DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Hermann Theissen Dossier Die Schiffe der Gifte Eine Recherche in Kalabrien Ein Feature von Aureliana Sorrento Autorin: Anja Herden 1. Übersetzer: Matthias Ponnier 2. Übersetzer: Matthias Ponnier Übersetzerin: Matthias Ponnier Zitator: Matthias Ponnier Redaktion: Hermann Theissen Regie: Axel Scheibchen Ton und Technik: Länge: DLF 43`45 max. Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, d. 19. Februar 2010, 19.15 - 20.00 Uhr I Atmo Ein großes Gittertor, das zuschlägt (im Archiv?) Zitator: Ich habe selbst Schiffe voll toxischen und radioaktiven Mülls versenkt. Anfang der 80er-Jahre hatte ich mit dem großen Schifffahrtsunternehmen Ignazio Messina Kontakte geknüpft. Zusammen mit dem Boss Paolo De Stefano aus Reggio Calabria hatte ich einen Abgesandten dieses Unternehmens getroffen. Wir trafen uns in einer Konditorei an der Viale San Martino in Messina. Dort sprachen wir von der Möglichkeit, dem Clan von San Luca Schiffe für illegale Geschäfte zu besorgen. Das war 1992, damals haben wir innerhalb von ein paar Wochen drei Schiffe versenkt, die uns das Unternehmen Ignazio Messina genannt hatte: zuerst das Schiff Yvonne A, dann die Cunski und die Voriais Sporadais. Das Unternehmen Messina setzte sich mit dem Clan von San Luca in Kontakt und traf Ende Oktober eine Abmachung mit Giuseppe Giorgi. Giorgi kam nach Mailand, wo ich damals wohnte, und wir trafen uns in der Bar New Mexico am Corso Buenos Aires, um die Versenkung aller Schiffe zu organisieren. Autorin Francesco Fonti spricht nicht mehr. Er schreibt. Die oben zitierten Sätze sind seinen Memoiren "Ich Franceco Fonti, Ndrangheta-Kronzeuge, und mein Schiff der Gifte" entnommen. Ein Buch, das nur in der kalabrischen Stadt Cosenza und ihrem Umland zu finden ist; für den Vertrieb jenseits der Bezirksgrenzen hat das Geld des kleinen Verlegers Falco Editore offenbar nicht gereicht. Es heißt, Francesco Fonti fürchte um sein Leben, er sei untergetaucht. Man habe ihm bedeutet, alles würde schlimmer, wenn er weiter redete. Francesco Fonti hat lange geredet, und viel gesagt seit Januar 1994. Damals, in der Haftanstalt von Piacenza vom Staatsanwalt Vincenzo Macri` verhört, erklärte er seine Bereitschaft, mit der Justiz zusammen zu arbeiten.:Sprich: Alles auszusagen, was er über die kalabrische Mafia-Organisation Ndrangheta wusste, der er 1966 beigetreten war. . O-Ton 1. Vincenzo Macri` (SD Card, Track 32) Io mi sono occupato del collaboratore Francesco Fonti nel 1994, quando lui ha iniziato a collaborare con la giustizia. 1. Übersetzer: Ich habe mich mit dem Kronzeugen Francesco Fonti 1994 befasst, als er angefangen hat, mit der Justiz zusammenzuarbeiten... Autorin Vincenzo Macrì ist einer der Ermittler bei der Direzione Nazionale Antimafia, der italienischen Oberstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Mafia. O-Ton 2. Vincenzo Macrì (SD Card, Track 32, 0:10 – 2:15) All'epoca io ho svolto con lui un colloquio investigativo nel quale lui mia annunciato la volonta di collaborare con la giustizia.... ...in questa prima fase lui non ha mai parlato di traffici di rifiuti. 1. Übersetzer: Ich ließ ihn alles über die illegalen Geschäfte der Ndrangheta erzählen, von denen er Kenntnis hatte. Er sprach über den Drogenhandel und, auf eine Weise, die für uns neu und erhellend war, über die Binnenorganisation, die Strukturen und Handlungsweisen der Ndrangheta. Seine Aussagen sind in einen Prozess eingegangen, der in Reggio Calabria geführt wurde und der mittlerweile mit mehreren Verurteilungen abgeschlossen worden ist. Außerdem wurde Fonti im Rahmen anderer Prozesse verhört, in Reggio Calabria, Bologna, Mailand, Turin. Da wurde er immer für zuverlässig und glaubwürdig gehalten. In dieser ersten Phase hat er aber nie über Giftmüllhandel gesprochen. Autorin Erst 2005 schrieb Francesco Fonti eine Erinnerungsschrift, in der er von seiner Tätigkeit als Mittelsmann der Ndrangheta im internationalen Giftmüllhandel berichtete. Italienische Politiker hätten Anfang der 80er-Jahre die Ndrangheta kontaktiert, um toxischen und radioaktiven Müll illegal zu entsorgen. Als Abladeplätze seien zuerst der Aspromonte, der undurchdringliche, von der Ndrangheta kontrollierte Berg Kalabriens, dann die süditalienische Region Basilicata, das Mittelmeer vor den süditalienischen Küsten, Somalia und die Gewässer anderer afrikanischer Staaten vorgesehen gewesen. Ausführlich berichtete der Kronzeuge über seine Kontakte zu einem Leiter des staatlichen italienischen Forschungszentrums für Energie und Atomkraft Enea von Rotondella. In seinem Auftrag will Fonti 600 Container voll toxischen und radioaktiven Mülls, der aus Italien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland und den USA stammte, 1987 in Somalia und Basilicata illegal entsorgt haben. Geschäfte, bei denen die Ndrangheta die Rolle des Handlangers spielte, und die den Mafioso, seiner Aussage nach, mit etlichen italienischen Politikern, Geheimdienstagenten und mit dem dubiosen Geschäftemacher Giorgio Comerio in Kontakt brachten. Diese Erinnerungsschrift sandte Francesco Fonti 2005 an die Redaktion der Zeitschrift "L'espresso" und zugleich an die Direzione nazionale antimafia. Die Staatsanwälte, die ihn seitdem in Sachen Giftmüllhandel verhört haben, halten seine Aussagen für nicht glaubwürdig. Eine Einschätzung, an der Vincenzo Macrì Zweifel hegt. O-Ton 3. Vincenzo Macri` (SD Card, Track 32, 7:18) E da ritenere attendibile Fonti? ... .. Mi sembra strano che si sia inventato proprio tutto. 