Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 21. Juni 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Von Unterwasser-Häusern und schiefen Mietern: Der Wohnungsmarkt in den Niederlanden mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen Musikauswahl und Regie: Keno Mescher Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Eine Architektin über die Stadt Rotterdam: Nirgendwo kann man besser sehen, wie diese Stadt wiederaufgebaut wurde! Rau, roh. Dynamisch und ständig in Bewegung. Das macht Rotterdam so faszinierend. Fertig ist diese Stadt immer noch nicht - aber wir sind auf dem besten Wege Eine Bauherrin über ihre neue Heimat: Es ist einfach weniger unheimlich, wenn man weiss, man ist nicht der einzige, der es wagen will, in einen Ort mit Negativimage, um den man normalerweise einen grossen Bogen macht, Zwei- oder sogar Dreihunderttausend Euro zu investieren! Und eine Hausbesitzerin über ihr Finanzierungsmodell: In Backstein investiertes Geld, verlor nicht an Wert - im Gegenteil: Man kaufte sich ein Haus, um es mit Gewinn wieder zu verkaufen und sich ein grösseres zu leisten. Auch das konnte man dann wieder mit Gewinn abstossen, um noch grösser, mit noch mehr Luxus zu wohnen. Aber damit ist es jetzt vorbei. Von Unterwasserhäusern und schiefen Mietern - Der Wohnungsmarkt in den Niederlanden. Gesichter Europas mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer. Am Mikrofon Katrin Michaelsen Kaufen oder mieten? Viele Niederländer sind ins Grübeln gekommen. Viele, die vor gar nicht langer Zeit kaum gezögert, und sich dafür entschieden hätten, ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen. Denn die Niederlande galten jahrelang als ein Paradies für Hausbesitzer. Nirgendwo sonst in Europa war es so leicht, Immobilien zu erwerben. Nirgendwo sonst waren die Bedingungen dafür so günstig. Mit wenig Eigenkapital und hohem Kredit. Damit ist es aber nun vorbei. Die Zeiten haben sich geändert. Denn der Immobilienmarkt ist in den Niederlanden zusammengebrochen und damit auch das Geschäftsmodell vieler hoch verschuldeter Eigenheimbesitzer. Weswegen immer mehr Niederländer lieber mieten, statt kaufen. Eigentlich kein Problem. Denn auch in puncto Mietwohnungen hat der niederländische Staat für seine Bürger gesorgt. Es gibt so viele bezahlbare Mietwohnungen wie in keinem anderen Land in Europa. Allerdings sind davon 95 Prozent Sozialwohnungen. Oder wie es offiziell heißt - "Wohnungen mit regulierter Miete". Mit Einkommensgrenzen und langen Wartelisten. Für diejenigen aber, die weder für eine Sozialwohnung noch für eine Immobilie in Frage kommen, gibt der Wohnungsmarkt so gut wie nichts her. Und so verharren viele ohne Ausweichmöglichkeit. Oder weil sie sich in ihren preisgünstigen vier Wänden gut eingerichtet haben. Reportage 1 Bezahlbar und mitten in der Stadt: Schiefe Miete im Backsteinhaus In Amsterdam wird vertikal gewohnt. Nur fünf Meter breit ist das typisch holländische Backsteinreihenhaus, in dem Sylvia Likumahua lebt. 5 Meter breit, aber dafür drei Stockwerke hoch. Und die Treppe so steil, dass sie die Bezeichnung Treppe eigentlich nicht mehr verdient. Leiter wäre angebrachter. Wil je een kopje koffie? Ja? Okay! Vor 13 Jahren ist Sylvia hier eingezogen. Sie wohnt im ersten Stock. 55 qm gross ist ihr kleines Reich. Kleines gemütliches Sofa an der Strassenseite, Küchenzeile hinten, dazwischen erstaunlicherweise Platz für einen langen Holztisch mit sechs Stühlen. Im Schlafzimmer ein "Zweifler", wie die Holländer ein 1 Meter 40 breites Doppelbett nennen, , kleine Dusche, noch kleineres WC: dan zit je met je knieen in de deur! Die WC--Tür lässt sich nur mit zur Seite geschobenen Knien schliessen, lacht die 44Jährige.: Aber für mich als Single ist die Wohnung gross genug. Ich brauche nur zur Tür rauszugehen und habe alles in unmittelbarer Nähe: Restaurants, Museen, Kino. Der Vondelpark ist zehn Minuten entfernt. Und mit dem Auto bin ich morgens innerhalb von 20 Minuten Auf Schiphol. Das ist der nationale Flughafen. Sylvia hat bei KLM Karriere gemacht und ist jetzt Managerin. Kurze schwarze Haare, knallroter Lippenstift. 64.000 € brutto verdient sie inzwischen. Genug, um ausgiebig ihrem grössten Hobby frönen zu können: kreuz und quer durch die Welt zu reisen. Gemessen an ihrem Gehalt bezahlt sie eine verschwindend geringe Miete - genau 287 € im Monat sind es nur. Plus 125 € für Strom und Gas. Denn Sylvia ist ein so genannter "scheefhuurder", ein Schiefmieter. So wie die meisten Amsterdamer wohnt sie in einer Sozialwohnung - obwohl sie dafür inzwischen eigentlich viel zu viel verdient. Die Einkommensgrenze liegt bei 38.000 Euro. Bei ihrem Einzug vor 13 Jahren sah es noch anders aus. Damals betrug die Miete 250 Gulden, ungefähr 110 Euro, und Sylvia konnte sich noch nicht so viel leisten. Sonst hätte sie die Wohnung nie bekommen. Drinbleiben kann sie, so lange sie will. Selbst wenn sie Millionärin wird. Um ihre Wohnung in zentraler Hauptstadtlage wird Sylvia von vielen beneidet. Eine ihrer Freundinnen hat gerade mit Mühe und Not eine bezahlbare Mietwohnung in der Umgebung gefunden. Sie zahlt das Dreifache - obwohl sie nur die Hälfte von Sylvias Gehalt verdient. Für eine Sozialwohnung kommt sie nicht in Frage. Ein schlechtes Gewissen hat Sylvia trotzdem nicht: Nein, ganz und gar nicht! Erstens habe ich sehr viel in diese Wohnung investiert, sie war völlig heruntergekommen, als ich einzog. Ausserdem: Wenn ich ausziehe, bleibt das hier keine Sozialwohnung! Das Mädchen über mir, das gerade eingezogen ist, zahlt bereits viel mehr. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich mich nicht schuldig fühle - wenn es eine Sozialwohnung bleiben würde, wäre es etwas anderes. Die Zahl der Sozialwohnungen soll gesenkt werden, um auch der niederländischen Mittelschicht ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu sichern. Denen, die um die 35.000 Euro brutto im Jahr verdienen. Denn bislang ist das Angebot auf dem freien Wohnungsmarkt sehr knapp. . Auch die Wohnung im Erdgeschoss des Amsterdamer Backsteinhauses, die gerade aufwändig saniert wird, verliert ihren Status als Sozialwohnung - um dann wahrscheinlich teurer vermietet oder noch teurer verkauft zu werden. Da ist sich Sylvia ganz sicher. "Schon um halb acht heute Morgen haben sie mit dem Bohren angefangen!" stöhnt sie und verdreht die Augen: Mein Vermieter will mich am liebsten loswerden, das hat er mir auch schon frank und frei gesagt. Er hat mir sogar Geld geboten, wenn ich ausziehe! Als ich das trotzdem nicht wollte, hat er mit die Wohnung zum Kauf angeboten. Auch das habe ich abgelehnt. Dafür hat er sie viel zu schlecht unterhalten. Wer weiss, was da alles an Reparaturen auf mich zukommen würde. Immerhin darf der Vermieter bei Mieterhöhungen mehr verlangen als bisher. Denn inzwischen gilt die Regel, dass diese abhängig sind vom Einkommen des Mieters. Eine von vielen Massnahmen, mit denen die Regierung dafür sorgen will, dass die Besserverdienenden die Sozialwohnungen verlassen und nicht länger blockieren: Sylvia muss mit ihrem Gehalt nun 6,5 % mehr zahlen. Aber, so winkt sie ab: Das seien peanuts: Das dauert Jahre, bis ich die Erhöhungen wirklich unangenehm zu spüren bekomme, vorerst jedenfalls lässt mich das ziemlich kalt. In Bewegung kommt der Wohnungsmarkt deshalb jedenfalls nicht. Die Massnahme sorgt lediglich dafür, dass die Vermieter noch reicher werden! Noch sei Amsterdam im internationalen Vergleich relativ billig, aber, so prophezeit Sylvia: Bald könnten auch hier Zustände wie in London oder New York oder München herrschen. So manche Wohnung - nicht nur Miete, sogar Eigentum! - wechsle bereits den Besitzer - ohne dass der Mieter oder Käufer sie zuvor gesehen hat. Da wird einfach blind geboten - und wer am meisten geboten habe, kriegt sie. Für sie selbst würde ein Umzug in jedem Falle bedeuten, dass sie deutlich mehr zahlen muss als bisher. Da müsste sie schon etwas finden, das auch deutlich mehr Lebensqualität bietet. Und das ist schwer, wenn man so wie sie weiterhin in der Stadtmitte wohnen will. Nur einmal dachte sie ernsthaft daran, eine Wohnung zu kaufen - aber jemand anders kam ihr zuvor. Im Nachhinein ist sie froh darüber. Ich kann tun und lassen, was ich will - und diese Freiheit ist auch etwas wert. Vielleicht läuft mir ja noch der Mann meines Lebens über den Weg - hätte ich eine Eigentumswohnung wäre es dann viel schwieriger, mit ihm zusammenzuziehen. Nein, vorläufig bleibe ich, wo ich bin. Mir geht es prima hier. Wer für eine Sozialwohnung nicht in Frage kam, der kaufte sich eine Immobilie. Das waren lange Zeit die einzigen beiden Alternativen auf dem niederländischen Wohnungsmarkt. Und die Konditionen für Haus-und Wohnungskäufer waren einfach zu verlockend: Ein eigenes Vermögen war nicht nötig, um von der Bank einen Kredit zu bekommen. Die Zinsen für den Hypotheken-Kredit wiederum waren voll von der Steuer absetzbar. Sechs von zehn Niederländern bewohnen mittlerweile ein Eigenheim und kaum einer dachte bis vor kurzem daran, seine Schulden abzubauen. Denn Immobilien-Besitzer konnten davon ausgehen, dass sie über die stetig steigenden Haus-Preise ihren Schuldenberg auf jeden Fall wieder loswurden. Ein Geschäftsmodell, das funktionierte. Über viele Jahre hinweg kannten die Hauspreise nur den Weg nach oben. Und die Schulden der niederländischen Immobilien-Besitzer gingen durch die Decke. Anfang des Jahres 2012 aber schlugen die Rating-Agenturen Alarm. Warnten nicht nur vor wirtschaftlichen Problemen der Hauskäufer, sondern auch vor Problemen der Banken und der gesamten niederländischen Volkswirtschaft. Dabei galten die Niederländer immer als Insel der Stabilität in Europa. Die niederländische Regierung sah sich gezwungen zu handeln, und für viele Bürger entwickelte sich der Traum vom Eigenheim zu einem Albtraum. Reportage 2 Die luxuriösen Jahre sind vorbei: Finanzielle