COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Nachspiel: Radeln ohne Regeln - Der Großstadtverkehr als Kampfzone Sendedatum: 16. September 2012 Redaktion: H. Ostermann / Nachspiel Autorin: Bettina Ritter ---------------------- Beitrag: Musik 1 Eventuell militärische Trommelmusik, eventuell gemischt mit leisem Atmo 1 Straßenlärm, Verkehr Unter die O-Töne legen O-Ton 1 Taxifahrer 1 Sind alles Organspender bei mir. Ja! Potenzielle Organspender. So nenn ick se. So fahrn se ja ooch, wa! . Musik kurz hoch O-Ton 2 Taxifahrer 2 Einfach mal über Rot, oder Einbahnstraße. Ganz schlimm. O-Ton 3 Taxifahrer 3 80% fahren ohne Regeln und ohne Beleuchtung. Hier hat keiner Zeit, alle sind in Eile. Und vor allem: ihre Rechte, die kennen sie ganz genau, aber Pflichten, da sieht es schlechter aus. O-Ton 4 Taxifahrer 2 Ein Miteinander sollte es sein, aber ist nicht. Ist ein Gegeneinander. Ist ein richtiger Krieg. Ein offener Krieg auf der Straße. Musik 1 Kurz stehen lassen, verklingt mit Trommeln. Autorin 1 "Es herrscht Krieg auf der Straße". Der Großstadtverkehr - eine Art Kampfzone. Grund genug, die Beteiligten vorzustellen. Sprecher 1 (proklamierend) DER RADFAHRER! O-Ton 5 Verkehrspsychologe Tesch Der Radfahrer fährt mit der Würde eines ökologisch verkehrenden Menschen. Er verbindet damit den Anspruch, in besonderem Maße die gute Seite unseres Verkehrs zu repräsentieren. Darüberhinaus kommt ihm auch die Würde des Opfers zu. Er, als gewissermaßen nackter Mensch im Straßenverkehr, erwartet von den fahrenden Sofas, dass sie Rücksicht nehmen. Sprecher 2 DER AUTOFAHRER O-Ton 6 Verkehrspsychologe Tesch Der Mensch verändert sich, wenn er zum Kraftfahrer wird, in einer Weise, die ihn unnahbar macht. Er popelt, er isst im Auto, er hat keinen Bezug mehr zu seiner Umgebung. Das Auto ist ein Schutzraum für ihn. Das macht ihn einerseits glücklich, andererseits aber auch unnahbar, das ist sicherlich das Problem. Sprecher 3 DER FUSSGÄNGER O-Ton 7 Verkehrspsychologe Tesch Er ist ja eigentlich Randfigur. Der Fußgänger ist empörter Zuschauer. Er ist schutzbedürftig. Ihm sind Regeln im Straßenverkehr kaum gegenwärtig, er braucht sie auch nicht. // Sie sind potenziell die Opfer, noch eher als die Radfahrer. Autorin 2 Der Verkehrspsychologe Lutz Tesch kennt sich aus mit allen Typen von Verkehrsteilnehmern. Er hilft denen, die besonders auffällig werden, sich nicht an Regeln halten, Unfälle bauen oder die rote Ampel ignorieren. "Führerschein zurück" mit drei Ausrufezeichen - so steht es groß auf seiner Visitenkarte. Seine Methoden: Nachschulungen und Aggressionstraining. Zu ihm kommen Auto - und Radfahrer. O-Ton 8 Tesch Ich hab gelegentlich Klienten, die entweder das Fahrrad vor das Auto legen und dem Autofahrer ne Beule treten oder ihn aus dem Auto zotteln, weil sie sich so ohnmächtig fühlen und so wütend sind. Natürlich könnten sie den Rechtsweg beschreiten, aber in dem Augenblick, in dem man emotional aufgewühlt ist, kommen solche klugen Ideen nicht. Sondern dann möchte man unmittelbar, wie so ein Neandertaler, einfach seinen Frust loswerden. Autorin 3 Im Straßenverkehr, so scheint es, lässt der ansonsten artikulierte, zivilisierte Bürger unkontrolliert seine Steinzeitmensch-Seite heraus. Hier zählt die Faust offenbar immer noch mehr als das wohl gesetzte Wort. O-Ton 9 Taxifahrer 2 Die hauen auch schon mal beim Auto drauf auf die Scheibe, verdrehen den Spiegel, nur weil du an denen vorbei fährst. Das