COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 6. August 2012, 19.30 Uhr "Flüchten! Wie kann man weg von hier?" Vom Leben in deutschen Armutszonen Eine Sendung von Winfried Roth Musikakzent Atmo: Unruhen in London 2011 Montage: OT (Tan): Seit 1999 bin ich in Hochfeld - und da geht es nur bergab. Weil die Leute ghettomäßig in eine Siedlung gepresst sind. OT (Weber): Ein Gewaltpotential oder Unzufriedenheitspotential gibt es auf jeden Fall. OT (Rodoslu): Es gibt Leute - meistens Männer (lacht) -, die denken, dass sie das Gesetz sind, dass sie machen können, was sie wollen. OT (Seidel-Schulze): Ich glaube, dass die soziale Kluft in Deutschland nicht Ausmaße angenommen hat, wie es in England ist - weil Deutschland immer noch eine Art von Grundsicherung anbietet. OT (Scheuermann): Es müsste einiges zusammen kommen, damit sich eine solche Unruhe hier zeigt. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das nicht für wahrscheinlich. Sprecher: "Flüchten! Wie kann man weg von hier?" Vom Leben in deutschen Armutszonen Eine Sendung von Winfried Roth Atmo: Unruhen in London 2011 Sprecher: An fünf Tagen im August 2011 brannten in London und anderen englischen Städten Häuser und Autos, Plünderer und Polizei lieferten sich Straßenkämpfe - vor allem in armen Vierteln, aber auch in den Cities. Noch bedrohlicher waren die wochenlangen Unruhen, die im Herbst 2005 Frankreichs Vorstädte erschütterten. Teilweise herrschte Bürgerkriegsstimmung. Es zeigte sich, dass in der Welt der Ausgegrenzten eine explosive Situation leicht entstehen kann. Als Zündfunke wirkten etwa vermutete oder tatsächliche Polizeiübergriffe. OT (Seidel-Schulze): Kein Job, keine Bildung, keine Zukunftsperspektiven - da verselbständigen sich diese Unruhen. Sprecherin: Aktiv waren überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund. Politische Forderungen formulierten sie kaum. Manche handelten aus elementarer Wut über ihre Lebensbedingungen, andere aus dem Wunsch nach einem kurzen Gefühl von Macht oder nach hastiger Bereicherung. Atmo: Ansprache von J. Chirac 2005 Sprecher: Die Antwort des Staates - hier Präsident Jacques Chirac 2005 - wirkte in Frankreich wie in England oft hilflos. Diffamierung und umstandslose Repression riefen noch mehr Gewalt hervor. Immer wieder griffen Protestierende die Bemerkung des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy auf, die Ghettos müssten mit einem Hochdruckreiniger gesäubert werden: Atmo 3A: N. Sarkozy: "on va nettoyer au Kärcher la cité" Sprecher: Den Unruhen folgten schwungvolle Versprechungen der etablierten Politik und meist nur symbolische Verbesserungen. An den Grundproblemen Arbeitslosigkeit und Armut hat sich bis heute wenig geändert. Wahrscheinlich sind die Gewaltpotentiale in Paris oder London nicht geringer geworden. Atmo: Unruhen in London 2011 Sprecherin: Welchen Hintergrund haben violences urbaines oder ghetto riots - Großstadtunruhen, Ghettounruhen - in reichen Ländern ? Die Sozialwissenschaftlerin Antje Seidel-Schulze vom Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin hebt hervor ... OT (Seidel-Schulze): ... dass das Gefühl des Nichtdazugehörens zu diesen Unruhen geführt hat. Ein Gefühl der Ungleichwertigkeit ist ein Zeichen sozialer Desintegration. Sprecher: Mit der Ausbreitung von Massenarbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung seit den siebziger Jahren hat überall in Europa die Armut massiv zugenommen - in der Bundesrepublik von 9 auf 15 Prozent der Bevölkerung. Migranten waren besonders stark betroffen. In den Großstädten konzentrierten die Armen sich in Hochhaussiedlungen am Stadtrand oder in alten Arbeitervierteln in den Innenstädten. Atmo: Belebte Strasse, Stimmen von Passanten (deutsch, türkisch) OT (Scheuermann): Du kommst ja aus dem Jungbusch - also bist du ein Looser. Sprecher: Typisch für den Alltag in den Armutszonen sind schlechte Wohnbedingungen, versagende Schulen, überdurchschnittlicher Drogenkonsum und Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen. OT (Tan): (lacht) Rede bitte Deutsch mit mir, du Kanake ! Musikakzent Sprecher: Zum Beispiel: Mannheim-Jungbusch. Atmo: Strasse, spielende Kinder (verschiedene Sprachen) OT (Scheuermann): Wenn man den Jungbusch betritt, fällt zunächst einmal auf, dass sehr schöne Fassaden aus der Gründerzeit da sind. Es ist sehr viel Leben auf der Straße, sehr viele Kinder und Jugendliche. Sprecherin: Michael Scheuermann, Quartiersmanager. Der Jungbusch - am Zusammenfluss von Neckar und Rhein, nicht weit von der schicken Mannheimer City - ist das frühere Hafenviertel der Stadt. Es gibt imposante alte Lagerhäuser und eine neuangelegte attraktive Uferpromenade. Und nicht nur das: OT (Kremer) [Atmo Straße]: Wir haben in der Jungbuschstraße 18 die "Orientalische Musikakademie Mannheim", wo orientalische Musik auf höchstem Niveau gelehrt wird und die anerkannt ist in ganz Europa. Sprecherin: Olaf Kremer engagiert sich im "Bewohnerverein Jungbusch". Er arbeitet in einem Lokal. Er hebt immer wieder die positiven Seiten des Quartiers hervor - aber die Probleme sind unübersehbar: OT (Kremer): Der Platz an der Beil- und Böckstraße ist ein bisschen Dreh- und Angelpunkt für Leute rumänischer und bulgarischer Herkunft, die in sehr beengten Wohnverhältnissen leben - teilweise mit 8 erwachsenen Personen in einer Dreizimmerwohnung, zuzüglich Kindern. Die Leute gehen lieber nach draußen. OT (Scheuermann): In den letzten Jahren wurden zahlreiche Häuser saniert. Andererseits ist immer noch ein hoher Bestand an Häusern mit einem gewaltigen Sanierungsrückstand da. Wir haben Plätze - dort haben wir klar sichtbare Armutsphänomene - Menschen, die dort übernachten oder die dem Alkohol verfallen sind. So dass Familien sagen, sie lassen ihre Kinder dort nicht hin. Sprecher: Zum Beispiel: Berlin-Neukölln. Atmo: Café: Musik, vielsprachige Unterhaltung OT (Weber): Es ist unheimlich viel los. Wenn man in einem kleinen Café sitzt, begegnet man in zwei Minuten fünfzig Nationalitäten ... (lacht). Sprecherin: Luzia Weber, Quartiersmanagerin für das Gebiet um den Reuterplatz in Neukölln. Das Bild dort bestimmen einfache Mietshäuser aus der Zeit um 1900. Am Rand des Viertels verlaufen zwei teils ärmlich, teils farbig und anziehend wirkende Einkaufsmeilen: die Sonnenallee - das Zentrum der arabischen Community in Berlin - und der Kottbusser Damm. Die unscheinbaren Seitenstraßen werden durch etliche Studentenlokale lebendiger. Sprecher: Zum Beispiel: Duisburg-Hochfeld. OT (Tan): Seit 1999 bin ich in Hochfeld - und da geht es nur bergab. Weil die Leute ghettomäßig in eine Siedlung gepresst