Sorgen im Unterwasserhaus Socken, Unterhosen, Schlafanzug. Die Zahnbürste und das Schmusetier - wo ist das Schmusetier? Femke Vermeer hilft ihren Söhnen beim Packen. Die sind schon ganz aufgeregt, denn sie dürfen das Wochenende bei Femkes Freundin Heidi verbringen. Die hat Kinder im gleichen Alter und wohnt gleich um die Ecke. Lachend streicht sich Femke die halblangen braunen Haare hinters Ohr. Die 35Jährige lässt sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht durch das gemütliche Chaos aus Bilderbüchern, Stofftieren und Brettspielen, das sich wie bei so vielen jungen Familien auch bei den Vermeers breit macht. Wir haben drei Kinder: Dries ist 9, Loek ist 7, und dann haben wir noch eine kleine Tochter, Janne. Die ist drei. Die Vermeers wohnen in Lisse, mitten in der Blumenzwiebelregion, bei Haarlem. In einem Neubauviertel. Ihr modernes Reihenhaus hat wie in den Niederlanden üblich ein offen gestaltetes Erdgeschoss. Die Küche liegt an der Strassenseite, der Wohnbereich hinten am Garten und in der Mitte steht ein grosser Esstisch. "So wie die meisten Niederländer sind auch wir stolze Hausbesitzer", erzählt Femke: Wir haben dieses Haus vor fünf Jahren gekauft. Streng genommen gehört es natürlich nicht uns, sondern der Bank. Die hat uns dafür 315.000 Euro geliehen. Eigenes Vermögen brauchten wir nicht, ein unbefristeter Arbeitsvertrag reichte. Das ist die wichtigste Voraussetzung. Damit bekam man bis vor kurzem noch problemlos ein Hypotheken-Darlehen, das konnte sogar das Fünf- oder sogar Sechsfache des Bruttojahreseinkommens sein. Die Zinsen konnte das Ehepaar ebenfalls bis vor kurzem noch voll von der Steuer absetzen. Hypotheekrenteaftrek heisst diese einzigartige Regelung. Hypothekenzinsabzug. Und mehr als die Zinsen musste man bis vor kurzem als Hausbesitzer in den Niederlanden nicht zahlen. Netto kostet die Hypothek die Familie Vermeer monatlich 1.200 Euro. Das ist relativ viel, weil die Vermeers den Zinssatz für die gesamte Laufzeit der Hypothek festgelegt haben. Inzwischen ist der Zinssatz gesunken und liegt zwischen drei und vier Prozent. Die Familie Vermeer jedoch zahlt 5,6 %. Aber trotzdem wohnen sie immer noch günstiger als zur Miete - für ein vergleichbares Mietshaus würden sie mehr als 1.200 Euro zahlen. Ihre Kredit-Schulden brauchen Femke und ihr Mann Lex nicht abzubauen. Erstens könnten sie dann ja nicht mehr voll vom Hypotheekrenteaftrek profitieren. Zweitens konnte man sich in den Niederlanden bis vor kurzem sicher sein, sein Haus mit Gewinn wieder zu verkaufen. Denn hier sind die Immobilienpreise im Gegensatz zu Deutschland in den letzten 20 Jahren regelrecht explodiert: Mitte der 90er Jahre kostete ein Durchschnittshaus noch 94.000 Euro, 2010 war es gut das Zweieinhalbfache: 240.000 Euro. Die Ursachen: Anders als in Deutschland stiegen Ende der 90er Jahre die Einkommen; auch die Bevölkerung wuchs. Die Nachfrage nach Eigenheimen war gross, das Angebot hingegen klein - und der Baugrund knapp: Die Niederländer gehören zu den dichtbesiedelsten Ländern der Welt. Eine Preisexplosion war die Folge. "Dadurch konnten wir Niederländer 'Wohnkarriere' machen", erklärt Femke: In Backstein investiertes Geld, da konnte man sich sicher sein, verlor nicht an Wert - im Gegenteil: Man kaufte sich ein Haus, um es mit Gewinn wieder zu verkaufen und sich ein grösseres zu leisten. Auch das konnte man dann wieder mit Gewinn abstossen, um noch grösser, mit noch mehr Luxus zu wohnen. Aber damit ist es jetzt vorbei. Denn inzwischen ist die Immobilienblase auch in den Niederlanden geplatzt. Die Niederländer haben eine schwere Rezession hinter sich, die Preise sinken. Seit 2008 haben Immobilien mehr als ein Fünftel an Wert verloren. Gut eine Million Niederländer besitzen auf einmal ein Haus, das weniger wert ist als die Schulden, die sie bei der Bank haben. "Onder water-huizen" werden solche Immobilien genannt, "Unter Wasser-Häuser." Auch die Familie Vermeer ist davon betroffen,: Unser Haus ist nur noch 245.000 Euro wert, und das bei einer Hypothek von 315.000. Das heisst, unser Haus steht 70.000 Euro unter Wasser. Eine sehr passende Bezeichnung, finde ich. Denn unser Haus liegt unter Meeresspiegelniveau. Und jetzt steht es auch noch finanziell unter Wasser! In einem Unterwasserhaus zu leben, bedeutet, dass die Vermeers vorerst bleiben müssen, wo sie sind - in der Hoffnung, dass sich der Markt langsam erholt und sie nach 30 Jahren, nach dem Verkauf des Hauses , wenigsten die Schulden los ist. Aber was ist, wenn in der Zwischenzeit einer der Partner seinen Job verliert oder versetzt wird? Oder noch schlimmer: Was, wenn die Beziehung zerbricht und man sich scheiden lassen will? Femke will davon zwar nicht ausgehen. Aber Angst mache ihr das alles manchmal schon, sagt sie und öffnet ihrer Freundin Heidi die Tür. Heidi hat sich vor zwei Jahren scheiden lassen. Die 38Jährige hatte mit ihrem Exmann Wohnkarriere gemacht und sich bei der