COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 28.Juni 2010, 19.30 Uhr Das letzte Tabu Wie viel Reichtum gibt es in Deutschland? Von Winfried Roth Musikakzente: aus Sergej Prokofjew, "Toccata für Klavier" op. 11 OT 1 (Huster): Wir haben eine unglaublich hohe Vermögenskonzentration in der Bundesrepublik. Die oberen fünf Prozent verfügen über 46 Prozent aller Vermögenswerte. Und das oberste eine Prozent kommt auf sage und schreibe 23 Prozent. Sprecher: Professor Ernst-Ulrich Huster von der Evangelischen Fachhochschule Bochum. OT 2 (Werkhäuser): Mir war nicht klar, dass letztendlich sich der größte Teil des Vermögens so stark auf so wenige Leute konzentriert. Ich glaube, dass da ganz viel Information fehlt. Sprecher: Marion Werkhäuser, Rechtsanwaltsgehilfin aus Frankfurt am Main. OT 3 (Bontrup): Eine zusammenfassende Darstellung haben wir leider in Deutschland nicht. Da existieren doch beachtliche Lücken. Sprecher: Professor Heinz Bontrup von der Fachhochschule Gelsenkirchen. OT 4 (Lehmkuhl): Hinsichtlich vermögensbezogener Steuern ist Deutschland eine Steueroase. Sprecher: Dr. Dieter Lehmkuhl von der "Initiative Vermögender für eine Vermögensabgabe". Sprecher vom Dienst: Das letzte Tabu Wie viel Reichtum gibt es in Deutschland? Eine Sendung von Winfried Roth Sprecher: Kein Tag vergeht in Deutschland, ohne dass die Bevölkerung zum Verzicht aufgefordert wird - auf Löhne, Sozialleistungen oder andere staatliche Angebote. Nur so könnten Investitionen, Arbeitsplätze, die Handlungsfähigkeit des Staates und die Zukunft der Sozialsysteme gesichert werden. Um alle gerecht belasten zu können, müsste man wissen, wer wie viel hat. Für Statistik und Sozialwissenschaft in diesem Land gibt es bestimmt keine Tabus. Sollte es doch eines geben, ist es offenbar die Einkommens- und Vermögensverteilung. Sicher ist: Deutschland ist ein überaus reiches Land. Ebenso sicher ist: dieser Reichtum ist äußerst ungleich verteilt. Allerdings weiß man kaum Genaueres. Es geht nicht nur um die Frage: wer soll auf wie viel verzichten? Vermögen sind entscheidend für das gesellschaftliche Gefälle. Und die Interessen der Vermögenden sind richtungweisend für wirtschaftliche, aber auch viele politische Entscheidungen. OT 5 (Werkhäuser): Das hat ja nicht damit zu tun, dass man reich ist und sich was Schönes kauft. Das ist ja eine Herrschaftsdimension. Sprecher Über Jahre erklärten die meisten Politiker und Politikerinnen eine Entlastung der Besserverdienenden und Vermögenden für vordringlich. Das sei im Interesse aller. Aber blieb womöglich der Nutzen für alle aus? OT 6 (Huster): Es fehlt eine klare Auftragslage für eine Erforschung dieser Gebiete. Sprecher: Ernst-Ulrich Huster ist einer der bekanntesten Experten für das Thema "soziale Polarisierung". Wir leben doch, so heißt es immer, in der "Informationsgesellschaft". Die staatliche Statistik beschäftigt Tausende von hochqualifizierten Menschen und findet durchaus die Zeit, Birnbäume oder importierte Autoreifen zu zählen. Den Reichtum in Deutschland allerdings - zum Beispiel das Geld-, Immobilien- oder Produktivvermögen - betrachtet sie mit verblüffendem Desinteresse. Die Konzentration des Reichtums bei einer kleinen Elite wird geradezu systematisch unterbewertet. OT 7 (Bontrup): Der Staat ist auf solche Veröffentlichungen angewiesen - sonst kann er keine adäquate Wirtschaftspolitik betreiben. Sprecher: Heinz