettern, den Hals gedehnt nach vorn gereckt, die Augenbrauen zusammengezogen und die Stirn gerunzelt. Die zweite Hand - was interessant war -, die zweite Hand hielten sie an die telefonfreie Schläfe gepresst, halb vor das zweite Ohr, um besser zu hören, halb vor Augen und Stirn, um sie mit tragischer Geste zu bedecken. SPRECHER 1: Assaf Gavron erzählt im Wechsel aus der Perspektive zweier Figuren. Neben dem dreifach Überlebenden steht ein palästinensischer Attentäter, der - durchaus symbolisch zu lesen - im Koma liegt und also mit der Außenwelt nicht mehr kommunizieren kann. In seinem Kopf läuft noch einmal die Geschichte ab, die ihn, fast wider seinen Willen, dazu brachte, zu schießen und eine Handgranate zu zünden. Gavron schreckt nicht davor zurück, die Folgen der Gewalt recht drastisch zu beschreiben. Noch weiter geht damit allerdings Sherko Fatah, der seinen Romanhelden an einem Anschlag auf einen irakischen Marktplatz teilnehmen lässt. Während einer der Mitkämpfer sich dort in die Luft sprengt, soll er ein Video drehen, das dann ins Internet gestellt wird. Sherko Fatah hält also gewissermaßen die Kamera direkt auf das Szenario der Vernichtung und zeigt auch das, was im Fernsehen ausgeblendet werden würde. Darf Literatur so weit gehen? O-TON 3, SHERKO FATAH: Ich glaube, sie darf es, weil sie eben keine Kamera benutzt, sondern in Sprache arbeitet. Es gibt auch unterschiedliche Rechtfertigungen dafür. Es richtet sich nach dem Projekt. Ist es eines wie meines, dann geht es nicht darum, eine historische, lange zurückliegende Sache zu beschreiben, an der man überhaupt nicht beteiligt ist, die nur durch Erzählungen übertragen wird, sondern es geht um das Aktuelle. Ich denke schon, dass es wichtig ist, auf gleicher Höhe mit den Ereignissen zu schreiben, und dazu gehört eben auch, dass diese Bombenanschläge, die wir fast im Tagesrhythmus gemeldet bekommen, auch ein Nachleben haben. Es gibt das, was übrigbleibt, von dem, was da in die Luft geflogen ist. Es gibt all diese Sachen. Wenn man sie ausblendet in der Literatur, dann wird sprachlich genau dasselbe hergestellt, was die Nachrichten herstellen: eine Abfolge von Explosions- oder Rauchbildern, die nichts von dem vermitteln, was eigentlich passiert. SPRECHER 1: Dennoch ist Sherko Fatah vorsichtig. Es geht ja nicht darum, wie in einem Action-Film die Gewalt um der Gewalt willen zu zeigen: O-TON 4, SHERKO FATAH: Nun war es nicht mein Anspruch, in drastischem Realismus das alles zu zeigen. - Aber wo es nötig ist, an den wenigen Stellen, an denen beispielsweise ein Attentat mit einer Bombe unternommen wird, da lasse ich es nicht weg, weil ich glaube, dass das für das Verständnis der Sache nützlich ist. Denn auch das Unglaubliche der Entscheidung, sich diesen Gotteskriegern anzuschließen, erschließt sich ja erst dann, wenn man weiß, was sie tun. Es ist ja nicht damit getan, Ideen wiederzugeben, Worte, Predigten. All das tue ich auch. Sondern man muss auch wissen, wofür werden Menschen dort tatsächlich mobilisiert. Und dazu muss man das Ausmaß der Taten natürlich kennen. -------------------- (Musik, CD 2, Track 8, 0:00-0:33) --------------------- SPRECHER 1: Was an Terroristen zu faszinieren vermag, ist die Unbedingtheit ihres Willens, ihre Entschlossenheit zur Tat, ihre Bereitschaft, für eine Sache, und sei sie auch noch so unbegreiflich, ihr Leben zu opfern. Das war