Bank 900.000 Euro für den Ankauf einer Villa geliehen. Das Paar konnte es sich leisten, er ist Arzt, sie Diplomchemikerin. Sie teilten sich die Hypothek. Nach der Scheidung übernahm er ihre 50 %, damit seine neue Freundin bei ihm in der Villa einziehen konnte. Heidi zog mit den beiden Kindern in eine Mietwohnung, ungefähr so gross wie das Eigenheim von Femke. Die Miete, die sie dafür zahlen muss, ist höher als die Zinsen von Femke und ihrem Mann. Aber Heidi - eine sportliche Rothaarige mit Sommersprossen auf der Nase - ist froh, dass sie ihre Vergangenheit abschliessen konnte. Auch in finanzieller Hinsicht: Denn die Villa, einst gemeinsam für 900.000 € gekauft, steht 300.000 € unter Wasser - sie zu verkaufen, kann sich Heidis Ex nicht leisten, obwohl seine neue Partnerin gerne woanders hinziehen würde: Mein Ex muss froh sein, wenn er dafür noch 600 oder 650.000 Euro bekommt - wenn er sie überhaupt loswird! Ich selbst habe mir gerade günstig eine Neubauwohnung kaufen können, ein Reihenhaus, das derzeit gebaut wird. Die Preise sind ja so niedrig wie seit Jahren nicht! Das gilt auch für die Kredit-Zinsen. Unterm Strich wird Heidi in ihrem neuen Heim günstiger leben können als Femke - obwohl es grösser ist als das ihrer Freundin. Voll von der Steuer kann Heidi ihre Zinsen allerdings nicht mehr abziehen. Denn die Regierung hat den Hypotheekrentaftrek eingeschränkt. Und Heidi muss nebenbei eine Summe ansparen, die genau der Höhe ihrer Schulden entspricht. Früher war das fakultativ, nun ist es Pflicht. Außerdem wird bald auch in den Niederlanden Eigen-Kapital nötig sein, um Hauseigentümer zu werden. Nach deutschem Vorbild: erst sparen, dann leihen. Maar niet gek, als je er eerst voor gaat sparen voordat je dat doet... Was eigentlich gar nicht so unvernünftig sei, findet Femke, als sie Heidi und die Kinder zur Tür begleitet. Das ganze Land müsse umdenken. Für ihre Kinder und Enkelkinder jedenfalls würden, was den Wohnungsmarkt betrifft, völlig neue Zeiten anbrechen. Europas Metropolen sind Magneten. Viele zieht es in die großen Städte, nach London, nach Paris oder nach Berlin. Auch nach Amsterdam drängt es viele, vor allem ins Zentrum. An die Grachtengürtel. Jeden Monat sind es 1.000 Menschen, die kommen und ein Dach über dem Kopf suchen. Aber das Angebot ist begrenzt. Entweder überteuert. Oder es handelt sich um eine Sozialwohnung, mit Bewohnern, die angesichts der niedrigen Mieten ihre Wohnungen nicht hergeben wollen. Für Neu-Amsterdamer keine leichte Ausgangslage. Nicht nur die Wohnungsnot ist groß, auch der Gebäude-Leerstand ist ein gewaltiges Problem. Und die Zeiten des "Krakens", des legalen Haus-Besetzens sind auch in den Niederlanden schon lange vorbei. Seit 2010 ist Kraken strafbar. Doch es gibt ein Gegenmittel: Und zwar das Anti-Kraaken. Das Hausbesetzen mit Billigung des Hauseigentümers. Fast 50 Agenturen kümmern sich inzwischen landesweit, um die Vermittlung von Bewohnern, die nun nicht mehr Hausbesetzer, sondern Hauswächter genannt werden. Ein florierendes Geschäft. Reportage 3 Wohnungsnot und Kompromisse: Anti-Kraken im Altersheim Neugierig schaut sich Bob de Vilder um. Er ist an diesem Abend zum ersten Mal hier. In einem ehemaligem Altersheim im Westen von Amsterdam. Das mehrstöckige Gebäude aus der 60er Jahren stand bis vor kurzem leer. Eine neue Funktion hat es noch nicht bekommen, aber neue Bewohner. 130 Leute sind eingezogen, die, als Hauswächter dienen - vor allem junge Menschen, weiss der 46jährige de Vilder, ein grossgewachsener fröhlicher Mann, der vor Energie regelrecht zu platzen scheint: Es geht nicht nur um Studenten, sondern auch um Menschen, die vorübergehend ein Dach über dem Kopf suchen. Frisch geschiedene Männer zum Beispiel. Oder Leute mit reisenden Berufen: Künstler und Musikanten, die nach ein paar Monaten weiterziehen. Sie wohnen hier alle in rund 30 qm grossen Seniorenwohnungen, mit Bad und WC und einer kleinen Küche. Dafür zahlen sie lediglich um die 250 € Miete. Das Altersheim ist eines der neusten Projekte von de Vilder, dem Gründer von Camelot, einem Unternehmen, benannt nach dem legendären Schloss von König Arthur, das in ganz Europa leerstehende Bauten mit Hauswächtern besetzt. Leerstandsmanagement heisst das. Denn sobald ein Gebäude leer steht, wird es zum Magneten für Vandalen, Hausbesetzer, Brandstifter und Einbrecher. Die jedoch ziehen in der Regel alle unverrichteter Dinge weiter, sobald hinter den Fenstern Licht brennt: Das ist überall so, ganz egal, ob in Berlin, Paris oder London. Deshalb funktioniert unser Konzept auch in ganz Europa. De Vilder suchte als BWL-Student selbst ein Dach über dem Kopf. Kraken - das Besetzen von Häusern, damals noch erlaubt - kam für ihn nicht in Frage. Stattdessen wurde er zum anti-Kraker: Er fragte Hauseigentümer um Erlaubnis, vorrübergehend in ihre nicht genutzten leerstehenden Häuser einzuziehen. Er durfte. Und kam eine Zeitlang in der leerstehenden italienischen