1. Übersetzer: Ob Fonti glaubwürdig ist? Als er vor mir aussagte, fand ich ihn absolut glaubwürdig. Er ist weder dumm noch unbedacht. Für sein Milieu auch ziemlich gebildet. Ich hatte diesem Kronzeugen vollständige Glaubwürdigkeit bescheinigt. Mir kommt es merkwürdig vor, dass er alles erfunden haben soll. Autorin Fontis Erinnerungen über die "Schiffe der Gifte" aus dem Jahr 2005 bilden nun das letzte Kapitel seiner kürzlich erschienenen Memoiren. Zitator: Das Schiff Yvonne A, sagte uns das Unternehmen Ignazio Messina, transportierte 150 Container mit Schlämmen. Das Schiff Cunski 120 Container voll radioaktiver Schlacken, das Voriais Sporadais 75 Container mit verschiedenen toxischen Substanzen. Das Unternehmen teilte uns auch mit, dass all diese Schiffe sich auf hoher See vor der kalabrischen Küste in der Höhe von Cetraro bei Cosenza befanden. Ich und Giorgi gingen nach Cetraro und baten einen bekannten Vertreter einer Ndrangheta-Familie des Ortes um Hilfe. Wir setzten uns über Funk mit den Kapitänen der Schiffe in Verbindung und sagten ihnen, sie sollten sich innerhalb von 2 Wochen von der Stelle entfernen. Die Yvonne A fuhr Richtung Maratea, die Cunski erreichte die internationalen Gewässer vor Cetraro, die Voriais Sporadais schickten wir zunächst nach Genzano, dann doch zu einer günstigeren Stelle, vor Melito Porto Salvo im Territorium von Reggio Calabria. Dann schickten wir drei Fischkutter, die uns von der Ndrangheta-Familie von Cetraro zur Verfügung gestellt wurden, zu den Schiffen, damit sie darauf Dynamit platzieren und die Schiffe sprengen, nachdem sie die Besatzung in Sicherheit gebracht hatten. Alle Männer der Besatzung sind dann zu Zügen begleitet worden, die nach Norden fuhren. Atmo Meer Autorin Im September 2009 wurde offiziell bestätigt, dass man vor Cetraro bei Cosenza das Wrack eines Schiffes gefunden habe. Zirka elf Meilen vom Ufer entfernt, bei einer Tiefe von 472 Meter. Ein Frachter, 120 Meter lang, 20 Meter breit. Am Bug des Schiffes klaffte ein Riss, durch den ein von dem Forschungsschiff Copernaut in die Tiefe gelotster Roboter einige Container sichten konnte. Zerplatzte Container, so berichtete der Pilot des Roboters, lagen auch in der Nähe des Schiffes auf dem Meeresgrund. Schon in Mai hatte der Staatsanwalt von Paola, BrUNO Giordano, von dem Wrack gehört.. Er vermutete, es handele sich um das Schiff, von dem der Kronzeuge Francesco Fonti in seiner Erinnerungsschrift berichtet hatte. Auf Giordanos Bitte hin hatte dann Silvio Greco, der kalabrische Regionalrat für Umwelt, die Untersuchung des Wracks veranlasst: O-Ton Silvio Greco (MD Greco, Treck 15//17) Noi ci siamo mossi il 13 maggio del 2009 ... . Il governo è arrivato qua dopo sei mesi. 1. Übersetzer: Wir haben am 13. Mai 2009 die ersten Maßnahmen ergriffen. Denn nach Angaben der Staatsanwaltschaft von Paola hatte ein Ultraschallgerät Hinweise auf ein Schiffswrack in einer Gegend gegeben, in der seit anderthalb Jahren ein Fischfangverbot galt. Die Hafenkommandantur von Cetraro hatte das Verbot erlassen, weil man dort Fische gefunden hatte, die mit Schwermetallen und Zäsium kontaminiert waren. Es ist nicht etwa so, dass wir nur deshalb in Aktion getreten sind, weil ein Kronzeuge gesagt hat: Ich habe ein Schiff versenkt. Und da der Staatsanwalt von Paola mich darum bat, die Lage im Meer und auf dem Meeresboden zu überprüfen, habe ich an den Umweltminister Prestigiacomo und an zwei Staatssekretäre geschrieben: Wir hatten ein Problem, dieses Problem lag im Meer, aber das Meer fällt in die Kompetenz der Zentral- Regierung, nicht in die der Region. Aber die Regierung hat sich erst sechs Monate später gemeldet. Autorin Da Regionalrat Greco so lange nicht warten wollte, beauftragte er schon im September die Firma Nautilus, erste Untersuchungen durchzuführen. O-Ton BrUNO Giordano (SD Card, Track 3, 11:48- 12:36) Nell'immediatezza avere trovato ... . Cioè la DDA di Catanzaro. 1. Übersetzer: Die Entdeckung des Schiffes schien die Aussagen von Francesco Fonti zu bestätigen. Für mich war es der Schluss eines mafiösen Syllogismus: Fonti handelt als Ndrangheta-Mitglied, er handelt mit der Hilfe einer lokalen Ndrangheta-Familie, beide Parteien erzielen damit einen bestimmten Gewinn, bringen das Dynamit, sprengen das Schiff und kehren ans Ufer zurück. Für einen solchen Fall gilt der Artikel 7: mafiöser Akt. Also muss ich die Ermittlungen an jene Staatsanwaltschaft weiterleiten, die dafür zuständig ist, die Antimafia-Staatsanwaltschaft von Catanzaro. Autorin Sämtliche Ermittlungsunterlagen wurden dem Antimafia-Staatsanwalt von Catanzaro Giuseppe Borrelli übergeben, welcher aber den Fall für abgeschlossen hält. Dabei beruft er sich auf die Ergebnisse einer Untersuchung, die die italienische Regierung in Auftrag gegeben hatte. Ende Oktober 2009 hatte sie das Schiff Mare Oceano nach Cetraro beordert. Es ist mit Technik ausgestattet, die nicht nur Unterwasseraufnahmen ermöglicht, sondern auch die chemische Analyse des Meeresbodens, Andrea Paiser, Meereszoologe und Berater der Stadt Cetraro im Fall "Cunski", verfolgte die Arbeit des Mare Oceano vom Ufer aus. O-Ton Andrea Paiser (SD Card, Track 27, 5:56 // 2:24) Quando venne qui la Mare Oceano si sposto per circa tre giorni su un punto lontano circa dieci miglia dal punto della Catania, cioè circa a 20 miglia dalla costa. E li in quelle zone ci sono 2 3mila metri di profondita per cui un fondale corretto per fare un operazione di questo tipo. 1. Übersetzer: Als die Mare Oceano hierher kam, bewegte sie sich drei Tage lang um einen Punkt, der zirka 20 Meilen von der Küste entfernt liegt. Dort ist der Meeresgrund 2- bis 3tausend Meter tief, das heißt eine perfekte Tiefe, um ein Schiff mit radioaktivem Müll zu versenken. Autorin Aber das Forschungsschiff Mare Oceano fuhr dann in Richtung Küste zurück, bis ungefähr zu dem Punkt, an dem das Wrack der "Cunski" vermutet wurde. O-Ton Andrea Paiser (SD Card, Track 27, 2:24) Quindi è andata avanti che l'Oceano Mare ... che si temeva trasportasse. 