wollen die nicht. Atmo 2 Laute Straße Autorin 4 Aus der Sicht der Radfahrer sieht das naturgemäß etwas anders aus. Sie fühlen sich bedrängt von den dicht vorbeifahrenden Wagen. O-Ton 10 Radler Schmidt Ich fahre oft mit dem Fahrrad zur Arbeit, das ist ne Strecke von acht Kilometern und es gibt Bereiche, wo die Radwege nicht gut markiert sind, wo ich jeden Tag Situationen habe, dass Autos so dicht auffahren, dass ich ne körperliche Stressreaktion habe. // 7:30 Ich kann wirklich sagen, dass ich entspannt aufs Rad steige, losfahre und gestresst ankomme. Autorin 5 Für den Verkehrspsychologen Lutz Tesch sind die Radfahrer die Verkehrsteilnehmer, die am meisten bedroht sind. O-Ton 1 Verkehrspsychologe Eine kleine Unaufmerksamkeit eines furchtbar netten Herrn kann dazu führen, dass der Radfahrer hinstürzt und sich den Arm bricht. Diese Angst ist da, und Angst macht dumm. Frustration erzeugt Aggression - insofern sind die Radfahrer schon ein aggressionsbereites Potenzial. O-Ton 12 Radler, 25:31 Es herrscht sehr viel Aggression zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern. Wird sich oft angeschrien. O-Ton 13 Fußgänger 1 Normalerweise geht das ohne Klingeln, verbal, man wird irgendwie angeschnauzt. 0:16:49 Ganz schlimm halt. Rücksichtslos. Autorin 6 Dass sie einige Verkehrsregeln ignorieren, das geben viele Radler zu. Dass sie Kampf-Fahrer sind, nur wenige. Julius ist einer von ihnen. O-Ton 14 Julius, Kampfradler Wenn ich es wirklich eilig habe und schnell sein will, dann bin ich auch mal Kampffahrer. // Zum Beispiel, wenn es Stau gibt, dann in der Mitte durch und voll Stoff zwischen den Autos durch, hoffen, dass die Ampel gerade grün wird, wenn man kommt, und wenn sie dann grade grün wird, schnell rüber, und dann möglichst vor den Autos durch, denn zwischen den Autos, wenn die gerade losfahren, das ist so ne Sache. Das ist eine der gefährlicheren Situationen, in die man sich begibt, wenn man sich Kampffahrer nennt. O-Ton 15 Scheel, ADFC Manchmal ist das ja auch ne Sache der Wahrnehmung, was einer als Straßenkämpfer sieht, würde ich vielleicht sehen als einen unheimlich souveränen, schnellen Fahrradfahrer, der sich an die StVO hält, aber halt sehr forsch fährt. Autorin 7 Eva-Maria Scheel, die Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs - ADFC - in Berlin, findet: Ausdrücke wie Kampfradler tun der Diskussion nicht gut, sie heizen die Stimmung weiter an. Um die Situation zu befrieden, fordert sie bessere Radwege, und zwar auf der Straße. Denn der größte Konfliktpunkt zwischen Fahrrad- und Autofahrern sind Radwege, die auf dem Bürgersteig anfangen und dann plötzlich auf der Fahrbahn der Autos enden. Davon gibt es in deutschen Großstädten eine Menge. O-Ton 16 Scheel Ich fahre eine Seitenroute, da ist auf der rechten Seite noch ein roter Radweg, der ist nicht mehr benutzungspflichtig, das heißt, die blauen Schilder sind abgebaut, ich fahre also nach StVO auf der Straße, werde jeden Morgen angehupt, die Autofahrer kurbeln die Fenster runter, schreien mich an, schneiden mich, das ist das, was ich jeden Tag erlebe. Autorin 8 Wie viele Radler fährt auch Eva-Maria Scheel auf der Straße weiter. Nicht aus Trotz, sondern weil viele alte, schlecht instandgehaltene Radwege oft in miserablem Zustand sind. Von Baumwurzeln unterwachsen, huckelig und so ungenügend gekennzeichnet, dass Fußgänger den Radlern immer wieder überraschend vor den Lenker laufen. Der Stress mit den