Botschaft in Den Haag unter. "Mit whirlpool !" erinnert er sich lachend. Auch für seine Freunde fand er auf diese Weise ein bezahlbares Dach über dem Kopf. Und dann für die Freunde seiner Freunde. Inzwischen hat Camelot 18 Filialen in sechs Ländern und einen Jahresumsatz von 30 Millionen Euro. Nie hätte sich De Vilder das träumen lassen. Stolz ist er, unglaublich stolz: Ik ben apetrots! Ik had het nooit verwacht. We zijn begonnen voor ons zelf... Wer Wohnraum sucht und sich bei Camelot einschreibt, bekommt einmal im Monat eine Liste mit den schönsten leerstehenden Immobilien. Dazu zählen ganz aktuell ein Märchenfreizeitpark Im Süden des Landes, der Konkurs anmelden musste, mit einem quietschrosa Schloss. Feuerwehrkasernen, Banken, Schulen und viele Klöster und Kirchen. Denn zu Camelots Aufraggebern zählen neben privaten Hausbesitzern viele Städte, der niederländische Staat - und der Vatikan. Weil immer mehr Kirchen und Klöster leerstehen, erklärt De Vilder, als er die ehemalige Grossküche des Altersheims betritt. Dort haben sich ein Physiotherapeut und eine Yogalehrerin ihre Praxen eingerichtet, die allerdings um diese Uhrzeit geschlossen sind. Für 250 € im Monat könnten sie nirgendwo sonst in Amsterdam Praxis-Räume mieten, stellt de Vilder klar. Auch für Existenz-Gründer sei antikraak einfach ideal. 4 min Doch das Konzept hat zwei grosse Nachteile: Im Gegensatz zu normalen Mietern haben Hauswächter so gut wie keine Rechte. Die Kündigungsfrist ist extrem kurz: Hat der Hauseigentümer andere Pläne mit seiner Immobilie, müssen die Hausbewacher innerhalb von 28 Tagen ihre Siebensachen packen. Zweitens ist die Privatsphäre eingeschränkt: Es können sich jederzeit Kontrolleure anmelden, und die besitzen auch einen Schlüssel und können die Wohnungen betreten, wenn die Bewohner selbst nicht da sind. Aber auch das nehmen die Hauswächter in Kauf. Einer von ihnen ist Friedmar Hitzer, ein Geiger aus Deutschland, den es nach Amsterdam verschlagen hat. Der 44jährige wohnt seit sechs Monaten in einer der Seniorenwohnungen. Hereinspaziert! Bett, Mini-Regal, winzige Kochecke und kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen - viel mehr findet auf den 30 Quadratmetern nicht Platz. Trotzdem ist Friedmar hochzufrieden. : Der Nachteil ist halt die kurze Kündigungsfrist, aber das weiss jeder. Das weiss man halt. Was er vor allem schätzt: Hier kann er ungestört Geige üben. Bislang jedenfalls habe sich noch niemand beschwert. das ist mein Baby! Mein Baby hat vier Saiten... Wahrscheinlich deshalb, weil es sich bei den meisten seiner Mitbewohner um Studenten handelt, die tagsüber aus dem Haus sind. So wie Sofie de Vos, kurz Soof genannt. Die 21jährige Kunststudentin wohnt zwei Stockwerke unter Friedmar. 5'30 Hallo! Hi!.... Soof kommt aus Arnheim, wollte aber so wie viele junge Leute unbedingt nach Amsterdam. In Arnheim wohnte ich auch antikraak, am Waldrand, in einem alten Labor. Da hatte ich viel mehr Platz als hier, mindestens 70 qm. Aber ich bin froh, dass ich da weg konnte, das war doch etwas unheimlich! Im Altersheim gefällt es ihr weitaus besser. Auch wenn vieles an die ursprünglichen Bewohner erinnert. Die WCs sind höher als normal, und auf dem Duschboden liegt ein Spezialbelag, damit man nicht so leicht ausrutscht. Die junge Frau mit dem wippenden blonden Pferdeschwanz deutet auf die Klingelschnur über dem Bett an der Wand, mit der frühere Bewohner in Notfällen die Krankenschwester oder den Arzt herbeirufen konnte. "Ich wohne seniorensicher", lacht Soof. Auf dem grossen Tisch mitten im Zimmer liegt der Zettel, den der Kontrolleur hinterlassen hat. Das macht er immer so, wenn Soof nicht da war. Ungefähr einmal im Monat schaut er vorbei. Der Studentin macht das nichts aus. Ich finde es gut, er kontrolliert, ob wir alles gut sauber machen und keine Drogen gebrauchen. Das ist wichtig. So bleibt alles ordentlich. Soof hofft, dass sie mindestens ein Jahr bleiben kann. Wenn sie älter ist, will sie vielleicht Sesshaft werden, in einer grösseren Wohnung. Jetzt ist das noch nicht so wichtig. Jetzt zählt nur eins: Dass sie endlich da leben kann, wo sie schon immer leben wollte: in Amsterdam. Nur einen grösseren Kleiderschrank würde sie sich wünschen. Der passte nicht mehr rein. Das sei eigentlich der einzige Minuspunkt ihres antikraak-Daseins in Amsterdam. Wer es gerne pittoresk mag, mit Grachten und Giebelhäusern, ist in Amsterdam gut aufgehoben. Wer dagegen das Raue und Radikalere vorzieht, muss sich auf nach Rotterdam machen, das nur etwa eine Autostunde entfernt ist. Rotterdam gilt als Experimentierlabor für Architektur und Städtebau. Die ehemaligen Hafengebiete gehören heute zu den besten Wohnlagen der Stadt, mit Wolkenkratzern aus Glas, Stahl und Beton. Kubusförmige Wohnhäuser prägen die neuen Stadtviertel, für die neuen kapitalkräftigen Bewohner. Die machten bislang einen weiten Bogen um Rotterdam. Doch inzwischen haben sie es sich anders