1. Übersetzer: Dann haben sie angefangen, Probeuntersuchungen des Meeresbodens zu machen. Nach zwei Tagen behaupteten sie, dass das Wrack nicht das Schiff Cunski sei, sondern ein anderes Schiff. Zunächst sagten sie, es sei ein Schiff namens "Cagliari", was sie aber bald zurücknahmen. Denn es stellte sich heraus, dass die "Cagliari" woanders versunken ist. Endlich, vier Tage später, sagten sie, es handele sich um die "Catania", ein Schiff, dass während des Ersten Weltkriegs versenkt wurde. Damit konnte man natürlich alle beruhigen. Es ist klar, dass ein Schiff aus dem Ersten Weltkrieg keinen Atommüll transportieren konnte. Autorin Der vermutete Giftmüll-Frachter, taten die Verantwortlichen des Forschungsschiffes Mare Oceano kund, sei nichts mehr als ein altes Passagierschiff mit einem völlig leeren Schiffsbauch. Ein völlig anderes Ergebnis als jenes, das die erste Untersuchung durch den Roboter des Schiffs Copernaut erbracht hatte. Aber nicht nur deshalb befürchten viele in Kalabrien, dass das von der Regierung beauftragte Mare Oceano es gar nicht auf das Schiff abgesehen hatte, von dem der Kronzeuge Francesco Fonti berichtet hatte. Denn selbst wenn die Ergebnisse der zweiten Untersuchung nicht gefälscht wurden, fragt sich, warum nicht weiter nach der Cunski gesucht wurde. O-Ton Andrea Paiser (SD Card, Track 27, 7:02) Fonti non ha mai dato delle coordinate precise ... Nella massa di cose innoque potrebbe esserci qualcosa di pericoloso. 1. Übersetzer: Fonti hat niemals genaue Koordinaten genannt, er hat nur gesagt, er habe ein Schiff auf hoher See vor Cetraro versenkt. Und er sagte, er habe dieses Schiff jenseits der nationalen Gewässer versenkt. Nun, ich glaube nicht, dass jemand, der ein Schiff jenseits der nationalen Gewässer versenken will, dies genau an der Grenze zu den internationalen Gewässern tut. Er fährt bestimmt ein bisschen weiter. Außerdem ist es eine übliche Methode, ein Schiff mit illegaler Fracht dort zu versenken, wo es viele versunkene Schiffe gibt. Hier vor Cetraro gibt es mindestens ein Dutzend Schiffe auf dem Meeresgrund. Unter den vielen harmlosen Wracks könnte sich auch ein gefährliches Wrack befinden. Autorin Zweifel an den Ergebnissen der "Mare Oceano" ergeben sich auch aus einem ganz anderen Grund. Tonino Perna, Soziologie-Professor an der Universität von Messina und Autor diverser Studien über Organisierte Kriminalität und Umweltverbrechen, gibt zu bedenken, dass das Schiff Mare Oceano der Gesellschaft Saipem, einem Tochterunternehmen des italienischen Energiekonzerns ENI gehört. O-Ton Tonino Perna (SD Card, Track 21, 16:30 // 17:35 L'Eni é una societa di stato Ente nazionale ... È bello questo no? 1. Übersetzer: ENI ist ein Staatsunternehmen, ein weltweit agierender Erdöl-Gigant, der im Süden des Erdballs Erdöl fördert und es in Italien vertreibt. ENI ist aber zum Beispiel auch für eine Fabrik namens La Pertusola in der kalabrischen Stadt Crotone verantwortlich. Diese Fabrik produzierte hochtoxische Chemikalien und ist längst geschlossen worden. Um die toxischen Schlacken, die ihre Produktion hinterließ, möglichst billig zu entsorgen, hat La Pertusola mit Baufirmen aus der Gegend Vereinbarungen getroffen. Sie vermengten toxische Schlämme mit Zement und bauten damit Häuser, Krankenhäuser und Schulen. Als die Zunahme von Tumoren und anderer Krankheiten in Crotone auffällig wurde, stellte sich heraus, dass Schulen, Krankenhäuser und Sozialbauten radioaktiv verseucht waren und einen hohen Anteil an toxischen Stoffen aufwiesen, die obendrein in die wasserführende Schicht absickerten. So hat ENI die ganze Region Crotones verseucht. Und nun beauftragt die Regierung genau diesen Umweltverschmutzer, ein Schiff vor Cetraro zu suchen, das verdächtigt wird, die Umwelt zu verschmutzen. Das ist sehr hübsch, oder? Atmo Meer, Wind Autorin Würde man ein Schiff voll radioaktivem Müll im Mittelmeer finden, müsste man eine alte Geschichte neu aufrollen. Eine zwei Jahrzehnte alte Geschichte. O-Ton Barillà (MD Barilla, Track 3 // 4) Il 3 marzo 1994 ... dalla Ndrangheta. 1. Übersetzer: Am 3. März 1994 stellten wir beim Polizeipräsidium von Reggio Calabria Anzeige, weil uns eigenartige, besorgniserregende Meldungen erreicht hatten. Man sprach von einem Handel mit Giftmüll, der aus Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern stammte und nach Kalabrien befördert wurde, genauer gesagt: in bestimmte Zonen des Aspromonte, des wunderschönen kalabrischen Bergs, der aber auch als Territorium der Ndrangheta berüchtigt ist. Autorin Nuccio Barillà gehörte damals zum Vorstand der Umwelt-Organisation Legambiente. (MD Barilla, Track 3 // 4.2) Questi traffici sarebbero ... del mediterraneo e soprattutto del Suditalia. 1. Übersetzer: Als Umschlagsplätze, so unsere Hinweise, hätten einige Häfen im Süden Kalabriens gedient, die nicht von den offiziellen Obrigkeiten kontrolliert werden. Dann wurde der Müll mit Lastwagen den Berg hinauf transportiert und in geheime Höhlen und Gruben des Aspromonte abgeladen.