Autofahrern entstehe dadurch, dass beide Parteien nicht ausreichend informiert seien, meint Bernd Zanke, beim ADFC Berlin für die Verkehrssicherheit zuständig. O-Ton 17 Zanke Der Gesetzgeber hat sich fürs Radfahren sehr viel einfallen lassen, denn wenn ich Sie jetzt vielleicht fragen würde, was sind Schutzstreifen, was sind Radfahrstreifen, wo unterscheiden die sich, und wo darf ich fahren, wo muss ich fahren - bei über 95 Prozent werden diese Fragen falsch beantwortet. Da ist sehr großer Nachholbedarf von Seiten der Politik oder auch der ganzen Verkehrsteilnehmer. Wir müssten da wesentlich mehr tun, die Leute müssten aufgeklärt werden. Autorin 9 Generell gilt: Radfahrer müssen auf der Straße fahren. Die Ausnahme: Ein Radweg ist mit einem runden blauen Schild mit weißem Fahrrad darauf gekennzeichnet. Ist der Radweg auf dem Bürgersteig, darf der Radler auch die Straße benutzen. Das tun viele bereits ganz intuitiv, schon allein, weil sie sportlich fahren und um schneller voranzukommen. Sicherer sind sie dort aber nicht. O-Ton 18 Polizei, Tschisch Wir haben 130.500 Unfälle im Jahr in Berlin, das war im letzten Jahr so, davon sind allein Verkehrsunfälle von Radfahrern 7.500. Das ist nicht übermäßig viel für ne Großstadt, für ne Millionenstadt wie Berlin. Wenn man sich aber die Verunglücktenzahlen ansieht, da sieht es anders aus, da sind wir überrepräsentativ. Wenn man 17.000 Verunglückte annimmt, die durch Straßenverkehrsunfälle zu Schaden kommen und da allein 5.600 verunglückte Radfahrer darunter sind, haben wir schon ein Verhältnis von 1 zu 3, dann ist das ne ganz andere Liga. Autorin 10 Jeder dritte Leidtragende bei einem Unfall ist ein Radfahrer, sagt Andreas Tschisch, der Referent für Verkehrssicherheit bei der Berliner Polizei. Aber: Auch jeder zweite Radler ist Schuld an einem Unfall. Die anderen 50 Prozent gehen auf das Konto der Autofahrer. O-Ton 19 Tschisch Die Hauptunfallursachen sind die falsche Fahrbahnbenutzung, das heißt, ein Fahrradfahrer fährt nicht auf dem Radweg, wenn er vorgeschrieben ist oder nicht auf der Straße, wenn es vorgeschrieben ist, sondern er fährt auf dem Gehweg, er fährt entgegengesetzt der Richtung, in einer Einbahnstraße, wo es nicht erlaubt ist, er fährt entgegengesetzt auf dem falschen Radweg, also nicht auf dem rechten, sondern auf der linken Seite den anderen Radfahrern und Fußgängern entgegen, die möglicherweise gar nicht mit ihm rechnen. Autorin 11 Die Polizei ist oft hilflos und kann nur zuschauen. O-Ton 20 Polizist Pletart Heute morgen ist mir auch ein Radfahrer auf dem Gehweg entgegengekommen, da muss man sich erstmal lautstark erkennbar macht, dass man wahrgenommen wird, dann kann man sich auch ein bisschen aufbauen und hoffen, dass derjenige welcher gleich anhält und einen wahrnimmt und dann auch reagiert. Ansonsten bleibt mir auch nur die Wahl, dass ich zur Seite springe, dass es nicht zur Kollision kommt, dass wäre dann ungünstig, wenn dann ich oder die andere Person verletzt wird. Autorin 12 Tobias Nils Pletart ist Streifenpolizist in Berlin. Im Bezirk Friedrichshain, wo es besonders viele Radfahrer gibt. Und besonders viele, die gern die Straßenverkehrsordnung ignorieren. Sie anzuhalten und zu belehren, das fällt ihm und seinen Kollegen schwer. Denn Radfahrer sind schnell. Vor allem: schnell weg. O-Ton 21 Polizist Pletart Es ist problematisch, als Polizeibeamter ein Fahrzeug im Fließverkehr rauszunehmen und anzuhalten. Gerade