überlegt, seit renommierte Architekten dabei sind, der Stadt ein neues Gesicht zu geben. Reportage 4 Neues Image gesucht: Rotterdam und die Superreichen wil je een kopje koffie? Ellen van Loon hat ihr Büro immer in der obersten Etage. Grundsätzlich. In den Filialen in Peking, Hongkong, New York und Qatar. Und auch im Mutterhaus in Rotterdam, unweit vom Hauptbahnhof. Da sitzt sie im siebten Stock und kann bei schönem Wetter bis nach Delft und Den Haag blicken. Lässig hochgesteckte dunkelblonde Haare, topmodische schwarze Jeans, kurze Jacke - die 51 Jahre alte Architektin ist eine dynamische Erscheinung. Resolut, cool. Ellen van Loon arbeitet als eine von 6 gleichberechtigten Partnern im Büro von Rem Koolhaas, dem berühmten "Office of Metropolitan Architecture", kurz OMA genannt. Ich bin Architektin geworden, weil in der Architektur Kreativität und Technik zusammenkommen, dieser Mix ist eine Herausforderung ganz besonderer Art. Mein Interesse gilt grossen komplexen Projekten. Deshalb bin ich hier. Denn mit grossen komplexen Projekten ist sie bei OMA an der richtigen Adresse. Das beweisen auch die Fotos an ihren Bürowänden, die ihre wichtigsten Bauten zeigen. Zum Beispiel die niederländische Botschaft in Berlin. Oder die Konzerthalle in Porto, die Casa da Musica: Gleich hat Ellen einen Termin im Süden von Rotterdam, bei einem ihrer aktuellen Projekte: ein Ensemble aus drei Wolkenkratzern mit Wohnungen, Büros, Läden, Restaurants, Fitnessstudio und Hotel. "De Rotterdam" heisst es. 5.500 Menschen sollen dort bis Ende des Jahres wohnen und arbeiten. "Vertikale Stadt" wird der Komplex deshalb auch genannt. 165 Meter hoch ist er und das grösste Gebäude der Niederlande. Der Neubau macht dem Beinamen von Rotterdam als "Manhattan an der Maas" alle Ehre. Er soll dafür sorgen, dass die Besserverdienenden ins Stadtzentrum zurückkehren, erklärt Architektin van Loon, die selbst in Rotterdam aufgewachsen ist: 2 min Rotterdam ist immer eine Arbeiterstadt gewesen, wegen des Hafens und der Petrochemie. Und es ist natürlich die Stadt, die im Zweiten Weltkrieg von den Nazis plattbombardiert wurde. Es gibt hier so wie in Berlin immer noch viele kahle leere Stellen. Unser Stadtzentrum wurde damals ausradiert. Verglichen mit Amsterdam ist Rotterdam rau und ungeschliffen. Und arm. Nicht nur die Mieten, auch die Immobilienpreise sind weitaus niedriger als in Amsterdam, weiss Ellen und ruft noch schnell einen Auftraggeber in Kopenhagen an. Die niedrigen Preise zogen zwar einerseits viele Künstler, Designer und auch Architekten an - keine andere niederländische Stadt hat eine so hohe Dichte an Architekturbüros. Aber andererseits noch mehr Arbeiter und Arbeitsuchende, noch mehr arme Immigranten. Zur Entlastung bestimmter Viertel haben die Stadtväter deshalb eine Einkommensgrenze eingeführt: Wer nichts oder zu wenig verdient, darf sich nicht niederlassen. Eine umstrittene Maßnahme. Die Besserverdienenden hingegen haben das Stadtzentrum verlassen. Sie liessen sich in den Aussenbezirken nieder, dem so genannten Speckgürtel. Oder sie zogen noch weiter weg, so Ellen van Loon: Das verändert sich jetzt zum Glück ganz stark. Weil speziell für diese Zielgruppe qualitativ hochwertige und grosse Wohnungen gebaut werden. So wie in "de Rotterdam". Solche Projekte sorgen dafür, dass die Besserverdienenden ins Stadtzentrum zurückkehren und ihm neues Leben einhauchen! Dort sei es abends oder am Wochenende jetzt nicht mehr wie ausgestorben, sondern brausend und viel lebendiger. Weil mit den Besserverdienenden auch Unternehmer gekommen sind mit Läden, Cafés und Restaurants, betont die Architektin, als sie sich auf den Weg zu ihrem Mitarbeiter Nicolas Plump macht. Der soll sie beim Besichtigungstermin begleiten. Sie durchquert den riesigen Raum, in dem die Modelle der jüngsten OMA-Projekte aufgebaut sind. Egal, ob Qatar, Monaco oder Brighton - Koolhaas und seine Partner bauen in der ganzen Welt. Ein Modell ist noch in Plastikfolie gehüllt. Vorsichtig packt es die Architektin aus. Es sieht aus wie eine weisse Wolke, die sich auf einen rechteckigen Altbau gelegt hat. Ein weiteres Projekt mit Läden, Büros und Luxusapartments, das OMA derzeit im Zentrum von Rotterdam realisiert. Es sei ein ganz besonderer Kick, für die eigene Stadt zu bauen, meint Ellen. Sie hat Nicolas gefunden. Er sitzt mit seinen Kollegen in seinem Büro. Nicolas Plump ist einer der insgesamt 200 OMA-Mitarbeiter in Rotterdam. Weltweit sind es 330. Nicolas kommt aus Bremen. Dem 24Jährigen gefällt es gut in Rotterdam. Seit fast einem Jahr lebt er in der Hafenstadt: Spannend sei es. Und weniger touristisch als in Amsterdam. Grachtenidylle habe Rotterdam zwar nicht mehr zu bieten. Aber dafür spektakuläre Wolkenkratzer, einer höher und futuristischer als der andere. Es passiere hier viel mehr als in Amsterdam, meint Nicolas auf der Fahrt zur "Vertikalen Stadt". Für junge Leute sei Rotterdam einfach super. Es ist auch noch nicht so etabliert wie in Amsterdam. Hier ist es irgendwie experimenteller und avantgardistischer. Es ist eine richtig lebhafte Stadt. Jetzt fahren wir zu 'de Rotterdam' und sind auch schon fast da. Da hinten ist das Hotel New York. Und hier fahren wir schon grade vorbei! Ellen van Loon wartet bereits in der Lobby, um dann mit dem Lift ganz nach oben zu fahren, zur Besichtigung einer Modellwohnung. 