// Später bekamen wir Wind von einer anderen Entsorgungsmethode, die uns erst einmal wie Science-Fiction vorkam. Man sagte, dass der Müll im Mittelmeer versenkt wurde, vor allem vor den süditalienischen Küsten. Autorin Aufgrund der Anzeige von Legambiente leitete der Staatsanwalt von Reggio Calabria Francesco Neri Ermittlungen ein. Zitator: PROCURA DELLA REPUBBLICA Presso la Pretura circondariale di Reggio Calabria Procedimento penale nr 2114/94 RGNR Autorin Francesco Neri ist der zweite Protagonist in dieser Geschichte, der nicht reden darf. Auf eine Interviewanfrage antwortet er freundlich, es sei ihm aus "institutionellen Gründen" nicht gestattet, über die Ermittlungen zu sprechen, die er damals führte. Ein Ähnliches Schweigegebot ist allen Mitgliedern seines damaligen Ermittlungsteams auferlegt worden, die noch am Leben sind. Das sind nicht mehr alle. Der Marine-Kapitän Natale De Grazia starb während der Ermittlungen am 13. Dezember 1995. Auf dem Weg von Reggio Calabria nach La Spezia, wo er einige Zeugen vernehmen und Schiffsregister sichten wollte, brach er auf dem Rücksitz des Autos zusammen, mit dem er und zwei Kollegen Richtung Norden fuhren. Kurz zuvor hatten sie in Nocera inferiore bei Salerno zu Abend gegessen. De Grazia war der einzige, der ein Limoncello trank. Herzstillstand, ergab die Autopsie. Da es aber keine Spur eines Infarktes gab und ein Herzstillstand immer eintritt, wenn jemand stirbt, gilt der Tod des Kapitäns De Grazia vielen als ungeklärt. Wie auch die Bedeutung des Textes, mit dem Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi ihm die Goldene Medaille für besondere Verdienste verlieh: Zitator: Seine Tätigkeit als Marineoffizier wurde von einem höchsten Pflichtbewusstsein gekennzeichnet, das ihn dazu brachte, bei permanenter Selbstaufopferung, trotz des Drucks, der auf ihn ausgeübt wurde, und trotz feindseliger Haltungen, hochkomplexe Ermittlungen zu führen, die im Bereich der geheimen und illegalen Geschäfte mittels Handelsschiffe nationale Relevanz gewonnen haben. Atmo im Auto auf der Autobahn Autorin Die Ermittlungen vom Staatsanwalt Francesco Neri und seinem sechsköpfigen Team verliefen in zwei Richtungen: Auf der einen Seite versuchte man festzustellen, ob toxische und radioaktive Abfälle auf dem Aspromonte vergraben worden waren. Auf der anderen verfolgte man die Spuren von 70 geheimnisvoll verschwundenen Schiffen. Dass die Anzeige der Legambiente nicht auf Ammenmärchen basierte, ließ bereits zu Beginn der Ermittlungen der Fall des Schiffes Koraby erahnen. Dieser Frachter war unmittelbar nach dem Auslaufen aus dem Hafen von Durazzo aus nie aufgeklärten Gründen von einem amerikanischen Militärschiff beschossen worden und hatte dann den Hafen von Palermo angesteuert.. Als die sizilianische Küstenwache das Schiff kontrollierte, stellte sie fest, dass die Fracht radioaktiv war, und verwies die Koraby des Hafens. Kurz danach wurde das gleiche Schiff in einer Reede bei Reggio Calabria noch einmal von der Küstenwache gemustert – kurioserweise war die Fracht nun nicht mehr radioaktiv. Suspekt waren den Ermittlern außerdem eine Reihe von Schiffen, die im Mittelmeer Schiffbruch erlitten hatten, ohne dass die Besatzung SOS gesendet hätte. Einige dieser Schiffe hatten als Fracht Marmorkörnung deklariert – ein Radioaktivität abschrirmendes Material. Aber die interessantesten Hinweise bekamen die Ermittler von einem verdeckten Informanten, der in einem Ermittlungsbericht"Billy" genannt wird. Zitator: Der Zeuge zeichnete ein beängstigendes Bild davon, wie unser Staatsunternehmen ENEA mit der Kerntechnik umgeht, und erzählte von illegalen Geschäften mit radioaktivem Material, die von korrupten Physikern getätigt wurden... Durch verschiedene Zeugen hat man erfahren, dass Italien, besser gesagt: das Staatsunternehmen ENEA drei Forschungszentren unterhielt, die in Wahrheit Wiederaufarbeitungsanlagen waren. Da wurden aus abgebrannten Brennstäben angereichertes Uran und Plutonium gewonnen. O-Ton Nuccio Barillà (MD Barilla, Track 6-7) L'indagine del proc. ... per via regolare non era possibile smaltire. 1. Übersetzer: Die Ermittlung des Staatsanwalts Neri kreuzte Ermittlungen anderer Staatsanwälte, insbesondere jene von Nicola Maria Pace in Matera. Sie betraf die Verwaltung eines Forschungszentrums des ENEA in Rotondella, Basilicata. 15 Jahre sind vergangen, Staatsanwalt Pace wurde nach Triest versetzt, und die Ermittlung ist immer noch nicht abgeschlossen. Aufgrund der Aussagen diverser Mafia-Kronzeugen wurde vermutet, dass die Leiter dieses Zentrums mit der Organisierten Kriminalität eine Abmachung trafen, um die radioaktiven Schlacken, die man legal nicht entsorgen konnte, illegal entsorgen zu lassen. Autorin Am 23. Mai 1994 wird in Chiasso an der Grenze zur Schweiz der Geschäftsmann Elio Ripamonti durchsucht. In seinem Koffer finden die Zollbeamten die Pläne einer Gesellschaft namens O.D.M., Oceanic Disposal Management. O-Ton Barilla` (MD Barilla, Track 24 // 25) Progetto ordito da un ingegnere italiano, Giorgio Comerio ... di questo progetto. 