Radfahrer können mit den heutigen technischen Möglichkeiten und Voraussetzungen viel höhere Geschwindigkeiten erreichen, ein Fahrrad kann locker bis zu 45, 50 km/h erreichen, also im Fließverkehr mitfahren, mit den neuen Sportfahrrädern ist das möglich, dann gibt es noch die Pedelcs, mit den elektrounterstützten Motoren, da dann zeitgerecht sich als Polizei zu erkennen zu geben, ein Haltesignal zu geben und den aufzufordern, anzuhalten, das ist ein Problem für uns. Autorin 13 Dazu kommt: Im Gegensatz zu Autos haben Fahrräder kein Nummernschild. Das macht es noch schwieriger, sie bei einem Unfall dingfest zu machen. Gelingt es doch, sie anzuhalten, dann warten Geldstrafen auf den Missetäter. O-Ton 22 Polizei, Tschisch Die beginnen bei fünf Euro bei ganz geringen Verstößen, das ist Verwarnungsgeldbereich, ist noch nicht Bußgeld und steigert sich in dem Höchstsatz, wenn man zum Beispiel bei einer Rot abstrahlenden Ampel rüberfährt, und es kommt dann zum Verkehrsunfall, sind das 180 Euro und ein Punkt. Der Höchstsatz beim Fahrradfahrer ist, wenn man bei einem beschrankten Bahnübergang rüberfährt, sind das 350 Euro und vier Punkte. Autorin 14 Nur fünf Euro kostet es also, einmal auf dem Bürgersteig zu fahren. Kein Wunder, dass mancher Radler es da ein wenig lockerer sieht mit den Regeln. Aber auch die fast 200 Euro für einmal Rotlicht-Verstoß schrecken viele Radler nicht. O-Ton 23 Radler 2 Wird nicht bestraft. Die Konsequenzen sind klein. Als Autofahrer hab ich mehr Konsequenzen zu fürchten. Dat ist der Punkt. O-Ton 24 Radler 3 Äh, Regeln, keine Ahnung. Es gilt ein bisschen das Gebot, wer bremst verliert und lieber tot als Schwung verloren. 28:15 Ist halt anstrengend, jedes Mal bremsen ist anstrengend. Und dann fährst du lieber weiter, wenn irgendwo ne Lücke ist. O-Ton 25 Radler Schmidt Die rote Ampel überfahren - Ja, wenn kein Verkehr kommt, dann fahr ich einfach drüber. Ja.... Autorin 15 Warum sich die Radler die Freiheit nehmen, bei Rot über die Ampel zu brausen, weiß mancher selbst nicht genau. Der Verkehrspsychologie Lutz Tesch meint: aus Trotz. O-Ton 26 Verkehrspsychologe Tesch Das sind gut gebildete Menschen, die ihr Leben lang gelernt haben, sich selbständig, eigenverantwortlich zu verhalten, und ich kann ja nur Verantwortung für das übernehmen, was ich auch sehe. Ich halte mich für gebildet, und wenn ich nicht erkennen kann, aus welchem Grund man hier ne Ampel hinstellt, und wenn ich das als Willkür erlebe, dann denk ich, die sollen mir den Buckel runter rutschen, diese Kissenpuper. Autorin 16 Insofern nehmen die Radler auch die Strafen nicht besonders ernst. Und auch die Gesetzeshüter nicht, die sie vollstrecken. O-Ton 27 Polizei, Pletart Abzocker, das geht bis Arschloch, ist alles mit dabei. Verbale Angriffe kommen ganz schnell, Attacken, auch lautstarke Angriffe, geht auch bis zur Beleidigung, also, dass man keine Akzeptanz hat über die getroffene Maßnahme, das gibt es schon. Musik 2 Atmosphärisch, oder Straße Autorin 17 Aus Trotz entwickelt sich Frustration, daraus wird Aggression. So dreht sich das Karussell der Gefühle im Straßenverkehr weiter. In einer vermeintlichen Endlosschleife. Atmo 3 Vogelgezwitscher, unter Autorin Autorin 18 Dabei könnte es aus der Sicht des Radfahrers so schön sein. Eine Stadt, in der er auf breiten Radwegen schnell voran kommt. In der die Fußgänger nach links und rechts gucken, bevor sie auf den Radweg treten, in der der Schulterblick