54 Miet- und 186 Eigentumswohnungen hat die vertikale Stadt zu bieten. 65 bis 250 qm gross, die billigsten kosten 180.000 €, die teuersten 750.000. Je höher, desto teurer wird es. Denn ganz oben ist die Aussicht über Stadt, Fluss und Hafen überwältigend: Dafür sorgen die grossen, bis zum Fussboden verglasten Fensterflächen. Nirgendwo kann man besser sehen, wie diese Stadt wiederaufgebaut wurde! Bald können wir Amsterdam das Wasser reichen, auch wenn wir ganz anders sind: rau, roh. Dynamisch und ständig in Bewegung. Das macht Rotterdam so faszinierend. Fertig ist diese Stadt immer noch nicht - aber wir sind auf dem besten Wege! Ellen rechnet damit, dass die Wohnungen bis Ende des Jahres alle bewohnt sind. Nach der Sommerpause werden auch sämtliche Büroräume besetzt sein, erzählt die Architektin, als sie sich wieder zum Lift begibt. Sie will noch im soeben eröffneten Restaurant und der Hotellobby nach dem Rechten schauen. Da hat ihr Büro auch die Inneneinrichtung gestaltet. Bis zu 5.500 Menschen werden schon in wenigen Monaten in "de Rotterdam" wohnen, arbeiten und geniessen. Ellen van Loon kann es kaum erwarten. Denn richtig zum Leben erwachen wird ihre "vertikale Stadt" erst dann. Der Wohnungsmarkt in den Niederlanden ist im Umbruch. Und nicht nur bei Städteplanern und Architekten ist ein Umdenken angesagt, sondern auch bei denjenigen, die auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum sind. Und das trotz ökonomischer Krise. Wer zum Beispiel bereit ist, selber anzupacken, der hat selbst in einer Stadt wie Amsterdam Chancen auf ein Eigenheim. Reportage 5 Umdenken und Anpacken: Heimwerkerhäuser in Amsterdam Wow!.... Marcel van Kool staunt nicht schlecht, als er die Wohnung seiner zukünftigen Nachbarin Anouk besichtigt. Die ist zwar noch im Rohbau, aber um Einiges weiter als seine Wohnung: Bei Anouk sind die Balkontüren bereits eingebaut und sämtliche Mauern geweisselt. Dit wordt de keuken.... Voller Stolz erklärt Anouk, wo die Küche geplant ist, wo das Büro ihres Mannes und das Schlafzimmer der kleinen Tochter... Anouk und Marcel haben beide im Amsterdamer Stadtviertel Slotervaart ein so genanntes Klushuis gekauft, frei übersetzt: eine Heimwerkerwohnung . Klushuizen sind heruntergekommene und manchmal sogar abbruchreife Mietwohnungen in sozial schwachen Vierteln, wo Armut, Kriminalität und Arbeitslosigkeit hoch sind. Die neuen Eigentümer können sie zu einem Schnäppchenpreis erwerben - vorausgesetzt, sie verpflichten sich, die Wohnungen anständig zu sanieren und dann auch zu bewohnen und nicht unter zu vermieten. "Wir sanieren im Kollektiv", erklärt Marcel, ein 50 Jahre alter Projektmanager, sportlich, rotblond und sehr resolut: Wir sind 30 Pärchen und junge Familien. Vor zwei Jahren haben wir einer Wohnungsbaugesellschaft gemeinsam dieses vierstöckige Mietshaus hier abgekauft, das eigentlich abgerissen werden sollte. Ein Bauunternehmen hat in unserem Auftrag die Fassaden saniert, das Dach und die Treppenhäuser. Jetzt renoviert jeder von uns in seinem eigenen Tempo weiter und baut seine eigene Wohnung aus. Wer ganz oben wohnt, kann sich eine 40 qm grosse Dachterrasse anlegen, super ist das! Der Ankauf des langgezogenen quaderförmigen Betonhochhauses kostete jeden Haushalt rund 100.000 Euro, die Grundsanierung weitere 90.000. Alles Weitere ist von den individuellen Wünschen der Bewohner abhängig, Marcel hat dafür ein Budget von nochmals 100.000 Euro reserviert. Am Ende wird sein neues Heim ihn und seine Freundin 290.000 Euro kosten - inklusive Luxusbadezimmer, einer Küche mit allem Drum und Dran und einem kleinen Garten. Und das in Amsterdam. Auf 120 qm. Das sei nicht viel. Normalerweise müsse man in Amsterdam das Doppelte zahlen. Mindestens. Einen kleinen Haken hat das Ganze allerdings: Sozusagen als Gegenleistung müssen die zukünftigen Bewohner den sogenannten Sprung über den Ring wagen, die Stadtautobahn A10: Was etwas heissen will, findet Anouk. Denn ein echter Amsterdamer bleibt am liebsten innerhalb des Rings, erklärt die 31 Jahre alte Städtebauexpertin. Und damit nicht genug: Sie hat nicht nur den Sprung gewagt, sie ist auch noch in Slotervaart gelandet - ausgerechnet in jenem berühmt-berüchtigten Immigrantenviertel, in dem auch Mohammed Bouyeri aufgewachsen ist, Moslemextremist und Mörder des islamkritischen Regisseurs Theo van Gogh. Auch Marcel hatte deshalb zunächst grosse Berührungsängste: Als ich hier das erste Mal war, sagte ich zu meiner Freundin: Nur über meine Leiche! Erstens bin ich kein Heimwerker, ich habe zwei