1. Übersetzer: Das war das Projekt eines italienischen Ingenieurs, Giorgio Comerio, der dann im Zentrum etlicher Ermittlungen stand. Dieser Geschäftsmann, der in Chiasso angehalten wurde, besaß Dokumente der Gesellschaft von Comerio über die Entsorgung radioaktiver Abfälle im Meer. Laut Comerio war sein Projekt das Ergebnis einer Studie, die mit Mitteln der Europäischen Gemeinschaft und anderer Länder, das heißt der USA, Japan, der Schweiz und Canada realisiert wurde. Diese Studie, 1987 begonnen und 1989 abgeschlossen, soll 120 Millionen Dollar gekostet haben. Sie überprüfte die Möglichkeit, in Raketen von 16 Meter Länge radioaktive Abfälle einzukapseln und die Raketen dann in den Meeresgrund hineinzukeilen. Das war verschiedenen Regierungen vorgeschlagen worden, dann aber wurde das Projekt offiziell ad acta gelegt, weil es gegen internationale Konventionen verstieß. Die Londoner Konvention etwa, die die Entsorgung radioaktiver Abfälle im Meer untersagt. Comerio hatte an dem Projekt mit der Entwicklung von Bojen teilgenommen, die die Stellen hätten kennzeichnen müssen, an denen die Raketen abgeworfen worden wären. Es ist nicht bekannt, wie die Pläne für das Ganze Projekt, einmal verworfen, in den Besitz von Comerio gelangten. Er begann, mit verschiedenen afrikanischen Ländern zu verhandeln. Dafür gründete er die Gesellschaft O.D.M., die einen Sitz in Italien aber auch Filialen in mehreren europäischen Ländern hatte. Man weiß nicht, ob der Plan jemals realisiert wurde. Man weiß nur, dass es für ein legales Projekt ausgegeben und auf einer Website im Internet angeboten wurde. Autorin Wahrscheinlich wurde das O.D.M.-Projekt niemals verwirklicht. Zumindest nicht so, wie es erdacht worden war. In uns von vertraulicher Quelle zugestellten Akten ist die Erklärung eines Zeugen zu lesen, der eine Zeit lang für Comerio arbeitete, und am 14. Juli 1995 vernommen wurde. Zitator: Comerio erzählte mir von einem Programm für die Entsorgung radioaktiver Abfälle, über das er gerade in Bratislava verhandelte. Ich weiß nicht, ob das Geschäft zustande kam. Soviel ich weiß, hat die Gesellschaft ODM keine Abfälle durch Wasser-Raketen entsorgt... Was die Versenkung von Schiffen angeht, erfuhr ich vor zirka 10 Jahren von dem Plan, Schiffe voll chemischer Abfälle zu versenken, womit man auch die Versicherungen betrügen konnte. Man sagte, dass die Küsten des Ionischen Meeres dafür am Besten geeignet seien, weil sie von der Ndrangheta kontrolliert werden. Dort konnten die Besatzungen die Schiffe auf Rettungsbooten verlassen und die Boote Leuten aus den Küstendörfern übergeben, die dann die Versenkung des Schiffes besorgten... Außerdem ist das Ionische Meer sehr tief. Ich weiß, dass Comerio Schiffe an- und verkaufte. Und dass er mit Waffen handelte. Autorin Im Mai 1995 lässt Staatsanwalt Francesco Neri die Villa von Giorgio Comerio in Garlasco bei Pavia durchsuchen. Die Ermittler brauchen drei Tage, um Dokumente, Dossiers, Videokassetten, Telefonbücher, Floppy Disks und Kalender zu sichten.. Die Durchsuchung bekräftigt den Verdacht, der Ingenieur Comerio sei als "Entsorger" von radioaktiven Abfällen im Meer rund um den Globus tätig. Außerdem stechen den Kriminalisten vier Dokumente ins Auge, die über Comerios Interessen Aufschluss gaben: 1. eine Karte der möglichen Versenkungsplätze für die Atommüll-Raketen des O.D.M.-Projekts 2. Umbaupläne für das Schiff "Jolly Rosso".Offenbar hatte der Ingenieur es auf den Frachter der Gesellschaft Ignazio Messina abgesehen, um seine Atommüll-Raketen zu befördern; der Kauf des Schiffes war aber nicht zustande gekommen. 3. Die Meldung des Mordes an der Journalistin Ilaria Alpi und dem Kameramann Miran Hrovatin am 20. März 1994 in Mogadischu. Ilaria Alpi, Journalistin des öffentlichen Fernsehprogramms TG3, und ihr Kameramann Miran Hrovatin befanden sich 1994 in Mogadischu, um über den illegalen Handel mit Waffen und Giftmüll zwischen Italien und Somalia zu recherchieren. Sie hatten Hinweise erhalten, dass die italienischen Geheimdienste bei dem Geschäft eine wesentliche Rolle spielten, und dazu einen somalischen Informanten interviewt, als sie von elf Maschinengewehrsalven niedergemäht wurden. Obwohl ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss sich damit befasste, gilt ihr Tod bis heute als ungeklärt. Das vierte Dokument in Comerios Unterlagen, das den Ermittlern auffiel, war die Seite eines Kalenders. Unter dem Datum 21.9.1987 stand dort zu lesen: "Lost the ship" – Das Schiff ist verloren. O-Ton Barillà (MD Barilla, Track 36) Da un indagine fatta da ricerche successive emerse che in quel giorno nel mondo una sola nave era affondata e che questa nave si chiamava Rigel. 1. Übersetzer: Die folgenden Nachforschungen brachten ans Licht, dass an jenem Tag auf der Welt nur ein Schiff versunken war. Dieses Schiff hieß "Rigel". Atmo Meer O-Ton Barilla` (MD Barillà, Track 32//33) Tra tutte la navi ... significa neanche cioccolatini. 1. Übersetzer: Die Rigel wurde am 21. September 1987 auf hoher See, 25 Meilen von der Küste entfernt, auf der Höhe von Capo Spartivento bei Reggio Calabria versenkt. An der Stelle ist der Meeresgrund zirka 2500 Meter tief. Darüber wurde ein Prozess geführt, der 2001 letztinstanzlich mit einer Verurteilung zu Ende gegangen ist. Man hatte zuallererst Versicherungsbetrug festgestellt. Bewiesen wurde auch, dass das Rigel eine andere Fracht transportierte als jene, die deklariert worden war. Die Staatsanwälte sprachen von einem Bazar, in dem es alles Mögliche gab: Schaumwein, Autos, Plastik und andere Stoffe. In Wahrheit weiß man nicht, was das Schiff eigentlich beförderte. Durch ein abgehörtes Telefonat erfuhren die Ermittler, dass es "Mist" beförderte. Ein Wort, das nicht unbedingt für radioaktive Abfälle stehen muss, aber auch nicht Pralinen bedeuten kann. Autorin Der Prozess brachte ans