sind. Sprecher: Nevzat Tan, Bauarbeiter, ist türkischer Herkunft. Er war lange arbeitslos. OT (Tan): Die Jugendlichen - die haben keine Perspektiven, die machen nur schlechte Sachen. Sprecher: Hochfelds Boulevard, die Wanheimer Straße, macht mit seinen kleinen Geschäften und Lokalen - zum Teil unter Arkaden - einen nahezu südländischen Eindruck. An die besseren Zeiten des Viertels erinnern die monumentalen meist still gelegten Industrieanlagen, die hinter den verfallenden alten Straßenzügen aufragen. Sprecherin: In fast allen größeren Städten Deutschlands haben sich seit den siebziger Jahren Armutszonen ausgedehnt - einige sind, wie Hochfeld und Neukölln, inzwischen ziemlich bekannt. Manchmal geht es um einzelne Wohnblöcke oder Strassenzüge, manchmal um weiträumige Stadtteile. In dieser düsteren Welt wohnen vier oder fünf Millionen Menschen. "Soziale Brennpunkte" finden sich besonders im Ruhrgebiet, in Berlin und im Saarland - aber durchaus auch in reichen Städten wie Hamburg, München oder Frankfurt am Main. Musikakzent Sprecher: Armutszonen: Weg von hier ? OT (Tan): Ich musste betteln um Arbeit - wie ein Bettler. Ich sehe keine Zukunft mehr. OT (Weber): Wir haben mit Schlagzeilen zu tun gehabt wie "Ghetto Neukölln", "Endstation" ... Sprecherin: Mit der zunehmenden räumlichen Konzentration armer Menschen breiten sich in den deutschen Armutszonen Verbitterung und Hoffnungslosigkeit aus. Antje Seidel-Schulze: OT (Seidel-Schulze): Auf jeden Fall werden Jugendliche andere Vorbilder haben. Sie werden nicht sehen, dass die Eltern jeden Morgen die Wohnung verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Je benachteiligter ein Stadtteil ist, desto mehr wird dieses Umfeld den Takt fürs Leben vorgeben. Sprecherin: Noch leben in den meisten benachteiligten Vierteln auch viele Durchschnittsverdiener - sie gelten als wichtig für die soziale Stabilität. Aber gerade diese Gruppe wurde in den letzten zehn Jahren immer kleiner. Die Quartiersmanagerin Luzia Weber über Neukölln-Nord: OT (Weber): Was man nach wie vor feststellen kann, ist, dass Familien - sobald die Kinder in die Schule kommen - wegziehen. Atmo : Kinder auf dem Schulhof Sprecher: Die Schulen sind oft völlig überfordert. Die Expertin vom Deutschen Institut für Urbanistik verweist zum Beispiel darauf ... OT (Seidel-Schulze): ... dass auch viele Kinder aus deutschen Familien bei den Schuleingangsuntersuchungen nicht mehr die Sprachfähigkeiten aufbringen, die sie benötigen, um in eine erste Klasse zu gehen. Sprecher: Mariam Atriss, 15, libanesischer Herkunft, wohnt in Berlin-Moabit, einem verarmten Viertel am Rand der City. Sie besucht eine Realschule. OT (Atriss): Viele Lehrer stellen sich krank, die wollen uns nicht mehr unterrichten. Es kamen Lehrer, haben mit uns darüber gesprochen, dass es nicht mehr so weiter geht - dass die Klasse ununterrichtbar ist. Sprecher: Viele Jugendliche verlassen die Schulen der "vergessenen" Stadtteile ohne Abschluss. OT (Yildizkan): Da gibt es die Drogenprobleme von den Jugendlichen, Spielsucht haben wir hier. Sprecher: Israfil Yildizkan, Verwaltungsangestellter, lebt in der Spandauer Neustadt, einem teilweise sichtbar heruntergekommenen Altbauviertel an der Periferie Berlins. Aber es gibt nicht nur den Niedergang und die chronische Krise. So