es ja auch, was viele junge Leute in den 70er Jahren an der RAF faszinierte. Auch wenn es falsch war, was sie taten, sie taten wenigstens etwas und fanden dafür große Worte: "Widerstand" oder "Weltrevolution". Von heute aus gesehen und im Vergleich mit den islamistischen Selbstmordattentätern, ist die RAF ein geradezu überschaubares Phänomen. Vor allem aber: Sie ist Geschichte, und die, die noch in den Gefängnissen sitzen, sind in der Vergangenheit eingesperrt. Bernhard Schlink konfrontiert in seinem neuen Roman "Das Wochenende" so einen alt gewordenen Kämpfer mit dem Leben draußen. Diese Figur, im Roman heißt sie Jörg, erinnert stark an Christian Klar. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Der Bundespräsident hat ihn tatsächlich begnadigt, er kommt frei. Seine Schwester holt ihn ab und organisiert zur Begrüßung ein Wochenende in einem Landhaus in der Uckermark. Sie lädt alte Freunde ein, die sich längst in ihren bürgerlichen Leben eingerichtet haben. Eine Bischöfin ist dabei, ein Journalist, ein Rechtsanwalt, eine Lehrerin. Doch alle haben an diesem Wochenende damit zu tun, die alten Träume noch einmal zu besichtigen und gemeinsam zurückzuweisen: ZITAT 5: (aus: Bernhard Schlink, "Das Wochenende", S.152f) SPRECHERIN 1: Ohne dass sie widerlegt worden wären, sind Themen, Probleme, Thesen eines Tages einfach erledigt. Sie klingen falsch; wer sie vertritt, isoliert sich, wer sie mit Leidenschaft vertritt, macht sich lächerlich. SPRECHER 2: Manchmal fällt einem in den Schoß, wovon man gar nicht geträumt hat. Das ändert nichts daran, dass die meisten Träume nichts werden. Ich bin der Älteste in der Runde, und auch ich kenne keinen, der in seinem Leben seine Träume verwirklicht hat. Nicht dass das Leben deshalb nichts taugen würde; die Frau kann lieb sein, obwohl sie nicht die große Leidenschaft ist, das Haus schön, obwohl es nicht unter Bäumen steht, und der Beruf respektabel und einträglich, obwohl er nicht die Welt verändert. Kein Grund zur Enttäuschung und keiner, etwas zu erzwingen. SPRECHERIN 1: Kein Grund zur Enttäuschung? Wollt ihr euch alles schönlügen? SPRECHER 2: Nein, kein Grund zur Enttäuschung. Wir leben im Exil. Was wir waren und bleiben wollten und vielleicht auch zu werden bestimmt waren, verlieren wir. Dafür finden wir etwas anderes. SPRECHERIN 1: Vielleicht macht das den Terroristen aus. Er kann nicht aushalten, dass er im Exil lebt. Er will seinen Traum von Heimat herbeibomben. SPRECHER 1: Eine melancholische Stimmung macht sich in Schlinks Roman breit. Das ist nur möglich, weil der Terrorismus für diese Generation der Alt-68er etwas ganz und gar Erledigtes ist. Sie sprechen darüber wie alte Menschen über die ferne Jugend, eine Zeit, die allein dadurch, dass sie vergangen ist, nichts mehr mit ihnen zu tun hat. Schlinks "Wochenende" ist deshalb vielleicht eher ein Roman über das Älterwerden und das Verstreichen der Zeit. Jörg, der aus dem Gefängnis kommt, ist weniger ein Repräsentant des Terrorismus als ein Gespenst der Geschichte, der den anderen deutlich macht, wie viel Lebenszeit seither vergangen ist. "Das Wochenende" erinnert an Christa Wolfs "Sommerstück" aus den frühen 80er Jahren. Damals waren es DDR-Intellektuelle, die sich resignierend und älter werdend aufs Land zurückzogen. Nun sind die West-Intellektuellen an der Reihe. Und nur hier, in der Spätphase der Biographie und in