Bontrup ist einer der Sprecher der gewerkschaftsnahen Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Nachdrückliche Fragen nach den materiellen Verhältnissen von Durchschnittsverdienern, wie sie etwa das Finanzamt stellt, erregen wenig Aufsehen. Löhne und Gehälter - klassische Leistungseinkommen - stehen in der Öffentlichkeit ständig zur Diskussion. Erörterungen über die Zahl der Brotscheiben oder T-Shirts, die "Hartz IV"-Beziehern zustehen, erscheinen keineswegs als kaltschnäuzig, sondern als völlig legitim - oder sogar als dringend notwendig. Fragen nach Dimensionen und Verteilung des Reichtums erscheinen dagegen leicht als Ausdruck von Neid. Es herrscht eine schwer begreifliche Scheu vor der Beschäftigung mit dem Reichtum jenseits des Showgeschäfts. Die gut verdienende Anwaltsgehilfin Marion Werkhäuser meint: OT 8 (Werkhäuser): Man könnte es andersherum als Sozialgeiz bezeichnen - dass diejenigen, die mehr haben, nicht teilen wollen. Ich glaube, dass das eigentlich eine Abgrenzung von oben nach unten ist und nicht umgekehrt. Sprecher: Selbst die vorliegenden nur bruchstückhaften Informationen zur Vermögensverteilung sind aufregend. Dennoch werden sie von den Wirtschaftspolitikern weitgehend ausgeblendet. Finden die Debatten über den "schmerzhaften Verzicht", die "notwendige Entlastung der Sozialsysteme" und die "finanzielle Überforderung des Staates" auf statistischem Glatteis statt? OT 9 (Huster): Es ist schon sehr deutlich, dass die Gesellschaft sich stärker polarisiert. Sprecher: Fünf Prozent der Bundesbürger und -bürgerinnen verfügen - höchstwahrscheinlich - über mehr Geld- und Sachvermögen als die restlichen fünfundneunzig Prozent zusammen? Noch dazu bezahlt diese Elite kaum Steuern auf ihren Reichtum? Ausgeschlossen? Die unauffälligeren zwei Drittel der Deutschen besitzen nicht einmal zehn Prozent des gesamten Vermögens? Die schiefe Vermögensverteilung könnte sich als riskant für die Entwicklung unserer Gesellschaft erweisen. Aber sie wird erstaunlich gleichgültig hingenommen. Trotz aller Vorbehalte - zu einer Dämonisierung von Reichtum besteht kein Anlass. Vielleicht haben die Vermögenseliten übermäßigen Einfluss auf die wirtschaftliche und auch die politische Entwicklung. Aber sie werden nicht in erster Linie von Gier oder schlechten Absichten getrieben - sie folgen einfach den Zwängen und Chancen der Marktwirtschaft. MUSIKAKZENT OT 10 (Lehmkuhl): Mein Vermögen beträgt etwa 1,6 Millionen Euro. Ein Großteil ist angelegt in Wertpapieren. Sprecher: So offen wie Dieter Lehmkuhl, Arzt im Ruhestand, sprechen nur wenige über ihr Vermögen. Warum weiß man so wenig über den Reichtum in Deutschland und seine Verteilung? Reiche scheuen meist die Öffentlichkeit - wegen möglicher Belästigung durch Boulevardreporter, durch Bettelei oder auch nur durch schräge Blicke auf der Straße. OT 11 (Lehmkuhl): Ich kann einen Grund akzeptieren - wenn Vermögende bekannt sind, kann es Anreiz für Entführungen sein. Sprecher: Aber es könnte auch andere, weniger überzeugende Gründe für Diskretion geben - etwa das Ausweichen vor kritischen Fragen. OT 12 (Werkhäuser): Ich glaube, die sind ganz im Hintergrund und lenken über ihre Aktienpakete die Schicksale der Republik. Die wollen nicht bekannt sein. Sprecher: Die staatliche Statistik respektiert in hohem Maße solche Wünsche. Gerechtfertigt werden die massiven Wissenslücken über die Vermögensverteilung