arbeiten einzelne Schulen in den armen Stadtteilen verblüffend erfolgreich. Auch an der Realschule von Mariam Atriss hat sich etwas geändert: OT (Atriss): Wir haben eine Lehrerin, die ist neu. Seit sie da ist, ist der Unterricht anders. Ich sag mal so: Sie ist die erste, die uns gelobt hat. Sie sagt, ihr könnt es schaffen und dann haben wir auch wieder Bock mitzumachen. Musikakzent Sprecher: Armutszonen: Vom Mit-, vom Neben- und vom Gegeneinander Atmo : Gäste in einem türkischen Lokal OT (Kremer) [Atmo Straße]: Das ist die türkische Moschee - eine der größten, die wir in Europa haben. Innen ist Raum für über 2000 Personen. Man findet da eine große Offenheit. Sprecherin: Olaf Kremer, gläubiger Katholik, berichtet von einem unaufgeregten Zusammenleben in Mannheim-Jungbusch. Auch über den Mädchentreff "Dünja" in der Jagowstraße in Berlin-Moabit sagt Mariam Atriss: OT (Atriss): Hier im "Dünja" ist es gemischt, hierher kommen türkische, arabische, albanische, deutsche Mädchen - aber wir verstehen uns gut hier eigentlich. OT (Yildizkan): Die Vorurteile müssen weg. Ein Volk - können wir schaffen. Kein Hass ! Sprecherin: Israfil Yildizkan, der 1988 aus der Türkei kam, ist im Quartiersrat der Spandauer Neustadt aktiv. Er hat dort interkulturelle Events mit viel Publikum organisiert, zum Beispiel Fotoausstellungen und Literaturlesungen. Aber Unverständnis und selbst Feindseligkeit zwischen Menschen mit unterschiedlichem ethnischem Hintergrund sind nicht gerade selten. Von ihren Erfahrungen auf einer Hauptschule in Duisburg-Hochfeld erzählt Sema Rodoslu, gelernte Zahnarzthelferin, türkischer Herkunft: OT (Rodoslu): Damals wollte ich das Kopftuch mal tragen. Als ich in der Klasse war, hat der Lehrer uns - wir waren zwei Mädchen, direkt am Pult - nach hinten geschickt. Der hat gesagt "Nein, ich möchte keine hier haben. Entweder ihr zieht das aus oder ihr könnt euch nach ganz hinten setzen". Danach hab ich das Kopftuch weggelassen. Sprecherin: Nevzat Tan - ebenfalls aus Hochfeld - fühlte sich mehrere Male auf Behörden abschätzig behandelt: OT (Tan): Als ich draußen vor der Tür war, da hab ich so geheult ... Die haben mich so erniedrigt ... Das hat mir so weh getan. Sprecher: Die vielfältigen Erscheinungsformen sozialer Desintegration in den armen Stadtteilen begünstigen eine beiläufige, fast als selbstverständlich empfundene Gewalt. Musikakzent Sprecher: Armutszonen: Wehr dich, du Opfer! OT (Kremer): Vorsicht - bist du auch bewaffnet? Weil, sonst kommst du da nicht mehr raus! Sprecher: Olaf Kremer macht sich ein bisschen lustig über die Furcht mancher Menschen vor einem Besuch in Mannheim-Jungbusch. Aber nicht alle Besorgnisse sind übertrieben. Sema Rodoslu aus Duisburg-Hochfeld: OT (Rodoslu): Die Kinder direkt von der Schule abholen ist besser als wenn sie selber nach Hause gehen. Um die Ecke - da gibt es auch sehr viele Spritzen auf der Straße. Das finde ich auch nicht schön. Sprecher: Die materiellen Einschränkungen und der Stress im Alltag gerade junger Menschen in Deutschlands verarmten Stadtteilen sind erschreckend. In ganz Berlin leben fast 40 Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze - in manchen "Problemvierteln" über 70 Prozent. Oft erleben sich Arme als ausgeschlossen und einer gleichgültigen Sozialbürokratie ausgeliefert. Dass