ländlicher Abgeschiedenheit, kann Terrorismus so ausschließlich retrospektiv als Selbsterfahrungsproblematik erscheinen. Am Ende hält dann die Bischöfin eine Morgenandacht vor den Freunden. Pastorale Worte des Trostes: SPRECHERIN 1, Zitat 6 (aus: Bernhard Schlink, "Das Wochenende", S. 199f) Wir alle hätten, wo Wahrheiten zu schmerzlich und wir ihnen nicht gewachsen seien, unsere Lebenslügen, und es gelte, im anderen die Wahrheit der Schmerzen zu sehen und zu respektieren, die seine Lebenslügen offenbarten. Allerdings offenbarten Lebenslügen nicht nur Schmerzen, sie schafften sie auch. Wie sie uns daran hinderten, uns selbst zu sehen, könnten sie uns auch daran hindern, den anderen zu sehen und uns von ihm sehen zu lassen. Ohne ein Ringen um die Wahrheit, die eigene und auch die des anderen, gehe es manchmal nicht. ----------------- (Musik, CD 1, Track 2, 0:00-0:30, ausblenden) ------------------ SPRECHER 1: Ganz und gar auf der Höhe der Gegenwart ist dagegen Michael Kumpfmüllers mit dem Döblin-Preis ausgezeichneter Roman "Nachricht an alle", ja er spielt sogar in einer nahen Zukunft, jedenfalls in einem nicht genau zu bestimmenden mitteleuropäischen Land, einem Deutschland mit französischen Zügen. Nach heftigen Streiks der Gewerkschaft kommt es in den Vororten zu Aufständen und Brandanschlägen auf Autos und Gebäude. Held dieses brillanten Gesellschaftsromans ist der Innenminister dieses Landes, eine Figur, die man sich als eine Art Otto Schily vorstellen kann. Michael Kumpfmüller schildert, wie sich so einer in der Krise verhält. Er zeigt einen Politiker bei der Arbeit. O-Ton 5, MICHAEL KUMPFMÜLLER: Es gibt in Deutschland eine weit zurückreichende Tradition, die Politik, die Macht ausschließlich für ein schmutziges Geschäft zu halten, während alle anderen Bereiche, die Wirtschaft, die Kultur und vor allem das, was der Bürger macht, eine moralisch höher stehende Tätigkeit ist. Das hat mich zunehmend empört, vor dem Hintergrund, dass die Politik der europäischen Demokratien eine unglaublich erfolgreiche ist. So kam ich dann auch auf die Figur des Innenministers, weil der Innenminister in Deutschland mit der Tradition des Nationalsozialismus eine Gestalt ist, die sofort unter Faschismusverdacht gerät: das sind Pseudodemokraten, die immer nur vorhaben, die Bürgerrechte zu beschneiden, Orwell, und was für Phantasien da dranhängen. Indem ich mich für einen Innenminister entschied, wollte ich das alles umdrehen. Die weitere Schreibanweisung war dann: Ich schreibe nicht nur gegen dieses Bild, sondern darüber, was die eigentlich machen, also die Arbeitsplatzbeschreibung. SPRECHER 1: Die gesellschaftlichen Folgen einer auf Sicherheit und Überwachung konzentrierten Politik haben das Erzählen wieder stärker politisiert. Oder vielmehr: Sie haben ein Interesse an der Politik hervorgerufen. Kumpfmüller will zunächst einmal nur beobachten und beschreiben, was Politik eigentlich ist. Die Krise, in der das Land sich befindet, gehört zur Versuchsanordnung. Denn in Krisensituationen werden die Verhältnisse deutlicher. Und auch der Innenminister ist eigentlich ganz froh, dass endlich etwas passiert, dass er agieren muss und sich beweisen kann: O-TON 6: MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich glaube, dass es ein höchst ehrenwerter und anstrengender Job ist, heute Politiker zu sein, weil ja in Wahrheit kaum etwas