unter anderem mit dem Datenschutz für Minderheiten und mit den Kosten genauerer Analysen. OT 13 (Bontrup): Das ist eine Schutzbehauptung. Wenn man das will, geht das alles. Nur - ich habe fast den Eindruck, man will es nicht. Sprecher: Natürlich gilt Datenschutz auch für Reiche und Superreiche. Bei einer so kleinen Gruppe ist eine Verletzung der Privatsphäre besonders folgenschwer. OT 14 (Werkhäuser): Ich frage mich - wie ist denn mein Datenschutz? Über mich darf das Finanzamt alles wissen. Und ich kann mich dem nicht verweigern. Warum haben diese Leute einen anderen Anspruch auf Privatsphäre als ich? Sprecher: Arme unterliegen - zumindest wenn sie öffentliche Unterstützung in Anspruch nehmen - einer dichten staatlichen Kontrolle. Daher weiß man über Armut wesentlich mehr als über Reichtum. Könnte man auch mehr über Reichtum wissen? Handelt es sich vielleicht sogar um einen Fall von gewolltem Unwissen? OT 15 (Lehmkuhl): Ich halte sehr viel von Transparenz und ich denke, Transparenz ist Voraussetzung für Demokratie. Sprecher: Wie entsteht das Bild von der Verteilung der Vermögen in Deutschland mit seinen vielen leeren Flächen? Die wichtigsten Daten liefern das Statistische Bundesamt und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Bei der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamts werden alle fünf Jahre bei mehreren zehntausend Haushalten unter anderem Informationen über die privaten Vermögen erfragt und repräsentativ hochgerechnet. OT 16 (Bontrup): Die Hauptquelle ist sicherlich die Veröffentlichung des DIW, die in unregelmäßigen Abständen die Vermögensverteilung aufzeigt. So hat das DIW für 2007 die letzte Rechnung aufgemacht. Sprecher: Das sogenannte Sozioökonomische Panel des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, umfasst bis zu 10 000 Haushalte. Vor allem auf Daten aus diesen Untersuchungen stützen sich auch die "Armuts- und Reichtumsberichte", die seit 2001 im Auftrag der Bundesregierung veröffentlicht werden. Heinz Bontrup: OT 17 (Bontrup): Wir Ökonomen sind froh, dass es überhaupt solche Armuts- und Reichtumsberichte gibt. Sie bieten schon einen globalen Überblick. Sprecher: All diese Informationen sind anonymisiert. Durchaus interessant sind daher die Namenslisten von Superreichen, die das Magazin FORBES veröffentlicht. Wie aber kommt es zu den Wissenslücken über die Vermögensverteilung? Bei den Befragungen des DIW und des Statistischen Bundesamtes werden natürlich kaum Menschen aus der kleinen Gruppe der vielfachen Millionäre und der Milliardäre erreicht. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe schließt Haushalte mit monatlichen Einkommen von mehr als 18 000 Euro sogar ausdrücklich aus. Bei diesen Haushalten könnten besonders hohe Vermögen vermutet werden. Ernst-Ulrich Huster weist auf ein noch wichtigeres Problem hin: OT 18 (Huster): Das sind ja alles Daten, die auf Selbstauskunft basieren. Sprecher: Freiwillige Angaben zum Vermögen sind mit äußerster Skepsis zu betrachten. So gibt es auch auffallende Differenzen zu Statistiken der Bundesbank, die das Geldvermögen direkt bei Banken, Bausparkassen usw. erfassen. Dort werden - auch wegen einer unterschiedlichen Definition von Vermögen - wesentlich höhere Summen registriert. Das ist nicht alles: OT 19 (Huster): Das Auslandsvermögen haben Sie da natürlich nicht drin. Es wird niemand bei der Befragung angeben, dass er in der