COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 14. September 2009, 19.30 Uhr Wer will noch mal, wer hat noch nicht! - von Wahlgeschenken und Wahlversprechen Von Wolf-Sören Treusch MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) 0'04 frei, dann drunter Klaviervorspiel (verlängern) TAKE 1 (Hans-Hermann Tiedje) Die Definition eines Wahlgeschenks ist, äh, dass, äh, ... TAKE 2 (Heribert Prantl) Was wir üblicherweise als Wahlgeschenk bezeichnen, ist so was wie die Dreingabe. Wie der Kugelschreiber, den man bei der Bank erhält oder das Lineal. Es wird einem etwas nachgeworfen, und man hebt es auf und sagt ,danke'. TAKE 3 (Hans-Hermann Tiedje) Insbesondere dann, wenn es unmittelbar vor der Wahl stattfindet. Und unmittelbar vor der Wahl würde ich einen Zeitraum ansetzen von einem halben Jahr vor der Wahl. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) 0'08 frei, dann weg Ich weiß, das ist nicht so. Ich weiß, das kommt nicht so. SPRECHER VOM DIENST Wer will noch mal, wer hat noch nicht! Von Wahlgeschenken und Wahlversprechen. Ein Feature von Wolf-Sören Treusch MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) Ich weiß, das wird nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir das ein. (Klaviervorspiel dran) TAKE 4 (Hans-Ulrich Jörges) Der Staat steht wegen der Wirtschaftskrise vor gigantischen Steuerausfällen, und die Parteien tun als wär gar nix, die verteilen das Geld wie Konfetti. Wir erleben eine riesige Konfettiparade. TAKE 5 (Gerd Langguth) Sie wollen - das ist demokratischer Wettbewerb - vor den Wahlen ihre Ausgangschancen verbessern. TAKE 6 (Hans-Hermann Tiedje) Die Abwrackprämie ist das Wahlgeschenk des Jahres 2009. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) (Summen (ab 3:01) schon drunter) ... nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir das ein. (Schlussakkord) AUTOR In der Internet-Suchmaschine Google erzielt man 178.000 Treffer, wenn man den Begriff ,Wahlgeschenk' eingibt. Das ist nicht viel. Yahoo findet schon 423.000 Einträge, darunter an vorderer Position den Link zu einer Webseite mit Hinweisen zur Damenwahl-Geschenkbox. Die freie Enzyklopädie Wikipedia kennt ,Wahlgeschenk' nicht, als ähnlichen Begriff schlägt sie ,Weihgeschenk' vor. Und wissen.de weiß zu berichten: "ein Wahlgeschenk ist das Zugeständnis eines Politikers vor der Wahl an die Wähler". Immerhin. - Zwei Wochen vor der Bundestagswahl bietet das weltweite Gewebe wenig Erhebendes zum Thema. Dabei ist Wahlkampf ohne Wahlgeschenke und Wahlversprechen in der Bundesrepublik nicht denkbar. Heribert Prantl ist Leiter des Ressorts Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Sinn und Zweck von Wahlgeschenken. TAKE 7 (Heribert Prantl) Ein Wahlgeschenk ist etwas, was politische Parteien versprechen, einzig und allein zu dem Zweck, Stimmen zu requirieren, ohne dass ein großer gesellschaftlicher Nutzen dabei herausspringt. So liegt es in der Absicht des Schenkenden, dass unmittelbar ein Bezug besteht zwischen dem Versprechen und der Gegenleistung, die man dafür haben will. Es ist ja, wie der Lateiner sagt, ein ,Do-ut-des-Verhältnis': ich gebe, damit du gibst. Ich gebe dir ein Geschenk und du gibst mir dafür deine Stimme. Wenn ich das zwei Jahre vorher mache, dann ist der unmittelbare Bezug nicht mehr da, dann wird der im Jahr 2007 Beschenkte nicht daran denken, dass er im Jahre 2009 der SPD oder der CDU oder der FDP seine Stimme gibt. AUTOR Wahlgeschenke zu verteilen oder zu versprechen, gehört wie selbstverständlich zur Wahlkampfstrategie der Parteien. Bestes Beispiel in diesem Jahr: die Abwrackprämie. Sie war zunächst als klassisches Konjunkturprogramm gedacht, um die Autoindustrie vor dem Untergang zu bewahren. Als die politisch Verantwortlichen merkten, wie gut die Kaufanreize bei den Wählern funktionierten, machten sie aus