für den Autofahrer keine Theorie ist und in der er - der Radfahrer - nicht als Einzelner seinen Weg durch die Übermacht von Autos kämpfen muss. O-Ton 28 Taxifahrer In ganz Deutschland werden die meisten Fahrräder gefahren hier in Münster. Keine andere Stadt hat so viele Fahrräder wie hier. Und gucken Sie mal, im Winter, als erstes werden die Radwege gestreut und sauber gemacht, und dann die Hauptstraßen. O-Ton 29 Böhme Wenn Sie da einen auswärtigen Autofahrer erleben, dann ist das so, der steht da und guckt nach rechts und links und sagt, was ist denn hier los. Da kommen von allen Seiten, von beiden Seiten kommen die Radfahrer angefahren. Und wenn die Radfahrer merken, dass die Autofahrer zurückzucken, dann fahren die durch. Autorin 19 Münster - die Fahrradhauptstadt Deutschlands. Vor dem Bahnhof fällt der Blick zuerst auf ein Meer aus Rädern. Sie sind überall, geparkt an Fahrradständern, an Laternenmasten und einfach auf den Bürgersteigen. 6.000 stehen hier, schätzt die Stadt. Dabei gibt es ein großes Fahrrad-Parkhaus direkt vor dem Bahnhof: 3.300 Räder haben hier Platz. O-Ton 30 Böhme Wir haben mal irgendwann im Rahmen von einer Statistikerhebung ermittelt, dass es so vier bis fünf Prozent Münsteraner gibt, die nicht über ein Fahrrad verfügen. Autorin 20 Stephan Böhme, Verkehrsplaner in Münster. Die anderen 95 Prozent der etwa 300.000 Einwohner haben gleich mehrere Fahrräder pro Person. Insgesamt gibt es circa eine halbe Million Leezen, so der lokale Ausdruck für das Fahrrad. Münster ist deutscher Spitzenreiter, wenn es um den Anteil der Radfahrer im Straßenverkehr geht. 38 Prozent beträgt er, in Berlin sind es nur 15. Die Autofahrer sind in Münster in der Minderzahl: 36 Prozent. O-Ton 31 Böhme Bei uns fahren wirklich alle Fahrrad. Die Ratsmitglieder fahren zu den Ratssitzungen, der Oberbürgermeister und weiß der Kuckuck, der Bischof sogar, und das ist einfach ein Miteinander. Die Leute sind mit dem Fahrrad aufgewachsen und von daher gibt es da keinen Stress. Autorin 21 Knapp 460 Kilometer Radwege, sechzehn Fahrradstraßen, und Sonderregelungen bietet Münster seinen Radlern. An großen Kreuzungen gibt es eigene Radstreifen. Vor Ampeln wird der Radfahrer durch die sogenannte Fahrradschleuse nach vorne geleitet, muss so nicht den Abgasmief einatmen und ist im Blickfeld der anfahrenden Autos. Das wichtigste aus Sicht der Radler: Die Autofahrer nehmen Rücksicht. O-Ton 32 Frau Ich habe keine negativen Erfahrungen gemacht bis jetzt mit Autofahrern. Ich finde, die sind hier relativ vorsichtig. O-Ton 33 Frau Konflikte gibt's keine. Ne, hatte ich bisher noch nicht. Autorin 22 Sogar die Taxifahrer fahren vorsichtig. O-Ton 34 Taxifahrer Münster Vor allem die Taxifahrer! Aber auch die Münsteraner, die Auto fahren, die hier aufgewachsen sind, die kennen das nicht anders, weil, die sind selber mit Fahrrädern als Jugendliche groß geworden, das ist ganz normal. O-Ton 35 Böhme Anstatt zu hupen - hab ich gerade eben in der Mittagspause wieder erlebt - ein junger Mann kam mit seinem Auto aus der Nebenstraße, ich war auf der Hauptverkehrsstraße auf dem Radweg unterwegs, und er ist ein Stückchen in meine Furt hineingefahren, aber ich hätte noch um ihn rum fahren können, aber er hat sofort den Rückwärtsgang rein geschmissen, und ist rückwärts gefahren. Autorin 23 In Großstädten wie Berlin kommt das eher selten vor. Dreimal ist Münster bisher zur fahrradfreundlichsten Stadt Deutschlands gekürt