linke Hände, zweitens ist das eine Gegend, die für mich nicht in Frage kommt! Aber dann haben wir uns mit den anderen Interessenten getroffen, und die Atmosphäre war so gut, es hat sofort geklickt. Tja, und jetzt sind wir zwei Jahre weiter, und ich habe es noch keine Sekunde bereut, dass ich mit dabei bin! Anouk kann das nur bestätigen. Sie kenne ihre zukünftigen Nachbarn schon jetzt hundertmal besser als ihre alten - obwohl sie noch gar nicht eingezogen sind. Was ihr ebenfalls geholfen hat: Ein Klushuis kann der zukünftige Bewohner selbst gestalten, sogar den Grundriss, also die Einteilung der Zimmer. Das sind Niederländer nicht gewöhnt, im Gegensatz etwa zu Belgiern oder Deutschen. In der Regel müssen die Niederländer mit dem Vorlieb nehmen, was Wohnungsbaugesellschaften oder Projektentwickler für sie geplant und gebaut haben. "Hier können wir selbst bestimmen, wie wir wohnen wollen!" freut sich Marcel und begrüsst Maike Schravenzande, die gerade aus Rotterdam eingetroffen ist und sich ebenfalls neugierig in dem Rohbau umschaut. Maike begleitet die 30 Haushalte bei der Sanierung und steht ihnen im Auftrag der Rotterdamer Bauberatungsfirma Urbannerdam mit Rat und Tat zur Seite. Denn das Klushuizen-Konzept stammt ursprünglich aus Rotterdam. Es begann in Spangen, einem berüchtigten Rotterdamer Stadtteil, wo Drogenhandel und Prostitution blühten. Das war 2005, erklärt die 33Jährige: Die Stadt hatte dort baufällige Sozialwohnungen zunächst auf eigene Kosten sanieren lassen, um sie an Besserverdienende zu verkaufen. Doch das funktionierte nicht. Niemand wollte sie haben. Doch dann entstand auf einmal die Idee, 35 solcher Häuser gratis wegzugeben. Weil sie wirklich total verfallen waren. Und die Rechnung ging auf! Auf einmal meldeten sich 400 Interessenten! Die 35 Wohnungen mussten verlost werden! Inzwischen wurden in Spangen 95 kluswohnungen auf diese Weise saniert. Das Viertel konnte dadurch enorm aufgewertet werden. Denn bei den neuen Bewohnern handelt es sich meistens um sehr unternehmungslustige junge Menschen mit hoher Schulbildung, die am Anfang ihrer Karriere stehen und in der Regel auch noch sozial sehr engagiert sind, weiss Maike. Bei der Bestimmung des Kaufpreises für eine Klus-Wohnung gehen wir von ihrem zukünftigen Wert aus. Von dem Preis, für den sie, wenn sie vorbildlich saniert ist, weiter verkauft werden könnte. Davon ziehen wir dann sämtliche Sanierungskosten ab, auch die des Architekten. Was übrig bleibt, ist der Betrag, für den die Klus-Wohnung weggegeben werden kann. In Spangen sind wir bei dieser Rechensumme im Minus gelandet, so verfallen waren die Häuser. Eigentlich hätten wir die Käufer noch mit 20 oder 30 Euro für den Ankauf belohnen müssen! Maike weiss, wovon sie spricht: Sie wohnt mit ihrem Freund und ihrem Sohn selbst in einer Kluswohnung in Spangen. Vor der Tür wurde gedealt, hinter der Tür lagen tote Tauben, der Holzwurm hatte freies Spiel, der Holzfussboden war total verrottet. Doch davon liessen sich weder Maike noch ihr Freund beeindrucken, statt dessen krempelten sie die Hemdsärmel hoch: Nach ein paar Monaten hatten wir allerdings einen Durchhänger, da dachten wir: Das schaffen wir nie! Worauf haben wir uns da bloss eingelassen! Aber alles wurde gut! Ein Dreivierteljahr später hatten wir ein prächtiges Haus! Denn auch Maike sanierte im Kollektiv, ein enormer Vorteil. Die "Magie der Gruppe", wie sie es nennt, könne über sämtliche Tiefpunkte hinweghelfen: Es ist einfach weniger unheimlich, wenn man weiss, man ist nicht der einzige, der es wagen will, in einen Ort mit Negativimage, um den man normalerweise einen grossen Bogen macht, Zwei- oder sogar Dreihunderttausend Euro zu investieren! Die Magie der Gruppe hilft Leuten über die Hemmschwelle. Auch später bei der Sanierung. Uns wurden zum Beispiel während der Bauarbeiten sämtliche Heizkessel geklaut. Da hatten wir uns wirklich gegenseitig nötig. Um uns zu trösten. Auch dieser Faktor erklärt den Erfolg des Konzepts. Egal, ob Rotterdam, Amsterdam, Utrecht oder Eindhoven - Inzwischen gibt es klus-Häuser im ganzen Land. Aus einem Experiment ist ein Instrument geworden. Überall liessen sich auf diese Weise sozial schwache und verarmte Stadtviertel aufwerten, meint Maike, während Anouk ihren zukünftigen Balkon inspiziert und sich vorstellt, wie sie ihre kleine Tochter schon bald von hier aus vom Spielen nach oben zum Abendessen rufen wird. Anouk guckt auf ihre Armbanduhr. Dann beschliesst sie, die anderen rauszuwerfen: Sie muss nach Hause, zu Mann und Kind. Das Abendessen wartet. Denn auch wenn sie es kaum erwarten kann: Noch wohnt sie nicht hier. Noch nicht. Von Unterwasserhäusern und schiefen Mietern - Der Wohnungsmarkt in den Niederlanden. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer. Musikauswahl und Regie: Keno Mescher. Ton und Technik: Kiwi Hornung und Hendrik Mannok. Am Mikrofon war Katrin Michaelsen ------------------------------------------ 20