Licht, dass die Rigel, das unter maltesischer Flagge fuhr, u.a. 1700 Tonnen Marmorpulver und 60 Container mit Zementblöcken transportierte – Materialien, die geeignet sind, ein Schiff schnell zu versenken, aber auch Radioaktivität abzuschirmen. Vom Förstercorps von Brescia, einer armeeähnlichen Spezialeinheit für den Naturschutz aber auch für Einsätze in bergigen und unwegsamen Gebieten, erhielt Staatsanwalt Neri die Nachricht, nach den Angaben eines verdeckten Informanten habe sich auf dem Schiff angereichertes Uran befunden. Indessen waren die Recherchen über die Aktivitäten des umtriebigen Ingenieurs Comerio so weit gediehen, dass der Staatsanwalt keinen Zweifel daran hegte, dass sich der Eintrag "Lost the ship" in seinem Kalender auf die Versenkung des Schiffes "Rigel" bezog. Indizien, die auf eine Schlüsselrolle Comerios schließen ließen, fanden sich auch in den Akten, die das 1990 gestrandete Schiff "Rosso" oder "Jolly Rosso" betrafen. . O-Ton Nuccio Barillà, (MD, Track 44) La Rosso era la riverniciatura ... della Rosso accaddero cose strane. 1. Übersetzer: "Rosso" war der neue Name eines berüchtigten Schiffes, der "Jolly Rosso". In den 80er-Jahren war die Jolly Rosso eines jener Schiffe gewesen, die die italienische Regierung in den Libanon und andere Länder schickte, um toxische Abfälle zurückzuholen, die diese Länder nicht mehr behalten wollten. Eine Zeit lang waren einige Länder der Dritten Welt bereit gewesen, die toxischen und radioaktiven Abfälle aus dem industrialisierten Europa aufzunehmen. Irgendwann sagten sie aber: Stopp, nehmt sie zurück. Die Jolly Rosso, wie auch die Zanobia, wurden also in diese Länder geschickt, um den Giftmüll zurückzuholen. Deshalb nannte man sie "Schiffe der Gifte". Die Jolly Rosso taucht im Tyrrhenischen Meer vor Amantea an der kalabrischen Küste plötzlich wieder auf. Nun heißt das Schiff nicht mehr Jolly Rosso, sondern nur Rosso. Am 14. Dezember 1990 ist es vor dem Strand Formiciche zu sehen, von den Wogen hin und her geworfen, es scheint zuerst unterzugehen, dann reckt es sich zwischen den Wellen wieder empor, bis es in Amantea bei Cosenza strandet. Die Frage, die seitdem über diese Strandung schwebt: Handelte es sich um einen Unfall oder um eine fehlgeschlagene Versenkung? // Jedenfalls passierten nach der Strandung des Schiffes merkwürdige Dinge. Autorin Augenzeugen gibt es viele. Aber jeder weiß, dass in Kalabrien die Ndrangheta herrscht, nicht etwa der italienische Staat. Jeder weiß, dass die kalabrische Mafia mittels Strohmänner die Wirtschaft wie auch die Politik der Region kontrolliert; dass sie die Staatsinstitutionen infiltriert hat, und dass sie an jenen, die sich ihr entgegenstellen, ohne Weiteres die Todesstrafe vollstreckt. Deshalbsind nur wenige wie der Lokalreporter Francesco Cirillo aus dem Dorf Amantea bereit, zu sagen, was sie am Strand von Amantea Ende 1990 gesehen haben. O-Ton Francesco Cirillo (Scard, Track 19, 1:45-2:20 / 3:10- 6:30 mit Unterbrechungen) Si e sparsa la notizia ... era nessUNO che controllava. 1. Übersetzer: Als sich die Nachricht verbreitete, dass dieses Schiff von den Wellen ans Land getrieben worden war und am Strand lag, gingen wir sofort zur Stelle, aus Neugier. Es wirkte ja wie eine Fellini-Szene – ein riesiges rotes Schiff... Dann kam eine Firma aus Holland, die Smith Tak hieß und auf die Bergung radioaktiver Materialien spezialisiert war. Diese Firma arbeitete eine Weile an dem Schiff und ging, ohne dass jemand erfahren hätte, was sie eigentlich getan hatte. Jedenfalls hatte sie vom Schiffahrtsunternehmen Ignazio Messina, dem das Schiff Rosso gehörte, 800 Millionen Lire für ihre Arbeit erhalten. Dann ließ das Unternehmen Messina das Schiff abwracken, was zirka zwei Monate dauerte. Was das Problem dabei war? Das Schiff strandete in Amantea gegen zwei Uhr nachmittags des 14. Dezember. Bis 7 Uhr morgens des 15. Dezember wurde das Schiff nicht sichergestellt, weder von den Carabinieri noch von der Hafenpolizei kontrolliert, und die Zone wurde nicht abgesperrt. Einige Zeugen haben behauptet, dass sie seit jener Nacht Lastwagen gesehen haben, die von dem Schiff bis zum Tal des Flusses Oliva fuhren. Es sind allerdings eher anonyme Gerüchte denn Zeugenaussagen. Direkt und im eigenen Namen zu sprechen wagte hier niemand. Man sah es ja, dass die Firmen, die an dem Schiff arbeiteten, solche waren, die der Ndrangheta nahe standen. Und da es zu der Zeit, 1990, ungefähr 50 Morde in der Gegend gegeben hatte, die man der Ndrangheta zuschrieb, kann man nicht erwarten, dass jemand den Mut fasste, sich darüber zu äußern. Zumal es offensichtlich war, dass um dieses Schiff eine Art Vakuum herrschte. Dass die Obrigkeiten nichts überprüften. Autorin Immer noch umgeben die Geschichte des gestrandeten Meeresriesen etliche unbeantwortete Fragen: Was hatte die Smith Tak für eine Arbeit erledigt? Angeblich, so sagten die Inhaber des Schiffes, leere Container geborgen. Für 800 Millionen Lire, 800tausend damalige DM? Woher war das Wasser in das Schiff eingedrungen, sodass es, eiligst von der Besatzung verlassen, ans Land trieb? Der Kommandant Bellantone von der Hafenkommandantur von Vibo Valentia, der am Morgen nach der Strandung das Schiff inspiziert hatte, behauptete, im Schiffsrumpf kein Leck ausgemacht zu haben. Dafür soll er in der Kommandokabine Karten mit eingezeichneten Punkten gesehen haben, die den Weltkarten mit den eingezeichneten Versenkungsplätzen der Gesellschaft O.D. M. von Giorgio Comerio ähnelten. Tage