worden. Dass das Rad so ein Gewicht hat, ist politisch gewollt und durch alle Parteien hinweg gesellschaftlicher Konsens, sagt der Verkehrsplaner Stephan Böhme. O-Ton 36 Böhme Was eine Fahrradhauptstadt ausmacht, ist, dass es eine durchgehende Fahrradverkehrspolitik ist, dass das Verkehrsmittel als vollwertiges akzeptiert ist und dass es dann eben auch eine entsprechende Verkehrsleistung bringt. Autorin 24 Außerdem hat Fahrradpolitik in Münster Tradition. Bereits nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Radwegenetz ausgebaut. Da können andere Städte in Deutschland schlecht mithalten. Aber auch Münster hat seine Probleme. Auch hier gibt es Unfälle, an jedem 11. ist ein Radfahrer beteiligt. Mehr als in Berlin, dort ist es jeder 17. Und obwohl hier das Radverkehrsnetz vorbildlich ausgebaut ist, schlägt die friedliche Stimmung auch in Münster manchmal um. O-Ton 37 Metzler Was auffällt, ist diese ungeheure Masse. Das führt zwangsläufig zu gewissen Aggressionen. Weil es an manchen Stellen einfach zu viel Radfahrer sind. Autorin 25 Meint Ernst Metzler vom ADFC Münster. Und es gibt noch ein Problem. O-Ton 38 Metzler, weiter Dann schätze ich mal hat die Hälfte der Radfahrer keine Verkehrsausbildung, sprich, keinen Führerschein. Die kennen manche Regeln einfach nicht. Und dann wird mit so einem gewissen Laissez-faire gefahren, ich sitze auf dem Rad, das ist mein Vergnügen, und nun nimm mal Rücksicht auf mich. Autorin 26 Obwohl die Radler in Münster oft Vorfahrt haben, nehmen sie sich auch hier mehr Freiheiten heraus, als ihnen rechtlich zustehen. O-Ton 39 Frau Rücksichtslose Studenten, die bei Rot über die Ampel brausen, das gibt es. Was mich stört sind die, die kein Handzeichen geben, wenn sie rechts abbiegen. Das passiert mir mehrmals täglich. Die biegen plötzlich rechts ab, und schwupps, muss man sehr aufpassen. Autorin 27 Der gelernte Fahrlehrer Metzler ist entsetzt. O-Ton 40 Metzler Gerade in so einer hohen Dichte muss man sehr diszipliniert fahren, Verkehrsregeln können, nicht nur kennen, sondern auch anwenden. Und dann muss man das Fahrrad beherrschen, dann muss man defensiv fahren, man muss vorausschauend fahren, und dann geht's. Aber das fehlt bei vielen. Autorin 28 Schuld an der hohen Zahl der Unfälle sind vor allem Tausende Studenten, die jedes Semester neu hinzukommen, meint Münsters Verkehrsplaner Stephan Böhme. O-Ton 41 Böhme Die Studenten kommen hierher in diese Stadt, sehen überall die Fahrräder, und sagen, oh ja, das ist prima, ich bringe auch mein Rad mit. Ist jahrelang nicht gefahren und sieht einen roten Belag, der ist auf der anderen Seite genauso breit, fahr ich doch in beiden Richtungen. Was dann als Gefährdung besteht. Autorin 29 Das führt schnell zu einer schlechten Stimmung, und zwar zwischen Radfahrern und Radfahrern. O-Ton 42 Mann Relativ aggressiv. Ich glaube, auch teilweise ausgelöst durch Fahrradfahrer, die schnell fahren wollen, die das als Verkehrsmittel benutzen wollen und nicht als Bummelinstrument oder ähnliches und rasch durchkommen wollen. Musik Autorin 30 Das Karussell aus Frustration und Aggression im Straßenverkehr dreht sich also auch im vermeintlich friedlichen Fahrradparadies Münster. Wenn auch vielleicht nicht ganz so schnell wie in Berlin. Ein Ausstieg scheint für alle schwierig. Und die Frage bleibt, warum sich sogar die Radfahrer untereinander beharken. Ist es territoriales Zwangsverhalten? Ein urzeitlicher Trieb, auf den