Schweiz 200 000 oder zwei Millionen Euro auf dem Konto liegen hat. Sprecher: Jenseits der Grenzen, der Legalität und der Statistik stauen sich vermutlich Hunderte Milliarden Euro aus Deutschland. Reichtum lagert ferner ganz elementar in Form von Euroschein-Packen, Goldbarren oder Palladiummünzen in deutschen Bankschließfächern: ohne Rendite, aber sicher nicht nur vor dem Interesse diskreter Statistiker, sondern - meistens - auch der Steuerfahndung. Die entscheidende Frage: wie ist das Vermögen in Deutschland verteilt? OT 20 (Huster): Ich kann es vielleicht von der Tendenz her beschreiben. Aber ich kann es mit seriösen Mitteln nicht sagen. Sprecher: Angesichts dieser vielen Wissenslücken erscheint die Vermutung durchaus realistisch, dass fünf Prozent der Deutschen erheblich mehr als die offiziell bekannten 46 Prozent des Vermögens in Deutschland besitzen. OT 21 (Werkhäuser): Ich glaube, das ist nicht okay. Ich glaube, zu Zeiten, wo ein Staat Probleme zu lösen hat, kann er nicht eine kleine Gruppe von Leuten außen vor lassen und sagen - euch schauen wir mal nicht an. Ich glaube, dass der Staat die Aufgabe hat, dahin zu schauen und sich dort zu bedienen. MUSIKAKZENT OT 22 (Lehmkuhl): Es gibt ja ungeheure Vermögen. Meines ist da ein relativ bescheidenes. Sprecher: Dieter Lehmkuhl. Wie reich ist Deutschland? Ist der Eigentümer eines Zweifamilienhauses reich? Welche Formen nimmt Vermögen an? Ohne Zweifel - die Deutschen sind sehr reich. OT 23 (Bontrup): 2007 waren es netto - also nach Abzug aller Schulden - 6,6 Billionen Euro Gesamtvermögen. OT 24 (Huster): In Westdeutschland kommen wir auf etwa 100 000 Euro pro Haushalt, in Ostdeutschland auf 30 000. Sprecher: Nur - diese Durchschnittszahlen verschleiern die äußerst ungleiche Verteilung des Reichtums. OT 25 (Huster): Zwischen 400 000 und 600 000 Bewohner der Bundesrepublik verfügen über hohes Vermögen. Sprecher: Was heißt arm, was heißt reich? Alle Definitionen sind unvermeidlich willkürlich. Im Vergleich zum Kapital eines Großaktionärs bedeutet ein Haus am Stadtrand nicht viel. In der Weltwirtschaftskrise um 1930 hungerten in Deutschland viele Arbeitslose. Heute besitzt wahrscheinlich auch eine "Hartz IV"-Bezieherin einen Computer und ein Mobiltelefon. Ein erfolgreicher Kleinunternehmer in La Paz hat vielleicht einen niedrigeren Lebensstandard als ein "Ein Euro-Jobber" in Berlin. MUSIKAKZENT Sprecher: Wie kann man sich den statistisch erfassten materiellen Reichtum der Deutschen vorstellen? Die letzten Berechnungen beziehen sich auf 2007. Die Vermögensverluste durch die globale Wirtschaftskrise scheinen nicht dramatisch zu sein. So stieg 2009 nach Angaben der Unternehmensberatung Boston Consulting Group die Zahl der Millionärshaushalte in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent auf 430.000. Am meisten wert ist das Immobilienvermögen - also Grundstücke, Häuser, Eigentumswohnungen. Es summiert sich auf drei bis vier Billionen Euro. OT 26 (Werkhäuser): Wir haben eine private Altersvorsorge und einen Sparvertrag für meine Tochter, für ihre Ausbildung. Sicherheit hat für mich einen hohen Stellenwert. Sprecher: Zum privaten Geldvermögen zählen Bankguthaben, Wertpapiere und Ansprüche aus bestimmten Versicherungsverträgen. Der Gesamtwert: mindestens zwei Billionen Euro. Das Produktivvermögen - vom Eiscafé bis zum Stahlwerk, von der Medienholding bis zum Genlabor - umfasst, wieder