der Abwrackprämie eines der größten Wahlgeschenke der bundesdeutschen Geschichte. Professor Manfred Görtemaker vom Institut für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. TAKE 8 (Manfred Görtemaker) Denn das Volumen ist ja sehr stark aufgestockt worden, insgesamt sind es jetzt etwa 5 Milliarden Euro, die da in die Hand genommen werden, die Laufzeit ist verlängert worden, und gerät jetzt natürlich immer näher an den Wahltermin heran, insofern ist die Verlängerung der Laufzeit der Abwrackprämie und die Erhöhung des Volumens, das ja zunächst begrenzt war, in der Tat eher als Wahlgeschenk zu sehen, wobei hier das Gerechtigkeitsproblem angesprochen worden ist, denn man konnte nicht gut argumentieren, dass die einen das bekommen und die anderen es dann eben nicht mehr bekommen, trotzdem: in dem Fall würde ich schon von einem Wahlgeschenk sprechen, weil es tatsächlich Wahl beeinflussend gewesen wäre, wenn man es nicht verlängert hätte. AUTOR Gerd Langguth, Honorarprofessor an der Universität Bonn mit dem Themenschwerpunkt ,Politische Entscheidungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland' ergänzt: TAKE 9 (Gerd Langguth) Die Abwrackprämie ist ein gutes Beispiel. Es zeigt ja: wenn es etwas in Anführungsstrichen "umsonst" gibt, dann laufen die Leute. Und wollen dann einen wirtschaftlichen Vorteil, vielleicht aus dem Denken heraus: ich habe jetzt viele Jahre Steuern bezahlt, jetzt will ich wenigstens was davon raus haben, das ist die egoistische Methode, ich muss sagen, dass ich mir erwartet hätte, dass vielleicht auch die Kanzlerin - sie ist ja nicht die drängende in dieser Frage, sondern das ist ja eher der sozialdemokratische Partner, der das besonders stark vorangetrieben hat - dass vielleicht die Kanzlerin irgendwann mal gesagt hätte, ,so, jetzt ist Schluss'. Jedenfalls hätte sie die zweite Tranche meines Erachtens verhindern können, aber in Wahlkampfsituationen sagt man ungern nein. Das ist ja genau das Problem: wenn die Krisensituation, ob das ,Arcandor' ist, ob das ,Quelle' ist, wer auch immer, da gibt es dann Erpressungspotenziale. AUTOR Und keiner fragt mehr, wie sinnvoll eine politische Maßnahme ist. Die Wählerstimme muss her, koste sie, was es wolle, auch wenn es reichlich Wähler und Politiker gab und gibt, die die Abwrackprämie als ökonomisch und ökologisch töricht bezeichnen. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung: TAKE 10 (Heribert Prantl) Das Erstaunliche an der Geschichte oder in Erkenntnis der menschlichen Schwäche nicht Erstaunliche war ja, dass ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger dieses Wahlgeschenk, diese Abwrackprämie kritisiert haben, für eine Narretei erklärt haben, aber zugleich diese Narretei gern in Anspruch genommen haben. Das heißt: man sagt ,Narretei', macht sich aber für 2.500 Euro auch ganz gern selbst zum Narren. Man nimmt den Vorteil und sagt: ,na gut, mir bringt es etwas, gesamtwirtschaftlich halte ich es für wenig sinnvoll', das heißt jeder ist sich selbst der Nächste und das ist das Prinzip von Wahlgeschenken. Oder das Prinzip, mit dem Wahlgeschenke funktionieren. AUTOR Um noch besser verstehen zu können, warum Wähler für Wahlgeschenke verführbar sind, lohnt sich ein Streifzug durchs Fachgebiet der Politischen Psychologie. Das ist ein Wissenschaftszweig, der die Gefühle und Verhaltensmuster von Menschen erforscht, die politische Handlungsabläufe bestimmen. Thomas Kliche ist Mitarbeiter im Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg und Fachmann für Politische Psychologie. Er sagt: Wahlgeschenke haben vor allem eine symbolische Bedeutung. TAKE 11 (Thomas Kliche) Erstens: den Menschen wird deutlich gemacht: es geht aufwärts, es geht uns gut, wir haben überhaupt was zu verteilen, es ist nicht so, dass alle den Gürtel enger schnallen müssen, sondern mit