solche Unzufriedenheit sich in aggressivem Verhalten entlädt, ist nicht überraschend. Sprecherin: Über Erfahrungen mit Gewalt berichten viele Bewohnerinnen und Bewohner. OT (Rodoslu): Es gibt Leute - meistens Männer (lacht) -, die denken, dass sie das Gesetz sind, dass sie machen können, was sie wollen. Sprecherin: Wirklich zuverlässige Statistiken zur Kriminalität in den Armutszonen existieren nicht - ebenso wenig zu Straftaten einzelner Bewohner anderswo. Einigermassen sicher ist, dass Raub, Körperverletzung und Drogendelikte überdurchschnittlich oft vorkommen. Von einer sensationellen Kriminalitätsbelastung - wie die Boulevardmedien sie suggerieren -, von "no go areas" kann aber nicht die Rede sein. Verbreitet ist Gewalt "niedriger Intensität", unterhalb der Schwelle von Kriminalität - in Familien, in Schulen, auf den Straßen. Auch Actionfilme, Nachmittagsshows oder Rap-Musik propagieren nicht nur gelegentlich verbale Aggressivität und drohendes Auftreten. Mariam Atriss aus Berlin-Moabit: OT (Atriss): Als ich in die Schule kam, war das alles neu für mich. Das war erst einmal ein Schock. Wieso sind die so respektlos gegenüber den Lehrern? Aus anderen Schulen kamen Jungs, haben fast eine Lehrerin geschlagen. Dann kam auch noch mal die Polizei. Es gab viele Fälle. Für mich ist es sehr stressig, es nervt mich persönlich, wenn die Schüler so drauf sind, die Lehrer fertig machen. Wenn ich ein Kind hätte, würde ich es nicht auf diese Schule schicken. Sprecherin: Die gefühlte Bedrohung ist in den armen Stadtteilen im Lauf der Jahre sicher größer geworden. Sema Rodoslu: OT (Rodoslu): Damals gab es bei uns die Furcht nicht, wenn man auf der Straße gegangen ist - auch abends nicht oder nachts. Wir hatten keine Angst irgendwo hinzugehen. Aber jetzt würde ich mich nicht trauen, alleine spät als Frau ... Sprecher: In Deutschlands vergessenen Stadtteilen nehmen Armut und der Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts seit langem zu, Kinder und Jugendliche verlieren die Hoffnung auf ein materiell gesichertes und selbstbestimmtes Leben. Aber die Politik versuchte auch, den Niedergang aufzuhalten. Musikakzent Sprecher: Armutszonen: Das Programm "Soziale Stadt" OT (Scheuermann): Dieser Stadtteil ist im freien Fall nach unten - wir müssen den aufhalten, dem etwas entgegensetzen. OT (Weber): Mit "Soziale Stadt" hat man hier sehr, sehr viel bewegen können. Sprecherin: Vor allem das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" machte sich seit Ende der neunziger Jahre an die "Reparatur" der Armutszonen. Etwa drei Milliarden Euro wurden dafür ausgegeben. Die Quartiersmanagerin Luzia Weber aus Berlin-Neukölln: OT (Weber): Eine Aufwertung des öffentlichen Raumes - das ist etwas, das bleibt. Jede Grünfläche ist hier im Rahmen von "Soziale Stadt" verschönert worden. Sprecherin: Michael Scheuermann aus Mannheim berichtet: OT (Scheuermann): Das Programm "Soziale Stadt" hat im Jungbusch an die 10 Projekte finanziert, mit jeweils 60 Prozent - Projekte, von denen Kinder und Jugendliche profitiert haben, von denen Frauen profitiert haben. OT (Kremer) [Atmo Straße]: Dann haben wir in der Jungbuschstraße 19 das Gemeinschaftszentrum mit dem Bewohnerverein, der seine Räume verschiedenen Musik- und Tanzgruppen zur Verfügung stellt...Jetzt sind