nach Angaben des DIW, bis zu eine Billion Euro. Hier sind die statistischen Ungewissheiten besonders groß. OT 27 (Werkhäuser): Ich hab mal grob überschlagen, was wir an Werten hier in der Wohnung haben. Das sind nach dem Wiederverkaufswert um die 4000 Euro. Ein Auto hab ich nicht. Sprecher: Die Rechtsanwaltsgehilfin Marion Werkhäuser ist bestimmt nicht arm. Sie verdient an die 4000 Euro, ihre Wohnung ist komfortabel eingerichtet, sie besitzt ein Klavier. Das alltägliche Gebrauchsvermögen der Deutschen - dazu zählen vor allem Autos, Möbel und Unterhaltungselektronik - wirkt gegenüber den anderen Vermögenswerten überraschend unscheinbar. Es kommt nicht einmal eine Billion Euro zusammen, genaue Daten fehlen. Wem gehört wie viel von diesem Universum des Reichtums? MUSIKAKZENT Sprecher: Vermögen sind für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung viel wichtiger als die laufenden Einkommen. Aber schon die Verteilung der Einkommen ist aufschlussreich. Zu viele Zahlen machen nervös. Daher hier nur wenige. Etwa 15 Prozent der Deutschen gelten nach ihrem Einkommen als arm, etwa zehn Prozent als reich. Zu den mittleren Einkommensgruppen gehören ungefähr 80 Prozent der Menschen zwischen Freiburg und Rostock. Eine neue Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die Reichtum und Armut "breiter" als bisher definiert, kommt sogar auf fast 22 Prozent Arme und 19 Prozent Reiche. Auf jeden Fall sind die Einkommen in der Bundesrepublik wesentlich gleicher verteilt als die Vermögen. Allerdings hat in den letzten Jahren die Ungleichheit auch bei den Einkommen spürbar zugenommen. Viele Menschen sind aus den mittleren Schichten in die Armutsbevölkerung abgesunken. Gleichzeitig sind die Einkommenseliten größer geworden. Heinz Bontrup verweist auf ... OT 28 (Bontrup): ... eine Umverteilung, die stattgefunden hat von unten nach oben. Die Arbeitseinkommen sind massiv gesunken, während die Kapitaleinkünfte gestiegen sind. OT 29 (Huster): Die Vermögen sind in der Bundesrepublik doppelt so stark konzentriert wie die Einkommen. Es gibt den sogenannten Gini-Koeffizienten. Der sagt - bei 0 ist alles gleich verteilt. Und bei 1 - alles besitzt eine Person. Wenn Sie diese Skala von 0 bis 1 nehmen, dann liegt die Einkommenskonzentration in Deutschland um 0,35. Bei den Vermögen liegt der Wert doppelt so hoch. Sprecher: Ernst-Ulrich Huster. Angesichts der lückenhaften Vermögensstatistiken fällt die tatsächliche Konzentration des Reichtums mit Sicherheit noch höher aus. Zwei Drittel der Deutschen haben kein oder so gut wie kein Vermögen - im günstigsten Fall besitzen sie ein Auto, eine komfortable Wohnungseinrichtung und ein paar tausend Euro für alle Fälle. Ein kleinerer Teil von ihnen freut sich auch über ein eigenes Haus oder eine Eigentumswohnung, allerdings sind diese oft nicht abbezahlt. Vom gesamten Reichtum Deutschlands - etwa sieben Billionen Euro - machen all diese Werte weniger als zehn Prozent aus. Eine mittlere Schicht von 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung besitzt mehr: vielleicht ein Ein- oder Zweifamilienhaus, ein Segelboot, eine üppige Lebensversicherung, eine Handvoll Bundesanleihen. Unter dem Strich haben sie keine Schulden. Aber auch dieser Wohlstand ist nicht wirklich imposant. OT 30 (Huster): Die oberen zehn Prozent verfügen 2007 über 61 Prozent aller Vermögenswerte. Die oberen fünf Prozent verfügen über 