später wurde dann ein Loch in der linken Flanke des Schiffes gefunden – ein so perfektes Loch, wie es keine Woge, sondern nur ein Sauerstoffgebläse herstellen kann. Aber trotz alledem beeilte sich der damals zuständige Staatsanwalt von Paola, die Ermittlungen in Sachen "Rosso" einzustellen. Atmo Brandung Autorin Eiligst eingestellt oder archiviert – das heißt ad acta gelegt – wurden bislang alle Ermittlungen, die jemals ein italienischer Staatsanwalt über die "Schiffe der Gifte" geführt hat. Das gilt auch für die Ermittlungen über den Untergang der Rigel. Als Staatsanwalt Francesco Neri auf einen Hinweis stieß, dass eine Ndrangheta-Familie aus Africo an der ionischen Küste Kalabriens am Handel mit radioaktivem Müll maßgeblich beteiligt war, also wahrscheinlich auch an der Versenkung der Rigel, musste er seine Ermittlung im Juni 1997 an die Antimafia-Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria abgeben. Denn nach italienischem Recht ist für Mafia-Verbrechen allein die Antimafia-Staatsanwaltschaft zuständig. Am 22. Juni 1999 beantragte Antimafia-Staatsanwalt Alberto Cisterna die Archivierung der Ermittlung. O-Ton Alberto Cisterna (SD Card, Track 31, 0:17) La Rigel è stata cercata ... soldi dello stato a cercare navi fantasma. 2. Übersetzer: Wir haben das Schiff Rigel gesucht und nicht gefunden. Das Ziel der Ermittlungen war es, dieses Schiff zu finden, und in diesem Schiff Beweise, dass es radioaktive Abfälle transportierte. Aber dieses Schiff wurde nicht gefunden. Auch deshalb, weil die Koordinaten, die uns offiziell gegeben wurden, falsch waren. Es war woanders versenkt worden. Aber man kann keine Unsummen ausgeben, um ein Schiff mitten im Meer zu suchen. Ich glaube, dass es heute möglich wäre, mit einer moderneren Technik danach zu suchen. Es steht aber fest, dass man keine Staatsgelder ausgeben kann, um Gespenster-Schiffe zu suchen. Autorin Am 14. November 2000 gab die Richterin Adriana Costabile dem Archivierungsgesuch statt. Atmo Tal des Flusses Oliva, (SD Card, Track 5) Autorin Es ist die typische Mittelmeer-Vegetation, die die Berghänge an den Seiten des Oliva-Tals bedeckt: Gestrüpp, Pinien, Dornensträucher, verdorrtes Gras. Unten im Tal, wo der Fluss Oliva dahinrauscht, sieht man längs der flachen Ufer Orangen- und Olivenbäume, Schilf und Gemüsegärten. An diesem Punkt, vom Meer wenige Kilometer entfernt, ist der Fluss eher ein Bach. Von der einen zur anderen Seite des Tals erstreckt sich massig ein Steindamm. O-Ton Teresa BrUNO (SD Card Track 4, 00-) Siamo sulla briglia del fiume Oliva, la briglia sotto la quale è stato ritrovato un sarcofago di cemento pieno di metalli pesanti non prodotti in Calabria. Übersetzerin: Wir stehen hier über der Böschungsmauer des Oliva-Flusses. Unter dieser Mauer ist ein Zementquader voll Schwermetallen entdeckt worden, die in Kalabrien nicht produziert werden. Autorin ... sagt Teresa BrUNO. O-Ton Teresa BrUNO (SD Card Track 4, 00-) In questo stesso punto ... interrati o tolti e portati altrove. Übersetzerin: An dieser Stelle sah ich Anfang der 90er-Jahre einige blaue Fässer im Kiesbett des Flusses. Nach einer Überflutung hatte der Damm nachgegeben. Ich kam oft zu dem Fluss, weil es im Tal ein Grundstück gab, das meine Großmutter gepachtet hatte, um dort Gemüse anzubauen. Und eines Tages sah ich diese blauen Behälter. Ich weiß nicht, ob sie gerade dorthin gebracht worden oder nach der Überflutung wegen eines Erdrutsches aus dem Boden herausgetreten waren. Aber ich erinnere mich sehr gut daran. Das muss 1991 oder 1992 gewesen sein. Seltsam ist, dass die Fässer von heute auf morgen verschwanden. Autorin Teresa BrUNO, heute 29 Jahre alt, war noch ein Kind, als sie im Kiesbett des Flusses Oliva die mysteriösen blauen Fässer sah, von denen sie im Herbst 2009 Staatsanwalt BrUNO Giordano erzählt hat. Aber auch ältere Frauen und andere Zeugen haben dem Staatsanwalt berichtet, damals an der gleichen Stelle solche Behälter erblickt zu haben. O-Ton BrUNO Giordano (SD Card, Track 3, 1:35) Tutti ricordano della presenza di bidoni accatastati e di altro piu`o meno in quell'area. 1. Übersetzer: Alle erinnern sich an aufeinander geworfene Behälter, mehr oder weniger in jener Gegend. Autorin Erinnerungen, die wichtig sind, seitdem im Tal des Flusses Oliva neben einem Quader voll Schwermetallen auch Zäsium 137 gefunden wurde. Links von der Straße, die zum Flusstal führt, ragt ein künstlicher Hügel, der einen extrem hohen Grad an Radioaktivität aufweist – eine Folge der Zäsium-Konzentration im Boden. O-Ton BrUNO Giordano (SD Card, Track 2, 1:38- ) Si arrivo ad effettuare ... di marmo e altro materiale di risulta. 1. Übersetzer: Man hat Kernbohrungen durchgeführt, dort und unter der Böschungsmauer. Die Untersuchungen haben ergeben, dass dort Industrieabfälle vergraben wurden, Quecksilber und andere toxische Metalle. Aber vor allem wurde Zäsium 137 festgestellt, in 4 Meter Tiefe. Zäsium 137 ist kein natürliches, es ist ein künstliches Element. Es gibt ein Zäsium, das man "Niderschlags-Zäsium" nennt: das Produkt von Nuklearkatastrophen wie Tschernobyl oder von allen Experimenten mit der Kernenergie, die bislang gemacht wurden. Dieses Zäsium fliegt durch die Atmosphäre und fällt irgendwann auf die Erde. Aber dieses "Niederschlags-Zäsium" ist in einer Tiefe von maximal 20 cm vorzufinden. Da wir es in 4 Meter Tiefe gefunden haben, sind unsere wissenschaftlichen Berater zu dem Schluss gekommen, dass es aus einem kontaminierten Boden stammen muss, der vom