wir in der Werftstraße - da ist ein großer Spielplatz. Er wurde komplett überarbeitet - mit Hilfe der Bewohner. An den Diskussionen haben teilweise 150 bis 200 Personen teilgenommen. Sprecherin: Olaf Kremer vom Bewohnerverein. Durch das Programm erlebten Hunderte verarmte Stadtviertel eine sichtbare Verbesserung des Wohnumfelds, es entstanden neue Bildungs- oder Freizeitangebote - gerade auch für Migrantinnen und Migranten. Atmo: [Israfil Yildizkan im Gespräch mit der Quartiersmanagerin Ulrike Herrmann über eine geplante Literaturlesung in einem Frisiersalon] Sprecher: Die Ziele von "Soziale Stadt" waren allerdings recht begrenzt. Fehlende Arbeitsplätze und Niedriglöhne waren kein Thema. OT (Weber): Das ist genau die Frage - dass mit dem Programm "Soziale Stadt" Armut nicht beseitigt werden kann. Sprecher: In den meisten geförderten Quartieren nahm die Armut sogar zu - allein schon wegen des langfristigen Anstiegs der Armutsquote in Deutschland insgesamt und wegen des anhaltenden Wegzugs von Durchschnittsverdienern. OT (Scheuermann): Mit Sicherheit ist die Zahl der Menschen in Armutssituationen, die im Jungbusch leben, nicht geringer geworden. Sprecher: Dennoch - "Soziale Stadt" hat lange Jahre zur Stabilisierung der benachteiligten Stadtteile in Deutschland beigetragen. OT (Weber): Ich glaube, dass dieses Programm, diese Städtebau-Fördermittel ein wesentlicher Punkt sein können für den sozialen Frieden. Musikakzent OT (Scheuermann): Wir hatten 2010 an die 120 000 Euro Zuschuss aus dem Bund-Länder Programm bekommen. Von der Gesamtfinanzierung des Gemeinschaftszentrums machte das vielleicht ein Drittel aus. Momentan sind es noch 30 000 Euro - nächstes Jahr null. Sprecherin: Seit 2011 wird bundesweit das Programm "Soziale Stadt" drastisch "zurückgefahren". Die Wissenschaftlerin Antje Seidel-Schulze: OT (Seidel-Schulze): "Soziale Stadt" jetzt runterzukürzen ist fatal. Sprecherin: Olaf Kremer befürchtet für Mannheim-Jungbusch: OT (Kremer): Dann hätte das wahrscheinlich die Auswirkung, dass Randgruppen eher eine Chance haben, sich weiter abzuschotten. Die würden stärkeren Zulauf bekommen - so dass wir dann wirklich eine Parallelgesellschaft bekommen. OT (Seidel-Schulze): Ich mag das gar nicht glauben und zu Ende denken, dass man sagt: "Ihr seid uns egal". Sprecherin: Ein Ausgleich für die Kürzungen etwa durch kommunale Mittel ist unwahrscheinlich - schließlich zeichnet sich für die meisten Großstädte auf Jahre hinaus ein straffer Sparkurs ab. Ziemlich sicher werden sich die Lebensbedingungen in den Armutszonen verschlimmern. Auch Israfil Yildizkan aus Berlin-Spandau hält "Sparen um jeden Preis" für kurzsichtig: OT (Yildizkan): Natürlich ist es gefährlich. Wenn es nicht funktioniert - in zehn Jahren kann man nicht mehr hier leben. (lacht) Flüchten ! Wie kann man weg hier ? MUSIKAKZENT Sprecher: Armutszonen: Zunder und Funken OT (Yildizkan): Wir haben die Situation in Frankreich erlebt. Wenn niemand was macht, ist in zehn Jahren das gleiche Problem in der Spandauer Neustadt oder in Neukölln. Dann ist es zu spät. OT (Rodoslu): Es kann auch hier kommen. (lacht) Es kann auch hier so was passieren. Das ist möglich. OT (Weber): Ein Gewaltpotential gibt es auf jeden Fall. Atmo: "1. Mai-Unruhen" in Berlin Sprecher: Es gab doch schon Unruhen? Seit