einem bisschen Geschick kann man in ein paar Jahren wieder auf einen grünen Zweig kommen. Die zweite symbolische Botschaft, die Wahlgeschenke vermitteln, ist die von Führung. Sozialpsychologisch betrachtet ist es ganz banal so: der Führer einer Gruppe verfügt über wertvolle Ressourcen, und die kann er verteilen. Das ist ein Teil von Führung. Das heißt: wer deutlich macht, ich kann Ressourcen verteilen, der sagt auch allen, ich habe hier die Führung, ich habe hier die Hosen an. Und der dritte Aspekt ist - was für Politiker sehr instinktiv ständig mitläuft: die Ankündigung von irgendwelchen Geschenken nach der Wahl ist eine Kontrollgeste. Ich habe im Griff, was nach der Wahl passieren wird. Der Kandidat geht gewissermaßen schon in die Rolle einer gewonnenen Wahl, in die Rolle eines politischen Amtes, einer politischen Entscheidung und nimmt diese vorweg und zeigt allen: ich bin schon fast Kanzler. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté)0'16 frei, dann weg Ich weiß, das ist nicht so. Ich weiß, das kommt nicht so. Ich weiß, das wird nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir das ein. TAKE 12 (Thomas Kliche) Die Steuererleichterungen, die im Moment angekündigt werden, klingen für viele Menschen auch deshalb recht ehrlich, weil Umverteilung in unserem Land momentan angesagt ist. Das heißt: mit dieser Ankündigung von Steuererleichterungen teilen die Politikerinnen und Politikern den Menschen auch mit: ,hey, wir sind auf Eurer Seite, wir glauben auch, dass Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich und Frieden wichtig ist und dass es euch allen gut gehen sollte und nicht nur den Ackermännern'. AUTOR Trotz der Wirtschaftskrise führen die Parteien Wahlkampf, als gäbe es kein morgen. Sie versprechen sichere Renten und niedrige Steuern, Bildungsausgaben rauf und Arbeitslosenzahlen runter oder gleich Reichtum für alle. Dabei ist klar: in den kommenden vier Jahren verschuldet sich der Staat mindestens um weitere 311 Milliarden Euro. Gegenfinanzierung Fehlanzeige. "Willkommen im Land der Illusionen" schreibt der SPIEGEL. TAKE 13 A (Angela Merkel) Mit mir ist eine Steuererhöhung in der nächsten Legislaturperiode nicht zu machen. TAKE 13 B (Peer Steinbrück) Ich werde einen Teufel tun, Stichworte in eine öffentliche Debatte zu werfen, wo ich anschließend fünf Tage brauche, um die Stange wieder gerade zu biegen. Ich schließe alles ein, ich schließe alles aus. TAKE 13 C (Gregor Gysi) Im Herbst 2010, wette ich mit Ihnen, dass Sie leider eine Mehrwertsteuererhöhung beschlossen haben werden, welcher Art auch immer. AUTOR "Ist der Staat erst ruiniert, dann wahlkämpft es sich völlig ungeniert". Zu dieser Erkenntnis kommt Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Chefredaktion der Illustrierten ,Stern' in seiner Web-TV-Kolumne über die "aberwitzigsten Wahlversprechen" der Parteien. TAKE 14 (Hans-Ulrich Jörges) Wenn wir eine Milliarde Euro in 500-Euro-Scheinen übereinander stapeln, dann kriegen wir einen Turm in der Größe des Pariser Eiffelturms. Nämlich 324 Meter hoch. So, und nun stellen wir fest, dass der Staat wegen der Wirtschaftskrise Steuerausfälle - Bund, Länder und Gemeinden - in der Größenordnung von einigen Hundert solcher Eiffeltürme haben wird. Die Linkspartei will zwei Millionen Arbeitsplätze schaffen mit 180 Milliarden Euro. Das habe ich mal so aufgemalt: das sind 180 Eiffeltürme, natürlich nur ganz klein dargestellt, die Linkspartei will über Steuererhöhungen das alles finanzieren, wer das bezahlen soll, wissen die Götter. Man sieht daran: bei den Parteien ist Jahrmarkt im Himmel, wir leben aber alle zusammen als Steuerzahler auf der Erde, und da sollten wir auch bleiben, und wir sollten im Wahlkampf keiner Partei irgendetwas glauben, was Geld kostet. AUTOR Die CDU/CSU verspricht Steuersenkungen in einer