46 Prozent aller Vermögenswerte. Sprecher: Vor zwanzig Jahren besaßen die oberen zehn Prozent erst die Hälfte aller Vermögenswerte. OT 31 (Lehmkuhl): Ich habe zu Beginn des Jahrtausends auch mit Freude gesehen, wie mein Vermögen fast täglich um ein, zwei Prozent stieg - in einer bestimmten Phase der Aktienmärkte. Sprecher: Besonders stark konzentriert ist das Produktivvermögen. Nur etwa vier Prozent der Deutschen besitzen laut DIW solches Vermögen. OT 32 (Werkhäuser): Im Grunde interessiert mich, was sie an Produktivkapital hier halten, damit möglicherweise Einfluss nehmen, nicht demokratisch kontrollierbaren Einfluss nehmen. Sprecher: Die Weichen in der Wirtschaft werden nicht von den unzähligen Klein- und Kleinstunternehmen gestellt, sondern von einigen tausend, vielleicht auch nur einigen hundert Großen - vor allem GmbHs und Aktiengesellschaften. Viele Kleinaktionäre nehmen das mit ihren Papieren verbundene Stimmrecht nicht wahr. Vermutlich kontrollieren weniger als drei Prozent der Haushalte faktisch das Aktienvermögen in der Bundesrepublik. Das ist eine durchaus beunruhigende Machtkonzentration. Eine kleine Gruppe - fünf Prozent der Bevölkerung - besitzt mehr als die restlichen 95 Prozent zusammen? Eine realistische Annahme. Die offizielle Statistik gibt indes keine verlässliche Antwort. MUSIKAKZENT OT 33 (Werkhäuser): Ich denke, dass die großen Vermögen anders besteuert werden müssten, gerade beim Übergang auf die nächste Generation. Sprecher: Marion Werkhäuser. Millionenvermögen kommen sehr oft nicht durch Leistung zustande, sondern durch das Öffnen eines Testaments. OT 34 (Lehmkuhl): Erbschaft ist ein unverdienter Reichtum - nicht durch eigene Leistung. Das widerspricht grundlegenden demokratischen Werten, weil es die Chancengleichheit unterminiert. Sprecher: Dieter Lehmkuhl erbte den größten Teil seines Vermögens in den neunziger Jahren. Oft heißt es, die steuerliche Belastung der Reichen in Deutschland sei extrem hoch. Sieht man sich die Statistiken genauer an, ergibt sich ein anderes Bild. Arbeitseinkommen werden ziemlich hoch besteuert. Ihre durchschnittliche Belastung mit Lohnsteuer beträgt etwa 18 Prozent. Zusätzlich werden Verbrauchssteuern wie Mehrwert- oder Energiesteuern fällig. Sogar "Hartz IV"-Bezieher zahlen einen beachtlichen Prozentsatz ihres Einkommens für Verbrauchssteuern. Die Kapitaleigentümer verbuchten in den letzten Jahren um die 35 Prozent aller Einkommen für sich. Zum Steueraufkommen trugen sie dagegen nur 20 bis 25 Prozent bei. Die eindrucksvollen Spitzensteuersätze zahlt kaum jemand. Vermögen wird nur ganz geringfügig belastet. OT 35 (Bontrup): Wir haben ja 1997 in Deutschland die Vermögenssteuer ausgesetzt, sie existiert nicht mehr. Sprecher: Professor Bontrup. Die Regierungen Kohl und Schröder begründeten die Aussetzung der Steuer auch mit den damals noch höheren Spitzensätzen der Einkommenssteuer - die seither deutlich gesenkt wurden. Die Erbschaftssteuer summiert sich pro Jahr auf etwa fünf Milliarden Euro - ein Prozent des Steueraufkommens. Zum Vergleich: Deutschlands Tabakkonsumenten zahlen für ihr gefährliches Vergnügen etwa 13 Milliarden Steuern. OT 36 (Bontrup): Ein Prozent Vermögenssteuer - bei einem Freibetrag von 500 000 Euro pro Haushalt: wenn man das machen würde, dann könnte der deutsche Finanzminister etwa jährlich 20 Milliarden zusätzliche Vermögenssteuer einnehmen. Sprecher: Es