Mitte der achtziger Jahre kehrte ziemlich berechenbar der "1. Mai-Aufruhr" in Berlin-Kreuzberg und nahegelegenen Vierteln wieder. Demonstrationen von Linksautonomen gingen teilweise über in "Randale" unpolitischer Jugendlicher. Allerdings ist wegen eines hohen Anteils von Studenten und Kulturschaffenden Kreuzberg keine typische Armutszone. Sprecherin: Anderswo kam es bisher allenfalls zu kleineren Zwischenfällen, etwa wenn Gruppen von Einwohnern Polizeieinsätze wegen Alltagskriminalität behinderten. Nur - könnte die Ruhe sich irgendwann als trügerisch erweisen? Antje Seidel- Schulze: OT (Seidel-Schulze): Ich glaube, dass die soziale Kluft in Deutschland nicht Ausmasse angenommen hat, wie es in England ist - weil Deutschland immer noch eine Art von Grundsicherung anbietet. Sprecherin: Bisher sind die Lebensverhältnisse in Deutschlands Armutszonen erträglicher als in denen Frankreichs und Englands. In Vierteln wie Hochfeld oder dem Jungbusch wohnen auch relativ viele Durchschnittsverdiener, Häuser und Infrastruktur sind in besserem Zustand, die Kriminalitätsbelastung ist geringer - vor allem liegt die Jugendarbeitslosigkeit erheblich niedriger. Olaf Kremer aus Mannheim-Jungbusch: OT (Kremer): Meine Frau ist Tagesmutter, ich arbeite hier im Café - wir bekommen beide ergänzend "Hartz IV". Man kann noch nicht sagen, dass man dann "vegetiert". Sprecherin: Der Quartiersmanager Michael Scheuermann: OT (Scheuermann): Es müsste einiges zusammen kommen, damit sich eine solche Unruhe hier zeigt. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das nicht für wahrscheinlich. Atmo : Eine Glasscheibe wird eingeschlagen Sprecher: Es fallen aber auch genug Ähnlichkeiten mit armen Vierteln im Ausland auf: Schulen, die sich selbst aufgegeben haben, ethnische Spannungen, alltägliche Gewalt, die verbreitete Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung. Die Quartiersmanagerin Luzia Weber aus Neukölln erwähnt mit Blick gerade auf junge Migrantinnen und Migranten ... OT (Weber): ... dass sie sich bei der Wohnungssuche, bei der Arbeitssuche mit Vorurteilen konfrontiert sehen. Jugendliche, die von der Gesellschaft im Stich gelassen worden sind oder die sich zumindest so fühlen - wenn man im Hintergrund diese Fremdenfeindlichkeit hat, aber auch geringere Chancen der Bildung. Wenn man alles zusammenzählt, sind die Jugendlichen in den benachteiligten Quartieren besonders betroffen und vielleicht auch anfällig für Extreme. Sprecher: Auch Nevzat Tan aus Duisburg-Hochfeld, der seit 1972 in Deutschland lebt, macht immer noch schlechte Erfahrungen: OT (Tan): Wenn man so viele Jahre hier ist, wird man wie das Letzte behandelt. Sprecher: Über das Risiko größerer Unruhen in Deutschland lässt sich nur spekulieren. In den anderen Ländern kam es stets überraschend zu den Gewaltausbrüchen. 