Größenordnung von etwa 25 Milliarden Euro, allerdings frühestens im Jahr 2012. Heribert Prantl: TAKE 15 (Heribert Prantl) Diese Debatte hält die Bürgerinnen und Bürger für blöder als sie sind. Die "zu Beschenkenden" in Anführungszeichen hören doch tagtäglich, wie die Politik mit Konjunkturpaketen, mit Milliardenbürgschaften die Wirtschaft unterstützen muss, der schlichte Menschenverstand kann sich nicht vorstellen, wie man mit Steuergeschenken diese Konjunkturpakete finanzieren will. Wenn man allerdings das Gefühl haben muss, dass die Steuersenkung einzig und allein aus den Gründen geboren ist, den Bürgern Honig ums Maul zu schmieren und man zugleich aufgrund der wirtschaftlichen Gesamtumstände davon ausgehen muss, dass Steuersenkungen eigentlich aufgrund dieser Lage nicht in Betracht kommen, dann ist es nicht nur ein Wahlgeschenk abträglicher Art, sondern letztendlich Wählerbetrug. Wählerbetrug ist ja eigentlich etwas, was letztendlich bestraft gehört. AUTOR Laut Umfragen halten zwei Drittel der Deutschen einen radikalen Sparkurs für notwendig. Wer als Politiker das Blaue vom Himmel verspricht, macht sich unglaubwürdig. Und kann doch nicht anders, sagt Thomas Kliche, Experte für Politische Psychologie. TAKE 16 (Thomas Kliche) Der Politiker führt ja hier einen Seiltanz auf zwischen Wahrheit, Ehrlichkeit einerseits und Gefälligkeit für alle andererseits. Das ist ein Seiltanz, den auch andere Berufe kennen: die Studien am Uni-Klinikum Eppendorf zeigen, dass die meisten Ärztinnen und Ärzte ganz große Schwierigkeiten haben, einem Demenzpatienten offen ins Gesicht zu sagen, ,hey, deine Gedankenkraft wird in den nächsten Jahren verschwinden'. Warum? Weil das ein fürchterliches Urteil ist und weil man nicht ganz sicher ist, wie schnell das verläuft und ob man da wirklich ehrlich sein muss und ob man da sich nicht vielleicht geirrt hat. Auch Ärzte und Ärztinnen führen Seiltänze auf, sie müssen abwägen zwischen dem Preis der Wahrheit und dem Preis der Unwahrheit. Das ist oft schwierig, denn Situationen sind unübersichtlich. AUTOR Nicht umsonst liegen die Politiker, die den Seiltanz am glaubwürdigsten vollführen, die sozusagen der Wahrheit am nächsten kommen wie Bundesfinanzminister Peer Steinbrück oder Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg weit vorne auf der Beliebtheitsskala. TAKE 17 (Thomas Kliche) Die Gemeinheit beginnt dann, wenn sie mit diesen Wahlversprechen unseren Wunsch nach einer heilen Welt auszunutzen beginnen. Andererseits werden sie dann auch Opfer ihrer eigenen Unwahrheiten. Denn nachher geben wir ihnen natürlich die Schuld. Und nichts ist leichter, als einem Politiker die Schuld für alles zu geben. AUTOR Hans-Hermann Tiedje, Medienmanager, Journalist und ehemals Chefredakteur der BILD-Zeitung, 1998 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl im Wahlkampf gegen Gerhard Schröder zu seinem persönlichen Berater berufen, sagt: Glaubwürdigkeit ist gefährlich - zumindest im Wahlkampf. TAKE 18 (Hans-Hermann Tiedje) Wenn ich in die Wahl ziehe und beschreibe die Lage realistisch, dann habe ich eine hohe Chance, Wähleranteile zu verlieren. Weil: ich will nicht sagen, dass das Publikum belogen werden will, ich glaube aber, dass das Publikum auch träumen will. Das Publikum träumt gern von schöneren, besseren Zeiten. In den 60er Jahren hieß es immer: die SPD verspricht den Leuten in NRW immer den blauen Himmel über der Ruhr. Das waren aber immer noch rauchende Schornsteine, aber der blaue Himmel geisterte so rum, und ich glaube, dass ein großer Teil der Leute im Ruhrgebiet auch davon geträumt hat, dass der Himmel sauber ist und frei und blau und schön. Deswegen neigen Politiker dazu, dem Volk nach dem Munde zu reden, und wenn die Wahl vorbei ist, dann ist Kassensturz, das ist immer das Erste, und dann ist immer die übliche Reaktion, dass man sagt: ,wenn wir gewusst hätten, wie schlimm es um die Kasse steht, dann hätten wir es gar nicht machen können'. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) 0'16 frei, dann weg Ich weiß, das ist nicht so. Ich weiß, das kommt nicht so. Ich weiß, das wird nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir das ein. AUTOR Ein Paradebeispiel dafür, dass zu viel Glaubwürdigkeit im Wahlkampf schaden kann, lieferte Angela Merkel vor vier Jahren. Die CDU/CSU hatte eine zweiprozentige Mehrwertsteuererhöhung in ihr Wahlprogramm geschrieben, liberale Leitmedien wie die ZEIT und der SPIEGEL attestierten der Union und ihrer Kanzlerkandidatin ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit. Professor Manfred Görtemaker vom Institut für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam: TAKE 19 (Manfred Görtemaker) Ich war 2005 doch eher überrascht, denn dass die CDU vor der Wahl Steuererhöhungen ankündigt, das ist ja schon mal überraschend. Das kann man schlecht als Wahlgeschenk betrachten, sondern das genaue Gegenteil war der Fall: das heißt Angela Merkel versuchte dadurch besonders glaubwürdig zu sein, dass sie sagt: ,wir kommen um Steuererhöhungen nicht herum'. Das ist, wenn Sie so wollen, ein politisches Novum, dass man vor der Wahl etwas Unschönes verspricht. Und die Wähler darauf vorbereitet, dass etwas passieren muss. AUTOR Die SPD nutzte die Steilvorlage und machte Stimmung gegen die von ihr so bezeichnete ,Merkel-Steuer'. Mit Erfolg. Lag die Union drei Monate vor der Wahl in den Umfragen noch weit vorne, konnte sie sich am Ende mit einem Vorsprung von gerade mal einem Prozentpunkt ins Ziel retten. Die Glaubwürdigkeitskampagne von Angela Merkel war offensichtlich gescheitert. Ist für Ehrlichkeit wirklich kein Platz im Wahlkampf, wie Medienmanager Tiedje behauptet? Noch einmal Manfred Görtemaker. TAKE 20 (Manfred Görtemaker) Genauso ist es. Glaubwürdigkeit wird nicht honoriert. Glaubwürdigkeit wird sehr hoch gehandelt in der Öffentlichkeit, Politiker werden sehr schnell abqualifiziert, wenn sie nicht glaubwürdig sind, aber der Wähler honoriert Glaubwürdigkeit eben nicht. Der Wähler will betrogen werden, so schmerzlich das klingen mag. TAKE 21 (Gerd Langguth) Ich habe vor 2005 in Hintergrundgesprächen mit manchen Politikern immer wieder gesagt: wird die Mehrwertsteuererhöhung kommen oder nicht? Da hat mir zum Beispiel ein führender Sozialdemokrat gesagt: ,natürlich wird sie kommen, aber wenn wir sie jetzt benennen, dass sie kommt, dann werden wir nicht gewählt'. AUTOR Gerd Langguth, Honorarprofessor am Institut für Politische Wissenschaften an der Universität Bonn und Autor einer Biographie über die damalige Kanzlerkandidatin. TAKE 22 (Gerd Langguth) Merkel dürfte gelernt haben, wenn man zu sehr die Wahrheit sagt, dass man dann nicht gewählt wird, und es kann ja normalerweise nicht Aufgabe vor einer Wahl sein, ganzen Bevölkerungsgruppen zu sagen, dass sie benachteiligt werden, jedenfalls wenn man das tut, wird man von denen nicht gewählt. Das ist das Dilemma. Und ich wiederhole, dass es ein wichtiger Punkt ist, dass Deutsche einerseits ungern die Wahrheit hören. Wenn Politiker rechtzeitig warnen vor bestimmten Folgen von Entscheidungen, dann werden sie möglicherweise abgewählt, und dass andererseits dann aber auch die Politiker, die nicht die Wahrheit sagen, auch nicht sonderlich glaubwürdig wirken. AUTOR Nach der Wahl wurde die Mehrwertsteuer von der Großen Koalition um drei Prozent erhöht. Getreu dem Motto: ,was interessiert uns unser Geschwätz von gestern, die nächsten Bundestagswahlen sind in vier Jahren, bis dahin haben die Wähler alles vergessen'. Das ist das Gesetz der Macht. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) 0'08 frei, dann weg Ich weiß, das ist nicht so. Ich weiß, das kommt nicht so. AUTOR Treue oder Zustimmung erlangen die politischen Amtsinhaber und Bewerber durch Vergünstigungen für die eigene Gefolgschaft, nicht durch Verlässlichkeit oder gar Glaubwürdigkeit der Argumente. Das war schon im alten Rom so. Der Historiker Manfred Görtemaker und der Publizist Heribert Prantl. TAKE 23 (Manfred Görtemaker) Wenn Sie nicht sehr reich waren in Rom, hatten Sie keine Chance, in der Politik zu reüssieren. Es war so, dass Oktavian beispielsweise über ungeheure Reichtümer verfügte, er hat dieses Geld dann benutzt, um seine politische Macht auszubauen, und das war möglich, weil nicht wie heute: ,one man, one vote' gilt, sondern damals ist es so, dass relativ wenige wahlberechtigt sind, die Elite des Landes, und die konnte man tatsächlich bestechen und sich dadurch auch Positionen verschaffen. TAKE 24 (Heribert Prantl) Man hat regelrecht die Wähler und ihre Familien gekauft, die waren abhängig von demjenigen, den sie gewählt haben, es war der Patron, und wer nicht mitmacht: es gab eine berühmte Wahl, die bei allen historisch Interessierten immer wieder zitiert wird: Cato der Jüngere, ein Mann, der mit dem Staat sehr streng umging, weigerte sich, Wahlgeschenke zu machen, weigerte sich, seine Wähler zu finanzieren, vertraute auf die Macht der Argumente und ist bei der Wahl, das war im Jahr 51 vor Christus, auf ganz entsetzliche Weise durchgefallen. Das römische Volk war an Wahlgeschenke gewöhnt, viele Bürger lebten davon, man hat den Verkauf seiner Stimme als Teil seines Einkommens und als Teil dessen betrachtet, wie ich meinen Lebensunterhalt finanziere. AUTOR Das Wahlgeschenk von heute wird nicht mehr direkt ausgezahlt, und der Bürger ist auch nicht mehr lebensnotwenig darauf angewiesen. Doch das Prinzip bleibt das gleiche: do ut des - ich gebe dir: im günstigsten Fall eine sozialpolitische Wohltat, und du gibst mir: deine Wählerstimme. In der 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik gibt es dafür viele Belege. Beispiel: die Einführung der Dynamischen Rente zu Beginn des Wahljahres 1957. TAKE 25 (Konrad Adenauer) Ich möchte die Sozialreform nicht nur als ein gleichrangiges Problem innerhalb der übrigen, mich bewegenden innenpolitischen Fragen ansehen, sondern für mich ist die Sozialreform das innerpolitische Thema Nummer 1 schlechthin. AUTOR Das neue Rentenmodell Adenauers beruhte auf dem so genannten Umlageverfahren. Die Jungen zahlen jeweils für die Alten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber übernehmen die Rentenbeiträge je zur Hälfte, staatliche Zuschüsse ergänzen die Kassen. Die Höhe der Rente wurde an die Entwicklung der Löhne und Gehälter gekoppelt. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer ließ die Rentner am deutschen Wirtschaftswunder teilhaben. Ein Wahlgeschenk, dessen Auswirkungen heute noch zu spüren sind. TAKE 26 (Heribert Prantl) Das war eine der ganz grundlegenden Entscheidungen in der Sozialpolitik der letzten 50 und 60 Jahre, ein Projekt der Umverteilung, ein Projekt der sozialen Stärkung einer ganz großen Schicht der Bevölkerung, eines der wichtigsten politischen Projekte überhaupt und gar nichts, an dem man herummäkeln sollte. Es ist Usus geworden, Wahlgeschenke in toto über einen Kamm zu scheren oder Wahlversprechen. Ich glaube, man muss schon ein bisschen differenzieren. Was ist hier der billige Versuch, Wähler einzusacken, und was ist ein berechtigtes Anliegen von Politik? AUTOR Bei der Bundestagswahl 1957 errangen die Christdemokraten mit ihrem Kanzler Konrad Adenauer zum einzigen Mal in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit. Die Rentenreform von damals war mehr als ein bloßes Wahlgeschenk. Der Normalfall jedoch ist das nicht. Normal ist der "billige Versuch, Wähler einzusacken", wie es Heribert Prantl ausdrückt. Aus Wahl-Versprechen werden schnell Wahl- Lügen: die