der zivilisierte Großstadtbürger keinen Einfluss hat? Der Verkehrspsychologe Lutz Tesch sieht das Verhalten im Straßenverkehr als Spiegel einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. O-Ton 43 Tesch Ich denke an den Mangel an Solidarität, den wir in Betrieben finden, in der Familie finden. Es ist ne Art von Beziehungslosigkeit, die kann schon gelernt sein. Alleine durch das Grundgesetz oder durch die zehn Gebote werde ich nicht das Gefühl los, dass ich Sie nicht kenne, dass ich dem anderen egal bin, und der andere ist mir auch egal. Autorin 31 Mit anderen Worten: Wir sind eine Gesellschaft von Egoisten. Die Eile in der Großstadt tut ihr übriges. Und die Fähigkeit, uns in den anderen hineinzuversetzen ist uns abhanden gekommen. Als Radfahrer schimpfen wir auf die Autos, als Autofahrer regen wir uns über die Radler auf. Der Wechsel der Perspektive scheint unmöglich. O-Ton 44 Tesch Ich erkläre meinen Klienten, ihr seid doch hier nicht nur Durchreisende. Ihr seid doch nicht nur Schnäppchenjäger in dieser Gesellschaft, sondern ihr seid auch ein Ordnungsfaktor, ob ihr wollt oder nicht. Euer Verhalten ist immer auch ein Vorbild für andere. Und auf diese Weise beginnen sich viele Leute zu erinnern, dass es nicht beliebig ist, wie sie sich verhalten. Autorin 32 Auch den Politikern ist die Rücksichtslosigkeit auf den Straßen aufgefallen. Ihre erste Reaktion: Eine Kampagne. Auf Plakatwänden und Postkarten halten Radfahrer mit Helm, ein schnittiger Autofahrer und ein Paketzusteller dem Betrachter lächelnd eine blaue Getränkedose entgegen. Darauf die Aufschrift: Rücksicht im Straßenverkehr. O-Ton 45 Gaebler Ausgangspunkt ist natürlich diese Diskussion um Rüpel und Kampfradler und dass die sich nicht an Verkehrsregeln halten, und wir haben gesagt, wir wollen nicht so Oberlehrerhaft sagen, du, du, halt dich mal an die Regeln, sondern es umdrehen und es auch erweitern. Autorin 33 Christian Gaebler ist studierter Verkehrsplaner und Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. O-Ton 46 Gaebler weiter Es ist zwar aufgehängt am Radverkehr, aber auf alle anderen bezogen. Dass man eben sagt, gegenseitige Rücksichtnahme. Das gilt für die Radfahrer, das gilt aber auch für die Lieferwagenfahrer, das gilt auch für die Oma mit de Hund und für den normalen Autofahrer, dass man mit mehr Rücksicht ein besseres Klima und ein besseres Miteinander in der Stadt hinbekommt. Autorin 34 Die Initiatoren der Kampagne sind unter anderem das Bundesverkehrsministerium, die Städte Freiburg, Berlin, Münster und der deutsche Verkehrssicherheitsrat. Eine Werbe-Kampagne für mehr Rücksicht - für manche ist das ein Ausdruck dafür, dass man die Lage von Seiten der Politik nicht in den Griff bekommt. Andere, wie Gaebler, halten es für sinnvoll, dass auf diese Weise an die Rücksicht im Straßenverkehr erinnert wird. O-Ton 47 Gaebler Ich glaube, wichtig ist wirklich, dass alle nicht nur sich selbst sehen, sondern auch mal drüber nachdenken, was will der andere und wie kann ich so agieren, dass alle hier zu ihrem Recht kommen, und vielleicht auch mal kurz zurück stecken, andere machen es an anderer Stelle für mich auch mal, und damit kommen alle besser voran als dass ich immer sage, voll drauf und ich habe Recht und im Zweifel schreie ich dann auch rum, wenn ich's nicht bekomme. Eventuell Musik Dynamisch, kurz als Trenner hoch und dann unter Autorin Autorin 35 Eines ist klar: Wir müssen weiterhin miteinander