gibt verschiedene Gegenargumente, etwa: Vermögen dürfe nicht besteuert werden, da es aus schon versteuertem Einkommen entstanden sei. Aber auch Arbeitseinkommen, für die bereits Lohnsteuer fällig war, werden beim Konsum ein zweites Mal belastet - vor allem durch die Mehrwertsteuer. Blockiert eine höhere Vermögensbesteuerung nicht produktive Investitionen? Über Jahrzehnte hinweg wurden in der Bundesrepublik die Gewinn- und Vermögenssteuern gesenkt. Davon versprach die etablierte Politik sich und anderen mehr Investitionen und Arbeitsplätze. Tatsächlich gab es im langfristigen Trend immer mehr Arbeitslose. Droht nicht verstärkte Kapitalflucht? Marion Werkhäuser hat gleich zwei Antworten: OT 37 (Werkhäuser): Ich glaube, dass vieles von dem Produktivvermögen nicht auf die Bahamas zu schaffen ist. MUSIKAKZENT Sprecher: Materieller Wohlstand ist nichts Fragwürdiges, sondern etwas, an dem alle teilhaben sollten. Ist es unmoralisch, extrem viel zu besitzen, während auf der Welt unzählige Menschen hungern und im eigenen Land sich immer mehr Armut ausbreitet? Der unkonventionelle Millionär Dieter Lehmkuhl aus Berlin wurde als Arzt auch mit Armut konfrontiert: OT 38 (Lehmkuhl): Ich kenne tatsächlich die Lebenswirklichkeit von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben. Sprecher: Schon immer haben einzelne Vermögende freiwillig einen Teil ihres Reichtums abgegeben. Und Superreiche wie Warren Buffet und Bill Gates erklärten schon einmal, sie hielten eine Erbschaftssteuer von bis zu 50 Prozent für diskutierenswert. In der 2009 entstandenen "Initiative Vermögender für eine Vermögensabgabe" um Bruno Haas und Dieter Lehmkuhl engagieren sich etwa 50 Menschen - aus der Welt der Milliardäre kommt keiner von ihnen. OT 39 (Lehmkuhl): Die wesentliche Forderung ist eine zweckgebundene Vermögensabgabe für zwei Jahre in Höhe von je fünf Prozent des gesamten Vermögens - jenseits einer Schongrenze von 500 000 Euro. Danach soll diese Abgabe überführt werden in eine mindestens einprozentige Vermögenssteuer. Sprecher: Das Geld sollte gezielt für bessere Sozialleistungen, Bildung oder Umweltschutz ausgegeben werden. Die Reaktionen der Politik und der wirklich Reichen blieben kühl. MUSIKAKZENT OT 40 (Huster): Politisch ist der Reichtum bisher zumindest wenig diskutiert worden. Sprecher: Professor Huster. Ein Blick in die abgeschottete Welt des Reichtums garantiert Überraschungen. Provozierende Fragen drängen sich auf. Reichtum - das letzte Tabu? In der globalen Wirtschaftskrise wird Verzicht verlangt - von der Mehrheit. Aber auch eine stärkere steuerliche Belastung der Vermögen könnte Probleme lösen. Versuch einer Bilanz: zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands besitzen kein oder fast kein Vermögen. Reich sind an die zehn Prozent. Durchaus realistisch scheint die Annahme, dass fünf Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent aller Vermögenswerte besitzen. Löhne und Gehälter stehen in der Öffentlichkeit ständig zur Diskussion, der Missbrauch elementarer Sozialleistungen löst breite Empörung aus. Von der äußerst ungleichen Verteilung der Vermögen und der minimalen Steuerbelastung ihrer Eigentümer ist dagegen nur selten die Rede. Die Kritik an gelegentlichen Exzessen von Spekulanten oder Managern bleibt an der Oberfläche. Warum scheint eine Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt, dass die Förderung des Reichtums