Bergbaulüge1965, die Rentenlüge 1976, die Lehrstellenlüge1983, die Solilüge 1996, die Mehrwertsteuerlüge 2005, und mittendrin die Steuerlüge: das Versprechen von Helmut Kohl und Volker Rühe im Wahlkampf 1990. TAKE 27 (Helmut Kohl, Volker Rühe) Wegen der Deutschen Einheit wird es keine Steuererhöhungen geben. Jedenfalls mit mir nicht. - Wir sind entschlossen, die Deutsche Einheit ohne Steuererhöhungen zu finanzieren. TAKE 28 (Heribert Prantl) Nun ja, manchmal lullt man sich ja auch selbst ein und macht sich selbst etwas vor. Ich glaube, das war eine große Hoffnung eines sich irgendwie selbst tragenden Aufschwungs und das Vertrauen darauf, dass sich plötzlich Marktkräfte entfalten, ohne dass es dafür eine rationale Grundlage gibt. Ich würde nicht sagen: eine vorsätzliche Lüge, sondern eine bewusste Fahrlässigkeit. AUTOR Das wahltaktische Kalkül jedenfalls ging auf: die CDU/CSU erzielte die meisten Stimmen, die schwarz-gelbe Koalition konnte weiter regieren. Drei Wochen, nachdem Helmut Kohl vom Bundestag wieder zum Bundeskanzler gewählt worden war, erhöhte das Kabinett die Steuern und führte den Solidaritätszuschlag ein. TAKE 29 (Hans-Hermann Tiedje) Steuerlüge 90, das war diese Geschichte, die damals in der Schlagzeile ,der Umfaller' mündete, ... AUTOR Hans-Hermann Tiedje war damals Chefredakteur der BILD-Zeitung und verantwortlich für die Schlagzeile an jenem trüben Februartag im Jahr 1991: "Die Steuerlüge. Der Umfaller". Dazu ein Foto des Kanzlers quer auf der Titelseite. Bis heute ein Highlight unter den Aufmachern im bundesdeutschen Blätterwald. TAKE 30 (Hans-Hermann Tiedje) Wir hätten es ja im ersten Moment gar nicht begriffen, wenn wir nicht gesprochen hätten mit dem inzwischen verstorbenen früheren Chef der Bayern-Hypo, Wilfried Martini, der sagte, dass schon Mitte 1990 der Bundesregierung klar gesagt worden sei, und zwar auch persönlich, deutlich, dass die Finanzierung der Kosten der Deutschen Einheit viel höher ausfallen würden, als die nach außen hin behaupteten. Also: man ging in die Wahl rein, und man wusste, dass zumindest die Fachleute sagten: ,so geht das gar nicht'. Und als man das erkannte nach der Wahl, 1991, wenige Monate später, war natürlich der Mechanismus klar: ich habe vier Jahre Zeit bis zur nächsten Wahl, das Dümmste ist nun, mit Steuererhöhungen zu warten, bis ein Jahr nach der Wahl, also machen wir es bitte gleich nach der Wahl. Es war so erkennbar, und so kam es dann zu dieser Empörungsschlagzeile, die sich bei vielen Leuten eingebrannt hat als der Klassiker zum Thema Steuerlüge. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) 0'08 frei, dann weg Ich weiß, das wird nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir das ein. AUTOR Hans-Hermann Tiedje, von der ,taz' einmal als der "Rambo des Boulevardjournalismus" bezeichnet, hat von den Fensterreden der Politiker die Nase voll. Seit bald zwanzig Jahren: TAKE 31 (Hans-Hermann Tiedje) Bis 1990 war es Staatsräson: Deutsche Einheit, Hauptstadt Berlin. Und als es nur darum ging, dass die Politikertypen um ihr Häuschen in Bonn oder Castrop-Rauxel Sorge haben mussten, hat fast die Hälfte des Bundestages gegen 40 Jahre eigene Staatsräson gestimmt. Das heißt eigentlich haben sie gesagt mit der Abstimmung: wir haben euch 40 Jahre angelogen. Und nur einer Mehrheit von 10, 12 oder 15 Leuten ist zu verdanken, dass die deutsche Hauptstadt heute Berlin ist. Und das haben uns alle diese Politiker zugemutet, die jetzt wieder vor der Wahl sagen, ihr sollt uns alle glauben, dass wir das auch nach der Wahl machen, was wir vor der Wahl versprechen, darüber kann man wirklich nur lachen. AUTOR Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Eine Gruppe von Unternehmern in Schleswig- Holstein hatte vor drei Wochen die Idee, die Wahlversprechen der Politiker notariell beglaubigen zu lassen. Von