auskommen. Denn der steigende Ölpreis treibt immer mehr Menschen weg vom Auto und rauf aufs Rad. Wie auch das sportliche Bewusstsein. Radfahren ist ein weltweiter Megatrend. Sogar New York macht mit - im kommenden Jahr soll es dort ein Fahrradmietsystem mit 10.000 City-Bikes geben. Die Straßen werden also nicht leerer, die Konflikte nicht weniger. Damit die Lage nicht eskaliert, muss einiges getan werden, meinen alle Beteiligten. Die Lösungsansätze sind dabei äußerst unterschiedlich. Der ADFC Berlin wünscht sich eine... O-Ton 48 ADFC Scheel ... Veränderung der Infrastruktur, dazu gehört auch noch, Tempo 30 auf allen Straßen bis auf die großen Hauptverkehrsstraßen, das heißt Entschleunigung des Verkehrs. Aufklärung, Kommunikation, das alles greift ineinander, und wenn wir das alles wollen und gemeinsam möchten, dann haben wir viel erreicht. Autorin 36 Besser und härter sanktionieren, sagt die Berliner Polizei. Sie möchte eine Fahrradstaffel nach Hamburger Vorbild. Dort gibt es zehn Polizisten, die ausschließlich auf dem Rad in der Stadt unterwegs sind. O-Ton 49 Polizei, Tschisch Die Akzeptanz ist einfach eine ganz andere, wenn ein Radfahrer einen Radfahrer anhält, der gerade einen Verkehrs-Verstoß begangen hat. Dass man sagt: Ach, Polizei auch auf dem Fahrrad, das sieht schon ganz anders aus als im Funkwagen oder zu Fuß. Und man hat eben auch die Chance, hinterher zu fahren. Das kann ich mit dem Auto nicht, da ist spätestens nach dem ersten Poller am Gehweg ist Schluss, und zu Fuß hab ich eh keine Chance. Autorin 37 Der Verkehrspsychologe hält nichts von noch mehr Strafen und fordert mehr Bildung, schon im Vorschulalter, in der Schule und schließlich in der Fahrschule. O-Ton 50 Tesch Natürlich kann man nachträglich mit Strafen arbeiten - auf diese Karte setzen die Juristen - und ich fürchte, dass das ein ganz falscher Weg ist, weil wir aus diesem Land immer mehr ein Vorzimmer zum Knast machen auf diese Weise. Ich würde mir mehr Befähigung zur Selbststeuerung wünschen. Und das geht nicht ohne Schule. Autorin 38 Eine Schule der Rücksicht, sagt der Verkehrspsychologe Lutz Tesch. Jeder sollte wieder mehr zur Eigenverantwortung gemahnt werden. Ein Modell gibt es bereits: "Shared space" heißt die Straßenverkehrs- Philosophie, bei der es nicht mehr, sondern weniger Regeln gibt: keine Fahrbahnmarkierungen, keine Schilder und keine Ampeln. In manchen Gemeinden in Deutschland, England und den Niederlanden gibt es schon diesen "gemeinsam genutzten Raum". O-Ton 51 Radler Schmidt Dann passiert automatisch etwas, dass die Leute anfangen, sich umzugucken, sich zu verständigen und dann setzt der gesunde Menschenverstand ein, und man wartet nicht an einer leeren Straße, und man lässt demjenigen Vorfahrt, der eher da ist. Man achtet auf die Schwächeren, auf die kleineren Fahrzeuge, auf die Fußgänger, der Autofahrer auf die Radfahrer, und es ergäbe sich ein organisches System, das im Fluss wäre. Und dieses rigide sich auf irgendwelche Spuren drängen, das funktioniert einfach nicht. Autorin 39 Viele Lösungen also für ein Problem. Die Antwort ist wohl eine Mischung aus allem. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Rücksicht, weniger Hektik. Und dann gibt es noch ein Mittel, das jedem Verkehrsteilnehmer zur Verfügung steht, das nichts kostet und einen großen Effekt hat. O-Ton 52 Radler Ganz trivial: Man muss immer nur lächeln. Dann ist besser, dann schreit man sich nicht an. 1