ursprünglichen Ort zum Oliva-Tal gebracht worden ist. Natürlich wurde es auch mit Isoliermitteln bedeckt, Marmorkörnung und Marmorpulver etwa. Atmo Meer und Wind am Strand Formiciche Autorin Die mit Zäsium kontaminierte Gegend im Tal des Flusses Oliva liegt nicht weit vom Ort, an dem im Dezember 1990 das Schiff "Rosso" oder "Jolly Rosso" strandete. Folgt man dem Flusslauf bis zum Meer, kommt man direkt zum Strand, an dem 1990 die Jolly Rosso für Monate lag. Noch liegt ein verrosteter Baggergreifer neben dem Rinnsal, das ins Meer mündet. Wer weiß, wozu er einst gebraucht wurde. Der Strand wirkt wie leer gefegt. Rechts eine Bauruine, links eine geschlossene Ferienanlage. Nur ein Auto des Förstercorps fährt hin und wieder seine Runden. Atmo hoch Autorin Da es in Kalabrien nie Kernkraftwerke gab, hegen viele den Verdacht, dass das im Oliva-Tal gefundene Zäsium mit dem berüchtigten Schiff "Jolly Rosso" in die Region gekommen ist. Und da Staatsanwalt BrUNO Giordano sein Amt in Paola ausübt, fallen sowohl das Oliva-Tal wie auch der Strand von Amantea und das Hafenstädchen Cetraro in seine Zuständigkeit. Aber seit er die Ermittlungen über das vor Cetraro entdeckte Schiffswrack an die Antimafia-Staatsanwaltschaft von Catanzaro abgegeben hat – abgeben musste – , darf er über Schiffe weder ermitteln noch reden. Nachfragen bringen ihn offensichtlich in Verlegenheit – und irgendwann in Rage. O-Ton Giordano (SD Card, Track 3, 9:30) Si, l'ho trovata io quella nave, ma su quella io non voglio interloquire perché non ho piu`le carte non ho piu`il procedimento e non voglio debordare dai miei limiti istituzionali. 1. Übersetzer: Ja, es stimmt, ich habe jenes Schiff vor Cetraro entdeckt, aber da will ich mich nicht einmischen, denn ich habe die Akten nicht mehr in der Hand, das Ermittlungsverfahren ist nicht mehr mein Ermittlungsverfahren, und ich will meine institutionellen Grenzen nicht übertreten. Autorin Das Schiff "Rosso", das in Amantea Schiffbruch erlitt? O-Ton Giordano (SD Card, Track 3, 3:04) No di questa vicenda no perché é chiusa con un proveddimento di archiviazione. 1. Übersetzer: Nein, über diese Geschichte rede ich nicht, sie wurde mit einem Archivierungsantrag beendet. Autorin und überhaupt... O-Ton Giordano (SD Card, Track 3, 2:29) Mi consenta che io di cio che è coperto da segreto d'ufficio non posso e non intendo parlare. 1. Übersetzer: Gestatten Sie mir, dass ich über das, was dem Amtsgeheimnis unterliegt, nicht sprechen kann und nicht sprechen will. Autorin Sämtliche Ermittlungsakten über die sogenannten "Schiffe der Gifte" liegen nun in den Händen der Antimafia-Staatsanwälte Giuseppe Borrelli von Catanzaro und Giuseppe Pignatone von Reggio Calabria. Es liegt in ihrem Ermessen, ob sie die Ermittlungen weiter führen.. Laut Giuseppe Pignatone gibt es rechtlich keine Möglichkeit, die Ermittlungen über die Rigel und die Jolly Rosso wieder aufzunehmen. O-Ton Giuseppe Pignatone, SD Card, Track 38, 10:49 Sono indagini a suo tempo ... per riaprire queste indagini. 2. Übersetzer: Ohne neue Erkenntnisse kann die Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria nach dem italienischen Gesetz keine archivierten Ermittlungen wieder aufnehmen. Und momentan gibt es dafür kein Argument. Autorin Aber wegen des Drucks der besorgten kalabrischen Öffentlichkeit sagen die Staatsanwälte, sie wollten nach Schiffen mit eventuell toxischer Fracht vor den Küsten Kalabriens suchen. Sie haben der Hafenkommandantur von Reggio Calabria den Auftrag gegeben, erst einmal eine Liste der Schiffe zu erstellen, die nach den Schifffahrtsregistern im Meer vor den kalabrischen Küsten versunken sind. Wobei sich nicht nur der kalabrische Regionalrat für Umwelt Silvio Greco fragt, wofür das gut sein soll.: O-Ton Silvio Greco (MD Greco, Track 5 / Track 8) Sta continuando una raccolta ... navi militarri ne oceanografiche. 1.Übersetzer: Man sammelt weiter Informationen, auch auf der Basis einer Liste, die die Marine von Reggio Calabria bereits an den Untersuchungsausschuss des Parlaments über die Mafia geschickt hat. In dieser Liste sind 40 Schiffe verzeichnet. Von 9 dieser Schiffe ist nicht einmal der Name bekannt, in der Liste werden nur die Koordinaten angegeben, an denen sie sich befinden. Und dass man nicht mehr darüber weiß, hat die Marine bereits festgestellt, das heißt eine staatliche Institution, nicht etwa eine Umweltorganisation. Also jemand sollte uns endlich erklären, warum nicht einmal über diese 9 Schiffe Nachforschungen angestellt werden. Und wenn ich Nachforschungen sage, dann meine ich ozeanografische Nachforschungen mit Schiffen, die über Sonaranlagen und andere Technik verfügen, die dazu geeignet ist, auf dem Meeresgrund Wracks und anderes aufzuspüren. Bislang habe ich hier kein solches Schiff gesehen. Autorin Und wenn es nach Antimafia-Staatsanwalt Borrelli geht, wird sich daran auch nichts ändern. Giuseppe Borrelli (SD Card, Track 37, 17:36) Allora, il ... è una cosa quasi impossibile. 2. Übersetzer: Also, das Problem der "Schiffe der Gifte", der Entsorgung radioaktiver Abfälle im Meer, war als Hypothese angenommen worden, verstehen Sie? Dass diese Entsorgung dann realisiert wurde, ist noch zu beweisen. Es ist möglich, dass sie, da sie als Hypothese angenommen wurde, dann auch realisiert wurde. Wir arbeiten jetzt an dieser Hypothese. In diesem Sinne: Nach Wracks im Meer Ausschau zu halten, und all den Wracks, die man findet, einen Namen zuzuordnen, ist fast unmöglich. Atmo Brandung an Capo Spartivento 5