denen machte jedoch keiner mit. Das ZDF startete mit der Internet-Plattform ,Youtube' eine Video-Aktion zu der Frage: soll man die Wahlversprechen und Wahlgeschenke von Politikern einklagen können? Heribert Prantl, Ressortchef Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, sieht das ganz nüchtern. TAKE 32 (Heribert Prantl) Idealiter soll es eigentlich in der Demokratie keine Wahlgeschenke geben, soll die Demokratie vertrauen können auf die Kraft des Arguments, auf die Kraft der besseren Politik, aber mein Gott: wir sind zwar aufgeklärte Demokraten, aber auch Demokraten sind Voyeure, Demokraten sind Menschen, die gern einen eigenen Vorteil annehmen und auch Demokraten sind Egoisten. Also kalkuliert letztendlich das Wahlgeschenk mit dem Egoismus des Wählers, und solange es auch nur ein bisschen funktioniert, wird es die Wahlgeschenke weiter geben. TAKE 33 (Manfred Görtemaker) Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen Zeitung sehr schön dargestellt, als er sagte: ,Wahlgeschenke sind nicht per se die trojanischen Pferde der Demokratie', also Demokratie wird durch Wahlgeschenke nicht beseitigt oder untergraben, davor müssen wir eigentlich keine Angst haben, diesen Unterschied zwischen dem Brimborium des Wahlkampfes und der Realität und dem pragmatischen Vorgehen in der Politik, das sind wirklich zwei grundverschiedene Dinge, und die muss man auseinander halten. Der Wähler war bisher klug genug, das zu tun. AUTOR Doch die Gemengelage wird immer diffuser. Das Fünf-Parteien-System hat sich etabliert. Wahlforscher stellen fest, dass die Wähler immer später ihre Entscheidung treffen, wen sie wählen, und dass es immer schwieriger wird, von Stammwählerpotenzial zu sprechen. Thomas Kliche, Experte für Politische Psychologie, konstatiert: Politik ist zum Konsumgut geworden, zum Unterhaltungswert. Der Unterschied zum Schokoriegel besteht nur noch darin, dass man Politik selbst gestalten kann. Vorausgesetzt, man hält Demokratie für ein hohes Gut, für das sich zu kämpfen lohnt. Was laut Umfragen immer weniger Deutsche tun. TAKE 34 (Thomas Kliche) Eine Gesellschaft, die Gier, Eitelkeit und Feigheit ermutigt bei den Politikern, aber auch bei den Wählerinnen und Wählern, bedeutet letzten Endes eine gestaltungsunfähige Gesellschaft. Wahlgeschenke und Wahlversprechen passen natürlich auch in diese gegenseitige Ermutigung von Gier und auch von Ausweichen vor Problemen. Denn das ist ja das Beziehungsangebot, dass die Politikerinnen und Politiker hier den Menschen machen: ,glaub mir mal und hoff, dass es nachher besser wird und wir brauchen nicht viel ändern, du brauchst dir keine Gedanken machen, gib uns nur deine Stimme'. Und die Menschen gehen drauf ein. AUTOR Das ist eine typisch deutsche Diskussion, werden die Pragmatiker an dieser Stelle sagen, viel zu moralisch. Es bleibt jedoch festzuhalten: besonders viel politisch- programmatische Brisanz hatte der Wahlkampf 2009 nicht zu bieten. TAKE 35 (Heribert Prantl) Das schönste Wahlgeschenk wäre ein vernünftiges Programm aufzulegen, das nicht lall ist, nicht hohles Geklapper, sondern das den Leuten das Gefühl gibt, da hat sich eine politische Partei wirklich Gedanken gemacht, da steckt ein Programm dahinter, das realisierbar ist, da sind es nicht bloß plakative Sprüche. TAKE 36 (Angela Merkel) Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch wirklich nach den Wahlen gilt. MUSIK 1 (Prager/Spoliansky/Etté) 0'06 frei, dann weg (Summen (ab 3:01) schon drunter) ... nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir das ein. (Schlussakkord) SPRECHER v. Dienst Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Von Wahlgeschenken und Wahlversprechen. Eine Sendung von Wolf-Sören Treusch Es sprach: der Autor Ton: Inge Görgner Regie: Rita Höhne Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 1