im Interesse aller ist? Warum überwiegen Verständnis und Bewunderung für die Superreichen? Um Reichtum zum Leitbild für viele werden zu lassen, ist es vorteilhaft, die Vermögenskonzentration zu verschleiern. Die wirklich Reichen bleiben fast unsichtbar. Zur Bagatellisierung des Reichtums und seiner Konzentration in wenigen Händen trägt schließlich die Statistik bei. Vor allem die Unterhaltungsindustrie verbreitet das Gefühl, jeder und jede könne mit etwas Glück reich werden. Der Alltag wird geflutet mit den Illusionen der Werbung, mit Serien und Spielfilmen aus den Milieus dynamischer Architekten, Pop-Musiker und Schönheitschirurginnen, mit Glücks- und Gewinnspielen. OT 41 (Werkhäuser): "Dallas" hab ich regelmäßig als Kind gesehen - das fand ich Klasse. Super! (lacht). Das waren ja Menschen, die hatten auch echt Probleme. Sprecher: In erster Linie solche Einflüsse bestimmen das Bild von Reichtum. Gesellschaftliche Macht löst sich auf in die Gier einzelner. Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass auch Reiche oft sehr unglücklich sind. Den Vermögenden gelingt es immer wieder, ihre Interessen als vermeintliche Sachzwänge darzustellen. Sind nicht hohe Gewinne und imposante Vermögen die beste Garantie für mehr Arbeitsplätze? In den letzten zwei Jahrzehnten wurde in Deutschland den Forderungen der Reichen weitgehend entsprochen. Gewinne und Vermögen stiegen massiv, die Reallöhne dagegen stagnierten. Dennoch nahm die Arbeitslosigkeit zu. Gleichzeitig wurde immer mehr Kapital für spekulative Aktivitäten genutzt. Das trug zur Herausbildung der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise bei. OT 42 (Bontrup): Wir haben einen enormen Reichtumszuwachs in Deutschland - wo wir aber immer den Eindruck haben, wir müssten den Gürtel enger schnallen. Das ist falsch. OT 43 (Huster): Dieses Gerede von der Gleichmacherei - wenn ich hier sehe, 61 Prozent werden von den oberen zehn Prozent genommen. Und wenn ich die Entwicklung sehe von meinen ersten Studien an, wo wir bei knapp 50 Prozent waren und jetzt sind wir bei 61 Prozent, da kann ja von Gleichmacherei nicht die Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. Sprecher: Es ist zu wenig Geld für Soziales, für Bildung oder Integration da - Verzicht ist unausweichlich, heißt es immer wieder. Aber die wachsende öffentliche Armut ist auch ein Spiegelbild des zunehmenden Reichtums einer sehr kleinen Elite. Dieser Reichtum könnte anders verteilt werden. Eine Erhöhung der Vermögenssteuern - gerade der Erbschaftssteuer - würde viele Finanzierungsprobleme des Staates lösen. Die, die wenig haben, müssten dann weniger oder gar nicht verzichten. Für Dieter Lehmkuhl ist es ... OT 44 (Lehmkuhl): ... eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wenn für das Systemversagen diejenigen die Zeche zahlen müssen, die die Verletzlichsten der Gesellschaft sind. Sprecher: Sollte man über Verzicht vielleicht ganz anders als heute diskutieren? OT 45 (Werkhäuser): Wir haben ja große Schwierigkeiten, die wir nicht gelöst bekommen, weil wir diese fünf Prozent schonen. Die Schonung dieser Vermögen bedeutet einen schlimmen Verzicht für die gesamte Gesellschaft. Spr. vom Dienst Das letzte Tabu Wie viel Reichtum gibt es in Deutschland? Eine Sendung von Winfried Roth Es sprach: Joachim Schönfeld Ton: Inge Görgner Regie: Beate Ziegs Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 2