Dramatisches passiert. Es geht nur darum, die Maschinen immer neu zu justieren. (...) Wann hat Schäuble zuletzt etwas tun dürfen? Das war bei der deutschen Einheit. Da hat er den wirklichen Einheitsvertrag mit formulieren dürfen, und danach war nicht mehr viel. Natürlich ist es immer noch wahnsinnig schwierig in den neuen Bundesländern, aber das ist in einem höheren Sinne Verwaltung von Wirklichkeit. (...) Es ist eine Anmerkung zur Macht, die nicht nur auf die Politik beschränkt ist, sondern auch in den Medien gilt, dass sehr viel aus Langeweile geschieht. Oder anders formuliert: Die Diskurse sind bei uns so geordnet und reglementiert, dass man mit Tabubrüchen oder Provokationen aufzufallen versucht. SPRECHER 1: Die äußerste, letzte Provokation, um aus der Routine des Lebens herauszukommen, ist der Tod. Er wird in "Nachricht an alle" auf unterschiedliche Weise zum Thema gemacht. Gleich im Prolog erhält der Minister eine SMS-Nachricht seiner Tochter aus einem Flugzeug, in dem es einen Explosion gegeben hat. Er glaubt an einen schlechten Scherz, bis das Fernsehen über das Unglück berichtet. Reporter stehen vor den rauchenden Trümmern und sprechen in ihr Mikrophon. Die Medien machen unentwegt "Reklame für den Tod", sagt die Journalistin Hannah, die zur Geliebten des Innenministers wird. Sie fragt sich, was einen Menschen dazu bringt, in die Politik zu gehen. Warum tut man sich das an? Und sie vermutet, dass das etwas mit dem Tod zu tun haben könnte: O-TON 7, MICHAEL KUMPFMÜLLER: Wir alle sind Teil davon, in einer hochindividualisierten Gesellschaft, deren erstes Ziel es ist jung zu sein und jung zu bleiben, und den Tod zu vergessen, dass natürlich untergründig alle dran arbeiten, dem Tod dahingehend zu widerstehen, dass etwas von ihnen bleibt. (...) Und da scheint der Machtmensch, der nicht nur Texte oder Bücher schreibt, sondern der die Geschichte schreibt, also unser aller Geschichte schreibt und eingraviert, scheint am ehesten der zu sein, der den Tod überlebt. Aber das ist im Zeitalter einer nichtheroischen Politik zunehmend schwierig geworden. Das geht dann nur, indem man wieder Opfer produziert, also den Tod heraufbeschwört. SPRECHER 1: Auch auf der anderen Seite, bei den jugendlichen Protestierern und den Gewalttätern in den Vorstädten, ist der Tod von Bedeutung. In einem Abschnitt erzählt Kumpfmüller von der Selbstverbrennung einer jungen Frau. Sie inszeniert ihren Tod als öffentliches Schauspiel, als ein Zeichen, das für nichts steht, als für diesen schockierenden Augenblick. Kein Protest soll damit ausgedrückt werden, keine Verzweiflung, nichts. Vielleicht begründet dieser schreckliche Moment auch eine Hoffnung. Wenn Gewalt, die sich als Widerstand versteht, hohl geworden ist, wenn sie auf nichts verweist als auf sich selbst, dann müsste das doch eigentlich das Ende des Terrorismus sein. O-TON 8, MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist eine Pointe des Buches. Wenn es am Ende schwierig ist, einen Plan zu machen für alles, was besser werden muss, dann stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt einen nicht-vermessenen Ort, der nicht sofort in jeder Hinsicht zugeschrieben ist. Da kam ich auf diese Geste, die radikale, leere Geste. Dieser Tod ist ein Mahnmal. Ein nicht-diskursives Mahnmal. -------------------- (Musik: CD 1, Track 9, 1:30-Schluss (4:26)) --------------------- 11