2005 in Frankreich und 2011 in England blieb es - ebenfalls irritierend - in zahlreichen Vierteln mit bekannten sozialen und Gewaltproblemen ruhig. Zu einer Eskalation in den armen Stadtteilen Berlins, Duisburgs oder Mannheims führen könnte die für die nächsten Jahre angekündigte entschiedene Sparpolitik. Unmittelbare Auslöser von Unruhen könnten Polizeiübergriffe oder rechtsradikale Anschläge werden. Atmo : Unruhen in London 2011 Musikakzent OT (Sei del-Schulze): Die Armen an den Stadtrand verdrängt zu haben, hat sich entladen in diesen Unruhen. Sprecherin: In London zeigte sich 2011, dass in Konflikten um "Gentrifizierung" ein beachtliches Gewaltpotential steckt - auch in vermeintlichen "multikulturellen Vorzeigevierteln". Gentrifizierung - der Begriff ist abgeleitet vom englischen "gentrification" - bedeutet eine Aufwertung armer Wohngegenden in der Nähe der City, wenn Besserverdienende sie für sich entdecken. Modernisierung oder Abriss und Neubau von Häusern bringen Mietsteigerungen - und damit eine Verdrängung bisheriger Bewohner. Luzia Weber: OT (Weber): Das Negativszenario wäre, dass es hier eine ungesteuerte Verdrängung gibt - so dass das ein Stadtteil wird, in dem ärmere Schichten keinen Platz mehr haben. Atmo: Publikum in einer Bar Sprecherin: "Erschlossen" werden solche Altbaugebiete - wie das Reuterquartier in Berlin- Neukölln oder der Jungbusch in Mannheim - oft von "Kreativen". OT (Scheuermann): In den letzten Jahren hat der Jungbusch Zulauf bekommen von jüngeren Deutschen - Studierende, Künstler. Es haben sich im Stadtteil niedergelassen Designer, Fotografen, Werbeleute ... Sprecherin: In den Armutszonen der deutschen Großstädte laufen erst ganz vereinzelt solche Entwicklungen - unter anderem in Berlin und Hamburg. Eine beschleunigte Gentrifizierung aber könnte zum Katalysator von Unruhen werden, die dann auf andere Stadtteile übergreifen. Antje Seidel-Schulze geht zumindest für die deutschen Metropolen davon aus ... OT (Seidel-Schulze): ... dass wir ein weiteres Auseinanderdriften der Stadtteile haben werden und dass es politischer Interventionen bedarf und noch lauterer Rufe, dass dem entgegengewirkt werden muss. Musikakzent OT (Yildizkan): (lacht) Wir rufen den Politikern zu "Aufwachen!" Sprecher: Wie geht es weiter mit Deutschlands armen Stadtteilen? Ein Ende der massenhaften Armut ist nicht in Sicht. Die räumliche Konzentration armer Menschen nimmt sogar zu. Durch die "Welt der Verlierer" verlaufen gleichzeitig fühlbare "ethnische" Trennlinien. Viele Jugendliche leben in einer Stimmung der Hoffnungslosigkeit. Das Programm "Soziale Stadt" war gewissermaßen ein Signal "Ihr seid nicht vergessen". Zu den radikalen Kürzungen meint Luzia Weber: OT (Weber): Das ist ja eine Haltung mit fatalen Folgen, wie man in Frankreich oder England gesehen hat, als die Vorstädte gebrannt haben. Ich würde mir wünschen, dass die Städtebaufördermittel sogar aufgestockt werden. Sprecher: Noch überwiegen die Unterschiede zwischen Deutschland und den anderen Ländern - aber immer mehr beunruhigende Gemeinsamkeiten fallen auf. Michael Scheuermann hebt hervor ... OT (Scheuermann): ... wie brüchig trotz allem Positiven dies Ganze ist - und wie schnell ein positives Klima kippen kann. Sprecher: Über das Risiko von Unruhen sagt Antje Seidel-Schulze: OT (Seidel-Schulze): Ausschließen kann man das sicher nicht, da wir auch in Deutschland eine große Gruppe von desintegrierten Jugendlichen haben, auch Menschen die einfach benachteiligt sind. Musikakzent Sprecher: "Flüchten! Wie kann man weg von hier?" Vom Leben in deutschen Armutszonen Eine Sendung von Winfried Roth Es sprachen: Michael Evers, Jana Horstmann Ton: Gunda Herke und Barbara Zwirner Regie: Roman Neumann Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 22